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Privileg verspielt?

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Vermutlich wird es keinem Vermessungsfachmann gelingen,<br />

den Buchtitel unvoreingenommen zu lesen. Der<br />

Buchtitel schreit ja geradezu nach einer Chronologie der Geodäsie,<br />

nach der Nennung aller Fachgenies, die sich um die Erdund<br />

Weltraummessung verdient gemacht haben. Abbildungen<br />

ehrwürdiger Männerporträts? Sicherlich. Algorithmen? Natürlich,<br />

wenn auch leicht verständlich, aber wissenschaftlich<br />

korrekt. Ein Buch, das man mit innerem Schlips und Kragen<br />

lesen muss und irgendwo sichtbar herumliegen lässt. |1| Aha,<br />

hier lebt ein Vermessungsexperte, der sich informiert. Hut ab!<br />

Und nun das: Ein Roman zum Thema »Vermessung«. Besprochen<br />

in der Tagespresse wie auch im Fernsehen. Warum? Der möglicherweise<br />

neugierig gewordene Leser – und hier insbesondere<br />

der Vermessungsfachmann – muss sich nach wenigen Seiten<br />

entscheiden. Entweder er besteigt mit Professor Gauß die<br />

Kutsche nach Berlin und rumpelt mit dem mürrischen alten<br />

Herrn durch Hannover und Preußen oder er bleibt enttäuscht<br />

zurück, weil sich der Autor so unerwartet anders der Vermessung<br />

nähert.<br />

Entweder er ist mit Carl Friedrich Gauß gespannt auf die Begegnung<br />

mit dem klein gewachsenen großen Antipoden Alexander<br />

von Humboldt oder er schließt dieses formelfreie Werk nach<br />

wenigen Seiten.<br />

Was versäumt unser Vermessungsschlipsmann, wenn er das<br />

Buch zuklappt, ohne es zu lesen? Eine grandiose Charakterstudie<br />

zweier Weltbürger. Hier das bodenständige Genie,<br />

dessen Umwelt nur langsam und träge die Außerordentlichkeit<br />

Gauß´schen Denkens anerkennt und der seine kleine bürgerliche<br />

Alltagswelt immer nur mit Staunen und Verwunderung<br />

über deren abgrundtiefe Trivialität wahrnimmt.<br />

|1| Mit welchem Outfit Geodätinnen heute ehrwürdige<br />

Geodäsiebücher lesen, ist dem Rezensenten nicht bekannt.<br />

4<br />

ZU VIELE LEUTE HALTEN IHRE<br />

GEWOHNHEITEN FÜR DIE<br />

GRUNDREGELN DER WELT<br />

DANIEL KEHLMANNS<br />

DIE VERMESSUNG DER WELT<br />

Rowohlt Verlag, 19,90 E, 301 Seiten, ISBN 3-498-03528-2<br />

Dort das Energie- und Motivationsbündel, das die entferntesten<br />

Winkel der Erde gleichsam nach Erlebnissen und Erkenntnissen<br />

durchgräbt. Er versäumt die Begegnung zweier Genies,<br />

die sich gegen ihre Umgebung zur Wehr setzen müssen,<br />

um – beide auf unterschiedliche Weise – die Gesetzmäßigkeiten<br />

der Welt zu erkennen.<br />

Als ihnen dazu die Kräfte schwinden, als die geistigen Kleinbürger<br />

um sie herum damit beginnen, ihre Berühmtheit zu vermarkten,<br />

bleiben ihre nach wie vor raumgreifenden Ideen ungesagt<br />

oder ohne Widerhall.<br />

Der verhinderte Leser versäumt auch eine freche Sprache. Die<br />

handelnden Personen sprechen nicht das Preußisch oder Hannoveranisch<br />

vergangener Jahrhunderte. Der Autor übersetzt<br />

uns die Sprache von Humboldt und Gauß, er hebt die Inhalte<br />

gewissermaßen über zwei Jahrhunderte hinweg und präsentiert<br />

sie uns frisch und lebensnah. Ein mutiger und erfolgsentscheidender<br />

Schritt.<br />

Und ein wunderbarer Humor. Hier geht´s nun nicht mehr ohne<br />

Beispiele:<br />

»Er werde in die Neue Welt reisen, sagte Humboldt.<br />

Das habe er noch keinem verraten, und er rechne<br />

nicht damit, lebend zurückzukehren.<br />

Goethe nahm ihn (Alexander von Humboldt) beiseite<br />

und führte ihn durch eine Flucht in unterschiedlichen<br />

Farben gestrichener Zimmer zu einem<br />

hohen Fenster. Ein großes Unterfangen, sagte er.<br />

Wichtig sei vor allem, die Vulkane zu erforschen,<br />

um die neptunistische Theorie zu stützen. Unter<br />

4<br />

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