Platon - Politeia - Huber-tuerkheim.de
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<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
blick über das Gute für das Ganze, <strong>de</strong>r Überblick über das bonum totius universi 48 , welchen<br />
nur Gott – „Er, <strong>de</strong>r einzige Gerechte“ 49 – besitzt. Der Mensch hingegen muss darauf vertrauen,<br />
dass das, was er aus seinem Teilwissen heraus tut, mit <strong>de</strong>r rechten Gesamtordnung,<br />
die er nicht überblickt, doch kompatibel ist, dass eine Art prästabilierte Harmonie besteht<br />
zwischen seinem, von nur partiellem Wissen <strong>de</strong>s Guten geleiteten Bestreben nach Gerechtigkeit<br />
einerseits und <strong>de</strong>r rechten Ordnung <strong>de</strong>s Ganzen an<strong>de</strong>rerseits. Er muss darauf vertrauen,<br />
dass in seinem partiellen Wissen vom Guten sich, wenn auch un<strong>de</strong>utlich und nicht mit Sicherheit<br />
erfassbar, doch das Wissen vom Guten überhaupt spiegelt, wie sich aus <strong>de</strong>m Bruchstück<br />
eines Tongefäßes <strong>de</strong>ssen gesamte Gestalt erahnen lässt: Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten ist dasjenige,<br />
was „je<strong>de</strong> Seele anstrebt und um <strong>de</strong>ssentwillen alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, aber<br />
doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen<br />
Überzeugung gelangend“ (505 e). Das sind die grundsätzlichen Beschränkungen <strong>de</strong>r<br />
Einsicht in das Gute, die aufgrund <strong>de</strong>r endlichen Kraft <strong>de</strong>r menschlichen Einsichtsfähigkeit<br />
nicht überwindbar sind. 50<br />
Zusatz: Um so zu han<strong>de</strong>ln, dass durch unser Tun (positiv) „je<strong>de</strong>m zu <strong>de</strong>m Seinigen verholfen“ 51 und (negativ)<br />
keinem das Seinige dadurch genommen wer<strong>de</strong>, setzt voraus, dass <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> in je<strong>de</strong>r Situation alle Umstän<strong>de</strong><br />
seines Han<strong>de</strong>lns, <strong>de</strong>n faktischen Zustand sowie <strong>de</strong>n seinsollen<strong>de</strong>n Zustand – das Gute – aller von seinem<br />
Han<strong>de</strong>ln betroffenen Wesen genau kennt. Umstän<strong>de</strong> und Zustän<strong>de</strong> aber variieren oft schnell und stark: „Das<br />
agathologische Urteil ist also hochgradig relativ, es ist kontext- und zeitabhängig“ 52 . Durch die Kultivierung von<br />
Sensitivitäten für die Wahrnehmung <strong>de</strong>r je eigenen Wirklichkeit <strong>de</strong>r Sachen und durch die Erarbeitung von<br />
Wissensbestän<strong>de</strong>n über die Sachen kann und muss <strong>de</strong>r Mensch seine dunkle und „schwanken<strong>de</strong>“ Erfassung <strong>de</strong>s<br />
Guten präzisieren, weiter aufhellen und befestigen, wohl wissend, dass er auch dadurch niemals vollkommene<br />
Einsicht in es gewinnen wird. Weil je<strong>de</strong>r Mensch als Vernunftwesen gera<strong>de</strong> dadurch ausgezeichnet ist, dass er<br />
die eigene Wirklichkeit <strong>de</strong>r Dinge und ihre Achtungswürdigkeit erfassen kann, ist je<strong>de</strong>m Menschen immer<br />
schon die Einsicht in das erschlossen, was für je<strong>de</strong>s Wesen das je „Seinige“ ist. Insoweit verfügt je<strong>de</strong>r Mensch<br />
über eine Einsicht in die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten, wenngleich nicht je<strong>de</strong>r im selben Maß, weil nicht je<strong>de</strong>r dieselbe Sorgfalt<br />
auf die Erarbeitung und Kultivierung von Wissen und Sensibilität wen<strong>de</strong>n will o<strong>de</strong>r kann. Daher gibt es<br />
verschie<strong>de</strong>ne Meinungen über das Gute unter <strong>de</strong>n Menschen, so wie auch über an<strong>de</strong>re Dinge. Um Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten<br />
zu klären, muss die Frage nach <strong>de</strong>r Wahrheit gestellt wer<strong>de</strong>n: Wenn <strong>de</strong>r eine dies meint, <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>re jenes in Bezug auf dieselbe Sache, wie verhält sich dann die Sache selber? Dies ist die eigentümlich<br />
philosophische Frage, „was jegliches selbst sei“ (533 b; vgl. 532 a; 534 b; 484 d) – es an sich selbst, nicht bloß<br />
im Wi<strong>de</strong>rschein <strong>de</strong>r Meinungen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Wahrheit (490 ab). Der nichtphilosophische Mensch vernachlässigt<br />
diese Frage nach <strong>de</strong>r Wahrheit gewöhnlich und verliert sich <strong>de</strong>swegen im unübersichtlichen Gestrüpp <strong>de</strong>r<br />
Meinungen. Einzig in Bezug auf das Gute ist je<strong>de</strong>r Mensch im Ansatz philosophisch, weil beim Guten keiner<br />
mit einem bloßen Anschein und Ersatz zufrie<strong>de</strong>n sein kann, son<strong>de</strong>rn das Gute selbst erstrebt (§ 36). Solange er<br />
sich mit einem Ersatz zufrie<strong>de</strong>ngibt (Geld, Macht, Karriere usw.), wird er irgendwann spüren, dass er das gute<br />
Leben verfehlt hat und unter seinem Irrtum lei<strong>de</strong>n.<br />
Das Gute umfasst alle Güter<br />
(41) Wenn je<strong>de</strong>m Wesen im Universum das Seinige zukommen und nicht verkümmert<br />
wer<strong>de</strong>n soll – das ist <strong>de</strong>r für Menschsein konstitutive Imperativ –, dann muss <strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong><br />
Mensch sich an einer Vorstellung vom Gut <strong>de</strong>s Ganzen orientieren, einer Vorstellung, über<br />
die er doch nur unklar und ahnungsweise verfügt. Nun hat <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>utliche Anzeichen<br />
dafür, dass die Wirklichkeit insgesamt tatsächlich so geordnet ist, dass je<strong>de</strong>s Wesen „das<br />
48 Thomas von Aquin: Sth I-II, qu. 19, art. 10<br />
49 Goethe III, 290 (West-östlicher Divan, Buch <strong>de</strong>s Sängers, Talismane): „Er, <strong>de</strong>r einzige Gerechte, / Will für<br />
je<strong>de</strong>rmann das Rechte. / Sei, von seinen hun<strong>de</strong>rt Namen, / dieser hochgelobet! Amen“.<br />
50 Vgl. das Kästchensymbol in Goethes Wan<strong>de</strong>rjahren (<strong>Huber</strong> 19990, 131-134).<br />
51 Kersting 1999, 215<br />
52 Kersting 1999, 237<br />
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