Antike Mathematik: Euklid und die Elemente - Mathematik.de
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Nachbemerkung<br />
Ich habe behauptet, dass <strong>die</strong> <strong>Elemente</strong> jenseits <strong>de</strong>r Axiome (<strong>und</strong> Postulate) nichts außer<br />
Definitionen, Sätzen <strong>und</strong> Beweisen enthalten. Nun <strong>die</strong>se Behauptung ist nur beinahe<br />
richtig. Zu Beginn von Buch XIII gibt es eine kurze Passage, <strong>die</strong> nicht ins sonst<br />
durchgehaltene Schema Definition, Satz, Beweis passt. <strong>Euklid</strong> erwägt hier kurz, auf<br />
welche Weise man <strong>de</strong>duktives Denken verwen<strong>de</strong>n kann. Er unterschei<strong>de</strong>t Analysis 38 <strong>und</strong><br />
Synthesis:<br />
Eine Analysis ist <strong>die</strong> Zugr<strong>und</strong>elegung <strong>de</strong>s Gefragten als anerkannt um seiner auf<br />
anerkannt Wahres führen<strong>de</strong>n Schlussfolgerung willen.<br />
Synthesis ist <strong>die</strong> Zugr<strong>und</strong>elegung <strong>de</strong>s Anerkannten um seiner auf Vollendung o<strong>de</strong>r<br />
Ergreifung <strong>de</strong>s Gefragten führen<strong>de</strong>n Folgerungen willen. 39<br />
Die Synthesis ist das Verfahren, mit <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> Sätze bewiesen wer<strong>de</strong>n: Aus<br />
bereits Anerkanntem (Bewiesenem o<strong>de</strong>r axiomatisch Vorausgesetztem) wer<strong>de</strong>n logische<br />
Schlussfolgerungen gezogen, um so interessieren<strong>de</strong> Fragen klären zu können.<br />
Die Analysis ist kein Verfahren, bei <strong>de</strong>m eine fragliche Behauptung bewiesen wird,<br />
son<strong>de</strong>rn bei <strong>de</strong>m gezeigt wird, dass eine Behauptung mit an<strong>de</strong>ren Orts erzielten<br />
Resultaten harmoniert, sprich, dass bereits Bekanntes logisch aus ihr folgt.<br />
Analysis spielt eine Rolle bei <strong>de</strong>r mathematischen Forschungsarbeit. Hat man eine<br />
Vermutung zu einem mathematischen Problem, es mangelt aber noch an fruchtbaren<br />
Beweisi<strong>de</strong>en, dann kann es sehr nützlich sein <strong>de</strong>n Blickwinkel mal zu än<strong>de</strong>rn <strong>und</strong><br />
nachzusehen, welche bereits bewiesenen Sätze sich <strong>de</strong>nn aus <strong>die</strong>ser Vermutung ableiten<br />
lassen. Die aus <strong>de</strong>r Vermutung ableitbaren Sätze eignen sich nämlich häufig als<br />
Ausgangspunkt <strong>de</strong>s gesuchten Beweises, <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Herleitung aus <strong>de</strong>r Vermutung<br />
enthält gar nicht so selten <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Hinweis zur benötigten Beweisi<strong>de</strong>e.<br />
Analysis verwen<strong>de</strong>t man in <strong>de</strong>r <strong>Mathematik</strong> aber auch manchmal dazu, um <strong>die</strong> Stellung<br />
<strong>und</strong> Be<strong>de</strong>utung eines frisch bewiesenen Resultats im Gesamtgefüge einer Theorie zu<br />
beleuchten. Dies kann für ein tieferes Verständnis eines Satzes höchst hilfreich sein.<br />
In bei<strong>de</strong>n Fällen ersetzt <strong>die</strong> Analysis keinen Beweis, son<strong>de</strong>rn ist entwe<strong>de</strong>r Hilfsmittel zur<br />
Ent<strong>de</strong>ckung eines Beweises o<strong>de</strong>r Instrument zur Erhellung von Be<strong>de</strong>utung <strong>und</strong> Stellung<br />
eines Satzes im Gesamtgefüge einer Theorie.<br />
Wahrscheinlich hatte <strong>Euklid</strong> nur solche mathematischen Anwendungen <strong>de</strong>r Analysis im<br />
Auge. Ich fin<strong>de</strong> es trotz<strong>de</strong>m sehr interessant, dass <strong>die</strong> von ihm beschriebene Analysis <strong>de</strong>m<br />
Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s hypothetisch <strong>de</strong>duktiven Denkens in <strong>de</strong>n Naturwissenschaften sehr nahe steht.<br />
Das Vertrauen in naturwissenschaftliche Theorien beruht (wesentlich) darauf, dass sie zu<br />
korrekten Schlussfolgerungen führen: Ihre Prognosen treffen zu. Und das begrün<strong>de</strong>t<br />
(wesentlich) unser Vertrauen in <strong>die</strong> Theorie.<br />
Man stellt Vermutungen über Gesetzmäßigkeiten auf, zieht Schlussfolgerungen aus<br />
<strong>die</strong>sen Vermutungen <strong>und</strong> stellt dann fest, dass <strong>die</strong>se Schlussfolgerungen immer wie<strong>de</strong>r<br />
mit „anerkannt Wahrem“ (unstrittigen Tatsachen) übereinstimmen. Das begrün<strong>de</strong>t unser<br />
Vertrauen in <strong>die</strong> Vermutungen, <strong>die</strong> wir dann irgendwann nur noch Naturgesetze nennen.<br />
Die Analysis <strong>de</strong>s <strong>Euklid</strong> <strong>und</strong> das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s hypothetisch <strong>de</strong>duktiven Denkens sind<br />
wirklich nicht weit von einan<strong>de</strong>r entfernt.<br />
38 Diese Analysis hat natürlich nichts mit <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen Begriff Analysis zu tun. Heute versteht man unter Analysis<br />
Grenzwertbetrachtungen bei Folgen <strong>und</strong> Reihen bis hin zur Differential- <strong>und</strong> Integralrechnung.<br />
39 <strong>Euklid</strong>, Die <strong>Elemente</strong> (Frankfurt/M 1997) S. 386 f<br />
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