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Einführung ins Thema Geburt und Tod - Histomat

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<strong>Einführung</strong> <strong>ins</strong> <strong>Thema</strong> <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>


Lehrererzählung 1<br />

Der <strong>Tod</strong> eines Hergiswilers 2 , in den 20er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Wieder einmal herrschten die widrigsten Wetterbedingungen. Doch darauf konnte Peter jetzt<br />

keine Rücksicht nehmen. Er musste sich beeilen, schliesslich hatte er eine grosse Aufgabe zu<br />

erledigen.<br />

Beim Holzen hatte sich der Wermelinger Franz schwer verletzt. Jetzt lag er zu Hause im Bett<br />

– niemand wusste, wie lange er noch leben würde. In dieser grossen Not hatte Wermelingers<br />

Frau den Priester benachrichtigt, damit dieser sofort mit den Sterbesakramenten zum Schwerverletzten<br />

kommen würde.<br />

Bevor der Pfarrer losgehen kann, muss er aber noch den Sigrist oder eben einen Ministranten,<br />

wie Peter einer ist, benachrichtigen. Schliesslich gehört es sich nicht für einen Pfarrer, allein<br />

mit der letzten Wegzehrung 3 zu einem Kranken oder Verunfallten zu gehen. Peter hat sich den<br />

weissen Chorrock bereits angezogen, als der Priester in der Sakristei eintrifft. Während der<br />

Priester sich umzieht, läutet der Sakristan im Glockenhaus mit der Versehglocke 4 . Alle Leute<br />

im ganzen Dorf sollen wissen, dass einer der ihren bald nicht mehr auf Erden leben wird, also<br />

„heimgehen wird“. Die Versehglocke ist die gleiche Glocke, die auch bei anderen Gelegenheiten<br />

gezogen wird: Beispielsweise bei Feuer oder Hochwasser.<br />

Nun ziehen sie los, Peter voraus mit der Versehlaterne, in der eine Kerze brennt; am Bügel<br />

der Laterne hängt ein Glöcklein, das den Leuten das Vorbeigehen des Priesters mit dem Allerheiligsten<br />

ankündigt.<br />

Der Priester trägt das Versehchrüüz, in dem je eine Kapsel für das Allerheiligste <strong>und</strong> das<br />

Krankenöl für die letzte Ölung untergebracht sind.<br />

Es ist bereits dunkel, Pfarrer <strong>und</strong> Ministrant ziehen durchs Dorf. Links <strong>und</strong> rechts der Strasse<br />

sind Leute, die in feierlicher Weise dem Vorbeizug des Allerheiligsten beiwohnen <strong>und</strong> vom<br />

Priester den Segen erhalten. Dies ist für die gläubigen Dorfbewohner eine Gelegenheit, einen<br />

zusätzlichen Segen zu erhalten.<br />

Meistens müssen sie in der Nacht losziehen. Die Leute wollen zwar für ihre Angehörigen die<br />

letzten Sakramente des Priesters erhalten. Gleichzeitig fürchten sie sich aber auch davor, den<br />

Pfarrer zu früh zu rufen, wenn es dem Kranken noch zu gut geht. Welche Blamage vor den<br />

Dorfleuten, wenn man den Pfarrer „vergebens“ gerufen hätte <strong>und</strong> der scheinbar Sterbende<br />

sich wieder erholen würde!<br />

Kaum aus dem Dorf, beginnt der mühsame Marsch durch die Gräben <strong>und</strong> Eggen der Napflandschaft.<br />

Peter beklagt sich nicht, dass er wieder mitten in der Nacht, geme<strong>ins</strong>am mit dem<br />

Pfarrer durch Nebel marschieren muss, obwohl er die Versehgänge nicht einfach nur gerne<br />

mitmacht. Er mag es nicht unbedingt, schweigend durch den sturmsdicken Nebel zu marschieren<br />

ohne einen Laut zu hören, immer im Wettlauf mit dem <strong>Tod</strong>. Trotzdem, sich dagegen<br />

zu sträuben käme ihm auch nicht in den Sinn. Er weiss, dass ein Mensch, der mit dem <strong>Tod</strong><br />

ringt, auf Tröstung hofft <strong>und</strong> dass er <strong>und</strong> der Priester aufs Sehnlichste erwartet werden.<br />

1 Zusammengestellt aus: Josef J. Zihlmann, Wie sie heimgingen, Buchverlag Willisauer Bote, Willisau, 1995.<br />

Die Geschichte ist erf<strong>und</strong>en, die einzelnen Rituale fanden aber, wie sie dargestellt werden, statt.<br />

2 Hergiswil am Napf, Kanton Luzern. Die Region des Napf ist relativ abgeschieden, ein Tal voller Sagen <strong>und</strong><br />

Geschichten. Die Leute auf der Luzerner Seite sind, zumindest zur Zeit in welcher die Erzählung handelt, noch<br />

sehr kirchentreu (römisch-katholisch).<br />

3 Gemeint ist die Heilige Kommunion.<br />

4 Versehglocke, Versehlaterne, Versehchrüüz, Versehgarnitur: Für die Katholiken ist der so genannte Versehgang<br />

der Gang des Priesters zur Spendung des letzten Sakramentes, der Krankensalbung. Dieses Sakrament wird<br />

erst erteilt, wenn der <strong>Tod</strong> nahe bevor steht. Für die Erteilung dieses Sakramentes gab es die erwähnten speziellen<br />

Gegenstände. Auch heute sind in Haushalten von älteren Personen solche Versehgarnituren noch zu finden.


Sobald sie beim Haus des verletzten Wermelinger ankommen, sieht Peter schon die Angehörigen<br />

vor der Haustüre knien. Sie bilden ein Spalier für das Allerheiligste. Der Pfarrer tritt <strong>ins</strong><br />

Haus, nicht ohne die Anwesenden zu segnen.<br />

Scheu <strong>und</strong> etwas beklommen tritt auch Peter <strong>ins</strong> Haus. Im Krankenzimmer liegt bereits alles<br />

bereit. Neben dem Krankenbett steht ein kleiner Tisch, der mit einem speziellen weissen Tuch<br />

bedeckt ist. In der Mitte des Tisches steht das Versehchrüüz, links <strong>und</strong> rechts davon je ein<br />

Kerzenstock mit einer brennenden Kerze, die der Verunfallte mal von einer Wallfahrt mit<br />

nach Hause gebracht hat. Zudem steht auf dem Tisch ein Glas mit Weihwasser, ein Glas<br />

Trinkwasser, ein Teller mit einem Wattebausch <strong>und</strong> etwas Salz, zudem ein Handtuch.<br />

Peter weiss, dass auch er, wenn er mal heiraten wird, eine so genannte Versehgarnitur geschenkt<br />

kriegen wird. Das gehört sich einfach so. Bis zu seiner Heirat oder gar bis zu seinem<br />

<strong>Tod</strong> will er seine Gedanken jetzt aber nicht schweifen lassen, Peter wendet sich wieder dem<br />

Geschehen im Sterbezimmer zu.<br />

Der Pfarrer spricht bereits mit dem Schwerverletzten Franz Wermelinger, tröstet ihn mit<br />

fre<strong>und</strong>lichen Worten <strong>und</strong> bereitet Franz so auf den Empfang der Sterbesakramente vor.<br />

Bevor Peter <strong>und</strong> alle Familienangehörigen das Krankenzimmer verlassen, knien sich alle nieder<br />

<strong>und</strong> beginnen geme<strong>ins</strong>am zu beten. Wenn der Priester <strong>und</strong> der Verletzte allein sind, darf<br />

Franz noch ein letztes Mal beichten. Die Angehörigen <strong>und</strong> Peter beten unterdessen draussen<br />

weiter. Nach der Beichte wird die Kommunion ausgeteilt <strong>und</strong> der Sterbende erhält, wie es die<br />

Katholische Kirche vorschreibt, die Krankensalbung, die letzte Ölung, wie Peter <strong>und</strong> die Leute<br />

dies nennen.<br />

Schon oft hat Peter solche Momente erlebt, was aber heute passiert, ist eine neue Erfahrung<br />

für ihn. Franz Wermelinger, der genau weiss, dass er bald sterben wird, stammelt einige Worte,<br />

seine Augen sind auf Hans, seinen Bruder, gerichtet <strong>und</strong> sie leuchten vor Dankbarkeit.<br />

Seit Jahren haben sich die zwei Brüder nicht mehr gesprochen <strong>und</strong> nun, in der St<strong>und</strong>e des<br />

<strong>Tod</strong>es, löst sich alter Groll auf <strong>und</strong> die beiden versöhnen sich. Alle sind sich der Bedeutung<br />

des Momentes bewusst, denn erst jetzt kann Franz in Frieden mit sich <strong>und</strong> seiner Umwelt für<br />

immer e<strong>ins</strong>chlafen.<br />

Aufgabe eines Familienangehörigen ist es, dem Verstorbenen die Augen zuzudrücken. Hans<br />

übernimmt diese Aufgabe <strong>und</strong> betet dabei: „Herr gib ihm die ewige Ruhe <strong>und</strong> das ewige Licht<br />

leuchte ihm.“<br />

Der <strong>Tod</strong> hat für keinen der Anwesenden etwas Schreckhaftes an sich, niemand fürchtet sich,<br />

es gibt kein Befremden. Im Gegenteil, alle schätzen es, beim <strong>Tod</strong>e eines Mitmenschen, in<br />

seinen letzten St<strong>und</strong>en auf Erden, beim Übergang <strong>ins</strong> ewige Leben, dabei sein zu dürfen. Viele<br />

der Angehörigen sind daher in aller Eile von weit hergereist.<br />

Nun liegt der Tote auf seinem Sterbebett. Priester <strong>und</strong> Ministrant sind auf dem Heimweg,<br />

doch für die Angehörigen beginnt jetzt eine ganz spezielle Zeit. Der Tote liegt nun bis zu seiner<br />

Beerdigung in diesem Zimmer, stets bewacht von einer Bätteri 5 , die Totenwache hält.<br />

Diese Frau, die Angehörigen <strong>und</strong> alle Dorfbewohner werden in den nächsten Tagen für die<br />

Seele von Franz beten, so dass sie in den Himmel <strong>und</strong> nicht in die Hölle kommt.<br />

Peter kennt die Rituale, die beim <strong>Tod</strong> eines Dorfbewohners durchgeführt werden. Die Bätteri<br />

wird den Toten sofort waschen, ihm für seinen letzten Weg die schönsten Kleider anziehen<br />

5 M<strong>und</strong>artlich für „Beterin“.


<strong>und</strong> natürlich dürfen dafür auch die Schuhe nicht fehlen. Schliesslich müssten die Toten am<br />

Jüngsten Tag, bei der Auferstehung in rechter Kleidung vor dem ewigen Richter erscheinen.


<strong>Tod</strong> im alten Ägypten


Das Fest nach dem Gericht 6<br />

In der Vorstellung der alten Ägypter ist der <strong>Tod</strong> weder das Ende aller Dinge, noch führt er zu<br />

einem kärglichen Dasein in einem Schattenreich, sondern er bildet gleichsam die Fortführung<br />

des bisherigen auf Lebensfreude angelegten Lebens mit anderen Mitteln.<br />

So sehr den Menschen zu allen Zeiten immer bewusst war, dass der <strong>Tod</strong> unausweichlich ist,<br />

so unterschiedlich ist doch die Art, wie sie mit diesem Wissen umgehen. Archäologische Gräberf<strong>und</strong>e<br />

zeigen, dass in Ägypten zumindest seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. an eine wie auch<br />

immer geartete, individuelle Weiterexistenz des Menschen nach seinem <strong>Tod</strong> geglaubt wurde.<br />

Die seit der Pyramidenzeit ab 2350 v. Chr. e<strong>ins</strong>etzende <strong>und</strong> immer grösser werdende Menge<br />

altägyptischer Literatur über das Jenseits formuliert immer differenzierter werdende Jenseitsmodelle.<br />

Im folgenden werde ich mich auf die Zeit des Neuen Reiches (ca. 1540–1070 v.<br />

Chr.) konzentrieren, da hier die Quellen in Wort <strong>und</strong> Bild am ausführlichsten sind.<br />

Menschenbild<br />

Um zu verstehen, wie die alten Ägypter mit dem <strong>Tod</strong> umgehen <strong>und</strong> wie sie sich das Fortleben<br />

nach dem <strong>Tod</strong> vorstellten, muss man ihr Menschenbild berücksichtigen. Anders als bei uns<br />

heute, wo der Mensch oft als Wesen mit einem (sterblichen) Körper <strong>und</strong> einer (unsterblichen)<br />

Seele, manchmal noch mit einem schwer zuzuordnenden Geist, angesehen wird, ist das ägyptische<br />

Menschenbild wesentlich komplexer. Man stellt sich vor, dass ein Mensch aus fünf<br />

Teilen besteht, nämlich aus vier persönlichen (Körper, Name, Schatten, Ba) <strong>und</strong> einem unpersönlichen<br />

(Ka). Diese sind zusätzlich entweder frei beweglich (Ba, Schatten) oder aber örtlich<br />

geb<strong>und</strong>en (Körper, Name).<br />

Der Ka umfasst die abstrakte Lebenskraft des Menschen, die auch Göttern, Tieren <strong>und</strong> sogar<br />

Statuen zukommt. Der Ba ist ein persönliches, frei bewegliches Seelenelement, das als Vogel<br />

mit Menschenkopf dargestellt wird. In der ägyptischen Vorstellung lebt ein Mensch, solange<br />

diese fünf Wesensanteile beieinander sind; wird eines davon zu sehr geschwächt oder entfernt<br />

es sich auf Dauer von den anderen, so stirbt er.<br />

Damit nun der Mensch über seinen physischen <strong>Tod</strong> hinaus als Individuum fortdauern kann,<br />

müssen diese Seelenelemente weiterhin zusammenbleiben respektive immer wieder zusammenkommen.<br />

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den physischen Körper durch Mumifizierung<br />

unbeschadet zu erhalten, den Namen des Verstorbenen zu bewahren, den Ka durch Opfergaben<br />

zu stärken <strong>und</strong> für den frei beweglichen Ba <strong>und</strong> den Schatten mit der Mumie im<br />

Grab sozusagen einen «Treffpunkt» für die Wiedervereinigung festzulegen.<br />

Das Totenbrauchtum<br />

Um das Zusammenbleiben dieser notwendigen Persönlichkeitsanteile zu ermöglichen, werden<br />

bereits zu Lebzeiten Vorkehrungen getroffen. Dies ist keine pessimistische Fixierung auf einen<br />

negativ gesehenen <strong>Tod</strong>, sondern die Vorbereitung für eine Fortdauer der Existenz, die die<br />

irdische Lebensspanne weit übertrifft. Zu diesen Massnahmen gehört in erster Linie der Bau<br />

eines Grabes, jedenfalls für diejenigen, die über die nötigen Mittel verfügen. Das Grab wird<br />

im Neuen Reich meist in den Fels getrieben <strong>und</strong> ausgiebig mit bemalten Reliefs (plastisches<br />

Bildwerk auf einer Fläche) oder direkt auf einen Verputz aufgetragenen Malereien <strong>und</strong> Texten<br />

dekoriert. Die Motive umfassen die Biographie des Verstorbenen, Szenen des Begräbnisses,<br />

Grabbeigaben <strong>und</strong> Darstellungen des Toten im Jenseits, bei den Königen auch Abbilder aus<br />

der Götterwelt. Mit dem Grab war der Ort gegeben, an dem die Mumie sicher aufgehoben war<br />

<strong>und</strong> der Name Dauer erhielt.<br />

6 aus: Susanne, Ris: Das Fest nach dem Gericht. Online im Internet: URL:<br />

http://publicrelations.unibe.ch/unipress/heft118/beitrag11.html [Stand 5. Mai 2005].


Stirbt nun jemand, so wird die Leiche in die Mumifizierungsstätte gebracht <strong>und</strong> dort laut Herodot<br />

7 während 70 Tagen mumifiziert, die inneren Organe werden in Kanopen (Eingeweidekrüge<br />

mit Deckel) gesondert aufbewahrt <strong>und</strong> ebenfalls <strong>ins</strong> Grab gegeben. Unter der Anteilnahme<br />

von Familienangehörigen, Fre<strong>und</strong>en, Berufskollegen, Klageweibern <strong>und</strong> Priestern<br />

zieht eine lange Prozession mit dem Sarg, den Grabbeigaben <strong>und</strong> Opfergaben zum Grab, wo<br />

verschiedene Reinigungs- <strong>und</strong> Opferrituale stattfinden. Am bedeutendsten ist das M<strong>und</strong>öffnungsritual,<br />

das die Mumie wieder beseelen <strong>und</strong> ihr die Macht über ihre Sinnesorgane verleihen<br />

soll. Danach wird die Mumie im Grab bestattet, wobei gewisse Teile des Grabes vor allem<br />

für die Angehörigen weiterhin zugänglich bleiben, damit diese auch künftig die für den<br />

Ka benötigten Totenopfer niederlegen können.<br />

Die Grabbeigaben sind in erster Linie Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Kleider, Möbel,<br />

Schmuck, Kosmetika <strong>und</strong> Nahrungsmittel. Sie werden gleichzeitig auch bildlich festgehalten,<br />

wodurch auf magische Weise sichergestellt wird, dass es dem Toten niemals daran mangeln<br />

soll. Die regelmässige Versorgung mit Totenopfern (Speisen, Getränken <strong>und</strong> Gebeten) ist die<br />

Aufgabe der Nachkommen; sie kann aber auch mittels einer Stiftung an einen Tempel <strong>und</strong> die<br />

dortigen Priester delegiert (übertragen) werden.<br />

Das Jenseits<br />

Abb. 1: Das Jenseitsgericht mit der Wägung des Herzens aus dem Grab des<br />

Samut (aus: Hodel-Hoenes, Sigrid: Leben <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> im Alten Ägypten, Darmstadt<br />

1991, Abb. 85).<br />

©Sigrid Hodel-Hoenes.<br />

Das Jenseits ist ein Teil der Schöpfung, in dem – ebenso wie in der Welt der Götter <strong>und</strong> der<br />

Menschen – Maat (die Göttin von Gerechtigkeit, Ordnung <strong>und</strong> Harmonie) herrscht. Der Kosmos<br />

umfasst drei Dimensionen: den Himmel für die Götter, die Erde für die Menschen <strong>und</strong><br />

das Jenseits für die Toten. Diese Bereiche sind allerdings nicht absolut voneinander getrennt,<br />

es existieren Übergangszonen im Raum (z.B. das Grab zwischen Diesseits <strong>und</strong> Jenseits, der<br />

Tempel zwischen Menschen <strong>und</strong> Göttern) <strong>und</strong> im Wirkbereich. Da das Jenseits innerhalb des<br />

Kosmos, aber ausserhalb des Diesseits liegt, ergibt sich als sein möglicher Ort entweder der<br />

Bereich über der Erde, der Himmel oder jener unter der Erde, die Unterwelt. Beide Lokalisie-<br />

7 Herodot von Halikarnassos (* 485 v. Chr., † 425 v. Chr.) war ein griechischer Völkerk<strong>und</strong>ler, Geograph <strong>und</strong><br />

Historiker. Auf seinen langen Reisen nach Persien, Ägypten, Babylonien <strong>und</strong> zum Schwarzen Meer, studierte er<br />

die Geographie, Geschichte <strong>und</strong> die Lehre der jeweiligen Völker eingehend. Von seiner wohl bekanntesten Reise,<br />

jene nach Ägypten, berichtet er in seinem Werk "Historien" ausführlich.


ungen kommen in Ägypten vor; in früherer Zeit wird der Himmel bevorzugt, später setzt sich<br />

die Vorstellung einer Unterwelt durch. Der Eingang zum Jenseits liegt im Westen, wo die<br />

Sonne untergeht.<br />

Da die Strukturen des Jenseits nicht gr<strong>und</strong>sätzlich anders sind als diejenigen des Diesseits,<br />

behält der Tote seine Individualität, <strong>und</strong> auch seine Wünsche <strong>und</strong> Bedürfnisse wandeln sich<br />

nur wenig. Er begehrt weiterhin materielle Versorgung, sozialen Status <strong>und</strong> körperliche Fähigkeiten.<br />

Die Mumie bleibt zwar im Grab liegen, dafür können sich der Ba <strong>und</strong> der Schatten<br />

über das Grab hinaus frei bewegen. Gleichzeitig gewinnt der Verstorbene vermehrte <strong>und</strong> zum<br />

Teil neue Kräfte, durch die er sich immer mehr den Göttern selbst annähert, manchmal sogar<br />

selbst zu einem Gott wird.<br />

Allerdings wird das Jenseits als sehr konkret gedachter Raum nicht nur von den Verstorbenen<br />

bewohnt, sondern auch von vielerlei Dämonen, strengen Wächtern <strong>und</strong> Göttern. Deshalb drohen<br />

dort auch gewisse Gefahren; so könnte das Ba eines Verstorbenen von Dämonen gefangengenommen<br />

<strong>und</strong> gar zerstört werden.<br />

Spezielle Texte auf Wänden, dem Sarg oder auf Papyrus (aus der Papierstaude gewonnenes<br />

Schreibmaterial in Blatt- <strong>und</strong> Rollenform) werden dem Toten mitgegeben, um ihm die Orientierung<br />

in diesem für ihn neuen Raum zu erleichtern, ihm das notwendige Wissen über die<br />

Wege, Ereignisse, richtiges Verhalten <strong>und</strong> Gefahren zu vermitteln, ihn gegebenenfalls auch<br />

mit Hilfe von Zaubersprüchen zu beschützen, Tore zu öffnen <strong>und</strong> die Weiterreise zu ermöglichen.<br />

Diese Totenliteratur, ein Kompendium (Abriss) von Sprüchen, umfasst die Pyramidentexte<br />

des Alten Reiches, die Sargtexte des Mittleren Reiches <strong>und</strong> die Totenbücher ab dem<br />

Neuen Reich. Seit dem Neuen Reich gibt es auch eigentliche «Jenseitsführer», ursprünglich<br />

dem König vorbehaltene Beschreibungen des Jenseits (Amduat, Pfortenbuch, Zweiwegebuch,<br />

Höhlenbuch u.a.). All diese Texte wirken aufgr<strong>und</strong> von Wissen <strong>und</strong> Magie.<br />

Das Jenseitsgericht<br />

Vermutlich seit der 5. Dynastie 8 wächst das Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit wenigstens<br />

nach dem <strong>Tod</strong>. Daraus entwickelte sich die leicht abgeändert bis heute bei uns wirksame<br />

Vorstellung eines Jenseitsgerichts, bei dem, unabhängig von Stand <strong>und</strong> Vermögen, der<br />

Tote allein danach beurteilt wird, wie weit er zu Lebzeiten der ethischen Norm der Maat entsprochen<br />

hat. Unter dem Vorsitz des Osiris 9 , assistiert von 42 dämonenhaften Totenrichtern,<br />

wird das Herz des Verstorbenen gegen das Symbol der Maat gewogen. Überwiegen die<br />

schlechten Taten, so droht ein zweiter, definitiver <strong>Tod</strong>: die «Verschlingerin» wird ihn vernichten.<br />

Selbstverständlich versucht man einem solch schlimmen Schicksal zu entgehen, indem<br />

dem Toten beispielsweise Herzskarabäen (Amulette in Form eines Mistkäfers) mitgibt,<br />

die auf magische Weise den Wiegevorgang beeinflussen sollen. Der darauf angebrachte Totenbuchspruch<br />

30 lautet:<br />

«Mein Herz meiner Mutter,<br />

mein Herz meiner Mutter,<br />

mein Innerstes meines Wesens.<br />

Stehe nicht auf gegen mich als Zeuge.<br />

Trete mir nicht entgegen vor Gericht.<br />

Rebelliere nicht gegen mich vor dem Wägemeister».<br />

8<br />

Dynastie: Eine Folge von Herrschaften, die der gleichen Familie entstammen. In der Geschichte Ägyptens gab<br />

es 31 Dynastien.<br />

9<br />

Osiris (übersetzt etwa: "Sitz des Auges", Fruchtbarkeit) ist der ägyptische Gott der Fruchtbarkeit, der<br />

Wiedergeburt <strong>und</strong> der Toten. Er ist Sohn des Geb <strong>und</strong> der Nut, Gatte <strong>und</strong> Bruder der Isis <strong>und</strong> Bruder des Seth,<br />

der ihn ermordet <strong>und</strong> zerstückelt hat. Isis <strong>und</strong> Anubis gelingt es, ihn wieder zusammenzusetzen <strong>und</strong> auferstehen<br />

zu lassen, so dass er mit Isis deren geme<strong>ins</strong>amen Sohn Horus zeugen kann, der ihn schließlich rächt. Osiris ist<br />

oberster Richter des Totengerichts.


Besteht der Verstorbene aber das Jenseitsgericht, so ist er «gerechtfertigt» <strong>und</strong> damit in den<br />

Kreis der seligen Verstorbenen aufgenommen.<br />

Beschreibung des Jenseits<br />

Abb. 2: Das fruchtbare Jenseits aus dem Grab des Sennedjem<br />

(aus: Shedid, Abdel Ghaffar: Das Grab des Sennedjem. Ein Künstlergrab der 19. Dynastie in Deir el Medineh, Mainz 1994, Abb. 80).<br />

©Abdel Ghaffar Shedid<br />

Das wohl prägnanteste Bild für den Kosmos unter dem Gesetz der Maat stellt in Ägypten der<br />

Sonnenlauf mit dem allabendlichen Untergang <strong>und</strong> dem erneuten Erscheinen am Morgen dar.<br />

Dies gilt als Gr<strong>und</strong>muster für Werden <strong>und</strong> Vergehen <strong>und</strong> bildet auch die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Betrachtung des <strong>Tod</strong>es. Einerseits bietet die Anbindung des <strong>Tod</strong>es an den Sonnenlauf eine<br />

gewisse Garantie, dass ebenso wie der Sonnenaufgang auch das Wiederaufleben im Jenseits<br />

stattfinden wird, <strong>und</strong> anderseits lässt sich das Nichtwissen über die genauen Geschehnisse<br />

während der Nacht mit der Unsicherheit über die Verjüngung des Toten verbinden. So verbindet<br />

sich die nächtliche Sonne mit den Geheimnissen um die Regeneration des Verstorbenen.


Abb. 3: Die Nachtfahrt der Sonne, 4. St<strong>und</strong>e des Amduat aus dem Grab von Thutmosis<br />

III.<br />

Die Nachtfahrt der Sonne wird in der Jenseitsliteratur als die Reise des Sonnengottes auf seiner<br />

Barke (kleines Boot) durch die Gefilde der Unterwelt beschrieben. Das Jenseits wird von<br />

einem Fluss durchzogen, an dessen Ufer sich die Verstorbenen <strong>und</strong> auch andere Wesen aufhalten.<br />

Die in zwölf Nachtst<strong>und</strong>en gegliederte Fahrt des anfänglich «müden» Sonnengottes<br />

verläuft zuerst problemlos, aber je weiter sie fortschreitet, desto mühsamer <strong>und</strong> hindernisreicher<br />

wird sie. In der tiefsten Nacht erfolgt die bedrohliche Begegnung mit dem schlangengestaltigen<br />

Apophis, der die Sonne zu vernichten droht. Nur mit grösster Anstrengung gelingt es<br />

dem Sonnengott <strong>und</strong> seiner Mannschaft, ihn zu bezwingen <strong>und</strong> mit Messern zu zerstückeln.<br />

Danach kann die Fahrt fortgesetzt werden <strong>und</strong> endet mit einer auf geheimnisvolle Weise verjüngten<br />

Morgensonne, die am östlichen Horizont aufgeht.


Das Schicksal des Verstorbenen<br />

Der König, der seit alter Zeit nach seinem <strong>Tod</strong> zu einem Gott unter den Göttern wird, gesellt<br />

sich zur göttlichen Mannschaft des Sonnengottes auf der Barke. Damit verweilt er, sich mit<br />

einem Gott identifizierend, in der ständigen Gegenwart des Sonnengottes auf seiner Fahrt<br />

durch die Nacht/Unterwelt <strong>und</strong> hat an seinem Verjüngungs- bzw. Regenerationsvorgang Anteil.<br />

Abb. 4: Ein Festmahl im Kreis der Familie im Jenseits aus dem Grab des Onurischa<br />

(aus: Hodel-Hoenes, Sigrid: Leben <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> im Alten Ägypten,<br />

Darmstadt 1991, Abb. 111)<br />

©Sigrid Hodel-Hoenes<br />

Nichtkönigliche Personen identifizierten sich eher mit dem Schicksal des Gottes Osiris. Dieser<br />

war in frühester Zeit der Herrscher über die Welt, was die Eifersucht seines Bruders Seth<br />

hervorrief, der ihn ermordete. Seine Schwestergattin Isis suchte ihn mit ihrer Schwester<br />

Nephthys überall <strong>und</strong> fand ihn schliesslich. Durch ihre Trauer <strong>und</strong> Klage wurde Osiris wieder<br />

belebt <strong>und</strong> zeugte seinen Sohn Horus, der nach einem langen Streit mit Seth die Herrschaft in<br />

der Welt antrat. Osiris aber wurde zum Herrscher der Unterwelt.<br />

Abb. 5: Ein Fest im Jenseits aus dem Grab des Nacht


Wenn der Tote das Jenseitsgericht bestanden hat, verweilt er gesichert in einem Raum fast<br />

wie ein grosser Garten – Osiris ist ja auch ein Fruchtbarkeits- <strong>und</strong> Vegetationsgott. Er lebt<br />

dort wie in einem idealisierten Diesseits, umgeben von seiner Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, von üppigen<br />

Pflanzen <strong>und</strong> Tieren, feiert Feste <strong>und</strong> geniesst die Freuden einer sorglosen Existenz. Da<br />

allerdings in der Unterwelt auch landwirtschaftliche Arbeiten auszuführen sind (z.B. pflügen,<br />

säen, ernten), werden dem Toten sogenannte Uschebtis mitgegeben, kleine mumienförmige<br />

Figuren, die, wenn der Grabherr zu irgendeiner Arbeit aufgerufen wird, an seiner Stelle den<br />

Auftrag übernehmen.<br />

Eine solche Jenseitsvorstellung zeichnet ein Bild, das den Toten in ständiger Gottesnähe einen<br />

fast paradiesischen Zustand geniessen lässt – ein Schicksal also, das es keineswegs zu fürchten<br />

galt, sondern auf das man sich freudig vorbereitete.<br />

lic. phil.-hist. Susanne Ris, Ägyptologin<br />

Institut für Religionswissenschaft


TOD IM ALTEN ÄGYPTEN<br />

Horizontal<br />

4. Symbol der Gerechtigkeitsgöttin Maat<br />

6. Herzskarabäen aus Stein, Fayence oder Halbedelstein in Form eines Amuletts<br />

hatten die Aufgabe, den … zu beeinflussen<br />

8. Herrscher der Unterwelt<br />

11. Eine der Dimensionen des ägyptischen Kosmos<br />

13. Gefässe, in denen die innern Organe eines Verstorbenen aufbewahrt wurden<br />

14. In dieser Tierform erscheint Apophis, der Feind des Sonnengottes<br />

15. Grabbeigabe<br />

16. Eingangsposition des Jenseits<br />

17. Dem Glauben der alten Ägypter zufolge ein Bestandteil der unsterblichen<br />

Seele eines Menschen, welcher nach dem <strong>Tod</strong>e des Körpers weiterleben kann,<br />

wenn man ihn mit Nahrung versorgt<br />

Vertikal<br />

1. Ort, an welchem die Taten des Verstorbenen beurteilt werden<br />

2. Uschebtis verrichteten im Jenseits die … für ihren Herrn<br />

3. Dieser Brauch beseelt die Mumie wieder<br />

5. „Schreibpapier“ des Altertums<br />

7. Bewohner des Kosmos<br />

9. Bewohner des Jenseits<br />

10. Ägyptisches Gr<strong>und</strong>muster für Werden <strong>und</strong> Vergehen<br />

12. Gefährt des Sonnengottes


Kreuzworträtsellösung<br />

1. Ort, an welchem die Taten des Verstorbenen beurteilt werden:<br />

Totengericht<br />

2. Uschebtis verrichteten im Jenseits die … für ihren Herrn:<br />

Arbeit<br />

3. Dieser Brauch beseelt die Mumie wieder:<br />

M<strong>und</strong>oeffnungsritual<br />

4. Symbol der Gerechtigkeitsgöttin Maat<br />

Feder<br />

5. „Schreibpapier“ des Altertums:<br />

Papyrus<br />

6. Herzskarabäen aus Stein, Fayence oder Halbedelstein in Form eines Amuletts hatten<br />

die Aufgabe, den … zu beeinflussen<br />

Wiegevorgang<br />

7. Bewohner des Kosmos<br />

Goetter<br />

8. Herrscher der Unterwelt:<br />

Osiris<br />

9. Bewohner des Jenseits:<br />

Daemonen<br />

10. Ägyptisches Gr<strong>und</strong>muster für Werden <strong>und</strong> Vergehen:<br />

Sonnenlauf<br />

11. Eine der Dimensionen des ägyptischen Kosmos<br />

Jenseits<br />

12. Gefährt des Sonnengottes:<br />

Barke<br />

13. Gefässe, in denen die innern Organe eines Verstorbenen aufbewahrt wurden<br />

Kanopen<br />

14. In dieser Tierform erscheint Apophis, der Feind des Sonnengottes:<br />

Schlange<br />

15. Grabbeigabe<br />

Kosmetika<br />

16. Eingangsposition des Jenseits:<br />

Westen<br />

17. Dem Glauben der alten Ägypter zufolge ein Bestandteil der unsterblichen Seele eines<br />

Menschen, welcher nach dem <strong>Tod</strong>e des Körpers weiterleben kann, wenn man ihn mit<br />

Nahrung versorgt:<br />

Ka


Die Mumifizierung 10<br />

Das Denken <strong>und</strong> Handeln der alten Ägypter war geprägt von der Angst, dass ihr Körper verwesen<br />

<strong>und</strong> sie im Jenseits ihren Atem verlieren könnten. Käme es nämlich zu einer Verwesung<br />

des Körpers, so glaubten sie, würde der Seele die Heimstatt entzogen <strong>und</strong> sie dazu verdammt<br />

werden, für immer zu verschwinden. Deshalb waren sie besessen von der Vorstellung,<br />

dass der Körper nach dem <strong>Tod</strong> unverweslich erhalten werden musste. So erlangte das Ritual<br />

der Einbalsamierung der Leichen eine enorme Bedeutung. Die Mumifizierung sollte die Unversehrtheit<br />

des Leichnams garantieren, die als Voraussetzung für die Auferstehung <strong>und</strong> das<br />

Weiterleben galt.<br />

Herodot, der Ägypten zur Mitte des 5. Jahrh<strong>und</strong>erts v. Chr. als Tourist bereiste, hat die Prozedur<br />

der Einbalsamierung folgendermassen überliefert: Zuerst zogen die Einbalsamierer mit<br />

einem gekrümmten Draht einen Teil des Gehirns durch die Nasenlöcher, den Rest beseitigte<br />

ein Lösungsmittel. Danach schnitten sie den Leib an den Seiten auf <strong>und</strong> entnahmen die Eingeweide-<br />

die Lunge, die Leber, den Magen. Auch sie wurden mumifiziert <strong>und</strong> getrennt in speziellen<br />

Krügen, den „Kanopen“, beigesetzt. Nur das Herz verblieb an seiner Stelle. In die<br />

Bauchhöhle, mit Palmwein gereinigt <strong>und</strong> zerriebenen Spezereien gespült, kam eine Füllung<br />

feiner, zerstossener Myhrre <strong>und</strong> anderer Essenzen. Schliesslich wurde der Leichnam zugenäht<br />

<strong>und</strong>, so ergaben neuere Forschungen, in eine trockene Natronmasse gelegt, die dem Körper<br />

die restliche Flüssigkeit entzogen. 70 Tage dauerte die Balsamierung, ehe man den Körper<br />

wusch <strong>und</strong> mit kostbaren Leinenbinden umwickelte. Diese waren bis zu tausend Meter lang<br />

<strong>und</strong> mit Harzen <strong>und</strong> Parfümen getränkt, um die Haltbarkeit zu erhöhen. Kostbare Amulette<br />

wurden der Hülle eingefügt, um den Verblichenen auf seiner Reise <strong>ins</strong> Jenseits zu schützen.<br />

Finger, Hände <strong>und</strong> Füsse erhielten einen gesonderten Wickel, <strong>und</strong> bei einer besonders kostspieligen<br />

Balsamierung wurden Finger <strong>und</strong> Zehen sogar in goldene Hülsen gesteckt. Anschliessend<br />

wurde das Gesicht mit einer Maske bedeckt. Für Privatpersonen fertigte man solche<br />

Masken aus Stoff <strong>und</strong> aus Stuck an, für Könige <strong>und</strong> sehr hohe Persönlichkeiten waren sie<br />

aus Gold gearbeitet. Als äusserste Umhüllung diente ein Leichentuch, das durch parallel laufende<br />

Bänder befestigt wurde. Nach r<strong>und</strong> zweieinhalb Monaten nach dem Ableben des Verstorbenen<br />

konnten die Angehörigen zur Sarglegung <strong>und</strong> zum Begräbnis schreiten.<br />

10 Zusammengestellt aus Albert Champdor: Das Ägyptische Totenbuch. Vom Geheimnis des Jenseits im Reich<br />

der Pharaonen, Freiburg im Breisgau 1993, S. 173-179.


Der Trauerzug <strong>und</strong> das M<strong>und</strong>öffnungsritual 11<br />

Bereits im alten Ägypten war das Ritual des Trauerzuges bekannt. Am Tag der Beisetzung<br />

wurde die Mumie in ihrem Sarg in einer Prozession zum Grab getragen. Darstellungen in<br />

Gräbern von hohen Beamten <strong>und</strong> Priestern aus Theben (1500-1000 v. Chr.) zeigen, wie ein<br />

altägyptischer Trauerzug damals ausgesehen hat: Frauen <strong>und</strong> Mädchen, nach der Mode der<br />

Zeit mit plissierten Gewändern bekleidet, zogen voran <strong>und</strong> beklagten den Toten. Sie stiessen<br />

schrille Schreie aus, weinten <strong>und</strong> rauften sich die Haare. Hinter dem Sarg trugen Diener die<br />

Grabausstattung: Betten, Stühle, Kopfstützen, Sandalen, kostbare Truhen mit Kleidung,<br />

Schminkgefässe aus Alabaster, Schmuck <strong>und</strong> Brettspiele. Die Utensilien sollten sicherstellen,<br />

dass es dem Toten im Jenseits an nichts fehlen würde <strong>und</strong> er seinen bisherigen Lebensstandard<br />

beibehalten konnte. Am Schluss des Zuges folgten die Verwandten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e des<br />

Verstorbenen.<br />

Nachdem der ganze Trauerzug mit der Mumie das Grab erreicht hatte, mussten die Priester<br />

nun eine wichtige Handlung vornehmen. Dazu hatten sie auf einem Tisch nicht nur die Bestandteile<br />

eines Mahls, Brote <strong>und</strong> Krüge voll Bier, bereitgestellt, sondern auch seltsame Instrumente<br />

aufgelegt: Ein Dachsbeil, ein grosses Messer in Gestalt einer Straussenfeder, einen<br />

künstlichen Rinderschenkel <strong>und</strong> ein Brettchen, das in zwei Spiralen auslief. Diese Gegenstände<br />

sollten dem Priester dabei behilflich sein, die Auswirkungen der Einbalsamierung aufzuheben<br />

<strong>und</strong> dem Verstorbenen den Gebrauch seiner Glieder <strong>und</strong> aller Organe wiederzugeben.<br />

Hände <strong>und</strong> Gesicht der Mumie wurden anschliessend mit diesen rituellen Werkzeugen berührt<br />

<strong>und</strong> dazu die Zauberformeln des Totenbuchs gesprochen. Dieses Ritual war möglicherweise<br />

das wichtigste am ganzen Totenkult, gab es der mumifizierten Leiche doch den Gebrauch der<br />

Sprache <strong>und</strong> die Schöpferkraft des Wortes zurück, ferner Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch<br />

<strong>und</strong> Gefühl sowie den Gebrauch der Arme <strong>und</strong> der Beine. Erst durch die Rückgewinnung seiner<br />

Sinne wurde sichergestellt, dass sich der Tote im Jenseits erfreuen konnte. So findet man<br />

denn von der Epoche der Pyramiden bis an das Ende der römischen Zeit in den Gräbern oder<br />

auf den Papyri Zauberformeln- gekürzt oder komplett, illustriert oder nicht-, die dazu dienten,<br />

„den M<strong>und</strong>, die Augen <strong>und</strong> Ohren des Verstorbenen zu öffnen.“<br />

11 Zusammengestellt aus Albert Champdor: Das Ägyptische Totenbuch. Vom Geheimnis des Jenseits im Reich<br />

der Pharaonen, Freiburg im Breisgau 1993, S. 113-115.


Ägyptisches Totengericht<br />

Bild Ägyptisches Totengericht: Online im Internet: URL:<br />

http://www.hoelzel.at/thema/archiv/aegypten_nov2001/thema02a.htm [Stand 5. Mai 2005].


Zusatzinformation zum ägyptischen Totengericht<br />

Bevor der Verstorbene <strong>ins</strong> Paradies kam, in das „Gefielde der Seligen“, wie die Ägypter es<br />

nannten, hatte er sich vor einem Totengericht für seine Taten im Leben zu verantworten. Dies<br />

geschah durch das Negative Glaubensbekenntnis, welches er vor dem Totenrichter Osiris ablegen<br />

musste <strong>und</strong> das von hohem Anspruch an das ethisch-moralische Verhalten kündete.<br />

Diese <strong>und</strong> andere Bekenntnisse, die das weiterleben im Jenseits sichern sollten, schrieben die<br />

Ägypter auf Papyrusrollen, die dem Verstorbenen <strong>ins</strong> Grab gegeben wurden. In der Gerichtshalle,<br />

in die der Tote anschliessend gebracht wurde, stand eine Waage bereit, um die im<br />

Leben begangenen guten <strong>und</strong> schlechten Taten des Toten abzuwägen. Ein Ritual, bei dem das<br />

Herz auf eine Waagschale <strong>und</strong> eine Feder, das Symbol der Gerechtigkeits-Göttin Maat, auf<br />

die andere gelegt wurden. Blieben die Waagschalen im Gleichgewicht, durfte der Verstorbene<br />

im Jenseits weiterleben; war das Herz aber zu schwer, mit Sünden beladen, wurde er von der<br />

„Totenfresserin“ verschlungen, einem Monster mit Krokodilrachen, Löwenleib <strong>und</strong> dem Hinterteil<br />

eines Nilpferds, <strong>und</strong> starb den zweiten, endgültigen <strong>Tod</strong>.


5<br />

10<br />

15<br />

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Psychostasie <strong>und</strong> Negatives Glaubensbekenntnis<br />

Text aus: Albert Champdor: Das Ägyptische Totenbuch. Vom Geheimnis des Jenseits im Reich der Pharaonen,<br />

Freiburg im Breisgau, 1993, S. 85,<br />

Quelle aus: Gregoire Kolpaktchy, Ägpytisches Totenbuch, München 1955, S. 188-190.<br />

Der Glaube an ein Weiterleben nach dem <strong>Tod</strong> war im alten Ägypten stark verbreitet.<br />

Bevor dies geschehen konnte, mussten deshalb alle Verstorbenen vor dem Totengericht erscheinen.<br />

Ein Totenbuch, das mit <strong>ins</strong> Grab gelegt worden ist, sollte dem Verstorbenen bei der<br />

Rechtfertigung vor dem Totengericht helfen. Denn bevor das Herz des Verstorbenen, d.h. sein<br />

Gewissen, dem Paradies oder der Hölle zugeteilt wurde, wurde es auf die Waage der Götter<br />

gelegt, gewogen <strong>und</strong> gerichtet. Ein Ungeheuer mit dem Maul eines Krokodils <strong>und</strong> dem Leib<br />

eines Nilpferds- in den Texten als „scheussliches Tier“ oder „Verschlinger der Seelen“ genannt-<br />

lauerte gierig neben der Waage. Es besänftigte seinen Blick an der Seite des Osiris, des<br />

Totengottes, der den unwiderruflichen Richterspruch fällte. Zwei<strong>und</strong>vierzig Richtergottheiten,<br />

auf den Versen hockend <strong>und</strong> die zwei<strong>und</strong>vierzig Gaue des altägyptischen Doppelreiches der<br />

Lilie <strong>und</strong> des Papyrus, aber auch die zwei<strong>und</strong>vierzig kanonischen Sünden des Menschen verkörpernd,<br />

verhörten den Toten, der sich vor dem Tribunal verantworten musste. Das ist die<br />

berühmte Szene der Psychostasie (Seelenwägung), wie sie auf allen Grabpapyri dargestellt ist.<br />

Der Tote muss nun das sogenannte negative Glaubensbekenntnis ablegen, <strong>und</strong> zwar vor<br />

Thot 12 . Er ist der Besitzer der Geheimen Bücher, der e<strong>ins</strong>t befohlen hat, dass sein eigentliches<br />

Leben H<strong>und</strong>erte von Jahrmillionen dauern müsse (Litanei CLXXV), <strong>und</strong> hat Jagd auf das<br />

Schwein gemacht, das in der Welt der Lebenden genauso der Feind des Osiris ist wie in der<br />

Welt der Toten die Apophis-Schlange der Feind des Re. Vor Thot <strong>und</strong> dem schakalsköpfigen<br />

Anubis 13 , die beide aufmerksam neben der Waage standen, musste der Tote erklären, dass er<br />

„keine Sünde gegen die Menschen begangen hat; nichts begangen hat, was den Göttern missfallen<br />

könnte:<br />

Negatives Glaubensbekenntnis I.<br />

(Papyrus Nu)<br />

Heil dir, Gott, du grosser, der Wahrheit-Gerechtigkeit Meiser,<br />

Du mächtiger Herrscher! Nun tret ich vor dich! Lass<br />

Deine strahlende Schönheit mich schaun! Denn ich kenne<br />

Deinen magischen Namen, wie auch die Namen der zwei<strong>und</strong>vierzig<br />

Götter, die dich umringen in den lichtvollen Räumen<br />

Der Wahrheit-Gerechtigkeit, am Tage, wo aufgezählt<br />

Vor Osiris die Sünden; jener Götter Nahrung<br />

Ist das Blut der Verdammten…Dein Name klingt also:<br />

„Der Herr der Allwelt-Ordnung, dessen zwei Augen<br />

Zwei Göttinnen-Schwestern.“ Siehe, ich bringe<br />

In meinem Herzen Wahrheit-Gerechtigkeit,<br />

Denn ausgerissen daraus hab ich das Böse.<br />

Nicht hab ich bewirkt das Leiden der Menschen,<br />

Noch meinen Verwandten Zwang <strong>und</strong> Gewalt angetan.<br />

Nicht habe ich das Unrecht an Stelle des Rechtes gesetzt,<br />

Noch Verkehr gepflegt mit den Bösen.<br />

Ich habe kein Verbrechen begangen,<br />

Liess nicht die anderen sich abmühen über Gebühr.<br />

12 Ibisköpfiger Gott der Gelehrten <strong>und</strong> Schreiber; Protokollführer beim Totengericht.<br />

13 Schakalköpfiger oder –gestaltiger Gott; wirkt bei der Einbalsamierung <strong>und</strong> beim Totengericht mit.


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Nicht habe ich Ränke aus Ehrgeiz geschmiedet.<br />

Meine Diener habe ich nicht misshandelt.<br />

Die Götter habe ich nicht gelästert.<br />

Dem Bedürfnis habe ich nicht die Nahrung entzogen.<br />

Die von den Göttern verabscheuten Handlungen sind mir fremd.<br />

Ich habe nie zugelassen, dass ein Diener<br />

Von seinem Meister misshandelt würde.<br />

Ich habe nie ein Leiden veranlasst.<br />

Die Hungersnot habe ich nie verursacht.<br />

Meine Mitmenschen liess ich nicht Tränen vergiessen.<br />

Ich habe nicht getötet, noch einen Mord angestiftet.<br />

Ich habe keine Krankheit unter den Menschen verbreitet.<br />

Die Opfergaben in den Tempeln habe ich nicht gestohlen.<br />

Das heilige Brot, den Göttern bestimmt, habe ich nicht geraubt.<br />

Die Opfer habe ich nicht den geheiligten Geistern entzogen.<br />

Schändliche Handlungen habe ich nicht in den Tempelmauern begangen.<br />

Meine Opfergaben habe ich nicht vermindert.<br />

Durch den Gebrauch verwerflicher Mittel<br />

Hab ich nicht versucht, mein Eigentum zu vergrössern,<br />

Noch fremde Felder mir anzueignen.<br />

Weder habe ich die Gewichte der Waage gefälscht,<br />

Noch den Waagebalken verschoben.<br />

Die Milch habe ich nicht dem Kindsm<strong>und</strong>e entzogen,<br />

Mir nicht angeeignet das fremde Vieh auf Wiesen.<br />

Nicht hab ich Fallen gestellt, noch Schlingen gelegt<br />

Für das den Göttern bestimmte Geflügel.<br />

Mit Fischleichnamen hab ich nicht die Fische gefangen.<br />

Die Gewässer hab ich nicht versperrt zur Zeit ihres Fliessens.<br />

Die Dämme hab ich nicht beschädigt,<br />

Die auf dem fliessenden Wasser gebaut sind.<br />

Ich habe nicht ausgelöscht ein Feuer, das brennen sollte.<br />

Die Regeln über die Opfer des Fleisches habe ich nicht missachtet.<br />

Ich habe mir nicht angeeignet<br />

Das Vieh, das den Göttern gehört.<br />

Die Götter habe ich nicht verhindert, k<strong>und</strong> sich zu tun.<br />

Ich bin rein! Ich bin rein! Ich bin rein! Ich bin rein!<br />

Gleich dem grossen Phönix von Herakleopolis 14 bin ich geläutert!<br />

Denn ich bin des Atems Herr;<br />

Die Eingeweihten versorg ich mit Leben<br />

An Tagen der Feier, da vor dem göttlichen Herrn dieser Erde<br />

Über Heliopolis 15 kulminiert das göttliche Auge des Horus 16 .<br />

Wahrlich, ich hab in Heliopolis das göttliche Auge aufsteigen<br />

sehen.<br />

14 Herakleopolis (Heracleopolis, ägypt. "Neni-niswt") ist eine antike Stadt im südlichen Ägypten. Die Stadt war<br />

im alten Ägypten die Hauptstadt des vorderen Baumgaus (auch Oleanderbaumgau oder Naretbaumgau) in<br />

Unterägypten <strong>und</strong> Residenz der 9. <strong>und</strong> 10. Dynastie.<br />

15 Heliopolis (griech. für "Sonnenstadt", ägypt. Iunu, in der Bibel On) war im Altertum eine Stadt nordöstlich<br />

des heutigen Kairo in Ägypten mit einem bedeutenden Sonnenheiligtum, bereits seit dem frühen Alten Reich.<br />

Nach der Mythologie sind hier die Götter entstanden.<br />

16 Falkenköpfiger Gott, Sohn von Isis <strong>und</strong> Osiris. Er ist Herrschergott auf Erden in der Verkörperung des Königs.


90<br />

Möge mich also kein Unglück treffen in diesen Gebieten,<br />

Noch in euerem leuchtenden Saale der Wahrheit-Gerechtigkeit!<br />

Denn ich kenne die Namen der Götter,<br />

Welche Maat an allen Seiten umringen,<br />

Die grosse Göttin der Wahrheit-Gerechtigkeit.


<strong>Tod</strong> im Mittelalter


Basler Totentanz<br />

Bild Basler Totentanz: Online im Internet: URL:<br />

http://publicrelations.unibe.ch/unipress/heft118/beitrag07.html [Stand 30. April 2005].


Zusatzinformationen: <strong>Tod</strong>esvorstellungen im MA 17<br />

Im Spätmittelalter ist in religiöser H<strong>ins</strong>icht eine Lockerung von Ethos <strong>und</strong> Zucht feststellbar,<br />

die Geistlichen sind eher Messeleser als Seelsorger <strong>und</strong> sehen ihr Amt eher unter dem Aspekt<br />

der Verwaltung als dem der geistlichen Führung. Die Gläubigen waren in ihrer Frömmigkeit<br />

fast sich selber überlassen, was sich in eigenen <strong>und</strong> gefühlsbetonten Aufwallungen äusserte.<br />

Der Klerus kümmerte sich zuerst um die äussere Beobachtung des Kultes sowie um seine<br />

Steuereinziehung <strong>und</strong> tat sehr wenig, um der Verschiebung <strong>und</strong> der Verwirrung, die sich in<br />

den religiösen Anschauungen breit machten gegenzusteuern.<br />

Zu beobachten ist bei den Gläubigen vor allem eine Veränderung in der Vorstellung vom <strong>und</strong><br />

der Darstellung des Göttlichen, ein betontes Vermischen vom Himmlischen mit dem Irdischen.<br />

Dogma <strong>und</strong> Glauben um 1400<br />

Die Christen betrachteten ihr Dasein auf Erden als Zeit der Verbannung, während der der<br />

Mensch vor allem zu leiden hat. Seine eigentliche Bestimmung kann der Mensch erst im Jenseits<br />

erleben. Im 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert hatten die Menschen zum Jenseits <strong>und</strong> v.a. auch zum<br />

Himmel ein vertrautes Verhältnis.<br />

Die Gläubigen waren vom Weiterleben nach dem <strong>Tod</strong> überzeugt. Sie gingen davon aus, dass<br />

sie beim Übergang vom Diesseits <strong>ins</strong> Jenseits nicht verändert werden, es herrschte die Vorstellung,<br />

dass sich nur die äusseren Bedingungen ändern würden: Der Mensch muss nicht<br />

mehr leiden. Der Gläubige wusste, dass er im Himmel nicht allein, sondern umgeben von den<br />

Heiligen <strong>und</strong> der Gesellschaft, die er schon vom Erdenleben kannte, leben würde. Lediglich<br />

die schlechten Mitglieder der Gesellschaft würden im Himmel fehlen. Das Jenseits war daher<br />

nichts Ungewisses, sondern eine zum Greifen nahe Welt. Weil jeder die eigene Identität behielt,<br />

jeder also Bauer oder Kaufmann oder Herr blieb, behielt auch die Gesellschaft im Jenseits<br />

ihre gewohnte Struktur <strong>und</strong> Hierarchie bei.<br />

Sehr viel mehr als mit dem Paradies haben sich die Gläubigen zwischen dem 14. <strong>und</strong> 15.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert aber mit der Hölle befasst. Geschildert wurde die Hölle in Predigten, auf Miniaturen,<br />

Fresken <strong>und</strong> Abhandlungen. Um die furchtbare Vorstellung der Hölle – ein Ort voller<br />

Schmerz <strong>und</strong> ein Meer der Rache – zu degradieren, suchten die Gläubigen Zuflucht im Mythos<br />

des Fegefeuers. Die Strafen im Fegefeuer waren zwar die gleichen wie in der Hölle, fanden<br />

aber irgendwann ein Ende.<br />

Die Gläubigen vertrauten auf ein ganzes Heer von Fürsprechern, welche sich am Ende des<br />

Lebens dem Menschen annehmen, sich für ihn e<strong>ins</strong>etzen <strong>und</strong> ihm so die Hölle ersparen würden.<br />

Die mächtigste Fürsprecherin war die Mutter Gottes, ihr weihte man einen überschwänglichen<br />

Kult. Engel, so glaubte man, würden wachsam <strong>und</strong> kämpferisch der Seele beistehen<br />

<strong>und</strong> alles versuchen, sie den Krallen des Teufels zu entreissen. Auf die Hilfe der Heiligen<br />

hofften die Gläubigen <strong>und</strong> beteten zu ihnen, weil diese sich für eine Verkürzung des Aufenthaltes<br />

in der Hölle e<strong>ins</strong>etzen würden.<br />

Die Hoffnung auf Rettung aus dem Fegefeuer äusserte sich überdies in einer massiven Zuwendung<br />

zum Ablass: Durch den Kauf von Ablassbriefen, so hofften die Gläubigen <strong>und</strong> versprach<br />

die Kirche, könne die Zeit im Fegefeuer verkürzt werden.<br />

17 Diese Ausführungen sind keine Definition der religiösen Anschauungen Westeuropas zur damaligen Zeit,<br />

sondern geben einige wesentliche Züge wieder. Zusammengestellt aus: Mittelalter <strong>und</strong> Frühe Neuzeit. Die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der modernen Welt, Spätmittelalter, Renaissance, Reformation (Fischer Weltgeschichte Band 3),<br />

hrsg. von Ruggiero Romano <strong>und</strong> Alberto Tenenti, Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2003, S. 95-124.


Zwischen dem 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert erschien der möglicherweise typischste Ausdrucks der<br />

damaligen Frömmigkeit, die „Kunst zu sterben“ (ars moriendi). Kirchliche Eliten verfassten<br />

Schriften mit Anleitungen für ein gutes Sterben, Gebete <strong>und</strong> beschrieben Versuchungen, denen<br />

die Gläubigen widerstehen müssen. Hervorgehoben wurde in diesen Schriften die Bedeutung<br />

des <strong>Tod</strong>es als für das Heil alles entscheidender Augenblick, die Bedeutung des irdischen<br />

Lebens <strong>und</strong> das tägliche Engagement der Menschen wurden eingeschränkt.<br />

Widerstand gegen die Kirche<br />

John Wiclif forderte die Reinigung der Theologie <strong>und</strong> der christlichen Praxis von allen Entartungen<br />

<strong>und</strong> Auswüchsen. Er stellte eine grosse Kluft fest zwischen dem Ideal der Kirche <strong>und</strong><br />

der Wirklichkeit der Kirche. Fast die gesamte Lehre Wiclifs war eine Anklage gegen das Kirchensystem<br />

(Unfähigkeit des Klerus zur geistigen Führung, Verwaltungsaufgaben der Kleriker,<br />

Ablasswesen, Papsttum, Simonie). Wiclif forderte die strenge Durchsetzung der Religiosität<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage vom Evangelium. Jan Hus übernahm <strong>und</strong> baute die Theorien Wiclifs<br />

aus, musste dafür aber mit seinem Leben bezahlen: Er wurde 1415 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen<br />

verbrannt.<br />

Die Religion war das kulturelle System der Gesellschaft. Für eine Veränderung wären neue,<br />

stärkere Kräfte notwendig gewesen. Da zwischen dem 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert die europäischen<br />

Kräfte mitten in einem Konsolidierungsprozess (Konsolidierung: Sicherung, Stärkung)<br />

standen, waren sie von Problemen in Anspruch genommen, die für ihre Existenz wichtig waren.<br />

Sie konnten sich daher nicht um eine Reform in der Kirche kümmern, weshalb das System<br />

der Kirche bestehen blieb.<br />

Die drei Toten <strong>und</strong> die drei Lebenden<br />

Um 1350 entstand eine neue <strong>und</strong> selbstständige Darstellung des <strong>Tod</strong>es. Die Entdeckung der<br />

körperliche Zersetzung des Menschen wurde literarisch <strong>und</strong> bildlich dargestellt, so ist sie etwa<br />

das <strong>Thema</strong> der „Drei Toten <strong>und</strong> der drei Lebenden“ 18 . Neu war nun im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert, dass<br />

der <strong>Tod</strong> nicht mehr als Engel dargestellt wurde, sondern als Macht, die aus eigener Initiative<br />

handelt <strong>und</strong> der man sich nicht widersetzen kann. Es setzte sich eine Darstellung des <strong>Tod</strong>es<br />

als Wesen in Menschen- <strong>und</strong> Leichengestalt durch, ein Gegenbild des lebendigen Körpers.<br />

Der <strong>Tod</strong> wurde als eine unparteiische Instanz betrachtet, er symbolisierte ein Gesetz, das jedem<br />

Menschen gegenüber unausweichlich <strong>und</strong> ohne moralische Begründung Anwendung<br />

findet. Inwieweit diese <strong>Tod</strong>esvorstellung zusammenhängt mit der verheerenden Wirklichkeit<br />

der Epidemien (Pest) der Zeit ist unklar. Möglicherweise aber trugen diese zu einem kollektiven<br />

Gefühl der Unterlegenheit einer vernichtenden Macht gegenüber bei.<br />

Gegen Ende des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts setzte sich eine <strong>Tod</strong>esdarstellung durch: Der <strong>Tod</strong> war ein<br />

Wesen in Menschen- <strong>und</strong> Leichengestalt zugleich, ein unaustilgbares Gegenbild des lebendigen<br />

Körpers <strong>und</strong> bildlicher Ausdruck eines jetzt feststehenden Gefühls.<br />

18 Die Legende von den drei Lebenden <strong>und</strong> den drei Toten war laut Norbert Ohler häufig auf Beinhäusern abgebildet:<br />

„Drei vornehme junge Männer reiten aus <strong>und</strong> stossen auf drei verweste Skelette, die sie mit einfachen<br />

Worten an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern: ‚Was wir gewesen sind, seid ihr jetzt; was wir sind,<br />

werdet ihr sein’ (Quod fuimus, estis; quod sumus, vos eritis).“ Ohler, Norbert: Sterben <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> im Mittelalter,<br />

Artemis, München/Zürich, 1990, S. 31.


Totentanz<br />

Seit Beginn des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts stellte der Totentanz eine eigene Dimension des Kollektivempfindens<br />

dar. Der Totentanz war eine der ersten kollektiven Äusserungen der neuen Profankultur<br />

19 , die Begegnung mit der körperlichen Endlichkeit wurde so aufs Genaueste dargestellt.<br />

Die hierarchisch gegliederten Mitglieder jedes Standes treffen sich paarweise mit einem<br />

Toten, jedes Paar stellt einen Leichnam im Streit mit einem Lebenden dar, dessen Ebenbild<br />

man im täglichen Leben begegnen konnte. Die Lebenden werden von den Toten nicht von<br />

hinten überrascht <strong>und</strong> sie werden auch nicht physisch getötet. Die Menschen wissen, dass<br />

durch den <strong>Tod</strong> nicht bloss die menschliche Hülle zugr<strong>und</strong>e gerichtet wird, sondern die ganze<br />

menschliche Wirklichkeit aus Macht <strong>und</strong> Duldsamkeit, Schmerz <strong>und</strong> Genuss. Der <strong>Tod</strong> zwingt<br />

allein durch seine Gegenwart jeden unter seinen Willen, Gegenwehr wehrt er mit einer einzigen<br />

Geste ab. Die Einzigartigkeit der Macht all dieser Toten kommt nicht unmittelbar von<br />

Gott, sondern eher von der menschlichen Situation.<br />

Der Totentanz verwirklichte einen neuen Sinn für Dauer: Einerseits drückte er das <strong>Tod</strong>esbewusstsein<br />

einer Gesamtheit aus, die Tragödie des einzelnen ist dabei genauso dramatisch wie<br />

die seiner Ebenbilder zusammen. Der Totentanz brachte andererseits auch das Staunen der<br />

Lebenden zum Ausdruck, das Eingeständnis der Hinfälligkeit von Körper <strong>und</strong> Gütern.<br />

In allen Totentanzdarstellungen ist auch Ironie festzustellen. Verglichen mit den sich verrenkenden<br />

<strong>und</strong> sich schaukelnden Skeletten der Toten, wirken die sich wehrenden Lebenden störrisch<br />

<strong>und</strong> tölpelhaft. Hohnlachend ziehen die Toten die Lebenden in ihren Reigen. Die Ironie<br />

verschont keinen <strong>und</strong> bringt das Bewusstsein der Grenze der physischen Existenz dank ihres<br />

dramatischen, aber objektiven <strong>und</strong> psychologischen Abstandnehmens zum Ausdruck.<br />

Die Perspektive vom doppelten Los des eigenen Dase<strong>ins</strong> trat noch in Äusserungen von Busse<br />

<strong>und</strong> betrübtem Staunen zutage. Zwischen diesen beiden sich ergänzenden <strong>und</strong> auch widersprüchlichen<br />

Aspekten gab es jedoch einen neuen Kern, eine Art von schmerzlichem Gefühl<br />

für die eigene menschliche Wirklichkeit. Denn der Wehmut über das Aufgeben aller irdischen<br />

Freuden traten Ironie <strong>und</strong> Sarkasmus gegenüber, die die christliche Weisheit <strong>und</strong> auch der<br />

asketische Rigorismus bis dahin nicht gekannt hatten. Man wollte nicht mehr nur die Gleichheit<br />

jeglicher Situation vor dem <strong>Tod</strong>e bekräftigen, sondern behaupten, er könne ein Gegengewicht<br />

zu den Leidenschaften <strong>und</strong> der Begeisterung, zu den Irrtümern <strong>und</strong> der Wahrheit der<br />

Menschen bilden. Ohne Hölle <strong>und</strong> Paradies genügte die unüberwindliche Bitterkeit angesichts<br />

der physischen Vernichtung <strong>und</strong> die Wirklichkeit des irdischen Endes in den Totentanzdarstellungen<br />

allein, dem Leben einen tragischen <strong>und</strong> zugleich völlig menschlichen Sinn zu geben.<br />

19 Der <strong>Tod</strong>, zugleich Bestimmung aller <strong>und</strong> das Los jedes einzelnen, wurde beispielsweise im literarischen Werken<br />

bedauert. Einerseits wurde der <strong>Tod</strong> noch immer nach der christlichen Lehre als Ende des leiblichen Lebens<br />

wahrgenommen, wobei die Seele im Jenseits weiterleben kann. Andererseits kam in literarischen Werken auch<br />

die Liebe zur irdischen Existenz zum Ausdruck, bedauert wurde die eigene körperliche Bestimmung/Zersetzung<br />

mit einem tiefen Einblick in den organischen Charakter des menschlichen Lebens. (genannt wird als Beispiel der<br />

Dichter Eustache Deschamps, gest. 1406).


Bildmaterial Bosch<br />

Die Unterrichtseinheit hat nicht als Ziel, den Lernenden in umfassender Art <strong>und</strong> Weise die<br />

<strong>Tod</strong>esvorstellung der katholischen Gläubigen im Mittelalter näher zu bringen. Falls es die<br />

Lehrperson aber als notwendig erachtet, diese Vorstellungen zu thematisieren, eignen sich als<br />

Bilderquellen die Darstellungen von Hieronymus Bosch. Boschs Bilder vermitteln dank ihrer<br />

ausdruckstarken Bildersprache eindrücklich die Vorstellung vom Jenseits: Jüngstes Gericht,<br />

Himmel <strong>und</strong> Hölle.<br />

Bild 1: Das Paradies<br />

Bild 2: Die Hölle<br />

Bild 3: Das Leben<br />

Angaben zum Bild:<br />

Maler: Hieronymus Bosch<br />

Zeit: um 1500<br />

Titel des Werks: Heuwagen-Triptychon, linker<br />

Flügel – Das irdische Paradies<br />

Internet-Link für Ausdruck des Bildes:<br />

www.poster<strong>und</strong>kunstdrucke.de (unter Suche<br />

den Begriff Bosch eingeben)<br />

Angaben zum Bild:<br />

Maler: Hieronymus Bosch<br />

Zeit: um 1500<br />

Titel des Werks: Heuwagen-Triptychon,<br />

rechter Flügel - Die Hölle<br />

Internet-Link für Ausdruck des Bildes:<br />

www.poster<strong>und</strong>kunstdrucke.de (unter Suche<br />

den Begriff Bosch eingeben)<br />

Angaben zum Bild:<br />

Maler: Hieronymus Bosch<br />

Zeit: um 1500<br />

Titel des Werks: Heuwagen-Triptychon, Mittelbild<br />

Internet-Link für Ausdruck des Bildes:<br />

www.poster<strong>und</strong>kunstdrucke.de (unter Suche<br />

den Begriff Bosch eingeben)


Der Basler Totentanz 20<br />

Um 1440 malte ein unbekannter Künstler auf die Innenseite der<br />

Laienfriedhofsmauer beim Dominikanerkloster einen etwa zwei<br />

Meter hohen <strong>und</strong> 60 Meter langen Totentanz. Als 1805 die Mauer<br />

niedergelegt wurde, wurde auch das Bild zerstört. Einige<br />

Kunstfre<strong>und</strong>e retteten Bildfragmente, welche heute im<br />

Historischen Museum Basel ausgestellt sind.<br />

� Totentanz<br />

Unter einem Totentanz verstand man im Mittelalter zunächst die Darstellung eines Reigens<br />

oder Tanzes von Totengestalten mit lebenden Personen, welche die ständische Gesellschaft<br />

repräsentierten. Der Reigen wurde meist von Versen begleitet. Am Anfang oder Ende des<br />

Zyklus standen oft Darstellungen der Busspredigt oder des Sündenfalls. Die meisten Totentanzbilder<br />

waren monumentale Malereien auf Friedhofsmauern, Kapellen oder Beinhäusern.<br />

Ausgehend von den Fresken an der Kirchenhofmauer des Franziskanerklosters Aux Saints<br />

Innocents in Paris von 1424/25 <strong>und</strong> der Abteikirche La Chaise-Dieu in der Auvergne, ebenfalls<br />

aus der ersten Hälfte des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts, verbreiteten sich die Totentänze in ganz Europa.<br />

37 Tanzpaare: sterbender Mensch mit einem Leichengerippe<br />

Alte Bildkopien <strong>und</strong> frühe Beschreibungen des Basler Totentanzes vermitteln eine gute Vorstellung<br />

des ehemaligen Bildfrieses, der von links nach rechts zu lesen ist <strong>und</strong> mit einer Predigtszene<br />

eingeleitet wird: Eine kleine Menschengruppe schart sich um einen Geistlichen, der<br />

im Freien vermutlich über das Sterben predigt. Daneben springen zwei halb verweste Leichen<br />

aus einem Beinhaus <strong>und</strong> spielen zum Tanz der Menschen mit dem <strong>Tod</strong> auf. 37 Tanzpaare,<br />

bestehend aus je einem Leichengerippe <strong>und</strong> einem sterbenden Menschen, bewegen sich auf<br />

das Beinhaus zu. Die Leichengerippe<br />

personifizieren den <strong>Tod</strong>. Die einzelnen<br />

Sterbenden sind durch ihre Kleider <strong>und</strong><br />

Attribute als Angehörige verschiedener<br />

Gesellschaftsgruppen gekennzeichnet.<br />

Die Reihenfolge der Tanzenden spiegelt<br />

den spätmittelalterlichen Gesellschaftsaufbau:<br />

Den Tanzzug führen die geistlichen<br />

<strong>und</strong> weltlichen Obrigkeiten an, gefolgt<br />

von den Stände- <strong>und</strong> Berufsvertretern<br />

einer Stadt. Am Ende tanzen die<br />

niedrigsten Vertreter der Gesellschaft:<br />

Blinder, Jude, Heide Heidin, Koch <strong>und</strong><br />

Bauer.<br />

Neben dem hierarchischen Gliederungsmotiv sind im Wechsel von geistlichen zu weltlichen<br />

<strong>und</strong> von männlichen zu weiblichen Personen weitere Ordnungsprinzipien zu erkennen.<br />

Das Bild mit dem makabren <strong>Thema</strong> wollte die Ungewissheit der <strong>Tod</strong>esst<strong>und</strong>e, die Allgegenwärtigkeit<br />

des <strong>Tod</strong>es <strong>und</strong> vor allem die Gleichheit aller Menschen vor dem <strong>Tod</strong>e darstellen.<br />

Besucherinnen <strong>und</strong> Besucher des Friedhofs sollten an die Vergänglichkeit alles Irdischen <strong>und</strong><br />

an die Endlichkeit ihres eigenen Lebens erinnert werden. Sie wurden ermahnt, irdische Werte<br />

wie Reichtum, Schönheit <strong>und</strong> Macht gering zu achten.<br />

20 Zusammengestellt aus: Egger, Franz: Der Basler Totentanz, Basel 1990; Sterben – <strong>Tod</strong> – Jenseits. Eine <strong>Tod</strong>esdarstellung<br />

im Wandel der Zeit: Der Grossbasler Predigertotentanz, Unipress, Oktober 2003, Nr. 118;<br />

www.chrikabs.ch/predigerkirche/totentanz.html.


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Giovanni di Boccaccio: Il Decamerone<br />

Aus: Die Pest in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen. Hrsg. <strong>und</strong> übersetzt von Klaus Bergdolt, 1989, S. 38-<br />

51. http://online-media.uni-marburg.de/ma_geschichte/pest Gekürzt <strong>und</strong> vereinfacht.<br />

„Ich sage nun, dass seit der heilbringenden Menschwerdung des Gottessohnes 1348 Jahre<br />

vergangen waren, als in (…) Florenz (…) eine todbringende Pest ausbrach, welche entweder<br />

durch die Einwirkung von Himmelskörpern oder wegen unserer ungerechten Taten durch<br />

Gottes gerechten Zorn zu unserer Besserung über die Sterblichen geschickt wurde. Sie war<br />

einige Jahre zuvor in Ländern im Osten entstanden, hatte eine Unzahl von Menschen hinweg-<br />

gerafft, drang dann unaufhaltsam von Ort zu Ort vor <strong>und</strong> breitete sich auf schreckliche Weise<br />

nach Westen aus. (…)<br />

Etwa zu Frühlingsbeginn dieses Jahres zeigte die Seuche erstmals auf furchtbare <strong>und</strong> erstaunliche<br />

Weise ihre schreckliche Wirkung. (…) Es bildeten sich nämlich Schwellungen in der<br />

Leistengegend oder unter den Achseln, von denen einige mehr oder weniger die Grösse eines<br />

Apfels oder Eies erreichten <strong>und</strong> vom Volk Pestbeulen genannt wurden. (…) Kurz darauf begannen<br />

sich die Zeichen der Krankheit in schwarze <strong>und</strong> blaue Flecken umzuwandeln, die<br />

zahlreich auf den Armen, an den Schenkeln <strong>und</strong> an jeder Stelle des Körpers auftraten, beim<br />

einen grossflächig <strong>und</strong> spärlich, beim andern klein <strong>und</strong> dicht gedrängt. Und wie zuvor die<br />

Beulen ein sicherer Hinweis auf den bevorstehenden <strong>Tod</strong> waren, so waren es für jeden, der sie<br />

bekam, nunmehr diese Flecken. Bei dieser Erkrankung taugte oder nützte offensichtlich weder<br />

der Rat eines Arztes noch eine Medizin. Sehr wenige nur wurden geheilt, (…). Fast alle<br />

starben innerhalb von drei Tagen nach Auftreten der Symptome, meist ohne Fieber oder sonstige<br />

Besonderheiten. Diese Pest war deshalb so gewaltig, weil sie, wenn die Menschen mit-<br />

einander verkehrten, von solchen, die bereits erkrankt waren auf Ges<strong>und</strong>e übergriff (…).<br />

Diese <strong>und</strong> schlimmere Vorfälle verursachten bei den Überlebenden unterschiedliche Ängste.<br />

Und fast alle hatten nur ein grausames Ziel vor Augen: die Kranken zu meiden <strong>und</strong> zu fliehen.<br />

Manche dachten durch eine massvolle Lebensweise <strong>und</strong> dadurch, dass sie sich vor jeglichem<br />

Überfluss hüteten, ihre Widerstandskraft gegen diese Seuche stärken zu können. Sie taten sich<br />

in Gruppen zusammen <strong>und</strong> lebten von jedem andern abgesondert, versammelten <strong>und</strong> schlos-<br />

sen sich in Häusern ein, wo kein Kranker war, <strong>und</strong>, um besser überleben zu können, genossen<br />

sie mit Mass die köstlichsten Speisen <strong>und</strong> besten Weine, mieden aber jede Schwelgerei. (…)<br />

Andere (…) versicherten, die sicherste Medizin bei einem solchen Übel sei reichlich zu trinken,<br />

zu geniessen, singend <strong>und</strong> scherzend umherzuziehen, jeglicher Begierde, wo es nur mög-<br />

lich sei, zu genügen <strong>und</strong> über das, was kommen werde, zu lachen <strong>und</strong> zu spotten. (…) Sie<br />

gingen bei Tag <strong>und</strong> bei Nacht bald in diese, bald in jene Schenke, um haltlos <strong>und</strong> ohne Mass<br />

zu trinken, viel lieber aber in fremde Häuser, wenn sie dort nur Dinge bemerkten, die ihnen<br />

zur Lust gelegen kamen. (…) So waren die meisten Häuser Allgemeingut geworden, <strong>und</strong> ein<br />

Fremder ging, war er nur einmal hineingelangt, damit so um, wie es der Eigentümer getan<br />

hätte. (…)<br />

Bei einer so schrecklichen <strong>und</strong> elenden Verfassung unserer Stadt war das ehrwürdige Ansehen<br />

der Gesetze (…) vernichtet, weil ihre Vollstrecker tot oder krank waren (…). So war es<br />

jedermann erlaubt zu tun was er nur wollte. Viele weitere schlugen einen Mittelweg ein, (…)<br />

alles zu Genüge genossen, wie es ihnen danach stand <strong>und</strong> sich nicht e<strong>ins</strong>chlossen, sondern<br />

umhergingen. (…) Andere sagten, gegen die Pest gebe es keine bessere oder gleichwertige<br />

Arznei als die Flucht vor ihr. Von dieser Überlegung geleitet verliessen viele Leute, an nichts<br />

anderes als sich selbst denkend, die eigene Stadt, ihre Häuser, Ämter, Verwandten <strong>und</strong> ihr<br />

Habe <strong>und</strong> suchten, wenn nicht gar fremde, ihre eigenen Landgüter auf. Als hätte der zornige<br />

Wille Gottes, durch diese Pest die Ungerechtigkeit der Menschen zu bestrafen, sie nicht über-<br />

all, wo sie hingingen, erreichen können, sondern sich in seiner Erregung darauf beschränken<br />

wollen, nur die zu vernichten, die sich innerhalb der Mauern ihrer Stadt befanden.<br />

(…) Von jeder Gruppe aber erkrankten viele <strong>und</strong> gingen dann überall, fast gänzlich im Stich<br />

gelassen, zugr<strong>und</strong>e. Wir wollen nicht erwähnen, dass ein Bürger dem anderen aus dem Weg


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ging, sich fast niemand um seinen Nachbarn kümmerte <strong>und</strong> die Verwandten einander nur selten<br />

oder nie <strong>und</strong> dann nur von ferne sahen. Durch diese Heimsuchung hatte die Herzen der<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen eine solche Angst befallen, dass ein Bruder den anderen verliess, die<br />

Schwester den Bruder, oft die Frau ihren Mann, <strong>und</strong>, was fast unglaublich ist, Väter <strong>und</strong> Mütter<br />

scheuten sich, zu ihren Kindern zu gehen <strong>und</strong> sie zu pflegen (…).<br />

Deshalb blieb für die unzählige Menge von Männern <strong>und</strong> Frauen, die erkrankt waren, keine<br />

andere Hilfe als das Mitleid der Fre<strong>und</strong>e, von denen es freilich wenige gab oder die Habgier<br />

der Wärter, die sie gegen einen hohen <strong>und</strong> unverhältnismässigen Lohn pflegten. Und die, welche<br />

dies taten, waren Männer <strong>und</strong> Frauen von grobem Sinn <strong>und</strong> meist in einem solchen Dienst<br />

unerfahren. Sie machten nichts anderes als den Kranken darzureichen, was sie verlangten <strong>und</strong><br />

zuzusehen, wie sie starben. Freilich fanden sie bei dieser Tätigkeit oft genug selbst den <strong>Tod</strong>.<br />

Und weil die Kranken von Nachbarn, Verwandten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en verlassen <strong>und</strong> Wärter knapp<br />

waren, breitete sich eine bisher unbekannte Gewohnheit aus: Keine Frau hatte, wie gross auch<br />

ihre Lieblichkeit, Schönheit <strong>und</strong> Anmut war, im Falle ihrer Erkrankung Bedenken, sich von<br />

einem Mann bedienen zu lassen <strong>und</strong> ihm gegenüber, wenn es die Notlage der Krankheit erforderte,<br />

ohne Scham jeden Teil ihres Körpers zu entblössen. Dies wurde bei denen, die wieder<br />

ges<strong>und</strong> wurden Anlass einer geringeren Ehrbarkeit. Und viele starben, die, wenn sie gepflegt<br />

worden wären, vielleicht überlebt hätten.<br />

Durch das Fehlen einer geeigneten Pflege wurde die Menge derer, die Tag <strong>und</strong> Nacht in der<br />

Stadt umkamen, so gross, dass es grässlich war, nur davon zu hören, geschweige denn es mitzuerleben.<br />

So entstanden notwendigerweise unter denen, die überlebten, Gewohnheiten, die<br />

den ursprünglich unter den Bürgern gepflegten Gebräuchen entgegenstanden. Es war üblich<br />

gewesen, dass die weiblichen Verwandten <strong>und</strong> Nachbarinnen sich im Haus des Toten versammelten<br />

<strong>und</strong> dort zusammen mit den nächsten weiblichen Angehörigen weinten. Vor dem<br />

Haus des Toten trafen sich dagegen, zusammen mit den männlichen Angehörigen, die Nachbarn,<br />

viele Bürger <strong>und</strong> je nach Stand des Toten auch die Geistlichkeit, <strong>und</strong> er wurde von seinesgleichen<br />

auf den Schultern in einem Leichenzug, mit Wachskerzen <strong>und</strong> Gesängen in die<br />

von ihm vor seinem <strong>Tod</strong>e bestimmte Kirche getragen. Als nun die Pest überall zuzunehmen<br />

begann, verschwanden diese Bräuche <strong>und</strong> neue traten an ihre Stelle. Die Leute starben nicht<br />

nur ohne Klagefrauen um sich zu haben, sondern es gab solche, die ohne Augenzeugen aus<br />

diesem Leben schieden. Nur sehr wenigen wurden das mitleidsvolle Klagen <strong>und</strong> die bitteren<br />

Tränen der Verwandten zuteil. (…) Selten gab es Leichen, die von mehr als zehn oder zwölf<br />

Nachbarn zur Kirche geleitet wurden. Es waren nicht ehrbare <strong>und</strong> angesehene Bürger, die die<br />

Toten trugen, sondern eine Art Totengräber, die dem untersten Volk entstammten <strong>und</strong> sich<br />

„Leichenknechte“ rufen liessen. Diese Leute, die das für Geld taten, kamen zur Bahre <strong>und</strong><br />

trugen den Toten mit hastigen Schritten nicht zu der Kirche, die er vor seinem <strong>Tod</strong>e bestimmt<br />

hatte, sondern meist zur nächstgelegenen. Voraus gingen vier oder sechs Geistliche mit wenigen<br />

Kerzen, manchmal überhaupt keinen. Sie liessen den Toten durch die Leichenträger in<br />

das erstbeste Grab legen das offen stand ohne sich mit einem langen oder feierlichen Gottesdienst<br />

abzumühen.<br />

Es war soweit gekommen, dass man sich um die Menschen, die starben, nicht anders kümmerte<br />

als man es heute bei den Ziegen tut. Da für die beschriebene Masse von Leichnamen,<br />

die täglich <strong>und</strong> fast stündlich zu jeder Kirche gebracht wurden, die geweihte Erde für das Begräbnis<br />

nicht mehr ausreichte, besonders, wenn man nach altem Brauch jedem sein eigenes<br />

Grab hätte geben wollen, wurden in den Kirchhöfen, als jeder Platz belegt war, grosse Gräben<br />

ausgehoben <strong>und</strong> die Neuverstorbenen zu H<strong>und</strong>erten hineingelegt. Sie wurden dort schichtweise<br />

übereinander gestapelt <strong>und</strong> mit wenig Erde bedeckt, bis der Graben zum Rand voll war.<br />

(…)


Zusatzinformation zum Decameron <strong>und</strong> mögliche Quellenanalyse<br />

Die Pest, der so genannte „Schwarze <strong>Tod</strong>“, wütete in den Jahren 1348-51 <strong>und</strong> bildet in der<br />

Geschichte des Mittelalters eine deutliche Zäsur. Sie ergriff weite Teile Europas <strong>und</strong> raffte<br />

etwa einen Drittel seiner Bevölkerung dahin. Die Katastrophe führte im gesellschaftlichen,<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Bereich zu tiefgehenden Veränderungen.<br />

Die literarische Quelle „Il Decamerone“ ist ein Beispiel für eine zeitgenössische Interpretation<br />

der Ursachen <strong>und</strong> Ausbreitung der Pest. Giovanni di Boccaccio beschreibt in seinem Werk<br />

auf eindrückliche Art <strong>und</strong> Weise, wie die Menschen gedacht, gefühlt <strong>und</strong> gehandelt haben. Er<br />

bringt in der Erzählung Änderungen in der Lebensweise, der Sitten <strong>und</strong> der Traditionen als<br />

Folge der Pest zum Ausdruck. Es wird für die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler eine Herausforderung<br />

sein, die <strong>Tod</strong>esvorstellung, die hier zum Ausdruck gebracht werden, herauszuarbeiten,<br />

da Boccaccio nicht direkt auf dieses <strong>Thema</strong> eingeht.<br />

Für die Arbeit in den Gruppen erhalten die Lernenden zusammen mit der Quelle Angaben zu<br />

Boccaccio, dem Autor, sowie zu „Il Decamerone“, dem Werk, denn für die Interpretation ist<br />

es wichtig, dass die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler wissen, wer Boccaccio ist: nicht ein frommer<br />

Mönch, der seine Zeit aus religiöser Überzeugung kritisiert sondern ein gewöhnlicher, oder<br />

zur Oberschicht zu zählender, aber einfach lebender Bürger, der dank seinen vielseitigen Tätigkeiten<br />

Einblick hatte in wichtige Aspekte der gesellschaftlichen Geschehnisse seiner Zeit.<br />

Giovanni di Boccaccio<br />

Giovanni Boccaccio wurde 1313 als unehelicher Sohn des Geschäftsmannes <strong>und</strong> Mitarbeiters<br />

eines grossen Bankhauses (namens Bardi, Boccaccino di Chellino) <strong>und</strong> einer heute Unbekannten<br />

in Florenz geboren. Er wuchs im Hause des Vaters auf, siedelte 1327 nach Neapel<br />

über <strong>und</strong> begann dort eine Banklehre. Nach einem kurzen Studium des Kirchenrechts widmete<br />

er sich der Literatur <strong>und</strong> schrieb nebst Übersetzungen lateinischer Autoren bereits eigene<br />

Werke. Dank den Beziehungen <strong>und</strong> Kontakten seines Vaters gewann Giovanni auch Zugang<br />

zum Königshof.<br />

1340/41 kehrte er in sein Vaterhaus zurück <strong>und</strong> widmete sich diplomatischen Aufgaben. Sein<br />

Hauptwerk, das Decameron, entstand in den Jahren 1349 bis 1353.<br />

Nebst den Werken von Dante <strong>und</strong> Petrarca zählt Boccaccios „Il Decamerone“ zu den Höhepunkten<br />

der italienischen Literatur des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Inhalt von „Il Decamerone“<br />

1348: Grosse Teile Europas sind von der grossen Pestwelle betroffen, sieben junge Frauen<br />

treffen sich in einer Kirche von Florenz. Sie beschliessen, für einige Zeit die pestverseuchte<br />

Stadt zu verlassen <strong>und</strong> in eine Villa auf dem Land zu fliehen. Die Frauen nehmen drei junge<br />

Männer mit zur Villa, die zufällig bei der Kirche vorbei gekommen sind.<br />

Diese zehn Personen erzählen sich nun auf dem Land an zehn Tagen jeweils zehn Novellen.<br />

Daher heisst das Buch „Decameron“, Zehntagewerk.<br />

Boccaccio beschreibt das Zusammenleben der Zehn als Vorbild des kultivierten Stils, der<br />

Brüderlichkeit <strong>und</strong> des Masshaltens. Damit schildert er ein Gegenbild zu der verwüsteten<br />

Stadt Florenz, die seiner Meinung nach schon vor der Pest durch den Niedergang des Adels<br />

<strong>und</strong> die Geldsucht der neuen Kaufmannsschicht moralisch verkommen war.<br />

Die Novellen handeln vor allem von Frauen, die aus Liebe melancholisch werden <strong>und</strong> die, in<br />

ihren dunklen Wohnhäusern von strengen Vätern oder eifersüchtigen Männern bewacht, keine<br />

Ablenkung haben. Ihnen will Boccaccio mit seinen h<strong>und</strong>ert Geschichten Abwechslung <strong>und</strong><br />

Leben <strong>ins</strong> Haus bringen. Er will ihnen zeigen, wie sie durch kleine Massnahmen der Tyrannei<br />

der Kirche, der Väter <strong>und</strong> Ehemänner entkommen können. Die Erzählungen Boccaccios sind


Liebesgeschichten, bei denen die Sexualität einen wesentlichen Bestandteil bildet. Mit seinem<br />

Werk hat Boccaccio die Grenzen dessen, worüber man zu seiner Lebzeit schreiben durfte,<br />

stark ausgeweitet.<br />

Der Quellenausschnitt ist Teil der Vorgeschichte von „Il Decamerone“. 21<br />

Analyse<br />

Textsorte<br />

Bei der Quelle handelt es sich um einen literarischen Text. Das heisst, der Text beansprucht<br />

für sich nicht historische Wahrheit, wie die Lernenden es von Quellen wie amtlichen Dokumenten<br />

oder Protokollen kennen, sondern er widerspiegelt subjektive Wahrnehmungen, persönliche<br />

Meinungen <strong>und</strong> E<strong>ins</strong>chätzungen des Autors. Zusätzlich muss davon ausgegangen<br />

werden, dass Boccaccio stilistische Mittel verwendet, damit das Werk bei seinen Leserinnen<br />

<strong>und</strong> Lesern sowie bei den Kritikern Geltung erlangen kann.<br />

Autor<br />

Der Autor, Giovanni Boccaccio, der 1313 als unehelicher Sohn eines Geschäftsmannes eines<br />

grossen Bankhauses im Hause des Vaters aufwuchs, verbrachte einige Zeit seines Lebens ausserhalb<br />

von Florenz, hat nach seiner Rückkehr die Pestepidemie in der Stadt aber selber erleben<br />

können. Boccaccio absolvierte nebst einer Banklehre auch ein Studium der Literatur <strong>und</strong><br />

bemühte sich um Übersetzungen lateinischer Werke. Boccaccio hatte zur Zeit des Ausbruchs<br />

der Pest seinen Wohnsitz in Florenz. Als Diplomat war aber im Auftrag der Regierung häufig<br />

auf Reisen.<br />

Zeit<br />

Boccaccios Hauptwerk, „Il Decamerone“, entstand in den Jahren 1349 bis 1353, also genau<br />

während der Pestepidemie in Florenz. Daraus wird ersichtlich, dass der Autor die Geschehnisse<br />

direkt, aus eigener Betroffenheit heraus, beschreibt. Dies weist auf authentische Beschreibungen<br />

hin, die einerseits nicht getrübt wurden durch Vergessen im Verlauf der Zeit, andererseits<br />

führt dies aber auch dazu, dass Boccaccio über keine örtliche <strong>und</strong> zeitliche Distanz zum<br />

Erzählten verfügt, dass seine Darstellung also Emotionen <strong>und</strong> möglicherweise unreflektierte<br />

Urteile enthalten könnte.<br />

Zielpublikum<br />

Mit dem Gesamtwerk „Il Decamerone“ richtet sich Boccaccio, wie er selber es schreibt, an<br />

Frauen, die von ihren Vätern, Ehemännern <strong>und</strong> den Erwartungen der Gesellschaft ihrer Freiheit<br />

beraubt, ein langweiliges Dasein fristen müssen <strong>und</strong> ihre Wünsche <strong>und</strong> Sehnsüchte nicht<br />

ausleben können. Mit dem Buch wolle er sie aufheitern <strong>und</strong> ihnen die Langeweile vertreiben.<br />

Der gewählte Quellenausschnitt ist Teil des Erzählrahmens des Gesamtwerks, der nicht nur<br />

spezifisch an Frauen gerichtet ist, da er ganz allgemein den Zerfall der menschlichen Solidarität<br />

in (Not-)Situationen darstellt <strong>und</strong> kritisiert. Mögliches Zielpublikum des gewählten Ausschnitts<br />

ist die gesamte Gesellschaft seiner Zeit, der er einen Spiegel vorhalten wollte, andererseits<br />

könnte Boccaccio auch die Absicht gehabt haben, der Nachwelt einen Eindruck der<br />

Geschehnisse in Florenz während der Pest zu vermitteln. 22<br />

21 Angaben zum Autor <strong>und</strong> zum Werk aus: Boccaccio, Giovanni: Das Decameron. Auswahl, Übersetzung <strong>und</strong><br />

Kommentierungen: Kurt Flasch; Der Hör-Verlag, München, 2002.<br />

22 Diese Vermutungen werden durch die Aussagen in den Zeilen 1-5 der Quelle unterstützt.


Analyse der Quelle h<strong>ins</strong>ichtlich der Aufgaben an die Schüler<br />

Im Bezug auf die Fragestellung zeigt die Quelle einerseits mutmassliche Ursachen, Ursprünge<br />

<strong>und</strong> Folgen der Pest auf. Im Erzählrahmen, also dem vorliegenden Ausschnitt aus der Quelle<br />

„Il Decamerone“, meldet sich Boccaccio als Erzähler selbst zu Wort. 23 Als Erstes erklärt er,<br />

wie sich die Pest von Osten bis nach Europa ausgebreitet hat. Der Hinweis auf unerklärliche<br />

Gründe als ursprüngliche Ursache für die Pest – Boccaccio spricht den Einfluss von Himmelskräften<br />

oder eine göttliche Strafe für frevlerisches Verhalten an – deutet auf die Gläubigkeit<br />

der Menschen zur damaligen Zeit <strong>und</strong> weist auch auf den rationellen Erklärungsnotstand<br />

h<strong>ins</strong>ichtlich der Pestkatastrophe hin. 24<br />

Boccaccio spricht von Veränderungen, welche der Pestausbruch <strong>und</strong> das damit einhergehende<br />

Massensterben in der Stadt Florenz im alltäglichen Verhalten der Menschen genauso aber<br />

auch in wichtigen traditionellen Handlungen mit sich brachte 25 : Er berichtet, wie in der Panik<br />

des Massenssterbens – ausgelöst durch die Pest – jeder nur noch an sich selbst denke <strong>und</strong> alle<br />

Bande der Menschlichkeit zerschnitten würden. Mitleid, familiäre Verantwortlichkeit oder<br />

religiöse Sitten würden vergessen oder aufgegeben. Wer infiziert sei, bleibe sich selbst überlassen:<br />

Kinder kümmerten sich nicht mehr um ihre Eltern, Eltern nicht mehr um ihre Kinder.<br />

Aber nicht nur das, denn auch um die Toten möge sich niemand mehr in traditioneller Art <strong>und</strong><br />

Weise kümmern: Leichen gälten als hohes Ansteckungsrisiko, dem sich niemand durch den<br />

Besuch von Trauerfeierlichkeiten unnötig aussetzen wolle. Für die üblichen Bestattungsrituale<br />

aber lasse sich niemand finden, entweder seien die Verantwortlichen geflüchtet oder gestorben<br />

<strong>und</strong> wer noch übrig bleibe <strong>und</strong> die Bestattung vornehmen könne, sei überlastet oder suche<br />

nur raschen finanziellen Profit. 26<br />

Boccaccio beklagt also die verloren gegangenen Bräuche <strong>und</strong> kritisiert deren mangelhaften<br />

Ersatz durch neue Bestattungsrituale <strong>und</strong> Verhaltensweisen. Diese Textstellen fallen durch die<br />

Formulierung von Boccaccios Entsetzen <strong>und</strong> der ungewohnten Schärfe der Kritik auf. 27 Die<br />

Pest <strong>und</strong> ihr Einfluss auf das Alltagsleben der Menschen, die Kultur, die Ausübung von religiösen<br />

Ritualen <strong>und</strong> die Gesellschaft werden nicht mit Hilfe einer neutral formulierten Quelle<br />

vermittelt. 28<br />

Nebst der Auflösung der Traditionen kritisiert Boccaccio auch den allgemeinen Sittenzerfall,<br />

kann er doch gerade bei jungen Frauen Schamlosigkeit <strong>und</strong> Unkeuschheit beobachten. Diese,<br />

durch die Erkrankung an der Pest angewiesen auf fremde Hilfe, würden sich nun sogar vor<br />

fremden Männern ohne Scham entblössen, moniert er <strong>und</strong> befürchtet, dass dies im Fall der<br />

Genesung dieser Frauen zu einer Minderung ihres Ehrgefühls führen könnte. 29 Allerdings ist<br />

sich Boccaccio auch bewusst, dass die Frauen sich aus Notwendigkeit, weil sie eben von allen<br />

Angehörigen im Stich gelassen wurden, so verhalten. 30 Diese Textstelle ist in doppelter H<strong>ins</strong>icht<br />

von Bedeutung. Erstens wollte Boccaccio mit dem gesamten „Decamerone“ den Frauen,<br />

welche er wegen ihrer strengen Überwachung durch die Männer als besonders bemitleidenswert<br />

definierte, etwas Abwechslung in ihr langweiliges Leben bringen durch seine Geschichten.<br />

Dass die Erzählungen im „Decamerone“ voller erotischer Anspielungen sind, scheint<br />

nicht zu der Kritik am Verhalten dieser auf Hilfe angewiesenen Frauen zu passen. Als zweite<br />

23 Vgl. Zeile 1: „ Ich sage nun…“<br />

24 Zeilen 2-7 <strong>und</strong> 44.<br />

25 Zeilen 69 <strong>und</strong> 70.<br />

26 Zeilen 47-53.<br />

27 Zeilen 22, 69-88 <strong>und</strong> 92-94.<br />

28 Bei der Interpretation wird auf die Gründe für Boccaccios Haltung nicht eingegangen, da dies im Rahmen<br />

dieser Quellenarbeit nicht als Erkenntnisziel erarbeitet werden soll. Ein Hinweis auf diesen Sachverhalt, falls<br />

notwendig von Seiten der Lehrperson, ist aber sicherlich angebracht.<br />

29 Zeilen 61-65.<br />

30 Zeilen 65 <strong>und</strong> 66.


Möglichkeit muss daher die Überlegung in Betracht gezogen werden, dass Boccaccio den<br />

Frauen Hoffnung machen wollte, dass sich ihre Situation bald verändern könnte. 31<br />

Die Quelle deutet nicht konkret auf die Bedeutung des <strong>Tod</strong>es für die Menschen hin. Der <strong>Tod</strong><br />

erscheint den von der Pest befallenen Menschen sicherlich als Erlösung, weil er Linderung<br />

von den zu erduldenden Schmerzen bringen wird. Allerdings dürfte dies für den von mittelalterlichen<br />

Glaubensvorstellungen geprägten Menschen nur ein schwacher Trost gewesen sein,<br />

hat er doch den Glauben an ein Weiterleben nach dem <strong>Tod</strong>, welcher ihm von der Kirche vermittelt<br />

wurde. Danach erwarten den sündhaften Menschen im Jenseits Hölle <strong>und</strong> Fegefeuer –<br />

deren Schrecken die durch die Pest erlittenen Schmerzen bereits erahnen liessen. 32<br />

Die Quelle gibt keine konkreten Hinweise auf solche Glaubensvorstellungen. Jedoch wird,<br />

wie schon oben erwähnt, der Verlust der religiösen Zeremonien <strong>und</strong> Bestattungsrituale, die<br />

noch vor der Pest zum traditionellen Brauchtum gehörten, betrauert, was auf die die Kirchentreue<br />

<strong>und</strong> die Gläubigkeit der Menschen hindeutet. Dass diese Zeremonien nun nicht mehr<br />

streng befolgt werden, hängt sicherlich mit der Krankheit zusammen, indirekt verweist es aber<br />

auch auf die Machtlosigkeit der Kirche gegenüber der Katastrophe der Pest <strong>und</strong> auf ihre Unfähigkeit,<br />

die Gläubigen in der Situation grösster Not zu betreuen.<br />

<strong>Tod</strong>esvorstellung Basler Totentanz – „Il decamerone“<br />

Im Vergleich zum Basler Totentanz kommt in dieser Textquelle eine vollständig andere Vorstellung<br />

des H<strong>ins</strong>chieds aus dem Leben zum Ausdruck. Der <strong>Tod</strong>, als das Ende des menschlichen<br />

Lebens, wird von Boccaccio als schreckliche Angelegenheit beschrieben. Verunstaltet<br />

durch die Pest <strong>und</strong> alleingelassen von allen Angehörigen oder Fre<strong>und</strong>en, muss der Mensch<br />

nach kurzem Ringen mit dem <strong>Tod</strong> <strong>ins</strong> Jenseits reisen. 33 Wohin diese Reise gehen wird ist unklar,<br />

die angedeutete Vermutung zur Ursache der Pest 34 deutet aber auf die Vorstellung vom<br />

Fegefeuer <strong>und</strong> der Hölle hin, als Strafe für alle Untaten im Diesseits. Die Darstellung der Beziehung<br />

zwischen <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> Mensch im Basler Totentanz hingegen zeugt von einer <strong>Tod</strong>esvorstellung,<br />

die nicht von Angst oder Schrecken geprägt ist: Alle Menschen auf der Abbildung<br />

treten dem <strong>Tod</strong> unverkrampft entgegen. Sie wehren sich nicht gegen den <strong>Tod</strong>. Im Vergleich<br />

dazu beschreibt Boccaccio, wie sich die Menschen in Florenz mit den verschiedensten Mitteln<br />

vor der Pest – <strong>und</strong> damit für die meisten vor dem <strong>Tod</strong> – zu wehren versuchten. 35 Boccaccio<br />

lässt aber nicht unerwähnt, dass die meisten dieser Versuche erfolglos endeten, die Mehrzahl<br />

der Menschen steckte sich mit der Krankheit an <strong>und</strong> starb. 36 Dieses Wissen von der Sinnlosigkeit,<br />

gegen den <strong>Tod</strong> anzukämpfen, scheinen die Menschen im Basler Totentanz den Menschen<br />

aus Florenz voraus zu haben.<br />

Die Menschen von Florenz scheinen ihr Leben zu geniessen, die meisten der beschriebenen<br />

sind wohl durch den Handel reich geworden <strong>und</strong> können sich einen gehobenen Lebensstandart<br />

leisten. Von den Genüssen des diesseitigen Lebens wollen sie nun nicht Abschied nehmen,<br />

vielleicht fehlt ihnen das Vertrauen, welches die auf dem Basler Totentanz dargestellten Menschen<br />

<strong>ins</strong> jenseitige Leben haben.<br />

Im Vergleich zu den Menschen im Basler Totentanz, welche vom <strong>Tod</strong> während ihren gewohnten<br />

Tätigkeiten oder Arbeiten eingeholt werden, sterben die Pestopfer in „Il Decamerone“<br />

einen qualvollen <strong>Tod</strong> voller Schmerz. Diese zwei völlig unterschiedlichen <strong>Tod</strong>esarten<br />

können ebenfalls auf ungleiche Vorstellungen vom Jenseits hindeuten.<br />

31<br />

Vgl. dazu auch die Hinweise zum Zielpublikum von „Il Decamerone“.<br />

32<br />

Ein Gläubiger, den die Pest befallen hatte, ging wohl selten davon aus, dass ihn im Jenseits das Paradies beschieden<br />

sein würde.<br />

33<br />

Zeilen 8-19.<br />

34<br />

Vgl. die bereits erwähnte Stelle Zeilen 3 <strong>und</strong> 4.<br />

35 Zeilen 22 ff.<br />

36 Zeile 47.


Boccaccio will in diesem Ausschnitt des „Decamerone“ die Situation von Florenz während<br />

der Pest um 1350 beschreiben. Er will zeigen, wie sich die Menschen verhalten haben, welche<br />

Überlegungen sie angestellt hatten, um dem <strong>Tod</strong> zu entkommen <strong>und</strong> noch weiter leben zu<br />

können. Boccaccios Kritik ist nicht offensichtlich, vielleicht aber gerade deswegen umso wirkungsvoller.<br />

Er beschreibt nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern liefert, zum Teil zwar<br />

mit harten Worten, eine Beschreibung <strong>und</strong> Analyse der aktuellen Situation <strong>und</strong> gerade dadurch<br />

erhält der Textausschnitt seine Bedeutung. Erst bei genauerem H<strong>ins</strong>ehen wird Boccaccios<br />

versteckte Kritik am Leben, welches die reichen Leute von Florenz führen, dem Sittenzerfall,<br />

der durch die Pest verschlimmert wird <strong>und</strong> der Gesetzlosigkeit deutlich. Ebenfalls nur<br />

bei genauerer Betrachtung wird sichtbar, dass Boccaccio auch religiöse Anspielungen macht,<br />

indem er darauf hinweist, dass niemand vor der Pest <strong>und</strong> dem <strong>Tod</strong> fliehen kann, wie auch<br />

immer er sich dagegen zu wehren versucht.


<strong>Geburt</strong> in der Neuzeit


Statistisches Datenmaterial<br />

Ehe, <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> in der ganzen Schweiz 37<br />

Jahresmittel<br />

Gr<strong>und</strong>zahlen Auf 1000 Einwohner<br />

<strong>Geburt</strong>en<strong>Geburt</strong>en-<br />

Heiraten Geborene Gestorbene überschuss Heiraten Geborene Gestorbene überschuss<br />

1836/41 15’853 72’634 56’100 16’534 7.20 32.90 25.40 7.50<br />

1846/50 14’884 69’495 54’294 15’201 7.00 32.30 24.30 8.00<br />

1856/60 18’064 74’670 57’027 17’634 7.30 30.10 23.60 8.10<br />

1866/70 18’385 81’900 65’166 16’734 7.00 31.10 24.80 6.30<br />

1876/80 20’740 91’197 68’227 22’970 7.40 32.50 24.30 8.20<br />

1886/90 20’592 83’829 63’005 20’824 7.00 28.60 21.50 7.10<br />

1896/00 24’960 95’163 61’867 33’296 7.70 29.50 19.20 10.30<br />

1906/10 27’482 98’020 61’639 36’381 7.50 26.90 16.90 10.00<br />

200238 20’73739 72’37240 61’76841 10’604<br />

Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert setzt eine bis um 1900 dauernde Welle des Bevölkerungswachstums ein.<br />

Dieses Bevölkerungswachstum wird mit weniger häufig auftretenden Versorgungskrisen <strong>und</strong><br />

Epidemien begründet: Es gab keine Rückschläge im Wachstumsprozess, so dass sich die Bevölkerung<br />

Europas über ein Jahrh<strong>und</strong>ert lang entfalten konnte. Dies führte zu Veränderungen<br />

in der landwirtschaftlichen, industriellen, sozialen <strong>und</strong> politischen Entwicklung <strong>und</strong> leitete<br />

eine kontinentweite Verstädterung ein.<br />

Wie die Tabelle zeigt, führten v.a. zwei Veränderungen zur Zunahme der Bevölkerung:<br />

1. Veränderungen in der Sterblichkeit der Menschen.<br />

2. Veränderungen in der Fruchtbarkeit <strong>und</strong> der Heiratshäufigkeit <strong>und</strong><br />

Voraussetzung für das Bevölkerungswachstum war die Garantie, dass die Versorgung der<br />

wachsenden Bevölkerung mit Lebensmitteln gesichert war. Fortschritte auf technischer, medizinischer,<br />

industrieller <strong>und</strong> auch landwirtschaftlicher Ebene waren notwendig. 42<br />

37<br />

Vgl. Bickel, Wilhelm: Bevölkerungsgeschichte <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des<br />

Mittelalters (Forschung <strong>und</strong> Leben, Naturwissenschaftliche Bibliothek der Büchergilde Gutenberg), Buchdruckerei<br />

Berichthaus Zürich, Zürich, 1947, S 148.<br />

38<br />

Alle Angaben zum Jahr 2004: Taschenstatistik der Schweiz 2004, hrsg. vom B<strong>und</strong>esamt für Statistik, 2004.<br />

Internet: www.statistik.admin.ch.<br />

39<br />

Die Zahl entspricht der Anzahl Heiraten zwischen einer Schweizerin <strong>und</strong> einem Schweizer. Total Heiraten in<br />

der Schweiz 2002: 40'213 (davon 7'939 Schweizer/Ausländerin; 6'305 Schweizerin/Ausländer <strong>und</strong> 5'232 Ausländerin/Ausländer).<br />

Angaben aus: Taschenstatistik der Schweiz 2004, S. 6.<br />

40<br />

Total <strong>Geburt</strong>en (Lebendgeburten) in der Schweiz 2002, Angaben aus: Taschenstatistik der Schweiz 2004, S. 6.<br />

41<br />

Total <strong>Tod</strong>esfälle 2002 in der Schweiz, Angaben aus: Taschenstatistik der Schweiz 2004, S. 6.<br />

42<br />

Da Kenntnisse zum <strong>Thema</strong> „Industrialisierung“ vorausgesetzt werden dürfen, sollte sich die Behandlung dieser<br />

Aspekte erübrigen. Als Übersichtstext ist die Beilage „Übersichtstext Industrielle Revolution“ geeignet.


Säuglingssterblichkeit in zwei Städten <strong>und</strong> zwei ländlichen Gebieten 43<br />

Gebiet Zeitraum Säuglingssterblichkeit in %<br />

Stadt Leipzig 1751-1800 35<br />

Stadt Wien 1752-1754 40<br />

Amt Entlebuch (Kt. LU) 1760-1790 18<br />

1820-1850 15<br />

Haslen (Kt. AI)<br />

1760-1800 31<br />

1825-1834 37<br />

Säuglings- <strong>und</strong> Kindersterblichkeit bei der Oberschicht <strong>und</strong> Unterschicht<br />

der Stadt Luzern am Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts 44<br />

Alter (Jahre) Oberschicht (in %) Unterschicht (in %)<br />

1 26 31<br />

5 30 42<br />

10 35 47<br />

15 37 49<br />

Säuglings- <strong>und</strong> Kindersterblichkeit bei verschiedenen Berufsgruppen 45<br />

<strong>Geburt</strong>sjahrgänge<br />

1750<br />

bis<br />

1799<br />

1800<br />

bis<br />

1849<br />

Alter<br />

(Jahre)<br />

1<br />

5<br />

10<br />

15<br />

1<br />

5<br />

10<br />

15<br />

von 1000 Neugeborenen starben, bevor sie das Alter x erreichten<br />

Handwerker<br />

Wirte,<br />

Kaufleute<br />

usw.<br />

199<br />

336<br />

377<br />

390<br />

231<br />

328<br />

352<br />

366<br />

Bauern Landarbeiter,<br />

Taglöhner<br />

210<br />

315<br />

346<br />

359<br />

213<br />

300<br />

324<br />

340<br />

226<br />

348<br />

382<br />

397<br />

Sonstige Alle<br />

Berufsgruppen<br />

43 Schlumbohm, Jürgen (Hrsg.): Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850,<br />

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 1983.<br />

44 Schlumbohm, Kinderstuben, S. 34.<br />

45 Schlumbohm, Kinderstuben, S. 35.<br />

210<br />

299<br />

327<br />

337<br />

224<br />

357<br />

390<br />

406<br />

195<br />

286<br />

301<br />

317<br />

213<br />

335<br />

370<br />

384<br />

216<br />

307<br />

331<br />

345


Quellenmaterial <strong>Geburt</strong> in der Neuzeit<br />

Kinder auf dem Land<br />

Die grosse Mehrheit der Landbevölkerung lebte in sehr prekären wirtschaftlichen Verhältnissen,<br />

da blieb für die Eltern wenig Zeit, sich den Kindern zu widmen. Das Aufziehen der Kinder<br />

erfolgte nebenbei, entweder lag das Baby neben der arbeitenden Mutter oder es wurde von<br />

Geschwistern oder Angestellten versorgt. Kinder waren also immer mit dabei, bei der Arbeit,<br />

bei Gesprächen, bei Geselligkeiten.<br />

Welchen Stellenwert hatten die Kinder im Leben ihrer Eltern? Welche Motive gibt es für die<br />

Familiengründung? Wie wurden die Kinder umsorgt? Wie beurteilt der Pfarrer den Umgang<br />

der Eltern mit ihren Kindern? Wieso kommt er zu diesem Urteil? Diese Fragen sollen mit<br />

Hilfe der Quellen beantwortet werden.<br />

Quelle 1<br />

„Die rohe Erziehung der Bauernkinder kann keinen andern als rohen Karakter bilden. Die<br />

Mütter sind gewohnt ihren Kindern ein auch zwey Jahre, <strong>und</strong> noch länger, die Brust zu reichen.<br />

Dadurch kommt es, dass die Stamina vita [d.i. Kettfäden des Lebens] vester ankleben.<br />

(…) Bis <strong>ins</strong> sechste Jahr geniesen die Bauernkinder beinahe keines Unterrichts, sondern sind<br />

(…) sich selbst überlassen. Die Eltern brauchen ihre Kinder, so bald es nur einigermassen ihre<br />

Kräfte zulassen, zu allerhand leichten Feldgeschäften. (…) In dem häusslichen Leben der<br />

Landleute zeichnet sich auch noch dieses vorzüglich aus: Dass Eltern <strong>und</strong> Kinder so untereinander<br />

leben, als wenn keine Subordination vorhanden wäre. Die Kinder dutzen ihre Eltern,<br />

<strong>und</strong> gehen mit ihnen als ihresgleichen um. “ 46<br />

Quelle 2<br />

„ (…) Gleich nach seiner <strong>Geburt</strong> hat dieser Zögling der Natur, alle die Vortheile, die zur Entwicklung<br />

eines Körpers gehören der bey zunehmenden Jahren allen Abwechslungen einer<br />

feuchten Luft <strong>und</strong> rauhen Witterung ausgesetzt seyn, <strong>und</strong> zu schweren Arbeiten ausgebildet<br />

werden soll. An dem Busen seiner Mutter empfängt er die stärkende Milch … So wie Wasser<br />

aus einer frischen Quelle mehr stärkt als das aus einem stillstehenden Teiche, so muss auch<br />

seine erste Nahrung zur Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> zum Wachsthum des Kindes ungemein zuträglich<br />

sein. Drey Jahre lang wird das Kind auf die Art unterhalten. Ob diese Erziehungsweise für<br />

Mutter <strong>und</strong> Kind gleich vortheilhaft sey, darüber mögen die Aerzte spekuliren. In Ansehung<br />

des Kindes ist der Vortheil entschieden, indem da die säugende Mutter sich allen Arbeiten<br />

unterzieht, des Kindes Gliedmaassen, Rückgrad <strong>und</strong> Nerven frühzeitig zu allerley Bewegungen<br />

gebogen <strong>und</strong> gestärkt werden ehe es laufen kann. Die Sorgfalt der Mutter fürs Kind wird<br />

durch diese anhaltende zärtliche Verbindung auch nicht wenig erhöht. (…)“ 47<br />

46 Vernachlässigte Erziehung der Bauernkinder im Fürstentum Ansbach (1787), zitiert nach Schlumbohm, S. 77.<br />

47 Über die Kindheit des Lippischen Landmanns. Stufenfolge der Arbeiten vom Kleinkind bis zum männlichen<br />

Alter (1789), zitiert nach Schlumbohm, S. 82.


Quelle 3<br />

Ein Schweizer Pfarrer berichtet vom Leben seiner Gemeindemitglieder:<br />

„(…) Freylich hat schon der kleine Junge <strong>und</strong> das Mädchen seinen ordentlichen Verdienst<br />

durch Spinnen, <strong>und</strong> der Knabe von 10-12 Jahren durch Weben, aber so bald sie heran gewachsen<br />

sind, so muss auch das erworbene Geld zum Krämer wandern, da einen neuen Rock,<br />

silberne Hut-Hemd- <strong>und</strong> Knie-Riemen-Schnallen, dort ein neu Mieder, eine neue Geldporte<br />

um es zu verschönern (…)<br />

Der Toggenburger glaubt sich an seinem neugeborenen Kind sehr zu versündigen, wenn es<br />

nicht an seinem <strong>Geburt</strong>stag getauft wird, auch wenn ein Kind noch so ges<strong>und</strong> ist, wird die<br />

Taufe selten bis auf eine öffentliche Gottesdienstst<strong>und</strong>e verschoben; er stellt sich über ein<br />

todtgeborenes oder ohne Taufe erstorbnes Kind beynahe untröstlich. (…)<br />

Kinderzucht<br />

Diese ist im ganzen genommen äusserst schlecht <strong>und</strong> ein natürlicher Gr<strong>und</strong> mag seyn, dass<br />

der Toggenburger meistens Kinder nicht für Segen, sondern für die grösste Plage ansieht.<br />

Sollten Sie es glauben, (…), dass ein Bürger meines Wohndorfs das Jahr 1782 vorzüglich<br />

glücklich <strong>und</strong> gesegnet für sich glaubte, weil ihm im Lauf desselben 3 Kinder gestorben waren?<br />

Dass eine sonst gewiss gescheute Frau öffentlich sagte; zwey Kinder zu haben, seye eben<br />

recht, drey seyen zu viel. Schon aus diesen zwey Anekdötchen, deren ich viele anführen<br />

könnte, <strong>und</strong> noch e<strong>ins</strong>, weil es wenige Wochen, ehe ich diese Schrift verfasste, begegnet ist,<br />

beyfügen muss, da nemlich einer meiner Gemeindegenossen, dem ein Kind geboren war, das<br />

aber am dritten Tag wieder starb, zu mir sagte, dem Kind ist wohl geschehen, <strong>und</strong> mir noch<br />

wöhler – aus diesem allem lässt sich leicht auf die Erziehung <strong>und</strong> Zucht schliessen. Die erste<br />

Erziehung wird ganz physisch <strong>und</strong> moralisch vernachlässigt: Indem sie wenig für die Reinlichkeit<br />

ihrer Kinder sorgen, sie oft in Lumpen einwikeln, die kaum ein Bettler von der Strasse<br />

aufheben würde. Daher dann die ekelhaftesten Krankheiten häufig bey Kindern angetroffen<br />

werden. Moralisch: da Kinder bis <strong>ins</strong> 6te <strong>und</strong> 7te Jahr ohne alle Zucht in Müssiggang dahinleben,<br />

eher Zotten <strong>und</strong> Schwören, Fluchen <strong>und</strong> lügen als aber die bekanntesten Gebetsformeln<br />

lernen: selten denkt etwa einer daran, dass das Kind auch etwas lernen müsse (…).<br />

Eben so wenig herrscht Liebe gegen Kinder, bis sie erwachsen <strong>und</strong> zur Arbeit tauglich sind,<br />

dann erst knüpft sich oft zwischen Vater <strong>und</strong> Söhnen, <strong>und</strong> Mutter <strong>und</strong> Töchtern ein Band.“ 48<br />

48 Versuch, in den inneren moralischen Zustand der Haushalte einzudringen. Ein Schweizer Pfarrer über seine<br />

von der Hausindustrie geprägte Gemeinde (1785), zitiert bei Schlumbohm, S. 88-94.


Kinder von Adligen<br />

Der Adlige bezog einen grossen Teil seines Einkommens aus den bäuerlichen Diensten oder<br />

Abgaben, daneben auch als Inhaber von höchsten Amts- <strong>und</strong> Offiziersstellen. Die Adligen<br />

betonten ihre Macht durch herrschaftliche Wohnsitze, Kleidung, französische Sprache <strong>und</strong><br />

einen Konsumstil, der teilweise die tatsächlichen Einkünfte überbeanspruchte. Die begüterte<br />

Aristokratie pflegte einen verfeinerten Lebensstil <strong>und</strong> Umgangsformen, die schon früh den<br />

Kindern der Adligen beigebracht wurden. Die Kinder bekamen sehr bald die äusseren Attribute<br />

des erwachsenen Status, durch tägliche Praxis sollten sie die guten Umgangsformen lernen:<br />

Konversation, Verhalten in der Gesellschaft, Tanzen, Reiten <strong>und</strong> für Söhne ritterliche Übungen<br />

wie jagen, schiessen <strong>und</strong> fechten. Die Vermittlung von kognitivem Wissen blieb zweitrangig.<br />

Die Kinder der Adligen waren von <strong>Geburt</strong> an von Dienstpersonal umgeben. Es war üblich,<br />

Ammen, später Kinderfrauen, Gouvernanten <strong>und</strong> Hofmeister für die Betreuung anzustellen.<br />

Da die tägliche Betreuung der Kinder in der Verantwortung von Dienstpersonen lag, kam es<br />

zu einer Distanz zwischen Eltern <strong>und</strong> Kindern, oft sogar zu einem herrschaftlichen Verhältnis.<br />

Vater <strong>und</strong> Mutter wussten sehr wenig von ihren Kindern, dennoch standen sie ihnen nicht<br />

neigungslos gegenüber, geliebt wurden sie nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass sie die Fortführung<br />

der herrschaftlichen Standesposition in die Zukunft ermöglichten.<br />

Seit dem frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert änderte sich die Stellung des Adels in mehrfacher H<strong>ins</strong>icht:<br />

dazu bei trugen Wandlungen in wirtschaftlicher, sozialer <strong>und</strong> seit der französischen Revolution<br />

in politischer H<strong>ins</strong>icht. Die Stellung des Adels wurde erschüttert, was zur Aufwertung des<br />

Familienlebens führte. Die Familie wurde zu einem Rückzugsort, der emotionale Geborgenheit<br />

liefern konnte. Da die Gesellschaftsordnung nicht mehr als dauerhaft angesehen werden<br />

konnte, musste auch die Erziehung der Kinder angepasst werden, das Familienleben nahm<br />

intime Züge an. Vor allem Mütter versuchten, auf ihre Kinder einzugehen.<br />

Quelle 1: Aus der Autobiographie eines preussischen Adligen<br />

„(…) Meine Mutter war eine Frau von sehr gefälligem, gutmütigem Charakter, leicht im Umgang,<br />

treue Fre<strong>und</strong>in, gute Mutter, bisweilen zu nachsichtig, selten zu heftig (…). Ich ward<br />

also (…) am 29. Mai 1777 geboren. In meiner ersten Kindheit wuchs ich mit meinen beiden<br />

gleich auf mich folgenden Schwestern auf. (…) Wie ich vier Jahre alt war (…) bekam ich mit<br />

meinen Schwestern eine Gouvernante aus der Kolonie. (…) Sie heiss Mamsell Bénézet <strong>und</strong><br />

war ein sehr böses Weib, die uns viel ohrfeigte, im Winter in einem kalten Winkel e<strong>ins</strong>perrte<br />

(…). Sie war aber fleissig, hielt uns zur Ordnung an. Lehrte uns Lesen, Schreiben, Rechnen<br />

<strong>und</strong> auch etwas Geographie. (…)<br />

Mein Vater, der für einen überaus strengen Mann gehalten wurde, behandelte seine Kinder<br />

ruhig <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich. Ich habe nie gesehen, dass er eines gestraft hätte; ein Blick war hinreichend,<br />

uns in Ordnung zu halten. Desto mehr stach Mlle. Bénézet ab. Meine Mutter war liebreicher,<br />

aber auch hitziger, <strong>und</strong> konnte sich wohl übereilen <strong>und</strong> den ersten besten abstrafen,<br />

ohne zu untersuchen, wer Unrecht hatte. Im ganzen war die Erziehung dahin gerichtet, dass<br />

wir nie etwas Unrechtes oder gar Böses sehen, erfahren, noch viel weniger aber denken oder<br />

tun durften , sondern dass wir jederzeit unsere Schuldigkeit tun mussten; dass einer hinter<br />

dem Rücken irgend etwas verübt, beim Lernen faul gewesen oder nicht getan hätte, was er<br />

sollte, das konnte gar nicht vorkommen. Aber von dem später aufgekommenen Bestreben,<br />

alles auf das blosse Wissen zu setzen <strong>und</strong> den Kindern mit Erlerntem den Kopf so voll zu<br />

pfropfen, dass sie Gott <strong>und</strong> die Welt darüber verkehrt ansehen, war damals gottlob noch nicht<br />

die Rede. Lärm vor unseren Eltern zu machen, sich auf Sofas <strong>und</strong> Stühlen umherzuwälzen,<br />

bei Tisch schmutzig <strong>und</strong> ungeschickt zu essen, (…) wie man jetzt von so vielen Kindern sieht,<br />

war gänzlich unerhörte. Wenn wir zu unseren Eltern in das Zimmer kamen, machten wir an<br />

der Tür unsere Reverenz, näherten uns <strong>und</strong> küssten sowohl ihnen als jedem anwesendem


Fremden die Hand. Diese Zeremonie war, in Verbindung mit allem übrigen, sehr nützlich;<br />

man gewöhnte sich, sich beständig anständig zu betragen <strong>und</strong> älteren Leuten Ehrerbietungen<br />

zu beweisen. (…)“ 49<br />

Quelle 2: Elternpflichten<br />

„(…) Schuldigkeit der Eltern<br />

Die Kinder anführen zur Andacht, zu fleissiger Lesung guter Bücher, die Kinder anführen um<br />

fleissig, um gern zu arbeiten, um niemals müssig, um allezeit beschäftigt zu sein. Um zu erkennen,<br />

warum sie auf diese Welt gekommen, nähmlich um zu beten <strong>und</strong> zu arbeiten, die Ergötzlichkeiten<br />

aber allein zwischen die Arbeit <strong>und</strong> die Freude zwischen die Sorge müssen<br />

gesetzet werden. (…)“ 50<br />

Quelle 3: Pflichten der Kinder<br />

„(…) Testament (1828/31): Ermahnungen an meine Kinder<br />

Ich hoffe, dass alle meine Kinder sich beständig des Geschlechtes erinnern werden, aus dem<br />

sie entsprossen sind, – eines Geschlechtes, welches niemals sein Trachten gesetzt hat auf irdisches<br />

Gut, sondern immer nur auf die Ehre, auf das Wahre <strong>und</strong> Rechte, von welcher Richtung<br />

des Sinnes mehrerer glänzende Beispiele gegeben hat. (…)<br />

Was die Erziehung meiner Söhne anbetrifft, so sollen sie keine sogenannte wissenschaftliche<br />

Erziehung bekommen, durch welche das ges<strong>und</strong>e Urteil <strong>und</strong> die Tatkraft, welche der Schöpfer<br />

in den Menschen gelegt hat, verschroben <strong>und</strong> gelähmt wird, sondern sie sollen ordentlich Mathematik,<br />

Sprachen, Geschichte <strong>und</strong> Erdk<strong>und</strong>e lernen, zum Selbstdenken <strong>und</strong> Selbsthandeln<br />

angeführt, ihr Köper möglichst geübt <strong>und</strong> gestärkt (…). Beide Söhne sollten zunächst Offizier,<br />

der zweite später Landwirt werden. Er wird sich in der Armee weit besser auch zu jedem<br />

anderen Staatsdienst ausbilden. (…)“ 51<br />

49 Ordnung <strong>und</strong> Zucht des väterlichen Hauses. Wie ein Vertreter des konservativen preussischen Adels zum<br />

Gutsherrn <strong>und</strong> Offizier heranwuchs, zitiert nach Schlumbohm, S. 188-191.<br />

50 Wie ein westfälischer Adliger seine Töchter erzogen wissen will. Christian Franz Dietrich v. Fürstenberg,<br />

Erziehungs<strong>ins</strong>truktion an die Gouvernante seiner Töchter (1743), zitiert nach Schlumbohm, S. 184.<br />

51 Ordnung <strong>und</strong> Zucht des väterlichen Hauses. Wie ein Vertreter des konservativen preussischen Adels zum<br />

Gutsherrn <strong>und</strong> Offizier heranwuchs, zitiert nach Schlumbohm, S. 206/207.


Kinder von niedrigeren Gesellschaftsschichten 52 in der Stadt<br />

Noch bis zur Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts war die Zahl jener, die in einer Manufaktur oder Fabrik<br />

arbeiteten im Vergleich zu den Handwerkern gering. 53 Erst durch die Industrialisierung<br />

kam es zu einem Wandel in der Arbeitswelt, der auf das Familienleben entscheidenden Einfluss<br />

hatte: Der Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsort wurden räumlich getrennt.<br />

Der grösste Teil der Familien dieser Gesellschaftsschicht war mit der Arbeit für den täglichen<br />

Lebensunterhalt beschäftigt. Die Eltern hatten kaum Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern.<br />

In grösseren Städten kam es ab <strong>und</strong> zu vor, dass Eltern die Verantwortung für ihre Kinder<br />

nicht übernehmen wollten oder konnten <strong>und</strong> sie daher in einem Findelhaus abgaben, wo die<br />

meisten der Kinder starben. In Frankreich war es Brauch, die Kinder zu einer Amme aufs<br />

Land zu schicken. In Deutschland <strong>und</strong> der Schweiz wuchsen die Kinder normalerweise in der<br />

Familie auf. Die Mütter trugen zum Einkommen der Familie direkt durch ihre Tätigkeit als<br />

Wäscherin oder mit Heimarbeit bei, bei Handwerkern wegen dem Verbot von Frauenarbeit<br />

mit Hilfsarbeiten. Eventuell kam dazu ein eigener Gemüsegarten oder ein kleiner Nebenerwerbs-Landwirtschaftsbetrieb.<br />

Die Mütter stillten ihre Kinder oft länger als ein Jahr. Mit Wiegen, einem Schnuller <strong>und</strong> häufig<br />

durch Einwickeln in feste Tücher wurden Kleinkinder ruhig gestellt. Die Kinder mussten<br />

sich schon bald an die Ordnung des Hauses gewöhnen, dem Vater gegenüber schuldeten sie<br />

Respekt <strong>und</strong> Gehorsam. Schon früh übernahmen sie Aufgaben wie Botengänge, Betreuung<br />

von jüngeren Geschwistern, Gartenarbeit <strong>und</strong> Handlangerdienste bei der Arbeit der Eltern.<br />

Die Familie erfüllte wichtige Funktionen, sie diente nicht nur der Fortpflanzung sondern die<br />

einzelnen Mitglieder standen sich zur Seite, wenn jemand Unterstützung brauchte. Im Gegensatz<br />

zu den Familien der Handwerker pflegten vor allem die Mütter im Kleinbürgertum zu<br />

ihren Kindern bereits Gefühlsbeziehungen, das Kind schien eine grössere Bedeutung zu haben.<br />

Ein grosser Teil des Lebens der Kinder spielte sich im Freien ab. Wurden sie von ihren Eltern<br />

nicht mehr bei der Arbeit gebraucht, spielten sie geme<strong>ins</strong>am auf der Strasse. Bei diesen Spielen<br />

lernten die Kinder, sich in Gesellschaftsstrukturen zu behaupten <strong>und</strong> einzuordnen.<br />

Quelle 1: Erlass gegen das mutwillige Treiben der Gassenkinder (1765)<br />

„(…) Gleichwie nun wohldenkende christliche Eltern, Vormünder <strong>und</strong> andere die Kinder in<br />

ihrer Aufsicht haben, selbst an dergleichen jugendlichen einer guten Ordnung zu wider laufenden<br />

Muthwillen ein gerechtes Misfallen haben, <strong>und</strong> ihre Kinder von dergleichen Frevel<br />

abhalten werden; also wird denen Pflichtvergessenen sorglosen Eltern <strong>und</strong> Vormündern zu<br />

ihrer Verwarnung damit bekannt gemacht, dass bereits die Verfügung gemacht worden, dass<br />

die an (…) publiquen Örtern Muthwillen treibende Jugend arretieret, <strong>und</strong> von obrigkeitswegen<br />

auf dem Rathhaus nach Befinden öffentlich gezüchtiget werden solle, wobey ausserdem<br />

jedoch die Eltern, Vormünder <strong>und</strong> andere, die Kinder in Aufsicht haben, schlechterdings für<br />

allen durch ihre muthwillige Kinder veruhrsachten Schaden einzustehen <strong>und</strong> zu haften verb<strong>und</strong>en<br />

bleiben. (…).“ 54<br />

Quelle 2: Pflege <strong>und</strong> Erziehung der Kinder in Rostock<br />

(…) Ich unterschiede hier aber mit gutem Vorbedacht die in einer gesetzmässigen Ehe geborenen<br />

Kinder von den unehelichen. In der körperlichen Beschaffenheit der letzteren, so wie in<br />

52 Zu diesen so genannten „kleinen Leute“ zählten im 18. <strong>und</strong> im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert unterschiedliche Kreise.<br />

Den Kern bildeten Handwerker <strong>und</strong> Krämer, sie verstanden sich selber als Träger des städtischen Bürgerrechts.<br />

Dann gehörten aber auch die öffentlichen Bediensteten <strong>und</strong> die eigentlichen Unterschichten, die Taglöhner,<br />

Transport- <strong>und</strong> Manufakturarbeiter dazu. Vgl. Schlumbohm, S. 213.<br />

53 Ein grosser Teil der Warenproduktion wurde in Form der Hausindustrie auf dem Land produziert.<br />

54 Rathsbeschluss von Göttingen, zitiert nach Schlumbohm, S. 226/227.


ihrer Behandlung, liegt unstreitig der Gr<strong>und</strong> von der grossen Sterblichkeit unter denselben,<br />

<strong>und</strong> diese ist gewiss bedeutend genug, um einen nachtheiligen Einfluss auf das Ganze zu haben.<br />

Ich glaube, ohne Bedenken annehmen zu können, dass kaum der vierte Theil von ihnen<br />

das Ende der ersten Kinderjahre erreicht. Die ausser der Ehe geschwängerten Mütter sind<br />

mehrentheils aus den untern Ständen. Diese suchen denn gewöhnlich Ammendienste, um<br />

nicht ganz ausser Brod zu kommen: denn ihre Liebhaber geben ihnen entweder nicht so viel,<br />

dass sie selbst davon mit ihrem Kinde leben können, oder sie verlassen die Unglückliche, der<br />

sie die Ehe zugesagt, oder andere Versprechungen gethan hatten, wohl ganz. Die Mutter<br />

bringt also ihr Kind bey andern Leuten unter, <strong>und</strong> giebt es, wie man hier sagt, entweder auf<br />

die Brust, oder auf den Löffel. Im ersten Fall stillt die substituierte 55 Mutter ihr eignes Kinde<br />

zur gleichen Zeit, <strong>und</strong> natürlich reicht sie dem fremden Kinde erst dann die Brust, wenn das<br />

ihrige schon gesättigt ist. (…) Die grösste Anzahl der hiesigen Mütter folgt dem so wohltätigen<br />

als belohnenden Naturtrieb, ihre eigene Brust dem neugeborenen Säuglinge zu reichen.<br />

Selbst die Frauen aus den höhern Ständen machen hiervon kaum eine Ausnahme. Mit unpartheyischer<br />

Wahrheitsliebe bekenne ich es hier öffentlich, dass ich mehr als eine zärtliche<br />

Mutter fand, die sich kaum beruhigen konnte, wenn sie durch dringende Umstände an der<br />

Nichterfüllung dieser heiligen Mutterpflicht gehindert wurde, <strong>und</strong> mit schwerem Herzen <strong>und</strong><br />

nassen Augen sich kaum zu einer Amme oder zum Auffüttern ihre Kindes entschliessen wollte.<br />

(…)“ 56<br />

55 Substituieren: austauschen, ersetzen<br />

56 Ein Arzt beschreibt <strong>und</strong> beurteilt die Pflege <strong>und</strong> Erziehung der Kinder in Rostock (1807), zitiert nach Schlum-<br />

bohm, S. 227-229.


5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

Jeremias Gotthelf: Leiden <strong>und</strong> Freuden eines Schulmeisters<br />

Aus: Gotthelf, Jeremias: Leiden <strong>und</strong> Freude eines Schulmeisters, zweiter Teil, Buchdruckerei Carl Meyer, Rapperswil,<br />

S. 65-77. Gekürzt <strong>und</strong> vereinfacht. Einige Stellen sind original in M<strong>und</strong>art, hier aber möglichst originalgetreu<br />

übersetzt.<br />

„Unser zweites Kind war ein Mädchen. Es war ein schönes, w<strong>und</strong>erbares Kind. Es hatte grosse,<br />

tiefblaue Augen <strong>und</strong> einen unbeschreiblichen Blick in denselben. Es sah einen so milde, so<br />

verständig <strong>und</strong> bedeutungsvoll an, dass es einem ordentlich schaurig um die Brust ward. Man<br />

kam unwillkürlich auf den Gedanken, das Kind bringe seine Augen mit aus einer höhern<br />

Welt, bringe Grüsse mit von Oben <strong>und</strong> Bewusstsein. (…) Die Mutter wiegte es andächtig auf<br />

den Armen, <strong>und</strong> wer gesehen hätte, wie beide einander in die Augen sahen, würde es nie vergessen.<br />

Es war, also ob zwei Engel einander wieder gef<strong>und</strong>en hätten (…). Wie wir uns doch<br />

des Kindle<strong>ins</strong> freuten!<br />

Am dritten Tag begann es unruhig zu werden <strong>und</strong> liess gar ängstliche <strong>und</strong> wimmernde Töne<br />

hören, wie wenn es jemand riefe in grosser Not. (…) Zuckende Schauer fuhren schnell <strong>und</strong><br />

gewaltsam durch den kleinen Körper, es verbarg uns oft den Stern seiner Augen, damit wir<br />

seinen Schmerz <strong>und</strong> Kampf nicht sehen, uns daran gewöhnen möchten, in ihm unseren Stern<br />

wieder schwinden zu sehen. Eine fremde Gewalt schien sich über ihns zu legen <strong>und</strong> mit gewaltigem<br />

Druck das kaum erwachte Leben niederringen zu wollen. (…) Des armen Kindes<br />

Lippen wurden blau <strong>und</strong> der Schaum stand auf denselben. Eine Nachbarin, die wir in unserer<br />

Angst herbeigerufen, sagte uns ganz trocken: Mit dem sei es vorbei, da helfe alles nichts mehr<br />

(…). Und damit ging sie weg, sich entschuldigend, sie habe den Schweinen ob <strong>und</strong> es würde<br />

anbrännten, wenn sie nicht ginge.<br />

Da bebte meine Frau zusammen, dass sie sich niedersetzen musste mit dem Kinde, das sie auf<br />

ihren Armen hielt: ‚Bet doch, bet, dass Er uns das Kind lasse!’ (…) Ich st<strong>und</strong> auf von meiner<br />

Lampe, das Herz voll Angst, Angst über das Kind, Angst vor dem Beten, denn so hatte ich ja<br />

nie gebetet, für mich selber aus mir selber. (…)<br />

Da reckte es sich noch einmal aus; dann ward’s stille. (…) Das Lächeln schien zu einem Engelein<br />

verkörpert von seinem Gesichtchen sich aufzuschwingen, <strong>und</strong> mit ihm war sein Geist<br />

entwichen. Sein Körperlein regte sich nimmer wieder, seine Äugelein blieben geschlossen für<br />

immer. (…)<br />

Als es Morgen ward, kamen Weiber 57 zu uns, die gehört hatten, unser Kind werde sterben.<br />

(…) ‚Dem Kind ist es wohl gegangen’ (…). ‚Ja’, sagte eine andere mit bedenklichem Gesichte,<br />

‚ (…) wenn es nur getauft gewesen wäre, so wollte ich nichts sagen, aber so ungetauft<br />

kann mich das Kind doch erbarmen, denn kein Mensch weiss jetzt, wie es ihm geht.’ ‚Ja, du<br />

hast recht’, sagte die Erste, ‚an das habe ich gar nicht gedacht. Es sind mir auch vier Kinder<br />

gestorben, aber gottlob ke<strong>ins</strong> vor der Taufe. Ich glaube, ich hätte mich hintersinnet. Dem lieben<br />

Gott mag man sie wohl gönnen, doch nicht dem Teufel. Man sagt zwar, sie kämen nicht<br />

in die hinterste Hölle, aber es wird vorne auch noch heiss genug sein. Die armen Tröpfe!’<br />

Das stieg mir gewaltig zu Gemüte. Diesen Glauben, der noch allgemein aus der alten Katholizität<br />

her verbreitet ist, dass alle Kinder, welche nicht getauft stürben, verdammt würden,<br />

kannte ich gar wohl, ich hatte aber nie darüber nachgedacht. (…) Ich bebte vor dem Gedanken,<br />

dass ein holdselig Wesen in des Teufels Gewalt gekommen sein sollte, aber Widerlegung<br />

wusste ich keine. Es war so angenommen, <strong>und</strong> nach Gründen frägt man bei angenommenen<br />

Dingen nicht. (…)<br />

57 Gotthelf brauchte den Ausdruck „Weiber“ nicht abwertend, wie wir es heute in unserem Sprachgebrauch pfle-<br />

gen.


45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

70<br />

75<br />

Als endlich die Weiber fort waren mit ihren sonderbaren Tröstungen (…) richtete sich mein<br />

Weibchen im Bette auf <strong>und</strong> sagte mir: ‚(…) Ich habe das ganze Neue Testament durchlesen<br />

<strong>und</strong> kein Sterbenswörtchen darin gef<strong>und</strong>en, dass ungetaufte Kinder nicht selig würden. Ich<br />

habe aber gef<strong>und</strong>en, dass Jesus sagte, man solle die Kinder nur zu ihm kommen lassen, denn<br />

ihnen gehöre das Himmelreich. (…)’<br />

Ich band ein schwarz Halstuch um <strong>und</strong> wanderte hin zum Pfarrer. (…)‚Ach’, sagte ich, ‚ich<br />

wollte mich darein ergeben, wäre es nur getauft worden wäre. (…) Denn wenn es jetzt etwa<br />

nicht selig werden sollte?’ ‚Glaubet Ihr das auch?’ fragte der Pfarrer (…)‚Schulmeister!’, sagte<br />

er, ‚die Sach ist die. (…) Der alte Glaube, dass Ungetaufte des Teufels seien, blieb, blieb<br />

nicht nur unterm Volk, sondern ward auch Kirchenglauben, obgleich er durchaus keinen<br />

Gr<strong>und</strong> in der Bibel hatte. So war zum Beispiel in der Stadt Büren in der dortigen Kirche ein<br />

Muttergottesbild, von dem man behauptete, alle ungetauft gestorbenen Kinder würden in dessen<br />

Armen auf so lange wieder lebendig, dass ihnen das Sakrament der Taufe könne gegeben<br />

werden. Man kann denken, wie unendlich viele Kinder zu demselben gebracht wurden <strong>und</strong><br />

wie viele Eltern weinten, als man es bei der Reformation verbrannte. Obgleich das Bild verbrannt<br />

wurde, blieb doch der alte Glauben. Es ist sonderbar, wie mancher Abergauben der<br />

Vorzeit so fest den Leuten in den Köpfen sitzt, während so manche alte schöne Wahrheit nie<br />

in die Köpfe will. (…)<br />

Wenn man übrigens den Glauben der Menschen untersuchen würde, den Glauben, der auf ihr<br />

Leben eigentlich Einfluss hat, man würde da w<strong>und</strong>erliches Zeug finden, man würde finden,<br />

dass an diesem Glauben die Bibel den wenigsten Anteil hat. Dieser eigentliche kursierende<br />

Volksglaube wechselt etwas im Laufe der Zeiten, aber langsam, <strong>und</strong> wenn derselbe einmal<br />

mit dem Bibelglauben zusammentrifft, dann ists gut, aber leider sind wir noch nicht da. Ein<br />

solcher Glaube ist eigentlich Unsinn. (…)<br />

Andächtig brachte ich des andern Morgens früh die kleine Leiche, die wir vorher noch brünstig<br />

geküsst hatten, dem Totengräber auf den Kirchhof. Derselbe hatte das kleine Gräbchen in<br />

der Dachtraufe gemacht <strong>und</strong> gar nicht tief. Ich frug ihn, warum er es gerade hier gemacht, wo<br />

es ihm mehr Mühe gegeben hätte. (…) „Je näher der Kirche man begraben werde, desto sicherer<br />

sei man vor den bösen Erdgeistern, <strong>und</strong> da ungetaufte Kinder nicht durch die Taufe vor<br />

ihnen geschützt würde, so tue man sie an die Kirche, um durch die Kirche selbst beschützt zu<br />

werden. Dann tue man sie <strong>ins</strong> Dachtrauf, damit sie noch hier getauft würden. Wenn nämlich<br />

der Pfarrer das Taufwasser segne, so werde alles Wasser in <strong>und</strong> an der Kirche zu Taufwasser<br />

(…), so dass, wenn es einmal stark regne zu selber Zeit, so werde auch Regenwasser auf dem<br />

Dach Taufwasser, <strong>und</strong> wenn es nun hinunterrinne <strong>und</strong> bis zu dem Kinde dringe, so werde das<br />

Kind im Boden so gut <strong>und</strong> gültig getauft als das Kind in der Kirche.’ (…)“


Zusatzinformation zur Gruppenarbeit <strong>Geburt</strong> in der Neuzeit<br />

Die Bevölkerungszunahme, wie sie in der Einzellektion mit Hilfe von Grafiken dargestellt<br />

wurde, darf nicht vergessen lassen, dass in der Neuzeit noch viele Babys bei der <strong>Geburt</strong> oder<br />

in den ersten Lebensjahren starben. 58 Es kann davon ausgegangen werden, dass r<strong>und</strong> ein Viertel<br />

aller Neugeborenen nicht älter wurden als ein Jahr. 59 Es stellt sich die Frage, wie die Menschen,<br />

Mütter <strong>und</strong> Väter, mit dieser Tatsache umgingen <strong>und</strong> sie zu bewältigen vermochten.<br />

Wieso kriegten sie unerschrocken immer wieder Kinder, wenn doch die ständige Gefahr des<br />

Verlusts durch den <strong>Tod</strong> drohte? Bereits in der <strong>Einführung</strong> <strong>ins</strong> <strong>Thema</strong> „<strong>Geburt</strong> in der Neuzeit“<br />

haben sich die Lernenden mit der Frage von Gefühlen der Eltern gegenüber ihren Kindern<br />

beschäftigt. Sie konnten feststellen, dass die Eltern trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, dass<br />

ihre Kinder sterben würden oder trotz finanzieller Schwierigkeiten nicht gefühllose Wesen<br />

waren, die sich nicht um das Wohl ihrer Nachkommen kümmerten.<br />

Wiederum wird mit einer literarischen Quelle gearbeitet. Jeremias Gotthelf beschreibt <strong>und</strong><br />

kommentiert in seinem Roman „Die Freuden <strong>und</strong> Leiden eines Schulmeisters“ den Volksglauben<br />

seiner Zeit. Da Gotthelf alias Albert Bitzius die Situation aus der Sicht eines Pfarrers<br />

in einem Berner Dorf kommentiert, erhalten wir zweierlei E<strong>ins</strong>ichten. Erstens ist die Quelle<br />

genauso wie „Il Decamorone“ ein Beispiel für eine zeitgenössische Interpretation des gesellschaftlichen<br />

Zustandes. Auch Gotthelf schildert in seinem Werk eindrücklich, wie die Menschen<br />

gedacht, gefühlt <strong>und</strong> gehandelt – <strong>und</strong> geglaubt haben. Zweitens aber gilt es, die Stellung<br />

des Verfassers nicht zu vergessen: Gotthelf/Bitzius kritisiert aus Sicht des Pfarrers den<br />

Aberglauben seiner Gemeindemitglieder, er macht sich über sie lustig <strong>und</strong> rügt sie wegen<br />

ihrer mangelnden Bereitschaft, die Sitten ihrer Ahnen zu vergessen <strong>und</strong> Neuerungen anzunehmen.<br />

60<br />

Damit die Lernenden die Quelle interpretieren können, benötigen sie Informationen zum<br />

Werk wie auch zum Autor. Sie müssen wissen, wer Gotthelf war, um sein „Die Freuden <strong>und</strong><br />

Leiden eines Schulmeisters“ einordnen zu können.<br />

Zusätzlich wird ihnen ein Text mit Angaben zum religiösen Umgang mit dem Kindstod <strong>und</strong><br />

der Bedeutung der Taufe als wertneutrale Informationsquelle ausgeteilt. Dabei können die<br />

Lernenden feststellen, wie die Menschen mit der hohen Kindersterblichkeit umgingen <strong>und</strong><br />

erkennen den grossen Stellenwert der Religion. Es kann an die bereits erfolgten Reflexionen<br />

h<strong>ins</strong>ichtlich familiärer Bindung <strong>und</strong> elterlichen Gefühlen angeknüpft werden, indem die Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler mit der Frage konfrontiert werden, welches Verantwortungsbewusstsein<br />

die Eltern gegenüber ihren (neugeborenen) Kinder hatten.<br />

Jeremias Gotthelf<br />

Jeremias Gotthelf heisst eigentlich Albert Bitzius <strong>und</strong> wurde 1797 in Murten als Sohn eines<br />

Berner Beamten <strong>und</strong> Pfarrers geboren.<br />

Nach der theologischen Ausbildung in Bern <strong>und</strong> kurzen Aufenthalten in Deutschland wurde<br />

er zunächst Vikar bei seinem Vater. Gotthelf war stark pädagogisch tätig, besonders in der<br />

Schulbetreuung <strong>und</strong> Lehrerausbildung. Politisch engagierte er sich für liberales Gedankengut.<br />

Ab 1832 war er in Lützelflüh im Emmental als Pfarrer tätig. Durch die Verfassung von 1831,<br />

die für Geistliche das Verbot politische Betätigung aussprach, wurde seinem Engagement ein<br />

abruptes Ende gesetzt. Als eine Art Kompensation war Gotthelf zunächst auf der Ebene des<br />

Erziehungs- <strong>und</strong> Armenwesens energisch bemüht, die allgemeine Volksschule durchzusetzen;<br />

58 Vgl. Tabellen 2 bis 4 bei der Einzellektion „<strong>Geburt</strong> in der Neuzeit“.<br />

59 Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – <strong>und</strong> weshalb wir uns<br />

heute so schwer damit tun, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1984, S. 159.<br />

60 Vgl. dazu die Angaben von Imhof, Die verlorenen Welten, S. 168-171.


als grosses Vorbild wirkte Pestalozzi. Aus einer volkspädagogischen Aktion gegen den Alkoholismus<br />

gingen Gotthelfs erste Versuche in der Kurzerzählung hervor.<br />

Nach der Amtsenthebung als Schulkommissär 1845 infolge seiner zunehmend kritischen <strong>und</strong><br />

konservativen E<strong>ins</strong>tellung zu Staat <strong>und</strong> Gesellschaft wurde Gotthelf zu einem immer unbequemeren<br />

Zeitgenossen; in seinen späteren Werken ist ein satirischer oder düsterer Gr<strong>und</strong>ton<br />

unüberhörbar. 61<br />

Inhalt von „Die Freuden <strong>und</strong> Leiden eines Schulmeisters“<br />

Der Schulmeister erzählt von den Erfahrungen <strong>und</strong> von seinen Erlebnissen als Lehrer in einem<br />

Berner Dorf. Die Berichte betreffen zum Teil sein persönliches Leben, zum Teil sind es<br />

Erfahrungen, die er mit den Gemeindemitgliedern machte. Der Leser erfährt so nicht nur einiges<br />

über den Werdegang <strong>und</strong> den Alltag dieses Lehrers, sondern erhält auch Einblick <strong>ins</strong> Leben<br />

in einem Dorf <strong>und</strong> in die Denkweise der Menschen. Das Buch erschien 1839.<br />

Im zitierten Abschnitt beschreibt der Schulmeister die <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> den <strong>Tod</strong> seines zweiten<br />

Kindes.<br />

61 Informationen: Online im Internet: URL: http://gutenberg.spiegel.de/autoren/gotthelf.htm<br />

[Stand 30. April 2005].


Votivtafeln<br />

Tafel 1: „Kinderzeichnen zu zweit“ auf einer Votivtafel aus der Pfarrkirche in Schattendorf<br />

um 1750.<br />

Tafel 2: „Kinderzeichnen“ auf einer Votivtafel aus der Pfarrkirche in Osttirol 1680. Erweckung<br />

eines totgeborenen Kindes, damit es getauft <strong>und</strong> anschliessend in geweihter Friedhofserde<br />

begraben werden kann.<br />

Beide Tafeln aus: Schlumbohm, Jürgen (Hrsg.): Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern,<br />

Aristokraten wurden 1700-1850, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,<br />

München 1983, S. 164 <strong>und</strong> 160.


Informationstext „Kinderzeichnen“ 62<br />

Die Menschen mussten mit der enorm hohen Säuglingssterblichkeit irgendwie fertig werden.<br />

Noch anfangs 20. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde – abhängig immer von Region <strong>und</strong> Gesellschaftsschicht<br />

– r<strong>und</strong> ein Viertel aller Kinder nicht älter als ein Jahr. Wie bewältigten die Eltern diese Realität,<br />

waren sie gefühllos, so dass ihnen all diese <strong>Tod</strong>esfälle nichts ausmachten oder versuchten<br />

sie ganz einfach, das verstorbene Kind durch ein neues zu ersetzten?<br />

„Gleichgültigkeit“ scheint als Argument nicht zuzutreffen. Vielmehr muss laut Imhof als Erklärungsansatz<br />

auf eine uns möglicherweise fremd anmutende Glaubensvorstellung zurückgegriffen<br />

werden: Das so genannte „Kinderzeichnen“.<br />

Für die Eltern war vor allem eines wichtig: Das Kind musste vor seinem <strong>Tod</strong> getauft worden<br />

sein. Nur ein getauftes Kind – so die Vorstellung – kann in den Himmel gelangen. Eng mit<br />

dieser Denkweise verb<strong>und</strong>en ist die Aufgabenteilung zwischen Eltern <strong>und</strong> Gott: Für die Taufe<br />

sind die Eltern zuständig, über das weitere Leben des Kindes, <strong>und</strong> zwar dessen Anfang <strong>und</strong><br />

Ende, kann nur Gott bestimmen. Die Eltern reagierten also überhaupt nicht gefühllos oder<br />

gleichgültig h<strong>ins</strong>ichtlich der häufigen Kindstode, sondern sie waren geprägt von diesem Verständnis<br />

der geteilten Verantwortungsbereiche <strong>und</strong> handelten pflichtbewusst innerhalb des<br />

ihnen zugewiesenen Zuständigkeitsbereichs.<br />

Da Säuglingssterbefälle aber häufig bereits bei der Niederkunft <strong>und</strong> damit vor der Taufe vorkamen,<br />

setzten die Eltern alles in Bewegung, um den <strong>Tod</strong> für kurze Zeit rückgängig zu machen<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl zum Wohle des Kindes wie auch zur eigenen Beruhigung <strong>und</strong> Entlastung.<br />

Wie konnten sie dies aber bewerkstelligen?<br />

Sie verbanden geschickt Teile der kirchliche Lehre, die ihnen bei der Alltagsbewältigung helfen<br />

konnten mit ihrer eigenen Weltanschauung: Die Kirche setzte als unbedingte Voraussetzung<br />

für den Eintritt in den Himmel die Taufe voraus. Sie lehrte aber auch, dass das getaufte<br />

Kind, je früher (<strong>und</strong> damit unschuldiger) es stirbt, die Gewissheit haben kann, in den Himmel<br />

zu gelangen <strong>und</strong> dort, zum Vorteil der Eltern, für die Eltern, Geschwister <strong>und</strong> Verwandten<br />

beten wird.<br />

Von dieser Vorstellung zeugen viele Votivtafeln 63 in Wallfahrtskirchen. Alle bekräftigen,<br />

dass es viele verzweifelte Eltern gab, die ihr totgeborenes Kind taufen wollten, damit es nicht<br />

als unerlöste Seele herumirren musste, sondern in den Himmel gelangen kann.<br />

Dieser Brauch war vor der Reformation in ganz Europa verbreitet, der deutsche Ausdruck<br />

„Kinderzeichnen“ deutet direkt auf den Vorgang hin: die Kinder gaben ein Lebenszeichen<br />

von sich. Die Kirche beobachtete das Kinderzeichnen mit zwiespältigen Gefühlen. Wie sollte<br />

sie auf diese „Totenerweckungen“ reagieren? Die Verantwortlichen der katholischen Kirche<br />

verboten 1729 diese Taufen, nachdem vor allem ein deutsches Kloster zu grosser Berühmtheit<br />

gelangt war wegen den unzähligen dort vorgenommenen Taufhandlungen an „gezeichneten“<br />

Kindern. 64 Allerdings blieb ein Dilemma für die katholische Kirche, denn sie konnte die Möglichkeit<br />

von W<strong>und</strong>ern nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ausschliessen.<br />

Radikaler ging die reformierte Kirche mit diesem Problem um: 1528 schickte der Rat von<br />

Bern einen Gesandten zum damals berühmten Wallfahrtsort für die Taufe totgeborenen Kin-<br />

62 Zusammengestellt aus: Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren<br />

– <strong>und</strong> weshalb wir uns heute so schwer damit tun, C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1984, S.<br />

158-171.<br />

63 Einem Heiligen oder einer Heiligen geweihtes Bild als Dank geweihtes Bild. Auf einer Tafel aus dem 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert heisst es beispielsweise: „Gedenktafel zum Danke gegen die Gottes Mutter Maria durch deren Fürbitte<br />

ein todtgeborenes Kind, das schon 4 Tage im Grabe gelegen, die schönste weissrothe Gesichts Farbe bekam<br />

<strong>und</strong> die Lippe ein einiges farbiges Blut von sich gab, also die besten Lebens Zeichen, um es taufen <strong>und</strong> kirchlich<br />

begraben zu können. – Die dankschuldigen Eltern.“ Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten, S. 163.<br />

64 Laut Imhof waren es zwischen 1686 <strong>und</strong> 1720 über 24'000 Kinder, die in vorübergehend erwecktem Zustand<br />

die Taufe erhalten hatten. Vgl. Imhof, Arthur, E.: Die verlorenen Welten, S. 166.


der nach Büren an der Aare <strong>und</strong> liess ihn das Bild der W<strong>und</strong>er bewirkenden Maria aus der<br />

Wallfahrtskapelle verbrennen. Trotzdem pilgerten die Eltern totgeborener Kinder weiter nach<br />

Büren, worauf der Rat die Kirche 1530 abbrechen liess. Auf die Bedürfnisse der Gläubigen<br />

wurde also keine Rücksicht genommen – <strong>und</strong> diese liessen sich vom Unverständnis ihrer<br />

Seelsorger nicht abhalten, zur Maria zu pilgern: Sie legten ihre toten Kinder einfach auf den<br />

Stein, auf dem die Kirche aufgebaut war.<br />

Dem Rat von Bern fehlte die E<strong>ins</strong>icht, dass er auf die seelischen Bedürfnisse <strong>und</strong> traditionellen<br />

Vorstellungen der Menschen eingehen muss <strong>und</strong> dass er ihnen keine Werte wegnehmen<br />

darf, ohne diese durch neue zu füllen. Die Gläubigen hatten sich ihre Vorstellung von einem<br />

richtigen Ablauf der Dinge, in diesem Fall beim Umgang mit Totgeburten oder dem <strong>Tod</strong> eines<br />

Säuglings vor der Taufe, aus Tradition <strong>und</strong> Glauben aufgebaut. Diese konnten die reformierten<br />

Pfarrer ihnen nicht einfach wegnehmen, ohne damit nicht einen Teil der Kultur <strong>und</strong><br />

Lebenswelt der Menschen zu zerstören <strong>und</strong> ihnen so Halt in einer schwierigen Situation zu<br />

nehmen – gerade auch weil die Vorstellung nicht allein auf religiösen, sondern auch auf überlieferten<br />

Traditionen beruhte.


<strong>Geburt</strong> zur Zeit des Nationalsozialismus


Nazizeit <strong>und</strong> Zweiter Weltkrieg „Du bist nichts, dein Volk ist<br />

alles!“ 65<br />

Die Ideologie der Hitlerzeit versuchte, die Lebensbegrenzungen <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> in ihrer Bedeutung<br />

für die Familie auf eine Art <strong>und</strong> Weise zu verändern, die jeder geschichtlichen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> jedem sozialhistorischen Kontext Hohn sprach, - von der seelischen Verarmung<br />

der jungen Menschen gar nicht zu sprechen. In „Mein Kampf“ formulierte Hitler in immer<br />

neuen Wendungen, dass das Ziel der weiblichen Erziehung unverrückbar „die kommende<br />

Mutter“ sei, die (seit 1938) je nach wachsender Kinderzahl mit den verschiedenen Stufen des<br />

„Ehrenkreuzes der deutschen Mutter“ ausgezeichnet wurde. Das Frauenbild sollte reduziert<br />

werden auf das der Gebärerin <strong>und</strong> des Heimchens am Herde. Doch in der Realität des Alltagslebens<br />

heranwachsender Mädchen fanden solche Vorgaben keinen rechten Raum. In den Familien<br />

setzten sich im allgemeinen bis auf wenige Ausnahmen die gewohnte bürgerliche Familienplanung<br />

mit zwei bis drei Kindern fort, erst recht als der Krieg begann mit seinen E<strong>ins</strong>chränkungen<br />

des täglichen Lebens <strong>und</strong> der beruflichen Inanspruchnahme der Frauen. Die<br />

meisten begnügten sich gerne damit, „bevölkerungspolitische Blindgänger“ zu sein, wie es in<br />

den Witzen hiess. So blieb die „Umschulung“ der Frauen zur Gebärerinnen oft eher ein Programm<br />

<strong>und</strong> erreichte kaum das Bewusstsein der Kinder. Das BDM-Mädchen Margarete<br />

Hannsmann, geboren Anfang der zwanziger Jahre, erzählt: „Schon mit elf hatte ich die erste<br />

Periode.“ Ohne eine vernünftige Aufklärung durch die Mutter gelangt das Kind in die erregende<br />

Lebensphase der Pubertät, die von so viel unverstandenen Gefühlen erfüllt ist. Ein Flirt<br />

der Vierzehnjährigen mit einem HJ-Führer mit Küssen <strong>und</strong> ersten Berührungen lässt sie an<br />

eine Schwangerschaft glauben, die sie jedoch nicht mit Muttergefühlen, sondern mit <strong>Tod</strong>esgedanken<br />

erfüllt. Sie steigert sich in eine Gretchen-Psychose infolge intensiver Faustlektüre.<br />

Um keine Schande über ihre Familie zu bringen, plant sie ihren <strong>Tod</strong> durch Erfrieren im Freien<br />

bei -13°C im Januar. „Ich sah ein, dass ich sterben müsse, <strong>und</strong> ich bereitete mich darauf vor<br />

mit aller Phantasie, die mir zu Gebote stand: Reue, Verzweiflung, Trauer, Abschiede, ohne<br />

dass jemand etwas merkte, jedoch bei der Durchführung räumte ich mir eine winzige Chance<br />

zum Davonkommen ein.“ Der einzige Erfolg ist eine tüchtige Unterleibserkältung, <strong>und</strong> nachdem<br />

sie sich bei „verrufenen Mitschülerinnen“ über Periode <strong>und</strong> Kinderkriegen k<strong>und</strong>ig gemacht<br />

hat, geht sie ganz getrost mit ihrer Mutter zu einem Naturheilpraktiker.<br />

„Der hielt mir eine Strafpredigt über Kniestrümpfe im Herbst. Und weil ich den zweiten, den<br />

dicken wollenen Schlüpfer jeden Morgen heimlich, kaum war das Gartentor hinter mir zu,<br />

auszog <strong>und</strong> in die Schultasche steckte. Weil der mich pummelig machte…<br />

Der Naturheilpraktiker sagte: Wenn du so weitermachst, wirst du dir die Eierstöcke erfrieren.<br />

Du wirst einmal keine Kinder bekommen. Der Ausfluss ist ein Zeichen dafür. Wärme <strong>und</strong><br />

noch einmal Wärme. Viel zu leichtsinnig sind die jungen Mädchen von heute. Wollen Mütter<br />

von deutschen ges<strong>und</strong>en volkserhaltenden Kindern werden <strong>und</strong> frönen gleichzeitig dem Abhärtungsfimmel.“<br />

(Hannsmann, S. 60ff.) Die Reaktion des BDM-Mädchens auf diese bevölkerungspolitische<br />

Ermahnung hat die Autorin nicht überliefert.<br />

65 aus: Ingeborg, Weber-Kellermann: Die helle <strong>und</strong> die dunkle Schwelle. Wie Kinder <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> erleben<br />

(Beck’sche Reihe; 1035), Verlag C.H. Beck, München, 1994, S. 111-112.


Das Mutterkreuz 66<br />

Das "Ehrenkreuz der Deutschen Mutter" (Mutterkreuz) wurde 1938 als Auszeichnung in<br />

Form eines Ordens von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gestiftet.<br />

Es sollte eine ähnliche Funktion für die Mütter erfüllen wie das Eiserne Kreuz für die Soldaten,<br />

indem es einen Ehrenplatz in der Volksgeme<strong>ins</strong>chaft symbolisierte. Die kinderreiche<br />

Mutter wurde für ihren E<strong>ins</strong>atz von "Leib <strong>und</strong> Leben" bei der <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> Kinderaufzucht<br />

ausgezeichnet. Adolf Hitler, in dessen Namen die Ehrung verliehen wurde, bezeichnete die<br />

Mutterschaft demgemäß als das "Schlachtfeld" der Frau. Nur wenige Mütter lehnten die Verleihung<br />

ab.<br />

Wie bei einem militärischen Orden gab es das Mutterkreuz in verschiedenen Stufen. Die Wertigkeit<br />

war jeweils nach Anzahl der Kinder gegliedert: Ab vier Kindern erhielten die Mütter<br />

das bronzene, ab sechs Kindern das silberne <strong>und</strong> ab acht Kindern das goldene Mutterkreuz. Es<br />

bestand aus einem kreuzförmigen Anhänger mit einem Hakenkreuz in der Mitte, das mit der<br />

Schriftumrandung "Der deutschen Mutter" versehen war. Die Mütter sollten die Auszeichnung<br />

bei feierlichen Anlässen an einem blauweißen Band um den Hals oder als Miniaturkreuz<br />

am Revers tragen. Um den würdigen Charakter der Ehrung zu bewahren, war es unstatthaft,<br />

das Mutterkreuz im Alltagsleben <strong>und</strong> zur Arbeitskleidung anzulegen.<br />

Bereits 1939 wurden 3 Millionen Frauen mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet. Zu diesem<br />

Zeitpunkt lebten in knapp einem Viertel aller Familien vier Kinder <strong>und</strong> mehr. Damit galten<br />

die Familien als kinderreich <strong>und</strong> konnten finanzielle Vergünstigungen bei den Behörden beantragen.<br />

Der Wunsch nach möglichst vielen Kindern sollte durch wirtschaftliche Anreize<br />

ebenso gesteigert werden wie durch die ideologische Überhöhung der Mutterrolle. Der nationalsozialistische<br />

Mutterkult drückte sich auch in staatlichen Muttertagsfeiern aus, bei denen<br />

ab 1942 das Mutterkreuz feierlich verliehen wurde. Die erwähnten bevölkerungspolitischen<br />

Maßnahmen zielten auf die Umsetzung der Ideologie des NS-Regimes, nach der "völkisch<br />

wertvoller" Nachwuchs das wichtigste Kapital für die Zukunft des deutschen Volks war.<br />

Deshalb wurde das Mutterkreuz nur an reichsdeutsche Mütter verliehen, die einen<br />

"Ariernachweis" vorlegen konnten <strong>und</strong> deren Kinder als "erbges<strong>und</strong>" galten. Der Ausschluß<br />

von der Verleihung stigmatisierte "fremdrassige", "erbkranke" <strong>und</strong> "asoziale" Familien, deren<br />

Nachwuchs der NS-Vernichtungspolitik zum Opfer fiel. Das Mutterkreuz konnte nach Bekanntwerden<br />

eventueller "rasseideologischer Mängel" auch wieder entzogen werden.<br />

66 aus: www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/mutterkreuz/index.html [5.Mai 2005].


5<br />

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Vorwort zum Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter <strong>und</strong><br />

ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer<br />

aus: Ute Benz (Hg.): Frauen im Nationalsozialismus. Dokumente <strong>und</strong> Zeugnisse, München 1993, S. 176-178.<br />

Es gibt im Leben der Frau wohl keinen Zeitabschnitt, der in seiner Eigenart verglichen werden<br />

könnte mit den Monaten, in denen sie ihr erstes Kind erwartet, <strong>und</strong> kein seelisches oder<br />

körperliches Erlebnis ist ähnlich bedeutungsvoll wie dessen <strong>Geburt</strong>. Kein Ereignis im Leben<br />

der Frau entreisst sie aber auch so sehr ihrem Einzelschicksal <strong>und</strong> ordnet sie ein in das grosse<br />

Geschehen des Völkerlebens wie dieser Gang an die Front der Mütter unseres Volkes, die den<br />

Strom des Lebens, Blut <strong>und</strong> Erbe unzähliger Ahnen, die Güter des Volktums <strong>und</strong> der Heimat,<br />

die Schätze der Sprache, Sitte <strong>und</strong> Kultur weitertragen <strong>und</strong> auferstehen lassen in einem neuen<br />

Geschlecht.<br />

Und kein Zeitraum ihres Lebens ist mehr geeignet, der Frau die tiefe Schicksalsverb<strong>und</strong>en-<br />

heit mit allen ihren Schwestern zum unauslöschlichen Erlebnis werden zu lassen, als wenn es<br />

gilt, die eine grösste, vom Schöpfer gestellte Aufgabe zu bewältigen <strong>und</strong> ihr Mütterschicksal<br />

zu erfüllen. Wie von unsichtbarer Hand hinweggeräumt versinken alle künstlichen Schranken,<br />

die zwischen den Frauen errichtet sind durch Brauch <strong>und</strong> Herkommen, durch Kastengeist <strong>und</strong><br />

Standesdünkel oder Unverstand <strong>und</strong> Eigenliebe. Im Moment der Schwangerschaft, am ent-<br />

scheidenden Tag der <strong>Geburt</strong>, eint alle Frauen das gleich grosse Ziel. Dabei ist es einerlei, ob<br />

die Hausfrau oder die berufstätige Frau einem Kinde das Leben geben soll, <strong>und</strong> es besteht<br />

kein Unterschied mehr zwischen arm <strong>und</strong> reich, Städterin oder Bäuerin, Arbeiterin oder Bürgerin.<br />

Das gewaltige Naturgeschehen erfasst die kräftige <strong>und</strong> mutigbejahende Frau ebenso<br />

wie die schwächliche <strong>und</strong> ängstlich zweifelnde. Das werdende Leben fragt nicht danach, ob<br />

die Frau in Ehe <strong>und</strong> Häuslichkeit wohlbehütet ist oder ausserhalb der Ehe <strong>und</strong> herkömmlichen<br />

Ordnung schwer zu kämpfen hat. Jetzt sind sie vor dem Schicksal alle gleich. Zu jeder Zeit ist<br />

das Mutterwerden verglichen worden mit den höchsten Tugenden des Mannes, der in den<br />

Tagen schwerster Not mit E<strong>ins</strong>atz des eigenen Lebens Volk <strong>und</strong> Heimat verteidigt. Das unsterbliche<br />

Freiheitslied Schillers, sonst nur von Männern <strong>und</strong> für Männer gesungen, es gewinnt<br />

in diesem Zusammenhang für uns Frauen eine neue tiefere Bedeutung:<br />

„Und setzet ihr nicht das Leben ein,<br />

Nie wird euch das Leben gewonnen sein!“<br />

Die grosse <strong>und</strong> immer wieder beglückende Kameradschaft der Mütter- sie ist da! Wenn früher<br />

andere Frauen gleichgültig an Euch vorübergingen, so begegnet Ihr nun plötzlich, kaum dass<br />

man Euch die Erwartung des Kindes anmerkt, auch bei Fernstehenden oder ganz Unbekannten<br />

einer beglückenden Anteilnahme <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>lichkeit. Rat <strong>und</strong> Hilfe, Beistand <strong>und</strong> Belehrung<br />

wird Euch von allen Seiten angeboten. Gute <strong>und</strong> brauchbare Anweisungen wechseln in<br />

bunter Folge ab mit veralteten, ja aus Aberglauben <strong>und</strong> Irrtümern herstammenden Meinungen.<br />

Verwirrt steht ihr da, unfähig zu entscheiden, was gut, was schlecht ist. Unsicherheit entsteht<br />

umso eher, je mehr verschiedene Ratgeberinnen Ihr anhört. Und mitten in der beglückenden<br />

Vorfreude auf das Kind entdeckt Ihr plötzlich, dass das kommende Erste ja eine ganze Reihe<br />

ungewohnter Anforderungen an Euch stellen wird. So viele, scheinbar kleine <strong>und</strong> nebensächliche<br />

Dinge müssen beachtet <strong>und</strong> manches muss vorbereitet werden, das Euch noch gar nicht<br />

eingefallen ist <strong>und</strong> an das Ihr früher hättet denken sollen. Und unter all diese Überlegungen<br />

mischt sich die ängstliche Frage danach, was denn nun geschieht im eigenen Körper, wie es<br />

zugeht, dass das Kind so geheimnisvoll wächst, was zu tun wäre, um die Zeit der Schwanger-


45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

schaft möglichst gut <strong>und</strong> für Euch selbst <strong>und</strong> Euer Kind zweckmässig zu verbringen, was für<br />

die Zeit nachher alles zu bedenken ist.<br />

In diese Lücke will unser Buch e<strong>ins</strong>pringen. Es möchte jungen Frauen, die ihr erstes Kind<br />

erwarten ein Ratgeber sein in allen kleinen <strong>und</strong> grossen Angelegenheiten, die mit diesem<br />

umwälzenden Erlebnis zusammenhängen. Es will aufklären über die körperlichen <strong>und</strong> seelischen<br />

Vorgänge während Schwangerschaft, <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> Wochenbett. Ausdrücklich erwähnt<br />

es alle Veränderungen nur, solange sie noch als „normal“ im weitesten Sinne des Wortes gelten<br />

können <strong>und</strong> streift das Krankhafte nur dann, wenn es von besonderer Wichtigkeit ist. […]<br />

Die Rettung der Nation <strong>und</strong> der Rasse ist gelegt in die Hände der Frauen. Wenn im Jahre<br />

1931 Deutschland einen <strong>Geburt</strong>enüberschuss von 305 000 aufzuweisen hatte, das halb so<br />

grosse Polen aber im Jahre 1930 einen <strong>Geburt</strong>enüberschuss von 525 000, so kann sich jede<br />

Frau ausmalen, wohin das Schicksal das deutsche Volk führen wird, gelingt es uns nicht, noch<br />

in letzter St<strong>und</strong>e eine entscheidende Wende herbeizuführen. Die riesenhaften Anstrengungen<br />

unseres Führers Adolf Hitler <strong>und</strong> aller seiner Helfer zur Rettung des Vaterlandes haben zur<br />

Voraussetzung dies eine: dass Deutschland, heute vergreist, überaltert <strong>und</strong> auf dem Wege des<br />

Aussterbens, wieder werde ein Land der Jugend, ein kinderreiches Land. Die Bevölkerungsstatistiker<br />

haben errechnet, dass, soll nur die jetzige Zahl des Volkes erhalten bleiben, aus<br />

jeder Ehe vier Kinder hervorgehen müssen. Die Zeit der Zwei-, Ein- <strong>und</strong> Keinkinderehe muss<br />

überw<strong>und</strong>en werden um jeden Preis.<br />

Eine ungeheure weltanschauliche Wandlung vollzieht sich zur Zeit in unserem Volk. Neue<br />

Pflichten, neue Verantwortungen warten auf jeden.<br />

Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte <strong>und</strong> ewig neue Pflicht:<br />

Der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken.


aus: Geschichtsbuch 4. Die Menschen <strong>und</strong> ihre Geschichte in Darstellungen <strong>und</strong> Dokumenten,<br />

Cornelsen Verlag, Berlin 1996, S. 110.


Zusatzinformationen zur Bedeutung der <strong>Geburt</strong> zur Zeit des<br />

Nationalsozialismus sowie mögliche Quellenanalyse<br />

Zu Beginn der Weimarer Republik, am 30. November 1918 hatten die deutschen Frauen<br />

erstmals das Wahlrecht erhalten. Bereits 1921 fasste die NSDAP e<strong>ins</strong>timmig den Beschluss,<br />

Frauen weder in die Führung der Partei noch in den leitenden Ausschuss aufzunehmen. Der<br />

damals gefasste Entschluss wurde auch nach der Machtübernahme Hitlers konsequent durchgezogen.<br />

Der auffällige Ausschluss der Frauen aus der Politik wurde durch das totalitäre Regime<br />

damit begründet, dass die Aufgabe <strong>und</strong> Pflichten der Frauen im Haus <strong>und</strong> der Kinderaufzucht<br />

liegen würden. Ein Zitat des Reichsministers für Volksaufklärung <strong>und</strong> Propaganda,<br />

Joseph Goebbels, verdeutlicht diese Ansicht besonders deutlich: „Die Frau hat die Aufgabe,<br />

schön zu sein <strong>und</strong> Kinder zur Welt zu bringen. Den ersten <strong>und</strong> ihr gemässen Platz hat die Frau<br />

in der Familie, <strong>und</strong> die w<strong>und</strong>erbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Land <strong>und</strong><br />

Volk Kinder zu schenken, Kinder, die Geschlechterfolgen fortsetzen <strong>und</strong> die Unsterblichkeit<br />

der Nation verbürgen.“ 67 Der <strong>Geburt</strong> wurde somit während der Zeit des Dritten Reichs eine<br />

enorme Bedeutung zugeschrieben. Durch arischen Nachwuchs sollte die Volksherrschaft gesichert<br />

<strong>und</strong> für den Soldatennachwuchs geschaut werden. Ziel war es deshalb auch, die zukünftigen<br />

Kinder zu unerbittlichen Soldaten <strong>und</strong> werdenden Mütter zu erziehen. Vorbereitungen<br />

zur Degradierung der Frau zur Gebärmaschine <strong>und</strong> zu einem unpolitischen, willenlosen<br />

Objekt begannen bereits in der nationalsozialistischen Jugendorganisation, der Hitlerjugend.<br />

Analog zu den „Pimpfen“ im männlichen Teil der Hitlerjugend gab es für die zehn- bis vierzehnjährigen<br />

Mädchen seit 1931 „Jungmädelgruppen“. Beitreten durften jedoch nur<br />

„deutschblütige, reichsdeutsche <strong>und</strong> erbges<strong>und</strong>e“ Mädchen. Nach einem halben Jahr musste<br />

die „Diensttauglichkeit“ durch die „Jungmädelprobe“ nachgewiesen werden. Ab 1940 wurde<br />

sie - aufgr<strong>und</strong> der Jugenddienstverordnung“ - sogar zur Pflicht. Ab dem 14. bis zum 18. Lebensjahr<br />

mussten die Mädchen dann zum „B<strong>und</strong> Deutscher Mädel“, dem BDM übertreten. In<br />

der erzwungenen Geme<strong>ins</strong>chaft herrschte Drill <strong>und</strong> Anpassung. Widerspruch wurde nicht<br />

geduldet. Ziel der sportlichen Betätigung war es, die zukünftigen Mütter körperlich für die<br />

<strong>Geburt</strong> stark zu machen. Leibeserziehung hatte deshalb Priorität vor geistiger Erziehung, „arische<br />

Idealkörper“ wurden glorifiziert. Auf „Heimabenden“ wurden die Mädel zudem ideologisch<br />

geschult. Einziges Ziel von Spiel <strong>und</strong> Sport war es, starke <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e, zukünftige Mütter<br />

heranzutrainieren. Die meisten Teilnehmerinnen waren sich dessen aber kaum bewusst.<br />

Viele glaubten, durch einen Beitritt in den BDM neue Freiheiten erlangen zu können da ein<br />

breites Sportangebot, Ausflüge in die Natur, Abenteuer <strong>und</strong> Romantik mit Lagerfeuer bis anhin<br />

nur den Jungen erlaubt gewesen waren.<br />

Aber auch bei den erwachsenen Frauen versuchten die Nationalsozialisten, die Bedeutung der<br />

<strong>Geburt</strong> hochzustilisieren. 1938 führte das faschistische Regime deshalb eine Auszeichnung<br />

für die Funktion des Gebärens ein. Das „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“. Dieses „Mutterkreuz“,<br />

wie man es im Volksm<strong>und</strong> auch nannte, wurde in Form eines Ordens an kinderreiche<br />

Mütter vergeben. Es besass eine ähnliche Funktion wie das Eiserne Kreuz der Soldaten, indem<br />

es dem Träger resp. der Trägerin einen Ehrenplatz in der Volksgeme<strong>ins</strong>chaft symbolisierte.<br />

Wohlverhalten sollte belohnt werden. Arische Mütter wurden für ihren E<strong>ins</strong>atz von<br />

„Leib <strong>und</strong> Leben“ bei der <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> der Kinderaufzucht ausgezeichnet. Die Mutterschaft<br />

wurde somit zum „Schlachtfeld“ der Frau. Eine kinderlose Ehe hingegen war in den Augen<br />

der Nationalsozialisten eine „Fehlehe“, eine kinderlose Frau ein „bevölkerungspolitischer<br />

Blindgänger“. Somit bestimmte der Staat bis zur <strong>Geburt</strong> hin das alltägliche Familienleben.<br />

Dass bereits Säuglinge lediglich der politischen Funktion dienten, war den Eltern oft nicht<br />

bewusst <strong>und</strong> wurde durch massive Propaganda geschickt verdeckt. Ein Paradebeispiel für<br />

67 aus: Renate Wiggershaus: Frauen im Nationalsozialismus, in: Johannes Beck et al. (Hg.): Leben im Faschismus.<br />

Terror <strong>und</strong> Hoffnung in Deutschland 1933-1945, Hamburg 1980, S. 358.


solch eine ideologische Schulung stellt der Erziehungsratgeber von Johanna Haarer „Die<br />

deutsche Mutter <strong>und</strong> ihr erstes Kind“ dar, welcher im Jahre 1934 zum ersten Mal publiziert<br />

wurde.<br />

Zur Autorin Johanna Haarer:<br />

Leider lassen sich über das Leben der Autorin kaum Angaben finden. Aus dem Werk von<br />

Sigrid Chamberlain 68 geht jedoch folgendes über sie hervor: Johanna Haarer wurde 1900 in<br />

München geboren. Als Ärztin <strong>und</strong> begeistert von den nationalsozialistischen Rassengesetzen<br />

<strong>und</strong> der Vorstellung, dass das „deutsche Erbgut“ vor „erbkrankem Nachwuchs“ zu schützen<br />

sei, war sie besonders prädestiniert, Erziehungsratgeber für werdende Mütter zu schreiben.<br />

Ihrer Ansicht nach bedurfte es für das Heranwachsen eines starken, geistig <strong>und</strong> körperlich<br />

ges<strong>und</strong>en Geschlechts nicht Liebe oder Zuneigung zwischen Mutter <strong>und</strong> Säugling, sondern<br />

Distanz, Bindungslosigkeit <strong>und</strong> unerbitterliche Strenge. Obwohl aus ihrer Ehe selbst Zwillinge<br />

hervorgingen, ein Mädchen <strong>und</strong> ein Knabe, hatte sie ein völlig negatives Bild von Kleinkindern.<br />

Ihre einzige Motivation, sich mit der Entwicklung von Kindern zu befassen entstand<br />

aus der fixen Idee, genetisch reine, arische Kinder für das nationalsozialistische Deutschland<br />

zu formen. Somit waren Haarers Bücher nicht einfache Erziehungsratgeber, sondern nach der<br />

Vorstellung der nationalsozialistischen Ideologie ausgearbeitete Anweisungen fürs Heranzüchten<br />

des neuen arischen Menschen. Dies zeigt auch ihre andere Tätigkeit die sie im faschistischen<br />

Staat vorübergehend ausübte, den Posten als „Gausachbearbeiterin für Rassenpolitik“.<br />

Insgesamt erstellte Johanna Haarer für die Nationalsozialisten drei Erziehungsratgeber<br />

für Mütter: „Die deutsche Mutter <strong>und</strong> ihr erstes Kind“ (1934), „Unsere kleinen Kinder“(1936)<br />

sowie „Mutter- erzähl von Adolf Hitler“ (1939). Alle drei Bücher waren ein unglaublicher<br />

Erfolg. Das zeigen auch die Berichte vom Völkischen Beobachter, welche sie hoch lobten <strong>und</strong><br />

empfahlen. Der grosse Erfolg ihrer Werke trug darum wesentlich dazu bei, dass die nationalsozialistische<br />

Ideologie Eingang in viele Familien fand <strong>und</strong> im ganzen Dritten Reich weit<br />

verbreitet wurde. Am 30. April 1988 verstarb Johanna Haarer im Alter von 88 Jahren.<br />

Zum Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter <strong>und</strong> ihr erstes Kind“<br />

Das Buch „Die deutsche Mutter <strong>und</strong> ihr erstes Kind“ erschien erstmals 1934 <strong>und</strong> sollte als<br />

Ratgeber für zukünftige Mütter dienen. Der Ratgeber vermittelte vor allem Anweisungen wie<br />

Säuglinge richtig gepflegt <strong>und</strong> erzogen werden sollten. Blick- <strong>und</strong> Hautkontakt zwischen<br />

Mutter <strong>und</strong> Kind mussten wo möglich vermieden werden. An Stelle von Liebe <strong>und</strong> Zuneigung<br />

bedurfte es Strenge, Beharrlichkeit <strong>und</strong> Unerbitterlichkeit von Seiten der Mutter. Nur so<br />

konnte nach Haarer jegliches Autonomiebestreben zukünftiger Bürger von Anfang an unterb<strong>und</strong>en<br />

werden. Das Buch stellte somit keinen Ratgeber dar, sondern erteilte strikte Anweisungen,<br />

wie aus Säuglingen wertvolle Glieder der arischen Gesellschaft zu formen waren. Bis<br />

zum Kriegsende 1945 erreichte „Die deutsche Mutter <strong>und</strong> ihr erstes Kind“ eine Auflage von<br />

690 000 Stück <strong>und</strong> wurde vom völkischen Beobachter als „w<strong>und</strong>ervolles Werk“ bezeichnet.<br />

Jeder frisch verheirateten Frau wurde die Lektüre deshalb dringendst empfohlen. Zudem sollte<br />

das Buch auch für die Vereinheitlichung der Säuglingspflegeregeln im ganzen Deutschen<br />

Reich dienen. Es erschien darum zeitgleich mit der, durch die NS Frauenschaft lancierte<br />

Reichsmütterschulung. Wanderlehrerinnen trugen die einheitlich geplanten Lehrgänge bis in<br />

die entlegensten Gebiete des Landes. In öffentlichen Schulen oder parteieigenen Räumen<br />

wurden die Kurse anschliessend durchgeführt. In den Grossstädten richtete das Regime sogar<br />

feste Mütterschulen ein. Bis zum April 1943 hatten r<strong>und</strong> drei Millionen Frauen daran teilgenommen.<br />

Lehrmittelgr<strong>und</strong>lage für diese Säuglingskurse bildeten die „Haarer-Bücher“. In fast<br />

allen deutschen Haushalten mit Kindern gab es deshalb mindestens ein Buch von Johanna<br />

68 Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter <strong>und</strong> ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher,<br />

Giessen 1997


Haarer. Die hohen Auflagen, welche Haarers Werke erreichten, bedeutete gleichzeitig eine<br />

weite Verbreitung derselben <strong>und</strong> damit auch der nationalsozialistischen Ideologie. Noch lange<br />

nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war das Werk immer noch sehr gefragt. Aufgr<strong>und</strong><br />

seiner Selbstverständlichkeit war es über Jahre hinweg unmöglich es aus den Verkaufsregalen<br />

zu verbannen, geschweige denn zu kritisieren. Die letzte Auflage erlebte das Werk in<br />

„bereinigter Form“ 1987.<br />

Quellenanalyse<br />

Formale Einordnung<br />

Erstmals erschienen ist das Werk in Deutschland im Jahre 1934. Da keine genaueren Angaben<br />

über den Zeitpunkt der Erstellung vorliegen, müssen wir annehmen, dass der Ratgeber entweder<br />

im selben Jahr geschrieben, oder ein Jahr zuvor, zur Zeit der Machtübernahme der Nationalsozialisten<br />

in Auftrag gegeben wurde. Das Buch richtet sich, wie dies der Titel bereits verrät,<br />

an die zukünftigen, jungen (arischen) Mütter des Dritten Reiches.<br />

Inhaltliche Einordnung<br />

Die Quelle kann grob in zwei Teile unterteilt werden. In einer ersten Sequenz wird vor allem<br />

die Unsicherheit aber auch die Vorfreude angesprochen, welche die jungen Frauen während<br />

der Schwangerschaft durchleben. Durch den Text sollen die werdenden Mütter vor allem von<br />

ihrer zukünftigen, als göttlich dargestellten Aufgabe überzeugt werden. Die sentimentale<br />

Schreibweise, welcher sich Haarer zu Beginn des Vorwortes bedient, sollte die Leserin in der<br />

Richtigkeit ihres Tuns bestärken. Zudem wird den jungen Frauen das Bild vermittelt, dass<br />

sowohl das Regime als auch die Umwelt die zukünftige Mutter unterstützen <strong>und</strong> ihren Beitrag<br />

für die Erhaltung des Vaterlands durch Anteilnahme <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>lichkeit würdigen würde.<br />

Geschickt bezeichnet Haarer deshalb die <strong>Geburt</strong> als „grosses Geschehen des Völkerlebens“<br />

<strong>und</strong> nicht mehr als Einzelschicksal jeder Frau. Zudem wird bei den Leserinnen der Anschein<br />

erweckt, durch die bevorstehende <strong>Geburt</strong> könnten bestehende Standesgrenzen durchbrochen<br />

<strong>und</strong> überw<strong>und</strong>en werden. Durch die Schicksalsverb<strong>und</strong>enheit aller Mütter, so liess man das<br />

Zielpublikum im Glauben, würde es zu einer Solidarisierung aller deutschen Frauen kommen.<br />

Somit wird deutlich, dass sich der Erziehungsratgeber vor allem an junge, deutsche <strong>und</strong> wahrscheinlich<br />

eher wenig gebildete Frauen der Unter- <strong>und</strong> Mittelschicht wendete. Dieses Zielpublikum<br />

entsprach auch der grossen Bevölkerungsmehrheit Deutschlands. Aber nicht nur innerhalb<br />

der Frauen sollte es zu einer Gleichstellung kommen, sondern in gewisser Weise auch zu<br />

einer Angleichung zwischen Mann <strong>und</strong> Frau. Unterstrichen wird dies durch das Freiheitslied<br />

von Schiller, welches Haarer geschickt in das Vorwort einbaut. Der Beitrag zum Schutz <strong>und</strong><br />

der Erhaltung der Nation wird nun auf beide Geschlechter aufgeteilt. Der Mann verteidigt das<br />

Land vor dem Feind, die Frau hilft durch das Kinderkriegen mit, den Staat zu erhalten <strong>und</strong><br />

fortzuführen.<br />

Der letzte Teil des Vorworts befasst sich weniger mit den persönlichen Gefühlen <strong>und</strong> Ängsten<br />

werdender Müttern sondern spricht die Notwendigkeit von neuen <strong>Geburt</strong>en an. Anhand von<br />

angeblichen Bevölkerungsstatistiken wird der Leserin ein pessimistisches Bild von der Zukunft<br />

der deutschen Nation vermittelt. Aufgr<strong>und</strong> von Vergleichen mit den <strong>Geburt</strong>enraten<br />

„minderwertigerer“ Völker wird ein Klima der Angst geschaffen. Die Bedrohung vom Untergang<br />

des deutschen Volkes scheint unmittelbar bevorzustehen. Die Aufgabe des Kindergebärens<br />

wird deshalb nicht mehr, wie zu Beginn des Vorwortes, als höchste Tugend sondern als<br />

Pflicht jeder Frau zur Rettung der Deutschen Nation angesehen. Die Bedeutung der <strong>Geburt</strong><br />

wandelt sich somit innerhalb des Textes vom persönlichen, emotionalen Ereignis („Euer<br />

Kind“), zum Kampf um das Fortbestehen des Volkes, dem <strong>Geburt</strong>enkrieg. Diese eigentliche<br />

Bedeutung der <strong>Geburt</strong> für die Nationalsozialisten ist deutlich auch in der Veränderung des<br />

Schreibstils erkennbar. Somit ändert im letzten Teil des Vorworts der Tonfall der Autorin von


einer verständnisvollen, gefühlsbetonten „Wir-Schreibweise“, zu einer klaren Kommentierung<br />

der Ergebnisse der Bevölkerungsstatistik <strong>und</strong> einer Anordnung an alle Frauen, ihrer<br />

Pflicht zur Erhaltung der Nation dringend nachzukommen.<br />

Die Autorin des Werks war geprägt von der vorherrschenden nationalsozialistischen Ideologie<br />

jener Zeit. Viele Ansichten, welche Adolf Hitler bereits in seinem Werk „Mein Kampf“ formuliert<br />

hatte, werden durch Haarer aufgegriffen <strong>und</strong> angesprochen. So ist zum Beispiel die<br />

Vorstellung der Rassenhygiene <strong>und</strong> Rassenreinhaltung bereits tragendes Element im Vorwort.<br />

Zentrale Begriffe wie „Blut <strong>und</strong> Erbe“ sowie „Volk <strong>und</strong> Rasse“ sollten mithelfen, die nationalsozialistische<br />

Vorstellung vom arischen, rassenreinen Herrenmenschen in den Köpfen der<br />

Bürgerinnen zu verankern. Zugleich wird auch die Vorstellung vom „Kampf der Rassen“<br />

(Sozialdarwinismus), durch die Autorin aufgegriffen. Schreckensszenarien über die Ausbreitung<br />

„minderwertiger Rassen“ sollten die <strong>Geburt</strong>enzahl <strong>und</strong> die Bereitschaft des Kinderkriegens<br />

steigern. Auch die Ideologie des Führerkults kommt deutlich in der Quelle zum tragen,<br />

indem Haarer Adolf Hitler als Retter des Vaterlandes bezeichnet <strong>und</strong> die Unterordnung jeder<br />

Frau in den Dienste des Volkes verlangt.<br />

Sachinterpretation<br />

Ziel des Ratgebers war es, das Handeln <strong>und</strong> Denken der Frauen, <strong>ins</strong>besondere der zukünftigen<br />

Mütter, nach den Interessen der Nationalsozialisten auszurichten. Dabei sollte die Bedeutung<br />

der <strong>Geburt</strong> so propagandistisch hochstilisiert werden, dass einerseits der Wunsch nach Kindern<br />

geweckt, als auch das Pflichtgefühl der Frauen angeregt wurde, durch möglichst viele<br />

Kinder zur Rettung der Nation beizutragen. Indem der Leserin der Anschein vermittelt wurde,<br />

im Werk den einzig richtigen Ratgeber <strong>und</strong> dadurch eine Orientierungshilfe zu finden, bediente<br />

sich die Autorin bewusst der Unsicherheit der jungen, unerfahrenen Mütter. Auch verwendet<br />

Haarer in ihrer Einleitung gezielte Schreckensszenarien, welche die Angst vor dem Aussterben<br />

der Nation als auch die Abneigung gegenüber anderen Rassen fördern sollte.<br />

Johanna Haarer selbst war eine überzeugte Verfechterin des nationalsozialistischen Rassengesetzes.<br />

Sie spricht sich im Text deutlich für eine Ausweitung der <strong>Geburt</strong>enzahlen <strong>und</strong> damit<br />

auch der arischen Rasse aus. Die Erfüllung des Ziels um „jeden Preis“ deutet zudem darauf<br />

hin, dass sie womöglich auch Mittel befürwortet, welche <strong>Tod</strong> oder Zwangssterilisation von<br />

erbkranken oder „minderwertigen“ Menschen beinhalten würden. Auch wird deutlich, dass<br />

sie die <strong>Geburt</strong> als Pflicht fürs Vaterland ansieht <strong>und</strong> weniger als persönliches, emotionales<br />

Ereignis jeder Frau. Die Verwendung einer gefühlsbetonten Sprache zu Beginn der Einleitung<br />

sollte einzig <strong>und</strong> alleine dazu dienen, das Vertrauen der werdenden Mütter zu gewinnen. Es<br />

muss jedoch immer auch beachtet werden, dass sie das Buch im Auftrag des nationalsozialistischen<br />

Regimes verfasste <strong>und</strong> somit sicherlich gewisse ideologische Ansichten vertreten <strong>und</strong><br />

thematisieren musste.<br />

Durch die Strophen des Freiheitslied Schillers versucht die Autorin den Leserinnen ein Bild<br />

zu vermitteln, welches den Frauen Rechte zugesteht, die bisher nur den Männern vorbehalten<br />

waren. Es scheint deshalb zu einer gewissen Angleichung der Geschlechter zu kommen. Dies<br />

steht aber im Widerspruch zur damaligen Situation der Frauen. Abgesehen von diesem neuen<br />

Vorrecht auf „beglückende Kameradschaft“ besassen sie weder politische Mitsprache noch<br />

Anrecht auf leitende Funktionen <strong>und</strong> Ämter in der Partei. Die angebliche Emanzipation der<br />

Frau kann also nicht vertreten werden. Vielmehr bedeutete die Festlegung der Frauen auf<br />

Haus <strong>und</strong> Familie ein Rückschritt für die bisher erkämpften Rechte der deutschen Bürgerinnen.<br />

Die Autorin spricht zwar von einer Aufhebung aller „künstlichen Schranken“ <strong>und</strong> der Erstehung<br />

einer „Kameradschaft der Mütter, verschweigt aber dabei, dass Jüdinnen, Erbkranke <strong>und</strong>


„Unsoziale“ davon ausgeschlossen waren. Von einer Solidarität aller Frauen kann also keine<br />

Rede sein. Es wird zudem angedeutet, dass der Ratgeber nur jene Veränderungen bei der<br />

Entwicklung des Kindes thematisiert, welche als „normal“ angesehen werden. Welches<br />

Schicksal aber für erbkranke oder behinderte Kinder vorgesehen war, wird nicht weiter ausgeführt.<br />

Auch spricht Haarer im Vorwort von einem „vergreisten, überalterten Deutschland“,<br />

welches überw<strong>und</strong>en werden müsste. Zwar sieht sie als ein mögliches Mittel die Ausweitung<br />

der <strong>Geburt</strong>enzahlen, inwiefern sie resp. die Nationalsozialisten andere Möglichkeiten wie z.B.<br />

die Euthanasie zur Lösung der Überalterung in betracht ziehen, wird bewusst weggelassen.<br />

Auffallend an der Quelle ist die häufige Verwendung von ideologisch aufgeladenen Begriffen<br />

wie „Front der Mütter“, „Rettung der Nation <strong>und</strong> Rasse“, „Volkstum <strong>und</strong> Heimat“. Bewusst<br />

wird damit bei den Leserinnen das Gefühl angesprochen <strong>und</strong> weniger das Denken selbst. Ziel<br />

davon war es, zukünftige Mütter auf die nationalsozialistische Ideologie einzustimmen. War<br />

dies geschehen, wurde dadurch sichergestellt dass die Frauen auch ihre Kinder nach dieser<br />

Weltanschauung erziehen würden. Zudem sollte durch die Verwendung von ideologischen<br />

Begriffen die Abneigung gegenüber andern Völkern geschürt <strong>und</strong> ausgedehnt werden


Aktuelle Aspekte von <strong>Geburt</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>


Aktuelle Aspekte zur <strong>Geburt</strong> 69<br />

Wo die eine Person die Menschenwürde in Gefahr sieht, fürchtet die andere um die persönliche<br />

Freiheit. Diskutieren Sie jeweils in kleinen Gruppen über vier heikle Fälle aus der Fortpflanzungsmedizin.<br />

Lesen Sie in einem ersten Schritt einzeln das entsprechende Beispiel einer<br />

Zeugungsmöglichkeit <strong>und</strong> machen Sie sich Gedanken darüber, welche Ansicht Sie persönlich<br />

dazu vertreten. Anschliessend diskutieren Sie in der Gruppe die Fragen geme<strong>ins</strong>am. Das Frageblatt<br />

dient Ihnen als Anhaltspunkt <strong>und</strong> Stütze.<br />

Pro Frage stehen Ihnen ungefähr 10 Minuten zur Verfügung.<br />

Fall 1: Eispende<br />

Eine 44-jährige PR-Fachfrau <strong>und</strong> ihr Mann, 51, Bankier, beide aus der Schweiz, wünschen<br />

sich ein Kind. Er hat bereits zwei Töchter aus erster <strong>und</strong> einen Sohn aus zweiter Ehe, sie ist<br />

noch kinderlos. Weil sie in ihrem Alter nur eine kleine Chance hatte, auf natürlichem Weg<br />

schwanger zu werden, unternimmt das Paar sechs Versuche, die Eier der Frau ausserhalb des<br />

Körpers mit dem Samen des Ehemanns zu befruchten <strong>und</strong> dann in ihre Gebärmutter einzupflanzen<br />

(In-vitro-Fertilisation, IVF). Ohne Erfolg. Beim siebten Versuch wird im belgischen<br />

Gent das gleiche Verfahren mit gespendeten Eiern einer jungen Frau wiederholt, was in<br />

der Schweiz verboten ist. Es klappt auf Anhieb. Die Frau ist jetzt im siebten Monat mit Zwillingen<br />

schwanger.<br />

Diskutieren Sie dazu folgende Fragen:<br />

- Welche möglichen Gründe könnten die Schweiz bewogen haben, das Spenden von<br />

menschlichen Eizellen zu verbieten? Handelt es sich dabei nicht um einen Eingriff in die<br />

reproduktive Freiheit jedes einzelnen?<br />

- Wird diese Handlung dem Wunsch nach eigenen Kindern gerecht? Wäre es nicht besser,<br />

ein Kind zu adoptieren? Welche Gründe sprechen für eine In-vitro-Fertilisation, welche für<br />

eine Adoption?<br />

- Wie beurteilen Sie, angesichts des fortgeschrittenen Alters des Paares, den Kinderwunsch?<br />

69 Zusammengestellt aus: Es herrscht Uneinigkeit, in NZZ Folio Nr. 6, Juni 2002; Kindermacher. Die Zukunft<br />

der Fortpflanzung. Online im Internet: URL:http://www.-x.nzz.ch/folio/archiv/2002/06/artilcles/dietschi.html<br />

[Stand 11. Februar 2005].


Aktuelle Aspekte zur <strong>Geburt</strong> 70<br />

Wo die eine Person die Menschenwürde in Gefahr sieht, fürchtet die andere um die persönliche<br />

Freiheit. Diskutieren Sie jeweils in kleinen Gruppen über vier heikle Fälle aus der Fortpflanzungsmedizin.<br />

Lesen Sie in einem ersten Schritt einzeln das entsprechende Beispiel einer<br />

Zeugungsmöglichkeit <strong>und</strong> machen Sie sich Gedanken darüber, welche Ansichten Sie persönlich<br />

dazu vertreten. Anschliessend diskutieren Sie in der Gruppe die Fragen geme<strong>ins</strong>am. Das<br />

Frageblatt dient Ihnen als Anhaltspunkt <strong>und</strong> Stütze.<br />

Pro Frage stehen Ihnen ungefähr 10 Minuten zur Verfügung.<br />

Fall 2: Geschlecht wählen<br />

Ein Fruchtbarkeits<strong>ins</strong>titut im amerikanischen Fairfax hat eine Methode entwickelt, Spermien<br />

nach Geschlecht zu sortieren. Samen mit dem X-Chromosom (weiblich) sind etwas grösser<br />

als diejenigen mit dem Y-Chromosom (männlich). Mit „Microsort“ - so der Name des Verfahrens<br />

- können Eltern das Wunschgeschlecht ihres Nachwuchses vor der Zeugung wählen<br />

(so genanntes „social sexing“). Das aufbereitete Sperma wird mit einem Katheter in die Gebärmutter<br />

eingeführt (Insemination), ein Versuch kostet 2500 Dollar. Bis zum Januar 2002<br />

entstanden auf diese Weise 419 Schwangerschaften. Die Erfolgsquote beträgt 88 Prozent für<br />

Mädchen <strong>und</strong> 73 Prozent für Buben. In drei von vier Fällen wollten die Eltern ein Mädchen.<br />

Zusatzinfo: Diese Technik war ursprünglich für Eltern gedacht, die ein grosses Risiko haben,<br />

eine mit dem X-Chromosom verb<strong>und</strong>ene Krankheit zu vererben (z. B. Hämophilie, Bluterkrankheit).<br />

Als man sie für ges<strong>und</strong>e Eltern freigab, wurden Auflagen gemacht: Ehepaare dürfen<br />

nur dasjenige Geschlecht vorziehen, das in dieser Familie in der Minderheit ist.<br />

Diskutieren Sie dazu folgende Fragen:<br />

- Welche Gefahren birgt diese Methode, welchen Vorteil könnte sie allenfalls (besonders<br />

auch in Ländern wie China oder Indien) mit sich bringen?<br />

- Welche Gründe sprechen Ihrer Meinung für, welche gegen diese Methode?<br />

70 Zusammengestellt aus: Es herrscht Uneinigkeit, in NZZ Folio Nr. 6, Juni 2002; Kindermacher. Die Zukunft<br />

der Fortpflanzung. Online im Internet: URL:http://www.-x.nzz.ch/folio/archiv/2002/06/artilcles/dietschi.html<br />

[Stand 11. Februar 2005].


Aktuelle Aspekte zur <strong>Geburt</strong> 71<br />

Wo die eine Person die Menschenwürde in Gefahr sieht, fürchtet die andere um die persönliche<br />

Freiheit. Diskutieren Sie jeweils in kleinen Gruppen über vier heikle Fälle aus der Fortpflanzungsmedizin.<br />

Lesen Sie in einem ersten Schritt einzeln das entsprechende Beispiel einer<br />

Zeugungsmöglichkeit <strong>und</strong> machen Sie sich Gedanken darüber, welche Ansichten Sie persönlich<br />

dazu vertreten. Anschliessend diskutieren Sie in der Gruppe die Fragen geme<strong>ins</strong>am. Das<br />

Frageblatt dient Ihnen als Anhaltspunkt <strong>und</strong> Stütze.<br />

Pro Frage stehen Ihnen ungefähr 10 Minuten zur Verfügung.<br />

Fall 3: Kind als Knochenmarkspender<br />

Eine britische Familie will mit In-vitro-Fertilisation (IVF) genau das Kind zeugen, das für<br />

seinen kranken Bruder die rettenden Stammzellen liefern soll. Der dreijährige Zain leidet an<br />

Beta-Thalassämie, einem genetischen Leiden, das sein Blut verzehrt. Mit Hilfe einer Knochenmarktransplantation<br />

könnte er überleben, doch bisher hat sich kein geeigneter Spender<br />

gef<strong>und</strong>en. Jetzt wollen die Eltern diesen Spender selber auf die Welt bringen: Mit Hilfe der<br />

Präimplantationsdiagnostik - einem „Embryo-Check“ im Reagenzglas - soll ein Embryo ausgewählt<br />

<strong>und</strong> in die Gebärmutter eingepflanzt werden, dessen Immunsystem mit demjenigen<br />

von Zain zusammenpasst. Ein britisches Gericht hat dem Vorhaben kürzlich grünes Licht gegeben.<br />

Diskutieren Sie dazu folgende Fragen:<br />

- Wie beurteilen Sie die Absicht der Eltern, ihrem kranken Sohn eine Heilungsmöglichkeit<br />

zu verschaffen? Wird damit nicht das künftige Individuum auf eine <strong>ins</strong>trumentelle Funktion<br />

reduziert?<br />

- Mit welchen Problemen könnte das Kind in einer späteren Zeit konfrontiert sein?<br />

- Ist die gezielte Auswahl eines Embryos Ihrer Ansicht nach problematisch?<br />

71 Zusammengestellt aus: Es herrscht Uneinigkeit, in NZZ Folio Nr. 6, Juni 2002; Kindermacher. Die Zukunft<br />

der Fortpflanzung. Online im Internet: URL:http://www.-x.nzz.ch/folio/archiv/2002/06/artilcles/dietschi.html<br />

[Stand 11. Februar 2005].


Aktuelle Aspekte zur <strong>Geburt</strong> 72<br />

Wo die eine Person die Menschenwürde in Gefahr sieht, fürchtet die andere um die persönliche<br />

Freiheit. Diskutieren Sie jeweils in kleinen Gruppen über vier heikle Fälle aus der Fortpflanzungsmedizin.<br />

Lesen Sie in einem ersten Schritt einzeln das entsprechende Beispiel einer<br />

Zeugungsmöglichkeit <strong>und</strong> machen Sie sich Gedanken darüber, welche Ansichten Sie persönlich<br />

dazu vertreten. Anschliessend diskutieren Sie in der Gruppe die Fragen geme<strong>ins</strong>am. Das<br />

Frageblatt dient Ihnen als Anhaltspunkt <strong>und</strong> Stütze.<br />

Pro Frage stehen Ihnen ungefähr 10 Minuten zur Verfügung.<br />

Fall 4: Samenspende<br />

Mary, Lehrerin aus Manhattan, war 38, als sie sich im Katalog einer Samenbank eine Samenspende<br />

aussuchte. Mary ist eine lebhafte, attraktive Frau. Doch sie hat nie die Liebe gef<strong>und</strong>en,<br />

aus der ein Kind hätte hervorgehen können. Angesichts der Perspektive, für den Rest des Lebens<br />

nicht nur ohne Partner, sondern auch ohne Kind zu sein, beschloss sie, allein Mutter zu<br />

werden. Die Auswahl des Samenspenders traf sie vor allem nach ges<strong>und</strong>heitlichen Kriterien.<br />

Ihr Sohn ist heute sieben Jahre alt. Mary hat ihn <strong>und</strong> die Nummer des Spenders bei der Organisation<br />

„Single Mothers by Choice“ registrieren lassen - um so später vielleicht die Halbbrüder<br />

<strong>und</strong> -schwestern ihres Sohns ausfindig zu machen.<br />

Diskutieren Sie dazu folgende Fragen:<br />

- Wie beurteilen Sie das Verlangen von Mary, allein ein Kind zu bekommen? Wird das Kind<br />

dadurch nicht für die eigenen Bedürfnisse der Mutter missbraucht?<br />

- Ist es gerechtfertigt, dass man einem Kind dadurch den Vater vorenthält? Wie könnte sich<br />

diese Zeugungsmethode auf die Psyche der Kinder auswirken?<br />

- Wie beurteilen Sie die Idee der Mutter, die auf der Welt verstreut existierenden, vom gleichen<br />

Spender „gezeugten Halbgeschwister“ ausfindig zu machen?<br />

72 Zusammengestellt aus: Es herrscht Uneinigkeit, in NZZ Folio Nr. 6, Juni 2002; Kindermacher. Die Zukunft<br />

der Fortpflanzung. Online im Internet: URL:http://www.-x.nzz.ch/folio/archiv/2002/06/artilcles/dietschi.html<br />

[Stand 11. Februar 2005].


Kärtchenvorlage<br />

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Tödliche Allmacht 73<br />

Sind Selbstmordattentäter einfach Fanatiker, verblendet von der Verheissung, <strong>ins</strong> Paradies<br />

zu kommen <strong>und</strong> dort von mandeläugigen Jungfrauen erwartet zu werden? Nein.<br />

Mit dem Glauben haben ihre Taten wenig zu tun.<br />

Von Christoph Reuter 74<br />

Barbie, die Plasticpuppe blondgelockter Weiblichkeit, trägt in der Installation des Londoner<br />

Künstlers Simon Tyszko einen Sprengstoffgürtel. Das „Cinnamon Girl“ im neusten Video<br />

von Prince sprengt sich in einem Flughafen in die Luft. Ein 42-Jähriger, den sein H<strong>und</strong>esportverein<br />

<strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>in hinausgeworfen haben, lädt im Oktober 2003 seine zwei H<strong>und</strong>e,<br />

Gaskartuschen <strong>und</strong> eine Propangasflasche in einen gemieteten Opel <strong>und</strong> rast <strong>ins</strong> Lokal des<br />

H<strong>und</strong>esportvere<strong>ins</strong>; er überlebt schwer verletzt. Auf den Ameisenpfaden der Kunst <strong>und</strong> der<br />

privaten Verzweiflung erreicht uns das unheimlichste Phänomen der letzten Jahre: der<br />

Selbstmordanschlag. Menschen, die töten <strong>und</strong> dabei selbst sterben wollen, die weder Amokläufer<br />

noch depressiv, noch wahnsinnig sind. Sondern ganz normal.<br />

Das Grauen kann einem überall begegnen: In Tunesien sprengte sich 2002 ein Attentäter vor<br />

einer Synagoge. Im Irak haben Selbstmordattacken in den letzten 15 Monaten über 1000 Opfer<br />

gefordert. In Israel, Tschetschenien, Pakistan, Marokko, Saudiarabien, Indonesien sprengen<br />

sich Menschen im Krieg um ihr Land in die Luft. Andere reisen um die halbe Welt, wie<br />

die Attentäter des 11. September 2001, um fernab der Heimat Tausende unbeteiligter Zivilisten<br />

mit <strong>ins</strong> Inferno (Abgr<strong>und</strong>, Hölle) zu reissen. In Europa rechnen Polizei <strong>und</strong> Geheimdienste<br />

mit einem ersten Selbstmordattentat demnächst. Das selbstzerstörerische Attentat ist derart<br />

gängig geworden, dass in den Tagesnachrichten oft gar nicht mehr gemeldet wird, ob allein<br />

ein Sprengsatz hochgegangen ist oder auch der Attentäter.<br />

Der Wille eines Menschen, sich zu opfern, um andere mit in den <strong>Tod</strong> zu reissen, ist erschütternd<br />

<strong>und</strong> aufrüttelnd. Die Assassinensekte vor 1000 <strong>und</strong> die Kamikazepiloten (jap. Kampfflieger<br />

im 2. Weltkrieg, die sich mit ihrem Flugzeug auf das feindliche Ziel stürzten) vor 60<br />

Jahren haben sich trotz ihrer militärischen Machtlosigkeit <strong>ins</strong> kulturelle Gedächtnis der Völker<br />

eingebrannt. Der biblische Samson, der die Säulen des Philisterpalasts (Philister: Angehöriger<br />

des Nachbarvolkes der Israeliten im Alten Testament) auseinander schiebt <strong>und</strong> seine<br />

feiernden Feinde mit sich begräbt, war ein Mythos - aber er drückte den frühen Wunsch aus<br />

nach einem letzten Moment tödlicher Allmacht im Tausch fürs Leben.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert erfand Alfred Nobel das Dynamit. Mit Dynamit verübten Russlands antizaristische<br />

Terroristen ihre Anschläge gegen Zar Alexander II. <strong>und</strong> andere. Sprengstoffe waren<br />

die Waffe für Terrorgruppen aller Couleurs (Farben, gemeint sind politische Gruppierungen).<br />

Das Auto wurde erf<strong>und</strong>en, schliesslich das Flugzeug, <strong>und</strong> mit ihm ergab sich die Möglichkeit,<br />

allein kraft Opferbereitschaft, fliegerischen Könnens <strong>und</strong> einiger Teppichmesser vier<br />

Passagiermaschinen in Mordmaschinen gegen 3000 Menschen zu verwandeln.<br />

Doch was bringt einen Menschen dazu, eine auf den ersten Blick vollkommen widersinnige<br />

Tat zu begehen? Eine Tat, von der er nichts hat? Sind die Täter, bis auf wenige Ausnahmen<br />

73 Reuter, Christoph: Tödliche Allmacht, in NZZ Folio Nr. 1, Januar 2005; Bomben, die allgegenwärtige Bedrohung,<br />

Online im Internet: URL: http://www.x.nzz.ch/folio/archiv/2005/01/articles/reuter.html [Stand 11. Februar<br />

2005]. Vereinfacht mit Worterklärungen.<br />

74 Christoph Reuter ist Nahostkorrespondent des „Stern“ <strong>und</strong> lebt in Hamburg <strong>und</strong> Bagdad. Er hat das Buch<br />

„Selbstmordattentäter“ geschrieben (Goldmann-Taschenbuch 2003) <strong>und</strong> jüngst mit Susanne Fischer „Café Bagdad.<br />

Der ungeheure Alltag im neuen Irak“ (Bertelsmann 2004) herausgegeben.


alles Muslime, einfach Verrückte, verblendet von den Paradiesverheissungen für Dumme?<br />

„Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, dass er geopfert wird“, hat einer der literarischen<br />

Apologeten (nachdrücklicher Verteidiger, Verfechter) des Märtyrertums geschrieben,<br />

„<strong>und</strong> die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.“ Wer sich<br />

für die Sache der Reinheit opfere, sei „nach dem <strong>Tod</strong> lebendiger denn je“, weil er „als Gestalt<br />

der Ewigkeit angehört“. Die Botschaft könnte von Usama bin Ladin sein, sie stammt aber von<br />

Ernst Jünger, dem von Helmut Kohl <strong>und</strong> François Mitterrand hochgeschätzten, 1998 verstorbenen<br />

Schriftsteller. Jünger, 1895 geboren, war begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen,<br />

<strong>und</strong> in seinen Aufzeichnungen pries er die jungen Freiwilligen, die sich in der Schlacht in die<br />

Maschinengewehrsalven ihrer Gegner stürzten. Was heute wie ein Irrsinn klingen mag, ist<br />

historisch betrachtet die periodisch wiederkehrende Vorstellung vom Triumph des Willens<br />

nicht bloss über den Feind, sondern auch über sich selbst.<br />

Dennoch verschwand mit den letzten Kamikazepiloten, die nicht allzu freiwillig <strong>und</strong> schon<br />

gar nicht aus eigenem Antrieb ihre Flugzeuge in US-Schiffe steuerten, diese Form des mörderischen<br />

Opfertods für Jahrzehnte fast völlig. Erst Anfang der 80er Jahre tauchte er wieder auf,<br />

als Zehntausende iranischer Jugendlicher im Krieg gegen den Irak mit Schlüsseln fürs Paradies<br />

um den Hals in die gegnerischen Maschinengewehrstellungen liefen, im Namen Gottes,<br />

im Namen Khomeinys (iranischer Schiitenführer, Schiismus ist eine Glaubensrichtung des<br />

Islams, Schiiten deren Anhänger).<br />

Als ob der charismatische (mit besonderer Ausstrahlung) iranische Revolutionsführer ein lange<br />

stillliegendes Instrument wieder zum Klingen gebracht hätte, mobilisierte er die f<strong>und</strong>amentalen<br />

Opfermythen des schiitischen Islam: jener rebellischen Spielart des Glaubens, die 1300<br />

Jahre zuvor entstanden war als Revolte gegen die sunnitischen Kalifen. 1980 griff Saddam<br />

Hussein Iran an - wieder ein sunnitischer Herrscher – <strong>und</strong> Khomeiny gelang es, die Idee des<br />

Selbstopfers wiederzuerwecken als Waffe im Krieg.<br />

Im Rückblick scheint es widersinnig, dass diese Idee, die Abertausende das Leben kostete,<br />

ohne dass damit der geringste Kriegsgewinn erzielt worden wäre, zum erfolgreichen Exportprodukt<br />

werden konnte: Iranische Revolutionsgardisten brachten sie nach Libanon <strong>und</strong> halfen<br />

den libanesischen Schiiten beim Aufbau der Hizbullah, der „Partei Gottes“. Hatten die Iraner<br />

die Selbstopferung wieder etabliert, so hat die Hizbullah sie als Anschlag perfektioniert: Geschult<br />

im winzigen Vielvölkerstaat, im härtesten Wettbewerb der Ideologien, Glaubensschulen<br />

<strong>und</strong> Machtspiele, schufen die libanesischen Schiiten mit der „Partei Gottes“ erst einen<br />

perfekten Markenartikel - <strong>und</strong> dann die „Märtyreroperation“.<br />

Seit den ersten fünf Suizidattacken der Hizbullah 1982/83 auf das US-Marinekorps in Libanon<br />

wissen die Guerrilla- <strong>und</strong> Terrortruppen (Guerilla: Kleinkrieg) dieser Welt: Es genügen<br />

fünf Menschen, die bereit sind, sich zu opfern, fünf Lieferwagen, fünf Tonnen Sprengstoff,<br />

eine umsichtige Vorbereitung - <strong>und</strong> eine kleine Bewegung kann selbst einer Supermacht die<br />

Stirn bieten. Zynisch <strong>und</strong> nüchtern gesehen handelte es sich, in der Sprache des Marketings,<br />

das die Hizbullah so virtuos beherrscht, um eine erfolgreiche Markeneinführung.<br />

Doch nicht allein die Tat zählte. Entscheidend war, dass sie eingebettet wurde in ein Geflecht<br />

aus uralten Mythen, Heldenpop <strong>und</strong> Sammelbildchen, Filmmusik, Videoclips. Von Libanon<br />

aus verbreitete sich das Selbstmordattentat in die Welt. Konfessionelle <strong>und</strong> ethnische Grenzen<br />

wurden übersprungen. 1987 ereignete sich der erste Anschlag dieser Art in Sri Lanka, 1993 in<br />

Israel, später in der Türkei <strong>und</strong> in Tschetschenien. Aber immer noch blieb diese Form des<br />

Attentats der allerletzte Ausweg der erbitterten Krieger gegen einheimische Herrscher oder<br />

ausländische Besatzer. Zitate alter Mythen belegen den Weg: So feiern etwa sunnitische Pa


lästinenser den <strong>Tod</strong> eines Selbstmordbombers wie seine Hochzeit – ein schiitischer Brauch,<br />

der vorher unter Palästinensern völlig unbekannt war.<br />

Mitte der 90er Jahre schliesslich trat al-Kaida auf den Plan <strong>und</strong> schaffte es, opferwillige Täter<br />

von beliebiger muslimischer Herkunft zu finden, die bereit zum Mordanschlag an beliebigen<br />

Opfern waren. Beliebiger Terror, so scheint es, der erklärbarer wird, wenn man die Genese<br />

der Gruppierung betrachtet. Al-Kaida war ein Kunstprodukt: eine mit amerikanischer, pakistanischer,<br />

saudischer Hilfe in Afghanistan organisierte sunnitische Internationale der Mujahedin,<br />

die seinerzeit noch als „Freiheitskämpfer“ gegen die sowjetischen Besatzer gepriesen<br />

wurden. Die Mujahedin wurden nach dem Abzug der Sowjets arbeitslos <strong>und</strong> überflüssig <strong>und</strong><br />

suchten sich eine neue Mission: nach dem Kampf gegen die Ungläubigen im Osten nun den<br />

gegen jene im Westen.<br />

Aber wer sind die Täter? Vor allem nach dem 11.9.2001 haben Journalisten, Politiker, Psychologen<br />

Bilder von Dämonen entworfen: Selbstmordattentäter, hiess es, seien Fanatiker,<br />

Verrückte. Sie würden daran glauben, himmelwärts <strong>ins</strong> Paradies zu fahren, denn dort warteten<br />

in ihrer Vorstellung ja bereits auf jeden mandeläugige <strong>und</strong> wohlgeformte Jungfrauen. 75 Doch<br />

selbst wenn diese Erklärung zuträfe: Warum tauchen diese Verrückten gerade jetzt auf? Terroristen<br />

gab es bereits in den 60er <strong>und</strong> 70er Jahren, doch die wollten überleben. Warum haben<br />

Hamas <strong>und</strong> Hizbullah Selbstmordbomber eingesetzt, aber die IRA in Irland nicht, ebenso wenig<br />

die PLO oder die muslimischen Kämpfer in Bosnien <strong>und</strong> im Kosovo? Und wenn muslimische<br />

Attentäter sich in die Luft sprengen, um der Paradiesjungfrauen teilhaftig zu werden,<br />

warum tun es dann auch Frauen <strong>und</strong> Säkulare (weltliche, nicht religiös <strong>ins</strong>pirierte Menschen)?<br />

Die wenigen Experten, die sich eingehender mit den Tätern beschäftigt haben, vor allem israelische<br />

<strong>und</strong> palästinensische Psychologen, haben eine andere Erklärung: Der Selbstmordattentäter<br />

erlebt die ultimative Verwandlung von Ohnmacht, ob am eigenen Leib erfahren oder<br />

eingebildet, in einen letzten Moment der Allmacht.<br />

Uns raubt das Selbstmordattentat den Boden unter den Füssen. Denn nichts ist auszurichten<br />

gegen Täter, die nicht bloss entschlossen sind zu töten, sondern selbst sterben wollen dabei.<br />

Alle Logik der Macht setzen sie ausser Kraft, denn wer nicht überleben will, ist mit nichts zu<br />

bedrohen. Auf der stillen Übereinkunft, dass ein Täter leben will, ruht unsere Vorstellung von<br />

Sicherheit, unsere zivilisatorische Ordnung <strong>ins</strong>gesamt. Nehmen wir, im Kleinen, die Sicherheitsüberprüfung<br />

am Flughafen: Bisher genügte es sicherzustellen, dass kein Gepäckstück an<br />

Bord gelangte, das nicht einem Passagier gehörte, denn niemand würde sich schliesslich<br />

selbst in die Luft sprengen. Gegen Selbstmordattentäter sind solche Kontrollen wirkungslos.<br />

Auch die Reaktorhüllen von Atomkraftwerken würden zwar dem Absturz eines Kleinflugzeugs<br />

standhalten, kaum aber dem eines vollgetankten Passagierjets. Das hat bis vor kurzem<br />

kein Katastrophenszenario einkalkuliert.<br />

Märtyrer sind überdies von unschätzbarem Propagandawert. Denn sie zeigen den eigenen<br />

Leuten: Folgt unserem Beispiel. Die Sache ist wichtiger als unser Leben <strong>und</strong> also auch als<br />

euer Leben. Und sie zeigen den anderen: Fürchtet euch! Denn wir fürchten die Unterwerfung<br />

mehr als den <strong>Tod</strong>, <strong>und</strong> also fürchten wir euch nicht. So wichtig wie das Töten ist das Sterben<br />

dabei. Was jener 28-jährige Palästinenser zeigte, der am 12. August 2001 das „Wallstreet Café“<br />

in einem Vorort von Haifa betrat. Er trug genügend Sprengstoff um den Bauch, um ein<br />

Blutbad anzurichten, als er zur Kellnerin an den Tresen trat. Aber dann zog er sein T-Shirt<br />

hoch <strong>und</strong> fragte, ob sie wisse, was das sei. Und wartete, als alle schreiend <strong>ins</strong> Freie stürzten.<br />

Dann sprengte er sich in der E<strong>ins</strong>amkeit des leeren Cafés zu einem zerfetzten Torso, der Kopf<br />

75 Angesprochen wird eine Begründung für den <strong>Tod</strong>eswillen der Selbstmordattentäter: Im Koran gebe es Belege,<br />

dass Selbstmordattentäter im Himmel von solchen Jungfrauen erwartet würden. Vgl. auch den Hinweis weiter<br />

unten im Text.


kam auf einen Tisch zu liegen. Was aussah wie sein Scheitern, war ein auf die Spitze getriebener<br />

Hintersinn: Seht her, lautete die Botschaft, ihr habt Angst. Furchtbare Angst. Und ihr<br />

habt sie zu Recht.<br />

Was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, ist die Auferstehung der vergessenen historischen<br />

Figur des Märtyrers. Eine Figur aus den Epochen der Aussichtslosigkeit, als es nicht<br />

zwei polare Supermächte (USA/Sowjetunion) gab, wo man mit einer im Rücken der jeweils<br />

anderen Paroli bieten konnte, sondern als man antrat gegen allmächtige Gegner. Die frühen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte des Christentums wimmelten von Märtyrern, ebenso der frühe Islam. Noch heute<br />

heissen die wichtigsten Plätze etwa in Beirut oder Damaskus „Platz der Märtyrer“. Mit der<br />

Asymmetrie (Unausgewogenheit) unserer Welt, die nur noch eine Supermacht kennt, ist die<br />

vollkommene Unterlegenheit zurückgekehrt. In einer Zeit, in der Kriege für den zum Selbstmordkommando<br />

werden, dessen Gegner mit den USA verbündet ist, erhält der alte Mythos<br />

vom Märtyrer wieder Bedeutung. Nur verfügt er heute über Mittel <strong>und</strong> Methoden, die es früher<br />

nicht gab. Aus dem Märtyrer ist der „Sich-selbst-Märtyrernde“ geworden, für den es im<br />

Arabischen sogar ein Wort gibt: Istischhadi.<br />

Der islamische Glaube ist nicht der Gr<strong>und</strong>, sondern die nachträglich konstruierte Legitimation<br />

für die Tat. Er spendet Trost, hebt den <strong>Tod</strong> auf in der Vorstellung vom Paradies. Doch um<br />

ihre Taten zu rechtfertigen, müssen die muslimischen Märtyrer erst einmal ihre eigene Religion<br />

auf den Kopf stellen: Denn der Islam verbietet den Selbstmord ebenso wie das Christentum,<br />

<strong>und</strong> es bedurfte erheblicher theologischer Dehnungsanstrengungen, die Attentate zu legitimieren.<br />

So wird etwa argumentiert, dass der Selbstmordattentäter ja eigentlich gar nicht<br />

sterben wolle <strong>und</strong> auch letztlich gar nicht sterbe, sondern im Paradies fortlebe. Traditionell ist<br />

daran höchstens, dass der Islam mit seinen widersprüchlichen Überlieferungen seit je als<br />

Steinbruch wechselnder Ideologien gedient hat.<br />

Noch immer glauben die meisten westlichen Journalisten, Politiker oder Militärs den Slogans<br />

der Attentäter von Gottes Wohlgefallen an ihren Taten, oder sie glauben an ihre selbst gestrickten<br />

Mythen, die wenig mit Analyse zu tun haben: Zuerst in Israel kam die Mär (Geschichte)<br />

auf, die Selbstmordbomber sprengten sich in die Luft, weil sie die im Koran versprochenen<br />

Jungfrauen kriegen wollten. Im Koran sind dafür jedoch keine Belege zu finden,<br />

<strong>und</strong> auch in den Testamenten der palästinensischen Attentäter gibt es weder stichhaltige Beweise<br />

noch Koranbelege dafür. Ginge es nur um sexbesessene Verlierer, so wären die Anschläge<br />

ein Problem für israelische Sicherheitskräfte <strong>und</strong> palästinensische Psychiater.<br />

Würde die israelische Öffentlichkeit die Anschläge als letztes Mittel des palästinensischen<br />

Kampfes für einen souveränen eigenen Staat begreifen, müsste der Schluss das Eingeständnis<br />

sein, dass es in diesem Konflikt keinen Sieger gibt. Wer sich der Logik der Macht versagt,<br />

wird auch durch ihre Exzesse (Auswüchse) nicht zu bremsen sein. In Israel haben schon vor<br />

Jahren radikale Siedler in Gaza erwogen, die Leichenreste der Attentäter in Schweineblut zu<br />

tränken <strong>und</strong> in Schweinehäute 76 einzunähen in der Annahme, dies werde die rein religiös motivierten<br />

Täter abhalten. Tat es nicht, weil der Glaube allein eben nicht der Gr<strong>und</strong> ihrer Taten<br />

ist.<br />

Genauso wenig hat es funktioniert, dem Terror allgemein den Krieg zu erklären <strong>und</strong> dann in<br />

Afghanistan <strong>und</strong> im Irak einzumarschieren. Damit haben Washingtons Strategen ihren islamistischen<br />

Gegenspielern letztlich genau jene Konstellation „Westen vs. (versus, gegen) Islam“<br />

geliefert, die bin Ladin & Co. benötigen, um ihren globalen Jihad (Glaubenskrieg) zu<br />

76 Schweine gelten für Muslime als unrein. Die Drohung, noch als Toter mit Schweinen in Kontakt zu kommen,<br />

hätte also die Terroristen von ihrer Tat abhalten sollen.


echtfertigen. Da der Terror überdies keine Adresse hat, wurde unter falschen Anschuldigungen<br />

Saddams Regime gestürzt - was die Welt um einen grausamen Diktator erleichtert, aber<br />

um einen rechtsfreien Raum bereichert hat. Und den besiedeln nun die lose verb<strong>und</strong>enen Sektennomaden,<br />

die mit al-Kaida so viel zu tun haben wie eine McDonald's-Filiale mit der Konzernzentrale:<br />

Sie übernehmen das ideologische Korsett, operieren aber auf eigene Rechnung.<br />

Wie ein mutierendes (sich veränderndes) Virus hat die Bereitschaft, das eigene Leben als<br />

Waffe einzusetzen, sich gelöst von ihren Ursprüngen.<br />

Im Irak sprengen sich heute Attentäter aus dem Sudan, aus Syrien <strong>und</strong> Saudiarabien vor dörflichen<br />

Polizeistationen in die Luft, verwandeln schläfrige Strassenkreuzungen mit ein paar<br />

Passanten in ein Inferno (Hölle). Alles, was vor Jahren noch unabdingbar war - der Bezug der<br />

Attentäter zum Ziel, das Angedenken an den Täter in Form von Videos, Plakaten, Bekennerschreiben<br />

-, scheint überflüssig geworden zu sein. Die Explosion des eigenen Körpers ist das<br />

Ziel, das Töten ein beliebiger Akt, <strong>und</strong> nichts wird an die Namenlosen erinnern, die um die<br />

halbe Welt reisen, um sich <strong>und</strong> andere in Fetzen zu jagen. Diese Anschläge haben selbst jene<br />

Rationalität verloren, welche die Attentate in den 80er <strong>und</strong> 90er Jahren in Libanon, Sri Lanka<br />

<strong>und</strong> Israel auszeichneten. Was einerseits dafür spricht, dass sie an Anziehungskraft verlieren<br />

werden, da Utopien von der Reinigung der Welt nicht genug Legitimation bieten. Andererseits<br />

haben sich die Kampfzonen im Irak, in Tschetschenien, mit Abstrichen in Israel in Verbindung<br />

mit der globalen Hochkonjunktur der Jihadisten (Teilnehmer von Glaubenskriegen)<br />

<strong>und</strong> dem missionarischen Habitus (Verhalten) der US-Regierung unter George W. Bush zu<br />

Schauplätzen eines Glaubenskriegs gefestigt.<br />

Im Namen selbst angesehener sunnitischer Grosskleriker (Priester) wie des neuen geistlichen<br />

Führers der Muslimbrüderschaft, Scheich Yussuf al-Qaradawi, werden die Muslime der Welt<br />

angesichts der Zerstörung Fallujas zum allgemeinen Jihad gegen das US-Militär aufgerufen.<br />

Im Gegenzug sagte der US-Bataillonskommandeur Gary Brandl vor dem Angriff auf Falluja,<br />

hier werde der Satan selbst bekämpft. Zwei Ansichten des Wahns stehen einander gegenüber,<br />

<strong>und</strong> während Bushs christliches Pendant des Jihad mit der überwältigenden Militärmacht der<br />

USA ausgefochten wird, dürfte die Gegenseite daraus genügend Antriebsenergie beziehen,<br />

weiterhin reichlich Freiwillige zu finden. Freiwillige, die sich, egal wo, egal gegen wen, mit<br />

dem Fanal der eigenen Explosion äussern.<br />

Aufgabe:<br />

Der Text „Tödliche Allmacht“ liefert viele Informationen zu den Beweggründen von Selbstmordattentätern.<br />

Lesen Sie als Ergänzung in der Gruppen den Artikel „Ein Sohl als Selbstmordattentäter“.<br />

Lösen Sie in Ihrer Gruppe Unklarheiten <strong>und</strong> diskutieren Sie erste Gedanken,<br />

die Ihnen beim Lesen durch den Kopf gegangen sind.<br />

Verwerten Sie anschliessend die Informationen <strong>und</strong> Ihre Ansicht, indem Sie sich in der Gruppe<br />

für eine der folgenden Personen entscheiden <strong>und</strong> einen Tagebucheintrag dieser Person verfassen,<br />

den diese am Tag vor bzw. nach der „Tat“ hätte machen können. Der Eintrag soll<br />

möglichst authentisch sein <strong>und</strong> Gedanken, Ziele, Probleme, Hoffnungen, Absichten, Ängste<br />

<strong>und</strong> Befürchtungen des Schreibers bzw. der Schreiberin beinhalten.<br />

Mögliche Personen:<br />

- Einen Tag vor der Tat: Attentäterin/Attentäter<br />

- Einen Tag nach der Tat: Mutter, Vater, Fre<strong>und</strong>in oder Fre<strong>und</strong> des Attentäters


Neue Zürcher Zeitung, 02.04.2005, Nr. 76, S. 7, Ausland<br />

Ein Sohn als Selbstmordattentäter<br />

Unbewältigte Vergangenheit palästinensischer Familien<br />

Selbstmordattentate von Palästinensern haben über manche israelische Familie Trauer <strong>und</strong><br />

Verzweiflung gebracht. Doch wie gehen die Familien palästinensischer Attentäter mit der Tat<br />

<strong>und</strong> dem <strong>Tod</strong> ihres Kindes um? Nach der Überraschung über die Tat suchen Eltern oft in der<br />

Verdrängung Zuflucht.<br />

kw. Nablus, im März<br />

„Was macht ihr da?“, fragte Ismail Atalla den israelischen Soldaten, als dieser mit einem<br />

Sprengstoffexperten mitten in der Nacht in das Haus seiner Familie im Flüchtlingslager Balata<br />

bei Nablus eindrang. Die Israeli untersuchten die Räume <strong>und</strong> berechneten die Menge<br />

Sprengstoff, die es zur Zerstörung des Hauses brauchen würde. „Ihr habt doch meinen Sohn<br />

bereits getötet“, <strong>ins</strong>istierte Atalla, <strong>und</strong> der Offizier antwortete: „Du bist der Vater.“ – „Das<br />

war die Entscheidung meines Sohnes, nicht die unsere. Was gibt euch das Recht, uns zu bestrafen,<br />

wenn wir nichts getan haben? So wird dieser Konflikt nie enden“, antwortete Atalla.<br />

Bevor der Offizier das Haus sprengen liess, sagte er: „Das ist der Befehl.“ Das Haus der Atallas<br />

wurde am 17. November 2002 gesprengt, zweieinhalb Monate nach dem Versuch des 18jährigen<br />

Yusef Atalla, sich in der jüdischen Siedlung Bracha in die Luft zu sprengen. Er wurde<br />

von israelischen Soldaten abgefangen <strong>und</strong> tötete zwei von ihnen, bevor er selbst erschossen<br />

wurde.<br />

Zurück im Flüchtlingslager<br />

Ismail Atalla kramt eine Foto hervor, auf der ein Haus zu sehen ist, das in sich zusammengestürzt<br />

ist. „Ich habe ein Leben lang für dieses Haus gearbeitet. Das Haus <strong>und</strong> die Hühnerfarm<br />

im unteren Stockwerk haben mich das ganze Vermögen gekostet“, beklagt sich der Mann.<br />

Vom Roten Kreuz erhielt die Familie am nächsten Morgen ein Zelt. Über diese Geste muss<br />

Atalla heute noch lachen. Die Atallas zogen für einige Wochen in das Haus von Ismails Eltern.<br />

Danach bezahlte die palästinensische Autonomiebehörde ein Jahr lang die Miete eines<br />

Hauses im Flüchtlingslager Balata sowie weitere 1800 Dollar im zweiten Jahr <strong>und</strong> 3300 Dollar<br />

für die verlorenen Hühner. Immer <strong>und</strong> immer wieder erzählt der Vater von seinem Haus<br />

mit der Eingangshalle <strong>und</strong> dem Garten.<br />

Nachdem seine Familie 1948 aus dem neu gegründeten Staat Israel vertrieben worden war<br />

<strong>und</strong> einige Jahre in Zelten in Flüchtlingslagern gehaust hatte, war das Haus Ismails grosser<br />

Stolz. Ruhig sei es gewesen <strong>und</strong> er habe seiner Familie ein gutes Leben bieten können, sagt<br />

der Vater. Heute lebt er mit seiner Frau, seinen fünf verbliebenen Söhnen <strong>und</strong> den zwei Töchtern<br />

in vier Räumen - zurück im Flüchtlingslager. Die Autowerkstätte zwischen dem Flüchtlingslager<br />

Askar <strong>und</strong> Nablus, in der er gearbeitet hatte, gibt es nicht mehr, <strong>und</strong> die Familie<br />

lebt vom Einkommen der drei Söhne. Sie verkaufen Babywindeln <strong>und</strong> Kleider, die aus China<br />

importiert werden, auf den Strassen in Nablus.<br />

Nichts hätten sie gewusst von Yusefs Vorhaben, versichert Amira Atalla, die Mutter. Yusef<br />

habe eine gute Arbeit in einer Aluminium-Fabrik gehabt. Natürlich habe er gebetet, aber ein<br />

religiöser Fanatiker sei er ganz bestimmt nicht gewesen. Die Mutter hält eine Foto ihres Sohnes<br />

in der Hand, die dieser einen Tag vor dem Attentat von sich machen liess. Sie zeigt einen<br />

ernsten jungen Mann, der einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt hat, ein Gewehr in den Händen<br />

hält <strong>und</strong> vor der Flagge der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) steht. Seit Yusefs<br />

<strong>Tod</strong> hat die Familie nichts von der PFLP gehört, geschweige denn Geld erhalten, wie sie sagt.<br />

Yusef sei ein sehr ruhiger <strong>und</strong> friedliebender Mensch gewesen.


Keine Beweinung des Toten<br />

Einen Monat vor seinem Attentat hatte sich Yusefs Cousin in Tel Aviv in die Luft gesprengt.<br />

„In diesem Monat hat sich Yusef verändert. Er hat nur noch wenig gesprochen, er wurde<br />

dünn. Ich glaube, es lag ein grosser Druck auf ihm“, erzählt der Vater. Einen Tag bevor Yusef<br />

zu seinem Attentat aufbrach, war die israelische Armee mit Panzern <strong>ins</strong> Flüchtlingslager eingedrungen.<br />

Er sei nie wütend auf seinen Sohn gewesen, aber manchmal verstehe er nicht, dass<br />

die Palästinenser so viel Blut für ihre Heimat opferten <strong>und</strong> ihnen niemand helfe, sich nichts<br />

ändere, bemerkt der Vater. Sieben junge Männer aus Balata hätten in dieser Intifada 77 ein<br />

Selbstmordattentat begangen, sagt er. Die Mutter klagt: „Das Schlimmste ist, dass die Israeli<br />

immer noch den toten Körper unseres Sohnes behalten. Wir haben ihn nie mehr gesehen. Das<br />

ist schlimmer als die Vertreibung von unserem Land im Jahr 1948.“<br />

Die Sozialarbeiterin Faten ash-Shopi versteht den Kummer von Amira Atalla. Sie arbeitet seit<br />

Jahren mit Familien, deren Häuser von der israelischen Armee zerstört wurden, deren Kinder<br />

getötet wurden oder sich bei einem Attentat in die Luft sprengten. „Die Mütter gehen oft auf<br />

die Friedhöfe, finden dort aber ihre Kinder nicht. Sie wollen den <strong>Tod</strong> nicht wahrhaben. Wir<br />

versuchen, sie zum Sprechen zu bringen, die Emotionen hervorzuholen“, sagt Shopi. Sie könne<br />

auch nicht genau sagen, warum einer plötzlich den Entschluss fasse, sich <strong>und</strong> andere in die<br />

Luft zu sprengen. Vor allem die Leute in den Flüchtlingslagern litten unter der Armut, dem<br />

Fehlen jeder Perspektive <strong>und</strong> den immer wiederkehrenden Angriffen der Armee, den Verhaftungen,<br />

den Misshandlungen. Da die Leute keine Möglichkeit hätten, mit der anderen Seite zu<br />

kommunizieren, müsse sich die Aggression wohl irgendwann <strong>und</strong> irgendwie entladen.<br />

Kein anderer Ausweg?<br />

Auch Khalid al-Khatib ist Vater eines Selbstmordattentäters. Sein 18-jähriger Sohn Ahmed<br />

hatte sich am 24. Februar 2003 in einem Dorf in Israel in die Luft gesprengt <strong>und</strong> so 4 Personen<br />

getötet <strong>und</strong> 14 verletzt. Den Ort, den er für das Attentat ausgesucht hatte, war das Dorf,<br />

aus dem seine Eltern 1948 78 vertrieben worden waren. Heute lebt die Familie in Balata. Wahrscheinlich<br />

habe sich sein Sohn rächen wollen, sagt Khatib. Ahmed gehörte den Aksa-<br />

Brigaden an, <strong>und</strong> sein bester Fre<strong>und</strong> war kurz vor dem Attentat zu einer Haftstrafe von<br />

zwölfmal „lebenslänglich“ verurteilt worden. Seit Ahmed auf der Welt sei, habe er zusehen<br />

müssen, wie die Armee Leute verhaftete, erschoss, verprügelte. Zudem habe er keine Arbeit<br />

gehabt. „Niemand will sterben. Hätten wir Arbeit, hätten wir ein anständiges Leben, würde<br />

sich auch niemand in die Luft sprengen“, sagt Khatib. Er glaubt nicht, dass die Selbstmordattentäter<br />

Unsterblichkeit, die Gesellschaft schöner Frauen im Paradies oder Heldenruhm erwerben<br />

wollen. Das sei ein Mythos. Er fragt: „Wieso sollte mein Sohn von schönen Frauen<br />

träumen, wenn er selber eine w<strong>und</strong>erschöne Frau geheiratet hat? Das wäre doch purer Egoismus.“<br />

Selbstmordattentäter-Prüfung<br />

„Natürlich glauben die Selbstmordattentäter, dass sie <strong>ins</strong> Paradies kommen“, sagen jene Männer<br />

der Aksa-Brigaden in Nablus, die die Selbstmordattentäter auf ihr tödliches Unterfangen<br />

vorbereiten. Die drei Männer, die nicht älter als dreissig Jahre sind, sitzen in einem rauchigen<br />

Zimmer in der Altstadt von Nablus <strong>und</strong> behaupten, sie hätten mehr als genug Freiwillige, die<br />

zu einem Anschlag bereit wären. Die Attentate seien von langer Hand geplant, <strong>und</strong> die<br />

77 Intifada (arabisch: von sich abschütteln, sich erheben), 1987 ausgebrochener <strong>und</strong> seither immer wieder aufflackernder<br />

Aufstand der palästinensischen Araber gegen die Besatzungsmacht Israel im Gazastreifen <strong>und</strong> im Westjordanland.<br />

Organisiert wird der Aufstand von verschiedenen politischen Bewegungen der Palästinenser in den<br />

besetzten Gebieten wie etwa Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), Al Fatah oder Hamas. Friedensverhandlungen<br />

zwischen der israelischen Regierung <strong>und</strong> der Palästinensischen Autonomiebehörden weckten immer<br />

wieder Hoffnungen auf ein Ende der Kämpfe, allerdings konnte bis jetzt keine dauerhafte Lösung ausgehandelt<br />

werden.<br />

78 Gründungsjahr des heutigen Staates Israel nach langen Auseinandersetzungen <strong>und</strong> Kämpfen.


Selbstmord-Kandidaten müssten zweih<strong>und</strong>ert Prozent sicher sein, dass sie nicht im letzten<br />

Moment noch ihre Meinung ändern würden. Wenn sich ein Freiwilliger melde, werde er anfänglich<br />

mehrmals wieder nach Hause geschickt, um sich sein Vorhaben gut zu überlegen.<br />

Niemand werde zu einem Attentat gedrängt, <strong>und</strong> wer familiäre oder persönliche Probleme<br />

habe, werde abgewiesen.<br />

Die Chefs der Aksa-Brigaden geben aber auch zu, dass manchmal Leute zu einem Selbstmordanschlag<br />

geschickt würden, welche die Ehre ihrer Familie beschmutzt hätten, indem sie<br />

mit den Israeli kollaborierten (zusammenarbeiteten). Mit dem Anschlag wollten sie den Ruf<br />

ihrer Familie retten. Die Familien der Selbstmordattentäter wüssten aber nie vom Vorhaben<br />

ihrer Kinder. Der Gr<strong>und</strong> für die Attentate sei einfach, sagen die Männer: „Mit einem Anschlag<br />

treffen wir die israelische Gesellschaft in ihrem Herzen, wir fügen ihr den grössten<br />

Schmerz zu. Das bringt sie sicher irgendwann dazu, dass sie sich mit uns an einen Tisch setzen<br />

werden, um zu diskutieren.“ (kw)

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