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<strong>Das</strong> <strong>Geschehen</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Zechen</strong> <strong>bewegt</strong> <strong>die</strong> Menschen des Reviers<br />

heute wie e<strong>in</strong>st. So berichtete exakt vor e<strong>in</strong>em Jahrhundert, am<br />

17. Oktober 1906, der „Dortmunder Generalanzeiger“ über <strong>die</strong><br />

Ernennung He<strong>in</strong>rich L<strong>in</strong>dners zum Generaldirektor der Hibernia-<br />

<strong>Zechen</strong>:<br />

������ Zum Generaldirektor der Bergwerksgesellschaft Hibernia ist<br />

Herr Bergrat und Bergwerksdirektor L<strong>in</strong>dner <strong>in</strong> Dortmund gewäh<strong>lt</strong><br />

wor<strong>den</strong>. Herr L<strong>in</strong>dner war bisher Mitglied des Direktoriums der Gelsenkirchener<br />

Bergwerksgesellschaft, speziell waren ihm <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong> M<strong>in</strong>ister<br />

Ste<strong>in</strong> und Har<strong>den</strong>berg unterstel<strong>lt</strong>.<br />

Den Grundstock für <strong>die</strong> Hibernia-Bergwerksgesellschaft<br />

legte der Ingenieur und Geschäftsmann William Thomas Mulvany.<br />

Ab Mitte der 1850er Jahre erwarb der Ire mehrere Grubenfelder<br />

<strong>in</strong> der Gegend von Gelsenkirchen und Herne und schloss sie zu<br />

zwei großen Feldern zusammen, <strong>den</strong>en er <strong>die</strong> Namen Hibernia<br />

und Shamrock gab. Mit <strong>den</strong> neuesten technischen Metho<strong>den</strong> ließ<br />

Mulvany Schächte abteufen, um an <strong>die</strong> Kohle tief <strong>in</strong> der Erde zu<br />

gelangen. Später kaufte Mulvany weitere <strong>Zechen</strong> und baute se<strong>in</strong>e<br />

Bergwerksgesellschaft Zug um Zug aus, <strong>die</strong> er auf <strong>den</strong> römischen<br />

Namen se<strong>in</strong>er irischen Heimat „Hibernia“ getauft hatte.<br />

<strong>11</strong>


Die Kohle ermöglichte <strong>den</strong> Aufbau Deutschlands zur Industriemacht,<br />

noch ehe das Deutsche Reich im Jahr 1871 als politische<br />

E<strong>in</strong>heit gegründet wurde. Kohle bedeutete Reichtum. Damals<br />

war <strong>die</strong>ser Zusammenhang für je<strong>den</strong> offensichtlich. Rasch<br />

nahm auch <strong>die</strong> Al<strong>lt</strong>agssprache <strong>die</strong>sen Bezug auf. „Kohle“ wurde<br />

zum Symbolwort für Geld – dabei ist es bis zum heutigen Tag<br />

geblieben. Zwischen Kohle und „Kohle“ aber gab es e<strong>in</strong>en entschei<strong>den</strong><strong>den</strong><br />

Unterschied, <strong>die</strong> Differenz der Ebenen. Unter Tage<br />

wurde das schwarze Gold mit <strong>den</strong> vere<strong>in</strong>ten Kräften der Kumpels<br />

abgebaut. Hier wurde jeder staubschwarz. Vom Loren ziehen<strong>den</strong><br />

Lehrburschen bis zum Hauer und gestan<strong>den</strong>en Reviersteiger.<br />

Die Bergleute mussten eng zusammenarbeiten, um <strong>die</strong> Kohle der<br />

Erde abzur<strong>in</strong>gen und zu Tage zu fördern.<br />

Dort aber, bei Licht besehen, wurde das Geste<strong>in</strong> zur gewöhnlichen<br />

Ware, <strong>die</strong> Kohle wurde zum Geld. Über Tage waren<br />

manche gleicher als <strong>die</strong> anderen. Der Hibernia-Firmensitz war<br />

bereits 1873 im F<strong>in</strong>anzzentrum Düsseldorf aufgeschlagen und<br />

zwei Jahre später nach Herne verlegt wor<strong>den</strong> – um bessere Geschäfte<br />

machen zu können. Aus dem gleichen Grund schlossen<br />

sich <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>gesellschaften 1904 zum Rhe<strong>in</strong>ischen Kohlenkontor<br />

zusammen. Dessen Zentrale richtete man <strong>in</strong> Mülheim, im<br />

Herzen des Reviers, e<strong>in</strong>.<br />

Die Hibernia wuchs zum viertgrößten deutschen Kohleproduzenten<br />

und drittgrößten Bergbauunternehmen an der Ruhr<br />

heran. Dies weckte <strong>die</strong> Begehrlichkeit der preußischen Regierung.<br />

Wiederum im Jahr 1904 ließ Berl<strong>in</strong> durch Banken über 50 Prozent<br />

der Aktien der <strong>Zechen</strong>gesellschaft Hibernia erwerben. Auf <strong>die</strong>se<br />

Weise wol<strong>lt</strong>e der preußische Handelsm<strong>in</strong>ister Theodor Möller<br />

E<strong>in</strong>fluss auf <strong>die</strong> deutsche Volkswirtschaft nehmen. Vorstand und<br />

Aufsichtsrat der Hibernia setzten sich zur Wehr: Sie hatten „das<br />

Angebot pflichtgemäß überprüft und e<strong>in</strong>mütig beschlossen, <strong>den</strong><br />

Aktionären <strong>die</strong> Ablehnung zu empfehlen“. Die Aktionäre folgten<br />

12


<strong>die</strong>sem Rat. Die Generalversammlung beschloss e<strong>in</strong>e Kapitalerhöhung<br />

auf 60 Millionen Mark, allerd<strong>in</strong>gs wurde das Bezugsrecht<br />

für bisherige Aktionäre ausgeschlossen. Somit hatte Preußen <strong>die</strong><br />

Mehrheit an der Hibernia verloren. Ohne Zweifel hie<strong>lt</strong>en sich <strong>die</strong><br />

Aktionäre für gute Patrioten, doch noch wichtiger war ihnen ihre<br />

Freiheit als Kaufleute und Investoren. Sie wol<strong>lt</strong>en im Besitz der<br />

<strong>Zechen</strong> bleiben, um das dort geförderte schwarze Gold möglichst<br />

gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend zu verwerten. So begann e<strong>in</strong> langwieriger Streit<br />

zwischen der preußischen Regierung und <strong>den</strong> <strong>Zechen</strong>aktionären,<br />

der sogenannte Hibernia-Kampf. Dabei wurde um <strong>die</strong> „Kohle“<br />

gerungen, <strong>die</strong> man mit der schwarzen Kohle ver<strong>die</strong>nen konnte.<br />

Die Menschen im Revier kümmerten sich nicht um solche<br />

Überlegungen. Sie arbeiteten direkt vor der echten Kohle, <strong>die</strong><br />

sie und ihre Angehörigen jahre<strong>in</strong>, jahraus unter Tage dem Berg<br />

abtrotzten. Von ihrem Schicksal will <strong>die</strong>ses Buch erzählen. Se<strong>in</strong>e<br />

Handlung setzt an ebenjenem 17. Oktober 1906 e<strong>in</strong>. Dem Tag, an<br />

dem He<strong>in</strong>rich L<strong>in</strong>dner se<strong>in</strong>e Stelle als Generaldirektor der Hibernia<br />

antrat. Diese Amtsübernahme wurde von allen Zeitungen des<br />

Reviers auf Seite e<strong>in</strong>s als wichtigste Nachricht vermeldet. Auch <strong>in</strong><br />

Herne, wo auf der Zeche Shamrock seit 1857 malocht wurde. Auf<br />

der letzten Seite der „Herner Zeitung“ war das „Verzeichnis der<br />

Geburten und Taufen“ abgedruckt.<br />

In der Rubrik wurde auch Renata Anna Bialo aufgeführt.<br />

Als deren E<strong>lt</strong>ern wur<strong>den</strong> genannt: Leopold Bialo, 40, Hauer, und<br />

Anna Bialo, 39, geb. Hauser, verst.<br />

13


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Eigentlich sol<strong>lt</strong>e Renata August heißen. Ihr Vater hatte se<strong>in</strong>em<br />

Sohn aus Verehrung für August Bebel, <strong>den</strong> Vorsitzen<strong>den</strong> der SPD,<br />

<strong>den</strong> gleichen Vornamen geben wollen. Mit e<strong>in</strong>em Mädchen hatte<br />

Bialo nach se<strong>in</strong>en drei Jungen nicht mehr gerechnet. Ihm war’s<br />

recht. Otto und He<strong>in</strong>rich waren gut geratene Burschen. Otto<br />

fuhr mit se<strong>in</strong>em Vater e<strong>in</strong>. He<strong>in</strong>rich durfte mit se<strong>in</strong>en 14 Jahren<br />

noch nicht vor Kohle und war derzeit <strong>in</strong> der Lampenstube über<br />

Tage beschäftigt. Der Jüngste, Kurt, war von zarter Konstitution.<br />

Bald würde er <strong>die</strong> Volksschule been<strong>den</strong>. Anna hatte für ihn e<strong>in</strong>e<br />

Lehrstelle als Verkäufer im Textilgeschäft Levy & Comp. <strong>in</strong> der<br />

Bahnhofstraße gefun<strong>den</strong>. Kurt war darüber nicht glücklich. Er war<br />

e<strong>in</strong> guter Schüler und hätte gerne <strong>die</strong> Handelsschule oder gar e<strong>in</strong><br />

Gymnasium besucht. Fast wäre es ihm gelungen, se<strong>in</strong>e Mutter zu<br />

überzeugen. Die ehrgeizige Anna, <strong>die</strong> über<strong>die</strong>s e<strong>in</strong>e fromme Kirchgänger<strong>in</strong><br />

war, hätte es gerne gesehen, wenn ihr Junge <strong>den</strong> Beruf<br />

des Buchha<strong>lt</strong>ers ergriffen oder gar Theologie stu<strong>die</strong>rt hätte und<br />

Pfarrer gewor<strong>den</strong> wäre. Aber da kam sie Leo Bialo gerade recht!<br />

Mit dem Glauben hatte er es nie gehabt. Schon als Bauernjunge <strong>in</strong><br />

Oberschlesien hatte Leszek Bialowons <strong>die</strong> Kirche und <strong>den</strong> Pfarrer<br />

gehasst. Selbst <strong>die</strong> harten Schläge des Vaters und das Gezeter der<br />

Mutter hatten nicht vermocht, aus Leszek e<strong>in</strong>en frommen Bur-<br />

14


schen zu machen, der das Gotteshaus besuchte. Im Gegenteil. Mit<br />

17 Jahren war der kräftige junge Mann von zu Hause weggelaufen.<br />

Er wol<strong>lt</strong>e Bergmann wer<strong>den</strong>. In <strong>den</strong> Gruben ver<strong>die</strong>nte man or<strong>den</strong>tliches<br />

Geld. Da Leszek jedoch befürchtete, <strong>in</strong> Oberschlesien<br />

von se<strong>in</strong>em Vater oder gar von dessen Pachtherren aufgestöbert zu<br />

wer<strong>den</strong>, hatte er sich zu Fuß auf <strong>den</strong> Weg <strong>in</strong>s Ruhrgebiet gemacht<br />

– ohne recht zu wissen, wo <strong>die</strong>ses verheißene Land lag. Nach wochenlanger<br />

Wanderschaft war er schließlich im Revier angekommen.<br />

Leszek machte sich drei Jahre ä<strong>lt</strong>er. So wol<strong>lt</strong>e er sich <strong>den</strong><br />

Militär<strong>die</strong>nst sparen. Und weil er me<strong>in</strong>te, dass <strong>die</strong> Deutschen ke<strong>in</strong>e<br />

polnischen Namensendungen mochten, nannte er sich fortan<br />

Leopold Bialo.<br />

Leopold besaß e<strong>in</strong>e natürliche Sprachbegabung und lernte<br />

rasch Deutsch. Radebrechen und das polnisch-deutsche Kauderwelsch<br />

vieler Knappen kamen für ihn nicht <strong>in</strong> Frage! Der Zugewanderte<br />

fand zunächst Arbeit <strong>in</strong> der Kohlenwäsche der Herner<br />

Zeche Shamrock. Dank se<strong>in</strong>er Körperkraft und se<strong>in</strong>er Geschicklichkeit<br />

durfte er bald vor Ort arbeiten. Schnell stieg Leopold<br />

zum Hauer auf. Erstmals <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben hatte er e<strong>in</strong> gerege<strong>lt</strong>es<br />

Auskommen. Se<strong>in</strong> Lohn reichte sogar für private Bedürfnisse. E<strong>in</strong><br />

Bier, oder wenn es se<strong>in</strong> sol<strong>lt</strong>e, mehrere nach Feierabend. Sogar<br />

e<strong>in</strong>en Anzug konnte er sich leisten. Die fe<strong>in</strong>e Kleidung wol<strong>lt</strong>e er<br />

nutzen, um se<strong>in</strong>e Lebensumstände zu ändern. Denn Leopold war<br />

mit se<strong>in</strong>em <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>eswegs zufrie<strong>den</strong>. Die Arbeit unter Tage<br />

war hart, ihm feh<strong>lt</strong>en das Licht und der weite Himmel Schlesiens.<br />

Nun, da er se<strong>in</strong>e Arbeitszeit unter der Erde verbrachte, vermisste<br />

er gar Gerüche, <strong>die</strong> ihm bis dah<strong>in</strong> bestenfalls gleichgü<strong>lt</strong>ig waren.<br />

Etwa <strong>den</strong> Duft des Wiesengrases oder das zarte Aroma von Heu.<br />

Nach wenigen Wochen unter Tage suchte Leopold unwillkürlich<br />

<strong>die</strong> Nähe der bl<strong>in</strong><strong>den</strong> Grubenpferde, tätsche<strong>lt</strong>e sie und sog ihren<br />

Dunst aus Schweiß, Ur<strong>in</strong>, Kot und Leder, angereichert mit Kohlestaub,<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Nase.<br />

15


Nach Feierabend wol<strong>lt</strong>e Leopold se<strong>in</strong> Leben genießen. Tr<strong>in</strong>ken<br />

und sich <strong>die</strong> Witze der Kumpels anhören war ihm zu wenig.<br />

<strong>Das</strong> Hausen im Ledigenheim <strong>in</strong> der Nähe der Zeche gesta<strong>lt</strong>ete<br />

sich öde. Zwar waren <strong>die</strong> Betten sauber, doch es passte ihm nicht,<br />

se<strong>in</strong> Zimmer mit drei Männern teilen zu müssen. Die Kerle soffen,<br />

stritten, rauchten und schwatzten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fort oder zockten.<br />

Alle<strong>in</strong>e <strong>die</strong> gelegentlichen Schlägereien, bei <strong>den</strong>en Leopold wegen<br />

se<strong>in</strong>er Stärke und Behändigkeit fast immer <strong>die</strong> Oberhand behie<strong>lt</strong>,<br />

bereiteten ihm momentane Genugtuung – mit nachha<strong>lt</strong>iger<br />

Wirkung. Ke<strong>in</strong> Deutscher, ke<strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>länder, Preuße, Sachse oder<br />

anderer Teutone wagte es bald, Leopold noch als „hergelaufenen<br />

Polacken“ zu beschimpfen. Se<strong>in</strong>en letzten Raufkumpan, e<strong>in</strong>en<br />

Bayernseppl, hatte Leszek so fest und lange <strong>in</strong> <strong>den</strong> Schwitzkasten<br />

genommen, bis <strong>die</strong>ser ihn röchelnd „Herr Leopold“ nannte.<br />

Aus Übermut zog Leszek se<strong>in</strong>en Griff noch fester und befahl<br />

dem Josef, ihn mit „Kenig Leopold“ anzure<strong>den</strong>. Der Bajuware<br />

versuchte, sich <strong>die</strong>ser Demütigung des Polacken zu widersetzen,<br />

doch als Leszek rief: „Ich mach dich tot!“, und ihm tatsächlich<br />

<strong>die</strong> Luft abpresste, so dass dem Sepp <strong>die</strong> Augen aus <strong>den</strong> Höhlen<br />

traten, während se<strong>in</strong> Kopf rot anlief, keuchte er: „K<strong>in</strong>i Leopold.“<br />

Der Rest blieb unverständlich. Zumal <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Moment, durch<br />

<strong>den</strong> Lärm herbeigelockt, der Vorsteher des Ledigenheims, Friedrich<br />

Watzal, <strong>in</strong>s Zimmer trat und <strong>die</strong> Raufen<strong>den</strong> mittels kräftiger<br />

Fußtritte mit se<strong>in</strong>en Nagelschuhen schmerzhaft aus ihrer Umarmung<br />

löste. Ne<strong>in</strong>, <strong>die</strong>ses <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> passte Leopold nicht. Er wusste<br />

genau, was ihm feh<strong>lt</strong>e: e<strong>in</strong>e anständige Frau, mit der er e<strong>in</strong>e eigene<br />

Familie grün<strong>den</strong> wol<strong>lt</strong>e.<br />

Zu <strong>die</strong>sem Zweck machte sich Leopold Bialo je<strong>den</strong> Samstagabend<br />

ausgehfe<strong>in</strong>. Nach Schicht g<strong>in</strong>g Leopold zum Barbier.<br />

Anschließend besuchte er das Wannenbad. Im Ledigenheim zog<br />

er unter se<strong>in</strong>en Sonntagsstaat e<strong>in</strong> weißes Hemd an, patschte sich<br />

unter dem Gejohle se<strong>in</strong>er Mitbewohner Eau de Cologne <strong>in</strong>s Ge-<br />

16


sicht und marschierte <strong>in</strong> <strong>die</strong> „L<strong>in</strong>de“, wo an <strong>die</strong>sem Abend zum<br />

Tanz aufgespie<strong>lt</strong> wurde.<br />

Leopold war ke<strong>in</strong> ausgesprochener Freund der Musik, selbst<br />

Märsche rissen ihn nicht mit. Aber wie und wo sol<strong>lt</strong>e er sonst e<strong>in</strong>e<br />

Frau kennenlernen? Also entschloss er sich, am „Tanzvergnügen<br />

zum Wochenausklang“ teilzunehmen. So schwierig sah es nicht<br />

aus, das Tanzbe<strong>in</strong> zum Takt der Walzer- und Polkamelo<strong>die</strong>n und<br />

des sonstigen Zeugs zu schw<strong>in</strong>gen. Doch Leopold wurde rasch aus<br />

se<strong>in</strong>er alleskönnerischen Illusion gerissen. Nachdem er sich mit<br />

e<strong>in</strong>em Schnaps Mut gemacht hatte, schritt er schnurstracks auf<br />

<strong>den</strong> „Jungfrauentisch“ zu und forderte mit kratzender Stimme <strong>die</strong><br />

ausgeguckte Maid „bitte, zum Tanz“ auf. Die junge Dame begutachtete<br />

Leopold mit raschem Blick. Der großgewachsene Galan<br />

mit <strong>den</strong> breiten Schu<strong>lt</strong>ern, <strong>den</strong> hohen slawischen Backenknochen<br />

und der kecken Stupsnase gefiel ihr. Doch auf dem Tanzbo<strong>den</strong><br />

war Leopold e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Enttäuschung. Mühsam stolperte der<br />

Bergmann vorwärts, se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e verhedderten sich andauernd.<br />

Als er endlich <strong>den</strong> Befehl se<strong>in</strong>er Partner<strong>in</strong> befolgte: „Lass dich<br />

wenigstens führen, du sturer Bock!“, trat Leopold dem „Fräule<strong>in</strong><br />

Barbara“ mehrmals auf <strong>die</strong> Füße, was <strong>die</strong>se mit, wie er me<strong>in</strong>te,<br />

übertriebenen Wehlauten quittierte. Ihre zunächst befremdete<br />

Miene gerann derweil zur ka<strong>lt</strong>en Maske. Darob geriet wiederum<br />

Leopold vollends aus dem ohneh<strong>in</strong> nur mühselig geha<strong>lt</strong>enen Takt<br />

und trat, selbstverständlich aus Versehen, se<strong>in</strong>em Tanzopfer heftig<br />

gegen <strong>den</strong> Knöchel.<br />

„Jetzt ist es genug, du polackischer Tollpatsch!“, schrie Barbara<br />

auf und löste sich abrupt von Leopold. Der hob spontan se<strong>in</strong>e<br />

Hand, ließ sie aber sogleich wieder fallen und steckte sie <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Tasche. Benommen stand der Hauer auf dem Tanzbo<strong>den</strong>, <strong>die</strong><br />

Paare wirbe<strong>lt</strong>en um ihn herum. Leo konnte nicht wie e<strong>in</strong> abgehalfterter<br />

Ackergaul hier verharren. Am liebsten wäre er <strong>die</strong>ser<br />

frechen Pupka h<strong>in</strong>terhergerannt und hätte ihr e<strong>in</strong> paar kräftige<br />

17


Maulschellen verpasst. Doch damit hätte er se<strong>in</strong> großes Vorhaben<br />

endgü<strong>lt</strong>ig kaputt gemacht. Denn mit der hochnäsigen Barbara<br />

hatte unser Knappe ebenso wenig am Hut wie mit dem gesamten<br />

Tanzmissvergnügen. Der Muss-Tänzer hatte sich, als er <strong>in</strong> der<br />

„L<strong>in</strong>de“ <strong>die</strong> Frauen beobachtete, augenblicklich <strong>in</strong> <strong>die</strong> dunkelbraunen<br />

Augen e<strong>in</strong>er sanften Schönheit am Damentisch verliebt.<br />

Mehr als das. Ihre wissen<strong>den</strong> Augen nahmen Leo gefangen. Er<br />

wusste sogleich, dass er <strong>die</strong>ser Frau gehörte.<br />

Leszek Bialowons war bislang e<strong>in</strong>e unabhängige Persönlichkeit<br />

gewesen. Se<strong>in</strong>e Familie, ja sogar se<strong>in</strong>e Mutter hatte ihn mit<br />

Gefühlsbekundungen weitgehend verschont. Er hatte <strong>die</strong>ses „Getue“<br />

nicht vermisst. Wie jeder gesunde Bursche suchte Leopold<br />

se<strong>in</strong> Vergnügen mit <strong>den</strong> Mädchen – doch hatte er dabei ke<strong>in</strong>e persönliche<br />

Zuneigung oder andere Empf<strong>in</strong>dungen gespürt. Bei der<br />

Schönäugigen aber war es geradezu umgekehrt. Bei ihr dachte er<br />

nicht an Spaß oder <strong>die</strong>se „schmutzigen D<strong>in</strong>ge“. Se<strong>in</strong> Gemüt ertrank<br />

vielmehr <strong>in</strong> ihren Augen. Er wol<strong>lt</strong>e ihr gehören – doch ihm<br />

feh<strong>lt</strong>e der Mut, <strong>die</strong> begehrte Frau anzusprechen oder gar mit ihr<br />

zu tanzen. Denn das konnte er nicht, wie er sich nunmehr e<strong>in</strong>gestand.<br />

Um zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nähe se<strong>in</strong>er Angehimme<strong>lt</strong>en zu gelangen,<br />

hatte Leo ihre Nachbar<strong>in</strong> zur Polka gebeten. Dabei nutzte<br />

er <strong>den</strong> raschen Moment des Verweilens vor der Aufgeforderten,<br />

se<strong>in</strong>e Schönheit genauer anzusehen. Dabei waren sich ihre Augen<br />

begegnet. Sie läche<strong>lt</strong>e ihn freundlich an. Er wol<strong>lt</strong>e sie auffordern,<br />

ach was, er wol<strong>lt</strong>e sie an der Hand nehmen und mit ihr davonlaufen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Leben, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e We<strong>lt</strong>, <strong>die</strong> er ihr zu Füßen legen würde.<br />

Doch im letzten Augenblick verließ ihn der Mut. E<strong>in</strong>e ihm<br />

bis dah<strong>in</strong> nicht bekannte Angst, von der begehrten Frau zurückgewiesen<br />

zu wer<strong>den</strong>, packte Leo. „Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Feigl<strong>in</strong>g!“, scha<strong>lt</strong><br />

er sich, nachdem ihn Barbara bloßgestel<strong>lt</strong> hatte. „Recht geschieht<br />

mir.“ Endlich zwang er sich, <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> zwischen <strong>den</strong> wirbeln<strong>den</strong><br />

Tanzen<strong>den</strong> zu verlassen. Leopold trottete zu se<strong>in</strong>em Platz, warf<br />

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zwei Groschen für se<strong>in</strong> Bier auf <strong>den</strong> Tisch. Die höhnischen Anwürfe<br />

se<strong>in</strong>er Nachbarn: „Polkakönig!“, „Tanzbär!“, klangen ihm <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Ohren. Doch <strong>die</strong> Sticheleien vermochten se<strong>in</strong>en Zorn nicht anzufachen.<br />

Leopolds Gefühle, auch se<strong>in</strong> leicht reizbares Wesen, waren<br />

gedämpft. Er zwang sich an <strong>die</strong> Theke, orderte e<strong>in</strong>en Schnaps.<br />

Stürzte ihn h<strong>in</strong>unter. Noch e<strong>in</strong>en! Leo spürte, wie sich se<strong>in</strong> Körper<br />

von <strong>in</strong>nen heraus erwärmte. Nach dem nächsten Wässerchen<br />

wagte er es, zu se<strong>in</strong>er Verehrten h<strong>in</strong>überzul<strong>in</strong>sen. Sie saß ruhig da,<br />

verfolgte mit ihren Augen <strong>die</strong> Tanzen<strong>den</strong>, während Barbara mit<br />

gehässiger Miene auf sie e<strong>in</strong>redete. „Cholerra!“, fluchte Leszek.<br />

Da hob <strong>die</strong> Schönäugige ihre Augen, schaute <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Richtung,<br />

läche<strong>lt</strong>e. Sah sie ihn an? Ja! Daran bestand ke<strong>in</strong> Zweifel. Freundlich<br />

schaute sie dre<strong>in</strong>. Als ob sie ihn kennenlernen wol<strong>lt</strong>e. Wozu,<br />

du Narr? Damit du ihr auf <strong>die</strong> Füße trampelst? Leszek senkte <strong>den</strong><br />

Blick. Er zah<strong>lt</strong>e und lief davon.<br />

Ke<strong>in</strong>e zehn Pferde br<strong>in</strong>gen mich noch mal <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Scheißla<strong>den</strong>.<br />

Nie wieder! Ich b<strong>in</strong> doch ke<strong>in</strong> Jahrmarkttänzer, schwor<br />

sich Leo. Doch e<strong>in</strong>e Woche später war er wieder <strong>in</strong> der „L<strong>in</strong>de“.<br />

Er hatte mit sich gehadert, gezetert und geflucht. Er hatte unter<br />

und über Tage mit se<strong>in</strong>en Kumpels und <strong>den</strong> Mitbewohnern<br />

im Ledigenheim ständig Händel gesucht. Doch um se<strong>in</strong>er Liebe<br />

wegen nahm Leopold erneut <strong>den</strong> Besuch der Tanztortur auf sich.<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich ist sie gar nicht da. <strong>Das</strong> wäre das Beste. Wenn sie<br />

doch da ist, was tue ich dann? Zum Tanzen kann ich sie doch nicht<br />

bitten. Ich darf ihr nicht weh tun. Aber lächerlich will ich mich<br />

erst recht nicht machen. Und wenn ich irgendwo Tanzen lerne?<br />

Unmöglich! So lange durfte er nicht warten. Leopold musste se<strong>in</strong>e<br />

Schönäugige wiedersehen – sofort!<br />

Den ganzen Abend hatte Leopold nur Augen für se<strong>in</strong>e Liebe.<br />

Sie trug e<strong>in</strong> hübsches blaues Kleid und hatte e<strong>in</strong> besticktes<br />

Tuch um <strong>die</strong> Schu<strong>lt</strong>ern gelegt. Ihre Lippen glänzten feuerrot.<br />

Ga<strong>lt</strong> all das ihm? Bild dir bloß nichts e<strong>in</strong>, du eitler Trottel!, scha<strong>lt</strong><br />

19


sich Leopold. Er versuchte e<strong>in</strong> Lächeln, das sogleich von se<strong>in</strong>er<br />

Angeschwärmten erwidert wurde. Doch <strong>die</strong>ser Gunstbeweis förderte<br />

Leopolds Schüchternheit, statt sie zu überw<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />

Anna hatte genug von ihrem zurückha<strong>lt</strong>en<strong>den</strong> Verehrer. Sie<br />

schlug nicht länger <strong>die</strong> Aufforderungen der anderen Galane zum<br />

Tanz aus. Traurig, aber auch wütend, dass se<strong>in</strong>e Verehrte sich mit<br />

wildfrem<strong>den</strong> Kerlen abgab, während sie ihn, <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zigen Mann,<br />

der es ver<strong>die</strong>nte, sie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Arm zu nehmen, verschmähte, saß Leopold<br />

alle<strong>in</strong> an e<strong>in</strong>em Tisch nahe der Theke und beschickerte sich<br />

immer mehr. Warum tanzt sie nicht mit mir?! Weil du es nicht<br />

kannst! Und sogar zu feige bist, sie anzugucken! Leopold goss<br />

sich erneut e<strong>in</strong> Glas h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> B<strong>in</strong>de. Der Alkohol, der Leos Zorn<br />

zunächst steigerte, hatte längst se<strong>in</strong>en Mut erstickt. Er verlor <strong>die</strong><br />

Kraft, „se<strong>in</strong>e“ wirbelnde Schönheit zu beobachten.<br />

Anna besaß <strong>die</strong>se Energie. Der stattliche blonde Mann mit<br />

<strong>den</strong> strahlend blauen Augen, gewiss e<strong>in</strong> Hauer, und so sauber und<br />

or<strong>den</strong>tlich gekleidet, war ihr sogleich aufgefallen. Zunächst war<br />

sie enttäuscht, dass er Barbara zum Tanz gebeten hatte. Doch<br />

dann hatte sie sogleich bemerkt, dass er ke<strong>in</strong> Tänzer, sondern e<strong>in</strong><br />

Stolperer war. Barbaras Zorn amüsierte sie. Die meisten Bergleute<br />

waren täppische Tänzer. Na und? So waren Männer nun mal.<br />

Und dass er aus Polen kam, war auch nicht ungewöhnlich. Annas<br />

Schwager war ebenfalls Pole. Anna sah an Leopolds Augen, dass<br />

er sich <strong>in</strong> sie verguckt hatte. Schon vor e<strong>in</strong>er Woche. Sie war sich<br />

sicher, dass der Blonde wiederkommen würde, um sie zu sehen<br />

– trotz se<strong>in</strong>er Schüchternheit. Deshalb hatte sie sich das Verlobungskleid<br />

ihrer Schwäger<strong>in</strong> Martha ausgeliehen und sich so lange<br />

auf <strong>die</strong> Lippen gebissen, bis sie rot glänzten. Und nun musste sie<br />

mit ansehen, wie der Verehrer se<strong>in</strong>e, ihre Liebe versoff. Ihr Versuch,<br />

durch das Tanzen mit anderen Männern bei ihm Eifersucht<br />

zu wecken, war gründlich <strong>in</strong>s Schnapsglas gegangen. Doch Anna<br />

war nicht der Typ, sich durch Schüchternheit oder anderen Kle<strong>in</strong>-<br />

20


mut von ihrem Vorhaben abbr<strong>in</strong>gen zu lassen. <strong>Das</strong> konnte sie sich<br />

als ä<strong>lt</strong>este Tochter von sieben Geschwistern nicht erlauben. Also<br />

hande<strong>lt</strong>e sie rasch. Ehe ihr Angebeteter sich vollends betrank.<br />

Anna schütte<strong>lt</strong>e ihren Tanzpartner ab. Bewegte sich langsam<br />

und unauffällig um <strong>die</strong> Tanzfläche und baute sich vor ihrem Bergmann<br />

auf. Sie sah, wie <strong>die</strong>ser zusammenzuckte. Se<strong>in</strong> schnapsgerötetes<br />

Gesicht wurde augenblicklich blass. Er riss se<strong>in</strong>e herrlichen,<br />

dunkelblauen Augen auf. Er hörte ihre volle, wohlkl<strong>in</strong>gende<br />

Stimme: „Ich seh wohl, dass du mich <strong>die</strong> ganze Zeit anstarrst …“<br />

Leopolds Herz raste wie noch nie. Er wusste nicht, was er<br />

ihr antworten sol<strong>lt</strong>e. Er wol<strong>lt</strong>e, er musste etwas sagen. Nur was?<br />

„… aber so kommen wir nicht weiter.“ Sie läche<strong>lt</strong>e mit fe<strong>in</strong>geschwungenen<br />

Lippen, vor allem mit ihren tiefen, warmen Augen.<br />

„Mit dem Tanzen wird’s auch nichts. <strong>Das</strong> ist ja wohl nicht de<strong>in</strong>e<br />

Stärke.“ Was konnte er ihr nur antworten, zum Teufel? „Also sol<strong>lt</strong>en<br />

wir uns unterha<strong>lt</strong>en.“ Sie läche<strong>lt</strong>e Leopold geradezu kokett<br />

an, der Schleier e<strong>in</strong>er leichten Melancholie, der bis dah<strong>in</strong> ihren<br />

Blick umwölkt hatte, zerriss. „Möchtest du mich nicht auf e<strong>in</strong>e<br />

Limonade e<strong>in</strong>la<strong>den</strong>?“ – „Ja“, presste Leopold heraus. Er brauchte<br />

e<strong>in</strong>e Weile, ehe es ihm gelang, sich aus se<strong>in</strong>er Starre zu lösen.<br />

Dann sprang er auf, se<strong>in</strong> Stuhl kippte nach h<strong>in</strong>ten. Leopold war<br />

se<strong>in</strong>e Ungeschicklichkeit pe<strong>in</strong>lich. Da ergriff Anna sanft se<strong>in</strong>e<br />

Hand. Um sie, um ihn nie wieder loszulassen.<br />

Zwei Monate später verlobten sich Anna und Leopold. Familie<br />

Hauser war zunächst nicht begeistert von der Wahl ihrer<br />

Tochter. Musste es unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Pole se<strong>in</strong>? Noch dazu e<strong>in</strong> dahergelaufener,<br />

der fern se<strong>in</strong>er Familie im Ledigenheim hauste? Wie<br />

es <strong>in</strong> <strong>den</strong> Menagen zug<strong>in</strong>g, war allenthalben bekannt. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus ver<strong>die</strong>nte Anna, wenn auch nicht viel, als Heimnäher<strong>in</strong> für<br />

<strong>die</strong> Firma He<strong>in</strong>ze-Textilien und gab ihren Lohn als Hausha<strong>lt</strong>sgeld<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Familienkasse. Doch Annas Entscheidung stand unverrückbar<br />

fest, und ihre Willensstärke war trotz ihrer sanften Stimme<br />

21


<strong>in</strong> der Familie bekannt. Und wenn man’s bedachte, war Leopold<br />

nicht unrecht. Er arbeitete als Knappe auf Shamrock, wo auch<br />

Annas Vater Siegfried und dessen Söhne Georg und Franz unter<br />

Tage malochten. <strong>Das</strong> bedeutete e<strong>in</strong> sicheres E<strong>in</strong>kommen, und<br />

selbst wenn es <strong>den</strong> Bergmann mal erwischte, dann konnte se<strong>in</strong>e<br />

Witwe wahrsche<strong>in</strong>lich mit e<strong>in</strong>er Rente rechnen. Zudem gehörte<br />

Leopold dem rechten Glauben an. Er war katholisch, was Anna<br />

Ärger ersparte. Blieb se<strong>in</strong> Polackentum. Je nun! Wenn man e<strong>in</strong>en<br />

Ruhrkumpel <strong>in</strong> <strong>den</strong> Bottich steckte und se<strong>in</strong>en Kohlestaub<br />

abwusch, kam meist e<strong>in</strong> sauberer Polacke aus dem Wasser. Auch<br />

Annas Schwester Helga war mit e<strong>in</strong>em Wasserpolacken verheiratet.<br />

Franek war e<strong>in</strong> or<strong>den</strong>tlicher Kumpel und anständiger Ehemann,<br />

der nur gelegentlich e<strong>in</strong>en über <strong>den</strong> Durst trank. Doch für<br />

e<strong>in</strong>en ausgedörrten Bergmann musste man Verständnis haben. Alles<br />

<strong>in</strong> allem konnten Siegfried und Clara Hauser mit ihrem neuen<br />

Schwiegersohn e<strong>in</strong>verstan<strong>den</strong> se<strong>in</strong>. Am wichtigsten aber war, dass<br />

<strong>die</strong> Anna mit ihrem Verlobten zufrie<strong>den</strong> war.<br />

Anna war mit Leo ke<strong>in</strong>eswegs nur zufrie<strong>den</strong>. Sie war glücklich!<br />

Zwar war Leopold Bialo nicht <strong>in</strong> der Lage, wie er zunächst<br />

sich geschworen und bald darauf gegenüber Anna beteuert hatte,<br />

ihr „<strong>die</strong> We<strong>lt</strong> zu Füßen zu legen“. Dazu war <strong>die</strong> We<strong>lt</strong> für e<strong>in</strong>en<br />

Bergmann viel zu teuer. Doch so viel er sich davon leisten konnte,<br />

gab er se<strong>in</strong>er Anna. Als kluge Frau verstand Anna schon <strong>in</strong> jungen<br />

Jahren, dass käufliche D<strong>in</strong>ge schneller verderben, vergehen oder<br />

verloreng<strong>in</strong>gen, als man sich <strong>die</strong>s vorstellen konnte. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Liebe<br />

mochte bleiben – wenn der Mann etwas taugte. Davon war sie<br />

bei ihrem Leopold überzeugt. Er war ke<strong>in</strong> Engel. Leopold hatte<br />

e<strong>in</strong>e große Klappe und, wie er ihr gestand, auch harte Fäuste, wenn<br />

er sich gereizt füh<strong>lt</strong>e. Bei Anna aber blieben se<strong>in</strong>e Hände stets sanft.<br />

Gelegentlich mau<strong>lt</strong>e er über ihre Entscheidungen.<br />

„Du me<strong>in</strong>st wohl, du hast <strong>die</strong> Hosen an! Kommt nicht <strong>in</strong><br />

Frage, ich b<strong>in</strong> hier der Mann! Ich bestimme, was getan wird!“<br />

22


„Natürlich, me<strong>in</strong> Leo“, rief Anna jedes Mal. <strong>Das</strong> Glimmen <strong>in</strong> ihren<br />

Augen besagte <strong>in</strong>dessen das Gegenteil. Beide wussten, dass<br />

<strong>die</strong>s so war. Doch Leopold brauchte zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e verbale Bestätigung<br />

se<strong>in</strong>er Frau, dass er der Herr im Haus sei. <strong>Das</strong> ermöglichte<br />

ihm, großmütig <strong>den</strong> Weiberlaunen Annas nachzugeben.<br />

Vor ihrer Hochzeit hatte Anna Leopolds ungestümem Drängen<br />

widerstan<strong>den</strong>, sich sogleich e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Bleibe zu mieten.<br />

Selbstverständlich wol<strong>lt</strong>e sie ebenso wie ihr zukünftiger Mann endlich<br />

e<strong>in</strong> Heim für sich. Und wenn es nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Raum mit eigenem<br />

E<strong>in</strong>gang war. Doch Anna hatte „so e<strong>in</strong>e Ahnung“, dass schwere<br />

Zeiten auf sie zukämen. Leopold verlachte ihre Schwarzseherei. Er<br />

sah <strong>die</strong> We<strong>lt</strong> rosarot, seit er sich Annas Liebe sicher war.<br />

Bald musste Leopold e<strong>in</strong>gestehen, dass Annas Ahnung sie<br />

nicht getrogen hatte. Denn <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>leitung hatte <strong>die</strong> Arbeitsnormen<br />

heraufgesetzt und <strong>die</strong> Hauer dazu gezwungen, auch Verschalungsarbeiten<br />

zu leisten, sowie <strong>den</strong> Bergbeamten <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

gegeben, <strong>die</strong> Kohleloren nach eigenem Gutdünken zu nullen.<br />

So hieß es ständig, <strong>die</strong> Förderwagen seien zu stark mit Bergen, also<br />

mit Geste<strong>in</strong>sbrocken, und nicht ausreichend mit Kohle bela<strong>den</strong>.<br />

Dadurch konnten <strong>die</strong> Beamten <strong>den</strong> Lohn der Kumpels nach Belieben<br />

senken. Die Bergleute hatten gegen <strong>die</strong>se Schikanen und <strong>die</strong><br />

Lohndrückerei protestiert und waren, als das nichts half, endlich <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Streik getreten. Dabei setzte <strong>die</strong> Führung der Bergleute auch<br />

auf <strong>die</strong> neue politische Entwicklung.<br />

Im Vorjahr 1888 war der a<strong>lt</strong>e Kaiser Wilhelm gestorben. Im<br />

Volk hieß er der „Kartätschenpr<strong>in</strong>z“, weil er 40 Jahre zuvor <strong>die</strong><br />

Märzrevolutionäre von 1848 hatte niederschießen lassen. Die waren<br />

für demokratische Freiheiten auf <strong>die</strong> Barrika<strong>den</strong> gegangen. Die<br />

Monarchie als konstitutionelle Herrschaftsform wol<strong>lt</strong>en sie unangetastet<br />

lassen. Nicht nur <strong>in</strong> Preußen, wo Wilhelm Pr<strong>in</strong>z war, sondern<br />

an vielen Ecken des Reiches bis zur Pfalz und nach Ba<strong>den</strong> hatte<br />

der rachsüchtige Kartätschenpr<strong>in</strong>z <strong>die</strong> Revolutionäre verfolgt und<br />

23


ihre Erhebungen blutig unterdrückt. Zehn Jahre später entmachtete<br />

Wilhelm se<strong>in</strong>en gemütsgestörten Bruder Friedrich Wilhelm<br />

und nahm <strong>die</strong> Zügel Preußens <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e eigenen, harten Hände. Der<br />

Regent ernannte <strong>den</strong> Junker Otto von Bismarck zu se<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>ten.<br />

Dieser baute Preußens Armee zu e<strong>in</strong>er gewa<strong>lt</strong>igen Militärmasch<strong>in</strong>e<br />

aus. In blutigen Kriegen ließ Bismarck Österreich-<br />

Ungarn und Frankreich niederwerfen. Noch während <strong>in</strong> Paris <strong>die</strong><br />

Kommune von preußischen Grena<strong>die</strong>ren und ihren französischen<br />

Lakaien zusammengeschossen wurde, nötigte Bismarck <strong>die</strong> deutschen<br />

Fürsten <strong>in</strong>s prächtige französische Königsschloss Versailles<br />

bei Paris, um dort 1871 das deutsche Kaiserreich auszurufen. Zum<br />

Dank ernannte Kaiser Wilhelm Bismarck zum Fürsten und machte<br />

ihn zu se<strong>in</strong>em Reichskanzler. Der mächtige Schnauzbart bestimmte<br />

fortan, was <strong>in</strong> Preußen, zu dem auch das Revier gehörte, ja, was <strong>in</strong><br />

ganz Deutschland zu geschehen hatte.<br />

Bismarck wol<strong>lt</strong>e, dass alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> preußischen Junker <strong>den</strong> Staat<br />

wie e<strong>in</strong> Infanterieregiment komman<strong>die</strong>ren sol<strong>lt</strong>en. Der Kanzler<br />

hasste <strong>die</strong> Sozialdemokraten. Die 1869 gegründete Partei wol<strong>lt</strong>e<br />

<strong>die</strong> großen Fabriken und <strong>die</strong> Banken vergesellschaften, vor allem<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Hände der Arbeiter geben. <strong>Das</strong> missfiel dem Kanzler. Noch<br />

viel stärker ärgerte Bismarck, dass immer mehr Arbeiter und auch<br />

gebildete Menschen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Städten <strong>die</strong>se Ziele tei<strong>lt</strong>en und <strong>die</strong><br />

Sozialdemokraten unterstützten. Zwei Attentate auf <strong>den</strong> Kaiser im<br />

Jahr 1878 nahm Bismarck zum Anlass, <strong>die</strong> SPD wegen „geme<strong>in</strong>gefährlicher<br />

Umtriebe“ zu verbieten. Ihre Parteiquartiere wur<strong>den</strong><br />

geschlossen. Doch <strong>die</strong> Verbote nützten dem Kanzler nichts. Je stärker<br />

<strong>die</strong> Polizei <strong>die</strong> Arbeiter unterdrückte, desto mehr von ihnen<br />

verstan<strong>den</strong>, dass der Staat, se<strong>in</strong>e Polizei und <strong>die</strong> Armee Instrumente<br />

der Herrschen<strong>den</strong> gegen <strong>die</strong> ausgebeuteten Untertanen waren. Die<br />

Sozialdemokraten und ihr Programm erhie<strong>lt</strong>en immer mehr Zulauf.<br />

Der Kölner August Bebel führte als SPD-Chef se<strong>in</strong>e Partei trotz<br />

Verbot, Verfemung und Verfolgung unaufha<strong>lt</strong>sam zum Erfolg.<br />

24


Leopold war zunächst ke<strong>in</strong> politischer Mann. Zu Hause <strong>in</strong><br />

Schlesien war Politik ke<strong>in</strong> Thema für Bauern. Der Gutsherr und<br />

der Pastor sagten <strong>den</strong> Pächtern, was sie <strong>den</strong>ken sol<strong>lt</strong>en. Leszek<br />

hasste beide und glaubte ihnen ke<strong>in</strong> Wort. Hier aber kam Bialo mit<br />

politisierten Bergleuten zusammen. Beim Warten auf <strong>den</strong> Fahrkorb,<br />

der sie <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tiefe und nach Schicht wieder ans Tageslicht<br />

brachte, beim Umklei<strong>den</strong> und <strong>in</strong> der Waschkaue, beim Buttern,<br />

dem Verspeisen der mitgebrachten Brote während der Arbeitspausen,<br />

blieb immer Zeit für e<strong>in</strong> Gespräch unter <strong>den</strong> Kumpels. Anders<br />

als <strong>die</strong> Bauern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimat waren <strong>die</strong> Knappen selbstbewusste<br />

Arbeiter. Sie begriffen, dass sie gegen <strong>den</strong> Druck des Staates und<br />

der <strong>Zechen</strong>besitzer nur bestehen konnten, wenn sie e<strong>in</strong>e klare Vorstellung<br />

von ihrer Situation besaßen und sich organisierten. E<strong>in</strong>erlei,<br />

ob <strong>in</strong> der SPD, ihren Gewerkschaften oder <strong>in</strong> christlichen<br />

Arbeitervere<strong>in</strong>en. Hier im Revier stan<strong>den</strong> <strong>die</strong> Pfarrer auf Seiten der<br />

Arbeiter. Zum<strong>in</strong>dest jene, <strong>die</strong> sich um <strong>die</strong> Bergleute kümmerten. So<br />

ver<strong>in</strong>nerlichte Bialo, ohne sich dessen bewusst zu se<strong>in</strong>, im Laufe der<br />

Zeit <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien des Kampfes für mehr Rechte der Arbeiter, vor<br />

allem der Bergleute. Am wichtigsten waren ihm und se<strong>in</strong>en Kollegen<br />

Sicherheit unter Tage, e<strong>in</strong> Achtstun<strong>den</strong>tag und stabiler Lohn.<br />

Die Aussichten dafür waren wegen der labilen Wirtschaftslage und<br />

der eisernen Politik Bismarcks nicht günstig.<br />

1888 schien sich <strong>die</strong> Situation der Arbeiter zu verbessern.<br />

Kaiser Wilhelm I., der sich auf se<strong>in</strong>e a<strong>lt</strong>en Tage um das Bild e<strong>in</strong>es<br />

mil<strong>den</strong> Monarchen bemüht hatte, rang mit dem Tode. Neugierig<br />

ließen <strong>die</strong> Bergleute beim Buttern e<strong>in</strong>e Zeitung kursieren. In<br />

mehreren Artikeln und Bullet<strong>in</strong>s wurde über das Bef<strong>in</strong><strong>den</strong> des<br />

Monarchen berichtet. „Die Gesundheit Se<strong>in</strong>er Majestät Kaiser<br />

Wilhelms ist stabil“, hieß es dort. Doch daran glaubte ke<strong>in</strong>er.<br />

„Wenn der Kaiser so munter ist, warum schreiben dann <strong>die</strong> Zeitungen<br />

so viel über ihn?“, me<strong>in</strong>te Leos Kumpel Fritz Fuhrmann.<br />

„Außerdem ist der Olle schon ura<strong>lt</strong>! Über neunzig. <strong>Das</strong> schafft<br />

25


unsere<strong>in</strong>s nie! Vorher verrecken wir an Staublunge.“ Fritz spie<br />

se<strong>in</strong>en ausgekauten Priem <strong>in</strong>s Dunkle.<br />

Wenige Tage später wurde bekannt, dass Kaiser Wilhelm<br />

friedlich entschlafen war. Die Bergleute we<strong>in</strong>ten dem Monarchen,<br />

<strong>den</strong> Kanzler Bismarck im Sack hatte, ke<strong>in</strong>e Träne nach. Zumal<br />

Kronpr<strong>in</strong>z Friedrich Wilhelm als liberal ga<strong>lt</strong>. Leopold hatte ke<strong>in</strong>e<br />

genaue Vorstellung, was das Wort bedeutete. Jene, <strong>die</strong> etwas mit<br />

Politik am Hut hatten, me<strong>in</strong>ten, das hieße mehr Freiheit. „Damit<br />

uns <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>barone noch mehr auspressen können!“, behauptete<br />

Konrad Nelles. Er war SPD-Vertrauensmann auf Shamrock.<br />

Se<strong>in</strong>e Genossen hatten ihm das wohl bei e<strong>in</strong>em Parteitreffen so<br />

erklärt. Die meisten Kumpels aber waren zuversichtlich. Der neue<br />

Kaiser würde <strong>den</strong> a<strong>lt</strong>en Reichskanzler zum Deibel jagen – und alles<br />

würde besser wer<strong>den</strong>. Darauf hoffte besonders Leopold, der<br />

endlich mit Anna e<strong>in</strong>e Familie grün<strong>den</strong> wol<strong>lt</strong>e. Die Zeitumstände<br />

hatten sich gefälligst se<strong>in</strong>em privaten Glück unterzuordnen. Der<br />

Thronwechsel sol<strong>lt</strong>e e<strong>in</strong> besseres Leben möglich machen. Leo<br />

könnte se<strong>in</strong>e Braut sofort heiraten, und dann wür<strong>den</strong> sie sich e<strong>in</strong>e<br />

Bleibe suchen.<br />

Anna dagegen war bedächtiger. Weibliche Intuition warnte<br />

sie, ihre private Wonne auf das <strong>Geschehen</strong> rund um sie zu übertragen.<br />

Sie ahnte, dass „es egal ist, wer auf dem Thorn sitzt und<br />

welchen hübschen Namen und Titel man ihm anhängt. Am Ende<br />

wird er sich nicht um euch arme Kumpels sorgen, sondern um <strong>die</strong><br />

fetten <strong>Zechen</strong>barone.“ Leopold ärgerte sich über Annas „ständige<br />

Schwarzseherei“. Zwar gestand er sich e<strong>in</strong>, dass se<strong>in</strong>e Braut vielleicht<br />

gar nicht so unrecht haben mochte – doch Annas E<strong>in</strong>wände<br />

stan<strong>den</strong> dem sehnsüchtigen Wunsch des Bergmanns entgegen,<br />

endlich mit se<strong>in</strong>er Liebsten zusammenzuleben. „Ob wir vorher<br />

zum Pfaffen gehen, ist mir egal!“, grumme<strong>lt</strong>e Leopold. „Mir aber<br />

nicht“, antwortete Anna mit sanfter Stimme. <strong>Das</strong> Ans<strong>in</strong>nen ihres<br />

Liebsten kam für sie nicht <strong>in</strong> Frage. E<strong>in</strong>e Ehe ohne <strong>den</strong> Segen der<br />

26


Kirche war für Anna un<strong>den</strong>kbar. Trotz ihrer Verliebtheit behie<strong>lt</strong><br />

Anna e<strong>in</strong>en klaren Kopf. Sie wol<strong>lt</strong>e das Leben mit Leopold auf<br />

e<strong>in</strong>er sicheren Grundlage aufbauen.<br />

Bald war Leopold froh über <strong>die</strong> Umsicht se<strong>in</strong>er Verlobten.<br />

Denn Kaiser Friedrich starb nach nur 99 Tagen auf dem Thron<br />

am 15. Juni 1888. Ihm folgte se<strong>in</strong> Sohn, der schneidige Wilhelm<br />

II. Die im „Vere<strong>in</strong> zur Wahrung der geme<strong>in</strong>samen wirtschaftlichen<br />

Interessen im Rhe<strong>in</strong>land und Westfalen“ zusammengeschlossenen<br />

Grubenbesitzer sahen <strong>den</strong> Thronwechsel als passende<br />

Gelegenheit, ihre Stärke zu demonstrieren. Den Kumpels<br />

sol<strong>lt</strong>e gezeigt wer<strong>den</strong>, dass es s<strong>in</strong>nlos war, sich auf <strong>die</strong> illegalen,<br />

doch gleichwohl immer selbstbewusster auftreten<strong>den</strong> Sozialdemokraten<br />

zu verlassen. Darüber h<strong>in</strong>aus wol<strong>lt</strong>en <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>eigner<br />

<strong>den</strong> nur 29-jährigen Kaiser ihre Macht spüren lassen. Bald sol<strong>lt</strong>en<br />

sie dazu Gelegenheiten erha<strong>lt</strong>en.<br />

Nicht m<strong>in</strong>der beschäftigten <strong>die</strong> Kumpels <strong>die</strong> Gruselgeschichten<br />

über „Hans <strong>den</strong> Schlitzer“ aus London. Sie ergötzten<br />

sich an Berichten über <strong>den</strong> Dirnenmörder, der se<strong>in</strong> schauerliches<br />

Handwerk im Nebel der englischen Hauptstadt trieb. „Der soll<br />

sich mal zu uns unter Tage trauen“, feixte Moritz Szimaniak,<br />

„dann gibt’s or<strong>den</strong>tlich aufs Maul.“ – „Der will ke<strong>in</strong>e Kohle, der<br />

sucht Weiber“, wurde er von Karl Wurbs belehrt. „Während du<br />

hier vor Ort malochst, besucht er de<strong>in</strong>e Olle und schlitzt sie.“ <strong>Das</strong><br />

war für Szimi zu viel. Wutentbrannt stürzte er sich auf <strong>den</strong> frechen<br />

Karl und wol<strong>lt</strong>e ihm se<strong>in</strong>e Keilhaue über <strong>den</strong> Schädel dreschen.<br />

Amüsiert beobachtete Leo, wie der Steiger Richard Hansen dazwischentrat,<br />

um mit Mühe e<strong>in</strong>e Schlägerei zu verh<strong>in</strong>dern.<br />

27


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����<br />

Im Frühjahr 1889 verschärfte sich <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung zwischen<br />

Grubenbesitzern und Bergleuten. Die Unternehmer hande<strong>lt</strong>en<br />

nicht aus schierer Willkür. Die Volkswirtschaft des Deutschen<br />

Reiches und mit ihr <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong> steckten seit 1873 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Dauerkrise. Kurz zuvor, während des Booms, der auf <strong>die</strong> Gründung<br />

des Reiches folgte, war Kohle Mangelware. Die <strong>Zechen</strong><br />

ver<strong>die</strong>nten enorm. Die Kurse der Bergbauaktien kletterten bis<br />

auf 127,50 Mark. Vier Jahre später waren sie auf weniger als e<strong>in</strong><br />

Viertel <strong>die</strong>ses Betrages gefallen.<br />

Die Divi<strong>den</strong><strong>den</strong> waren ebenfalls kräftig zurückgegangen. Immerh<strong>in</strong><br />

erwirtschafteten <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong> der Hibernia noch Gew<strong>in</strong>n.<br />

Andere Schachtanlagen arbeiteten mit Verlust. Die Gesellschaften<br />

versuchten aus <strong>den</strong> roten Zahlen zu kommen, <strong>in</strong>dem sie das Ged<strong>in</strong>ge,<br />

<strong>den</strong> Akkordlohn der Bergleute, immer weiter kürzten.<br />

Gleichzeitig wur<strong>den</strong> immer mehr Kohleloren genul<strong>lt</strong>, blieben<br />

also ohne Entlohnung. Auch <strong>die</strong> Anfahrtszeiten <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Zechen</strong><br />

wur<strong>den</strong> vom Ged<strong>in</strong>ge abgezogen. Der Lohn der Kumpels<br />

g<strong>in</strong>g ständig zurück. Vor allem k<strong>in</strong>derreiche Bergarbeiterfamilien<br />

kamen <strong>in</strong> Existenznot. Sie konnten sich ke<strong>in</strong>e Lebensmittel mehr<br />

leisten. Nachdem zahllose Bitten und Forderungen der Bergleute<br />

um e<strong>in</strong>e Anhebung ihrer Ged<strong>in</strong>ge zum<strong>in</strong>dest auf <strong>die</strong> a<strong>lt</strong>en Löh-<br />

28


ne von <strong>den</strong> Grubenunternehmern brüsk zurückgewiesen wur<strong>den</strong>,<br />

waren im April 1889 immer mehr Knappen entschlossen, <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Streik zu treten. Sie wol<strong>lt</strong>en endlich wieder e<strong>in</strong>en menschenwürdigen<br />

Lohn für ihre gefährliche Arbeit unter Tage e<strong>in</strong>fahren. Die<br />

Vertrauensleute der SPD versuchten, <strong>die</strong> Bergleute von e<strong>in</strong>em<br />

Ausstand abzuha<strong>lt</strong>en. Der Hauer und Vertrauensmann Konrad<br />

Nelles warnte se<strong>in</strong>e Kumpels nach e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Polizeibericht:<br />

„E<strong>in</strong> Streik kann unserer Sache nur scha<strong>den</strong>. Die Grubenbesitzer<br />

wür<strong>den</strong> <strong>die</strong> Gelegenheit nützen, uns auszuhungern und unliebsame<br />

Knappen rauszuwerfen.“<br />

Aber <strong>die</strong> Bergleute hatten e<strong>in</strong>fach genug, immer weiter ausgepresst<br />

und gedemütigt zu wer<strong>den</strong>, während <strong>die</strong> Bergwerksbesitzer<br />

ihre Gew<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>strichen. Auch Leo befürwortete e<strong>in</strong>en<br />

Arbeitskampf. Er war, wie <strong>die</strong> meisten Kumpels, sicher, dass <strong>die</strong><br />

<strong>Zechen</strong>gesellschaft nachgeben würde. Schließlich waren sie auf<br />

<strong>die</strong> Knappen angewiesen, um <strong>die</strong> Kohle zu fördern. Außerdem<br />

wol<strong>lt</strong>e Leo, dass das Ganze möglichst schnell vorbei war, damit er<br />

endlich se<strong>in</strong>e Anna heiraten konnte.<br />

Anfang Mai wur<strong>den</strong> wieder e<strong>in</strong>mal alle ihre Forderungen von<br />

<strong>den</strong> Grubengesellschaften rundweg abgelehnt. Da riss <strong>den</strong> Bergleuten<br />

endgü<strong>lt</strong>ig der Geduldsfa<strong>den</strong>. Als Erste wurde <strong>die</strong> Zeche Ernest<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong> Essen bestreikt. Da <strong>die</strong> Kumpels sehr erbittert waren,<br />

breitete sich der Arbeitskampf wie e<strong>in</strong> Flächenbrand über das Revier<br />

aus. Gelsenkirchen, Wanne, Eickel, Herne. Selbstverständlich<br />

wurde auch auf Shamrock <strong>die</strong> Arbeit niedergelegt. B<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>er<br />

Woche waren mehr als 80 000 Bergleute im Ausstand. Es war der<br />

größte Arbeitskampf, <strong>den</strong> Deutschland bis dah<strong>in</strong> erlebt hatte.<br />

Leo Bialo traf sich mit se<strong>in</strong>en Kumpels am <strong>Zechen</strong>tor, um<br />

eventuelle Streikbrecher das Fürchten zu lehren. Die Werksleitung<br />

forderte Gendarmen zum Schutz der Anlagen an. Dies brachte <strong>die</strong><br />

Kumpels noch mehr <strong>in</strong> Rage. Als ob <strong>die</strong> Bergleute ihre eigenen<br />

<strong>Zechen</strong> zerstören wol<strong>lt</strong>en! <strong>Das</strong> war re<strong>in</strong>e Hetze. An anderen Berg-<br />

29


werken marschierten Polizisten und Soldaten gegen <strong>die</strong> Knappen<br />

auf. Es kam zu Schlägereien. Grena<strong>die</strong>re und Gendarmen schossen<br />

auf unbewaffnete Bergleute. Zahlreiche Kumpels wur<strong>den</strong> verletzt,<br />

e<strong>in</strong>ige tödlich. Die Vertrauensleute der SPD und besonnene Arbeiterführer<br />

versuchten, <strong>die</strong> Streiken<strong>den</strong> von Ausschreitungen abzuha<strong>lt</strong>en.<br />

„Damit tut ihr Narren genau das, was <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>direktoren<br />

wollen. So fäl<strong>lt</strong> es ihnen leicht, aus euch rabiate Staatsfe<strong>in</strong>de<br />

zu machen, auf <strong>die</strong> jeder Soldat schießen muss. Dadurch wollen sie<br />

unsere gerechte Forderung nach mehr Lohn vergessen machen!“,<br />

beschwor Konrad Nelles <strong>die</strong> Kumpels auf Shamrock. „Mit eurem<br />

Bitten und Betteln bei der Zeche habt ihr noch weniger erreicht“,<br />

scholl es ihm entgegen. „Erst seit wir streiken, hört man uns wenigstens<br />

überall zu.“ – „ Ja, <strong>die</strong> Polizei und <strong>die</strong> Ulanen.“<br />

Die meisten Bergleute waren über <strong>die</strong> Gewa<strong>lt</strong> so aufgebracht,<br />

dass es s<strong>in</strong>nlos erschien, mit ihnen über Streiktaktik zu debattieren.<br />

E<strong>in</strong>ige dagegen behie<strong>lt</strong>en e<strong>in</strong>en klaren Kopf. Sie schrieben nach<br />

Berl<strong>in</strong> an <strong>den</strong> neuen Kaiser und baten „Se<strong>in</strong>e Majestät“, ihnen zu<br />

helfen, ihre beschei<strong>den</strong>en Lohnforderungen durchzusetzen.<br />

Für alle überraschend reagierte Wilhelm II. auf das Ans<strong>in</strong>nen<br />

der Bergleute positiv. Der Monarch lud e<strong>in</strong>e Abordnung der<br />

Streiken<strong>den</strong> nach Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>. Die Bergleute waren so arm, dass<br />

Fahrgeld für sie gesamme<strong>lt</strong> wer<strong>den</strong> musste. Dabei zeigte sich, dass<br />

ihre berechtigten Forderungen nicht nur von Arbeitern, sondern<br />

auch von weiten Kreisen des Bürgertums unterstützt wur<strong>den</strong>. Pastoren,<br />

Handwerker, ja Lehrer und Ärzte spendeten Geld, damit <strong>die</strong><br />

Knappen mit der Eisenbahn <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hauptstadt reisen konnten. Am<br />

14. Mai empf<strong>in</strong>g der Kaiser im Berl<strong>in</strong>er Stadtschloss <strong>die</strong> drei Abgesandten<br />

Ludwig Schröder, August Siegel und Friedrich Bunte zu<br />

e<strong>in</strong>er zehnm<strong>in</strong>ütigen Au<strong>die</strong>nz. Bunte war der Vorsitzende des „Verbandes<br />

zur Wahrung und Förderung bergmännischer Interessen <strong>in</strong><br />

Rhe<strong>in</strong>land und Westfalen“, aus dem später der „Verband deutscher<br />

Bergleute“ hervorg<strong>in</strong>g, besser bekannt als „A<strong>lt</strong>er Verband“.<br />

30


Die Knappen mussten ihr Anliegen stehend vortragen. Trotz<br />

Lampenfieber machten <strong>die</strong> Bergleute ihre Forderungen mit klaren<br />

Worten deutlich. Sie verlangten e<strong>in</strong>e maßvolle Erhöhung der Ged<strong>in</strong>ge<br />

sowie <strong>die</strong> Beendigung des Wagennullens, <strong>die</strong> Anrechnung<br />

der Anfahrtswege vor Ort, <strong>die</strong> Anerkennung der Arbeiterausschüsse<br />

und schließlich <strong>den</strong> Verzicht auf Bestrafung und Entlassung der<br />

Streiken<strong>den</strong>. Der Kaiser akzeptierte <strong>die</strong> Forderungen der Kumpels.<br />

Doch zuvor versäumte der Monarch nicht, <strong>die</strong> Abordnung<br />

auf das Schärfste zu verwarnen: „Sol<strong>lt</strong>en aber Ausschreitungen<br />

gegen öffentliche Ordnung und Ruhe vorkommen, sol<strong>lt</strong>e sich e<strong>in</strong><br />

Zusammenhang der Bewegung mit sozialdemokratischen Kreisen<br />

herausstellen, so würde Ich nicht im Stande se<strong>in</strong>, eure Wünsche<br />

mit Me<strong>in</strong>em königlichen Wohlwollen zu erwägen, <strong>den</strong>n für Mich<br />

ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfe<strong>in</strong>d.<br />

Merke Ich daher, dass sich sozialdemokratische Ten<strong>den</strong>zen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Bewegung mischen … so würde Ich mit unnachsichtiger<br />

Strenge e<strong>in</strong>schreiten und <strong>die</strong> volle Gewa<strong>lt</strong>, <strong>die</strong> Mir zusteht<br />

– und <strong>die</strong>selbe ist e<strong>in</strong>e große –, zur Anwendung br<strong>in</strong>gen! Fahret<br />

nun nach Hause und überlegt, was Ich gesagt habe.“<br />

In e<strong>in</strong>em Brief forderte Wilhelm <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>besitzer auf, <strong>den</strong><br />

Bergleuten unverzüglich e<strong>in</strong>e Lohnzulage zu gewähren: „Es ist<br />

ja menschlich und natürlich, dass jedermann versucht, sich e<strong>in</strong>en<br />

möglichst günstigen Lebensunterha<strong>lt</strong> zu erwerben. Die Arbeiter<br />

lesen <strong>die</strong> Zeitungen und wissen, wie das Verhä<strong>lt</strong>nis des Lohns zu<br />

dem Gew<strong>in</strong>ne der Gesellschaften steht. <strong>Das</strong>s sie mehr oder weniger<br />

daran Teil haben wollen, ist erklärlich.“<br />

Der Kaiser solidarisierte sich mit <strong>den</strong> Bergleuten ke<strong>in</strong>eswegs<br />

aus re<strong>in</strong>er Sympathie. Wilhelm erkannte vielmehr, dass<br />

<strong>die</strong> Kohleunternehmen ihre Knappen durch Hartleibigkeit <strong>in</strong>s<br />

Elend stürzten und sie damit zu Arbeitskämpfen provozierten,<br />

<strong>die</strong> Deutschlands Volkswirtschaft schweren Scha<strong>den</strong> zufügen<br />

könnten. Darüber h<strong>in</strong>aus wol<strong>lt</strong>e der frischgekrönte Monarch<br />

31


<strong>die</strong> Sympathien der Arbeiter für sich gew<strong>in</strong>nen. Wilhelm hatte<br />

begriffen, dass <strong>die</strong>s auf Dauer nicht mit Verboten und Truppen<br />

gel<strong>in</strong>gen konnte, wie der vergreiste Reichskanzler Otto von Bismarck<br />

beharrlich glaubte. Der Monarch war vor allem darauf bedacht,<br />

se<strong>in</strong>e Armee aus dem Tarifkampf herauszuha<strong>lt</strong>en. Denn das<br />

Heer war auf Grena<strong>die</strong>re aus allen Schichten der Bevölkerung angewiesen,<br />

auch auf <strong>die</strong> immer zahlreicheren Arbeiter. Die Bergbauunternehmer<br />

gaben sich als deutsche Patrioten und waren kaisertreu.<br />

Doch noch wichtiger waren ihnen ihre wirtschaftlichen<br />

Interessen, ihr Gew<strong>in</strong>n. Also g<strong>in</strong>gen sie zum Sche<strong>in</strong> auf <strong>den</strong> Appell<br />

des Kaisers e<strong>in</strong> und verhande<strong>lt</strong>en mit <strong>den</strong> Bergleuten. Dabei<br />

sagten sie <strong>den</strong> Kumpels pr<strong>in</strong>zipiell e<strong>in</strong>e Lohnerhöhung zu. Mehr<br />

nicht. Konkret machten <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>barone schnell deutlich, dass<br />

sie nicht bereit waren, <strong>den</strong> Bergleuten auch nur e<strong>in</strong>en Fußbreit<br />

entgegenzukommen. Die Unternehmer konnten sich ausrechnen,<br />

dass das Standvermögen der Arbeiter abnehmen würde, je länger<br />

der Streik dauerte.<br />

Die harte Gleichung der <strong>Zechen</strong>barone g<strong>in</strong>g auf. Die ohneh<strong>in</strong><br />

wenigen Spargroschen der Bergleute schmolzen dah<strong>in</strong> wie<br />

Eis im Feuer. Die Lebensmittelhändler und andere kle<strong>in</strong>e Geschäftsleute<br />

konnten selbst bei gutem Willen <strong>die</strong> Rechnungen der<br />

Kumpelfamilien nicht länger stun<strong>den</strong>. Auch sie mussten ihre Waren<br />

und Mieten bezahlen, auch ihnen wurde das Geld knapp. In<br />

mancher Bergmannsfamilie gab es Streit. Frauen, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong> Geld<br />

mehr hatten, Essen für <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>zukaufen, verlangten von ihren<br />

Männern, <strong>den</strong> Ausstand zu been<strong>den</strong>. „Willst du uns für de<strong>in</strong>en<br />

s<strong>in</strong>nlosen Streik opfern?“, fuhr Clara Hauser, Annas Mutter, ihren<br />

Mann an. Siegfried Hauser, se<strong>in</strong>e zwei Söhne und se<strong>in</strong> Schwiegersohn<br />

Franek befan<strong>den</strong> sich alle im Ausstand. Statt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Pütt<br />

e<strong>in</strong>zufahren, lungerten sie zu Hause herum oder marschierten zur<br />

Zeche, um der zunehmen<strong>den</strong> Zahl von Streikbrechern „Verrat“ <strong>in</strong>s<br />

Gesicht zu brüllen und sie kräftig anzuknuffen. Darauf hatten <strong>die</strong><br />

32


Gendarmen nur gewartet. Nun erhie<strong>lt</strong>en sie erneut Gelegenheit,<br />

auf <strong>die</strong> Kumpels e<strong>in</strong>zuschlagen. Es kam zu heftigen Prügeleien.<br />

Die Bergleute kamen mit Schürfwun<strong>den</strong>, Prellungen, gelegentlich<br />

auch mit Kopfverletzungen nach Hause. Doch statt ihre Männer<br />

zu trösten, schimpften viele Frauen sie aus.<br />

Annas karger Lohn als Heimnäher<strong>in</strong> war <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Wochen<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige E<strong>in</strong>kommensquelle des Hausha<strong>lt</strong>s. <strong>Das</strong> Geld<br />

reichte bei weitem nicht aus, um <strong>die</strong> 17-köpfige Familie, zu der<br />

neben Anna, ihren E<strong>lt</strong>ern und Geschwistern auch Oma Maria,<br />

<strong>die</strong> Schwiegersöhne Theodor und Franek, <strong>die</strong> Schwiegertochter<br />

Martha sowie drei Enkelk<strong>in</strong>der gehörten, ausreichend zu ernähren.<br />

Siegfried Hauser hatte bereits alle sechs Hühner geschlachtet.<br />

Er erwog, als Nächstes <strong>die</strong> Brieftauben zu opfern. Als Letztes<br />

würde <strong>die</strong> Ziege Isa daran glauben müssen. Vorläufig brauchte<br />

man noch ihre Milch für <strong>die</strong> Enkelk<strong>in</strong>der.<br />

Die K<strong>in</strong>der quenge<strong>lt</strong>en ständig vor Hunger. Annas Schwester<br />

Sophie, <strong>die</strong> ihren Anton zu stillen hatte, litt darunter. Für Miete<br />

blieb da ke<strong>in</strong> Pfennig übrig. Die Verwa<strong>lt</strong>er, welchen <strong>die</strong> Häuser<br />

der Bergwerksgesellschaft unterstan<strong>den</strong>, hatten für <strong>die</strong> Nöte der<br />

Bewohner ke<strong>in</strong> Verständnis. Die „Beamten“ zeigten ke<strong>in</strong> Mitleid.<br />

„Dann müssen ihre Ernährer wieder auf anständige Weise Geld<br />

ver<strong>die</strong>nen, statt <strong>die</strong> Ordnung zu stören“, betonte Herr Wagner von<br />

der Wohnungsgesellschaft, <strong>den</strong> Clara Hauser um Stundung der<br />

Miete gebeten hatte. „Wo kämen wir h<strong>in</strong>, wenn jeder nur zahlen<br />

würde, wenn es ihm gerade <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kram passt? Kommt nicht <strong>in</strong><br />

Frage! Wir leben nicht bei <strong>den</strong> Hottentotten, sondern <strong>in</strong> Preußen.“<br />

Der Hausverwa<strong>lt</strong>er zwirbe<strong>lt</strong>e se<strong>in</strong>en Schnurrbart, ehe er e<strong>in</strong> Schreiben<br />

an Familie Hauser und andere säumige Mieter abfasste, <strong>in</strong> dem<br />

er <strong>die</strong>se zur „umgehen<strong>den</strong> Begleichung ihres ausstehen<strong>den</strong> Mietz<strong>in</strong>ses“<br />

aufforderte. „Widrigenfalls wir <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Frist von<br />

vierzehn Tagen genötigt wären, <strong>die</strong> Wohnung unter Zuhilfenahme<br />

polizeilicher Zwangsmaßnahmen räumen zu lassen.“<br />

33


„Wenn du mit unseren Söhnen nicht auf der Stelle wieder<br />

e<strong>in</strong>fährst und Geld heimbr<strong>in</strong>gst, lan<strong>den</strong> wir <strong>in</strong> der Gosse“, schrie<br />

und we<strong>in</strong>te Clara. Siegfried hatte ihr Gekeife gründlich satt. Zumal<br />

er sich nicht <strong>in</strong> das Schnapskas<strong>in</strong>o flüchten konnte, ihm feh<strong>lt</strong>e das<br />

Geld für e<strong>in</strong>en Stumpen Klaren. So musste er neben dem Gezeter<br />

se<strong>in</strong>er Frau auch das Jammern se<strong>in</strong>er Töchter, das Quengeln<br />

der K<strong>in</strong>der und das erbärmliche Geschrei des Säugl<strong>in</strong>gs erdul<strong>den</strong>.<br />

Nachts fand Siegfried Hauser ke<strong>in</strong>en Schlaf. Er verstand Claras<br />

Sorgen. Sie wol<strong>lt</strong>e, dass <strong>die</strong> Familie was zu beißen hatte. Doch<br />

der Mensch lebt nicht vom Brot alle<strong>in</strong>! Auch e<strong>in</strong> Hauer hat se<strong>in</strong>en<br />

Stolz. E<strong>in</strong> Bergmann war ke<strong>in</strong> Lakai und ke<strong>in</strong> Speichellecker. Ohne<br />

se<strong>in</strong>e Maloche, ohne se<strong>in</strong>e Kohle gab es ke<strong>in</strong>e Industrie, ke<strong>in</strong>e Arbeit!<br />

Der Streik musste so lange weitergehen, bis <strong>die</strong>s auch <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>barone<br />

e<strong>in</strong>sahen – <strong>die</strong> ihren Reichtum alle<strong>in</strong> <strong>den</strong> Bergleuten<br />

verdankten – und <strong>den</strong> Kumpels wieder e<strong>in</strong> anständiges Ged<strong>in</strong>ge<br />

zah<strong>lt</strong>en. Bis dah<strong>in</strong> musste man zur Not Holz hauen und Hunger<br />

haben. <strong>Das</strong> musste auch se<strong>in</strong>e Clara begreifen!<br />

Je<strong>den</strong> Tag marschierte Siegfried Hauser zur Zeche, auch wenn<br />

se<strong>in</strong>e Söhne und Franek zuletzt zu Hause blieben. Die zuversichtliche<br />

Stimmung der Streiken<strong>den</strong> machte dumpfer Verzweiflung<br />

Platz. Leo Bialo war e<strong>in</strong>er der wenigen Hauer, <strong>die</strong> mit lauten Sprüchen<br />

<strong>den</strong> Kumpels Mut zu machen versuchten. Er erntete wenig<br />

Zuspruch. Selbst <strong>die</strong> Vertreter der Streikleitung wirkten niedergeschlagen.<br />

Alle wussten, dass es nur e<strong>in</strong>e Frage der Zeit war, wann<br />

der Ausstand zusammenbrechen würde. Die sozialdemokratischen<br />

Vertrauensleute wol<strong>lt</strong>en es nicht so weit kommen lassen. Sie lobten<br />

<strong>die</strong> Kumpels für ihren Mut, redeten ihnen e<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Bergwerksgesellschaften<br />

<strong>den</strong> Streiken<strong>den</strong> „Respekt zol<strong>lt</strong>en“. Ke<strong>in</strong>er glaubte<br />

ihnen. Doch <strong>die</strong> guten Worte erfül<strong>lt</strong>en ihren Zweck. Nachdem <strong>die</strong><br />

<strong>Zechen</strong>leitung zugesagt hatte, <strong>die</strong> Forderungen nach mehr Lohn<br />

wohlwollend zu prüfen, zeigten sich <strong>die</strong> Kumpels endlich bereit,<br />

ihren Ausstand zu been<strong>den</strong>. Die Bergleute, <strong>die</strong> bis zuletzt für hö-<br />

34


here Ged<strong>in</strong>ge gekämpft hatten, waren erbittert, dass es ihnen nicht<br />

gelungen war, ihre Forderungen durchzusetzen. Doch gleichzeitig<br />

empfan<strong>den</strong> sie Stolz, dass sie bis zuletzt ihren Streik durchgeha<strong>lt</strong>en<br />

hatten. Die meisten waren vor allem erleichtert, dass sie endlich<br />

wieder Geld mit ihrer Maloche ver<strong>die</strong>nen konnten, um ihre Familien<br />

durchzubr<strong>in</strong>gen – und ihnen auch e<strong>in</strong>ige Groschen übrigbleiben<br />

wür<strong>den</strong>, um gelegentlich e<strong>in</strong>en über <strong>den</strong> Durst zu tr<strong>in</strong>ken.<br />

Umso ärger waren ihre Enttäuschung und ihre Wut, als sie<br />

erfuhren, dass alle Mitglieder des Streikausschusses ihre Arbeit<br />

verlieren wür<strong>den</strong>. Die <strong>Zechen</strong>leitung hatte <strong>die</strong> Kumpels betrogen.<br />

Durch <strong>die</strong> unverb<strong>in</strong>dliche Zusage, ihren Lohn zu erhöhen,<br />

waren <strong>die</strong> Bergleute <strong>in</strong> <strong>die</strong> Falle gelockt wor<strong>den</strong>. So hatte man<br />

ihre Streikbereitschaft gebrochen. Sobald <strong>die</strong> Knappen endlich<br />

nachgaben, zeigten <strong>die</strong> Grubenbesitzer ihr wahres Gesicht und<br />

schmissen <strong>die</strong> tapferen Bergleute, <strong>die</strong> für e<strong>in</strong> angemessenes Ged<strong>in</strong>ge<br />

ihrer Kumpels gekämpft hatten, e<strong>in</strong>fach raus. Die Kündigungen<br />

beschränkten sich nicht auf das Streikkomitee. Auch viele<br />

Streikteilnehmer wur<strong>den</strong> an <strong>die</strong> Luft gesetzt. Darunter Leo Bialo.<br />

Im Ledigenheim wur<strong>den</strong> ihm se<strong>in</strong>e Habseligkeiten vor <strong>die</strong> Tür<br />

geworfen. Leo spuckte aus. Dann schnürte er se<strong>in</strong> Bündel. Bialo<br />

wartete bis zur Dämmerung, um nicht erkannt zu wer<strong>den</strong>. Denn<br />

er mochte nicht von Kumpels angesprochen wer<strong>den</strong>, <strong>die</strong> ihm aus<br />

Mitleid e<strong>in</strong> Almosen anboten.<br />

Eben<strong>die</strong>s aber widerfuhr ihm. Im Augenblick empfand er<br />

das Hilfsangebot als Demütigung, doch im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> sol<strong>lt</strong>e<br />

er für <strong>die</strong> Fügung se<strong>in</strong>es Schicksals dankbar se<strong>in</strong>. Kurz vor dem<br />

Ortsausgang wurde Leo ausgerechnet von Siegfried Hauser aufgeha<strong>lt</strong>en.<br />

Vergeblich versuchte Leo dessen Frage „Woh<strong>in</strong> machst<br />

du dich aus dem Staub?“ zu ignorieren. Hauser aber ließ so lange<br />

nicht locker, bis Leo ihm stockend, mit niedergeschlagenen Augen<br />

e<strong>in</strong>gestehen musste, dass er versuchen wolle, als Knecht auf<br />

dem Land zum<strong>in</strong>dest dem Hunger zu entgehen.<br />

35


„Dat kommt nich <strong>in</strong> Frage!“, rief der Ä<strong>lt</strong>ere und packte <strong>den</strong><br />

Schamhaften am Rock. „Lass doch me<strong>in</strong>en zukünftigen Schwiegersohn<br />

nich e<strong>in</strong>fach ziehn …“<br />

Leos Widerspruch blieb vergebens. Hauser schleppte <strong>den</strong><br />

Widerborstigen ab und brachte ihn bei sich unter. Anna und ihre<br />

Mutter waren glücklich. Es fügte sich, wie es se<strong>in</strong> sol<strong>lt</strong>e, weil alle<br />

es so wol<strong>lt</strong>en. Zwei Monate später verban<strong>den</strong> sich Leo und Anna<br />

vor Gott, zum<strong>in</strong>dest unter der Obhut der katholischen Kirche.<br />

Um se<strong>in</strong>e geliebte Frau zu heiraten, willigte Bialo sogar e<strong>in</strong>, vor<br />

<strong>den</strong> Traua<strong>lt</strong>ar zu treten.<br />

<strong>Das</strong> junge Paar wohnte weiter bei <strong>den</strong> Schwiegere<strong>lt</strong>ern. Leo<br />

versuchte, sich im Hause nützlich zu machen. Er grub <strong>den</strong> Garten<br />

um, pflanzte Steckrüben und setzte <strong>den</strong> lä<strong>die</strong>rten Zaun <strong>in</strong>stand. Er<br />

baute e<strong>in</strong>en neuen Taubenschlag auf dem Dach. <strong>Das</strong> morsche Holz<br />

des a<strong>lt</strong>en Taubenhauses verbaute Leo oder hieb es kle<strong>in</strong> und nutzte<br />

es als Dünger. Auch <strong>in</strong> der Wohnung war der Hausmeister, wie ihn<br />

bald alle nannten, rastlos von früh bis spät tätig. Hier setzte er e<strong>in</strong>e<br />

neue Diele e<strong>in</strong>, dort strich er <strong>den</strong> Küchenschrank. Siegfried Hauser<br />

begriff, dass se<strong>in</strong> Schwiegersohn sich schämte, weil er ke<strong>in</strong>e Arbeit<br />

und ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen hatte. Also verstärkte er se<strong>in</strong>e Anstrengungen<br />

im <strong>Zechen</strong>büro, damit Leo wieder unter Tage durfte. Der Arbeitsdirektor<br />

lehnte zunächst brüsk ab.<br />

„Leopold Bialowons oder wie sich der Polacke sonst nennen<br />

mag“ sei e<strong>in</strong> „gewa<strong>lt</strong>tätiges Subjekt, e<strong>in</strong> übler Aufwiegler“ und so<br />

weiter. „E<strong>in</strong>e Beschäftigung vor Kohle kommt für <strong>die</strong>sen Kamera<strong>den</strong><br />

bei uns nicht <strong>in</strong> Betracht.“<br />

Bialo blieb nichts übrig, als erneut <strong>in</strong> der Kohlenwäsche anzuheuern.<br />

Leo murrte nicht. Hauptsache, er musste nicht länger<br />

unter <strong>den</strong> Weibern und K<strong>in</strong>dern herumsitzen, er hatte se<strong>in</strong>e Arbeit<br />

und e<strong>in</strong>en, wenn auch ger<strong>in</strong>gen, Lohn. Bereits nach wenigen<br />

Wochen durfte Leo wieder vor Kohle. Die Zeche brauchte<br />

erfahrene Hauer. Der Direktor ließ Bialo <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Büro kommen.<br />

36


Er musste strammstehen und versichern, sich fortan wie e<strong>in</strong> or<strong>den</strong>tlicher<br />

und diszipl<strong>in</strong>ierter deutscher Bergmann zu benehmen,<br />

„auch wenn Sie nur aus Polen kommen“. Und sich jeder Rebellion<br />

zu entha<strong>lt</strong>en. Leopold schmetterte e<strong>in</strong> markiges „Jawohl!“.<br />

Dabei stel<strong>lt</strong>e er sich vor, wie er dem Direktor se<strong>in</strong>e rechte Faust<br />

<strong>in</strong>s Gesicht drosch.<br />

37


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Noch vor dem Heulen der Sirene marschierte Leopold am <strong>Zechen</strong>tor<br />

auf und ab. In der umgeschnal<strong>lt</strong>en Tasche steckten Kaffeeflasche<br />

und Dubbeln, <strong>die</strong> Brote für <strong>die</strong> Pause. Hunderte Male<br />

war Leo bereits unter Tage gewesen, hatte dort umsichtig und<br />

gewissenhaft se<strong>in</strong>e Arbeit verrichtet. Doch heute war Leopold<br />

aufgewüh<strong>lt</strong>. Zum ersten Mal seit dem Streik durfte er wieder<br />

e<strong>in</strong>fahren. Allmählich trude<strong>lt</strong>en <strong>die</strong> Kumpels am <strong>Zechen</strong>tor e<strong>in</strong>.<br />

Bialo blickte <strong>in</strong> <strong>die</strong> vertrauten Gesichter und füh<strong>lt</strong>e, wie sich se<strong>in</strong><br />

Herz erwärmte. Müde sahen sie aus, <strong>die</strong> Kamera<strong>den</strong>, doch Leo<br />

wusste, dass sie hellwach waren, sobald es unter Tage g<strong>in</strong>g. „Na,<br />

A<strong>lt</strong>er“, sprach ihn Fritz Fuhrmann an, „dann wolln wir ma wieder,<br />

nä?“ Fritz hie<strong>lt</strong> Leo e<strong>in</strong> Stück Kautabak h<strong>in</strong>.<br />

Endlich öffnete sich das <strong>Zechen</strong>tor. 5.30 Uhr. Die Männer<br />

strömten h<strong>in</strong>durch, am Fenster des Steigers vorbei, und ho<strong>lt</strong>en<br />

an der Markenausgabe ihre kle<strong>in</strong>e Blechmarke ab, <strong>die</strong> aus Sicherheits-<br />

und Anwesenheitsgrün<strong>den</strong> ihre Nummer trug. Leopold<br />

hatte <strong>die</strong> 703. In der Kaue tauschten <strong>die</strong> Kumpels ihre Klamotten<br />

gegen <strong>die</strong> Knappenkluft. Drillichhose und -jacke, gestreiftes<br />

Hemd ohne Kragen darunter, Halstuch gegen <strong>den</strong> Staub, Speckdeckel,<br />

<strong>die</strong> Kappe. Die Hauer legten dazu ihr Arschleder an, <strong>den</strong><br />

Schutz bei sitzen<strong>den</strong> und rutschen<strong>den</strong> Arbeiten. Leo gr<strong>in</strong>ste, als<br />

38


ihm <strong>die</strong> a<strong>lt</strong>e Redeweise <strong>in</strong> <strong>den</strong> S<strong>in</strong>n kam: Nicht das Arschleder<br />

macht <strong>den</strong> Bergmann, sonst wären alle Kälber auch Bergleute!<br />

Ihre Zivilklamotten hängten <strong>die</strong> Kumpels an Haken, welche <strong>die</strong><br />

Nummern ihrer Blechmarke trugen. Fertig mit Umklei<strong>den</strong>, begleitet<br />

von <strong>den</strong> üblichen deftigen Scherzen und Hänseleien. Die<br />

Haken wur<strong>den</strong> an langen Ketten an <strong>die</strong> Decke gezogen. „Wie Gehenkte<br />

baumeln wir da“, hatte Fuhrmann e<strong>in</strong>mal gelästert. Leopold<br />

gefiel das nicht. „Eher wie Kasperfiguren an der Strippe …“<br />

Die Männer schoben sich zur Lampenstube. 703 – Leopolds<br />

Lampe. Reflexhaft prüften <strong>die</strong> Kumpels das Geleucht auf se<strong>in</strong>e<br />

Funktionstüchtigkeit – <strong>in</strong> der Schwärze der Nacht unter Tage<br />

konnte Licht Leben retten. E<strong>in</strong> eisiger W<strong>in</strong>dstoß riss Leo aus se<strong>in</strong>en<br />

Gedanken. An der Hängebank warteten schon <strong>die</strong> Fahrkörbe,<br />

um <strong>die</strong> Knappen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tiefe zu br<strong>in</strong>gen. Leo gab se<strong>in</strong>e Marke<br />

dem Hängebankmeister und stieg <strong>in</strong> <strong>den</strong> Korb. „Na, auch wieder<br />

re<strong>in</strong> <strong>in</strong>ne Fischkonserve?“, ulkte Moritz Szimaniak. Die Sätze, <strong>die</strong><br />

Etagen des Fahrkorbes, waren so niedrig, dass <strong>die</strong> Kumpels dar<strong>in</strong><br />

nur kauern konnten. Der Anschläger gab das Signal. Die Fahrt<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Bauch der Erde begann. Als der Korb mit zunehmender<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit nach unten sauste, schlug Leos Herz höher. Er<br />

war wieder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Berg.<br />

Am Füllort trennten sich <strong>die</strong> Wege der Kumpels: „Glück<br />

auf!“ Die Männer begaben sich auf <strong>den</strong> Weg zu ihren genau bezeichneten<br />

E<strong>in</strong>satzorten. E<strong>in</strong>ige marschierten zu Fuß, andere<br />

hockten sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Loren, <strong>die</strong> der Grubengaul zog. Glücklich atmete<br />

Leopold <strong>den</strong> kräftigen Geruch des Rosses Wotan e<strong>in</strong>. Als sie<br />

an ihrer Strecke angekommen und aus der Lore ausgestiegen waren,<br />

klopfte Leo verstohlen <strong>die</strong> Flanke des Gauls. Er me<strong>in</strong>te, e<strong>in</strong><br />

freudiges Wiehern zu hören. Vor Ort gab der Steiger se<strong>in</strong>e Anweisungen.<br />

Während der Schicht würde er <strong>die</strong> Arbeit der Hauer<br />

immer wieder kontrollieren, Ratschläge geben, Befehle erteilen<br />

und – wo es ihm angemessen schien – Strafen verhängen.<br />

39


Die feuchtwarme Luft <strong>in</strong> der Strecke schien Leopold wie der<br />

Hauch e<strong>in</strong>es Sommerw<strong>in</strong>des. Nach dem Bergamt, <strong>in</strong> welchem <strong>die</strong><br />

Kamera<strong>den</strong> <strong>die</strong> anstehende Arbeit besprachen, machte sich Leo<br />

ruhig und rout<strong>in</strong>iert ans Werk. Er konnte <strong>die</strong> Kohle riechen.<br />

Als es ans Buttern <strong>in</strong> der Schichtpause g<strong>in</strong>g, fluchte der<br />

Jüngste der Kameradschaft laut: „Da hat e<strong>in</strong> Saukopp me<strong>in</strong>e<br />

Dubbeln aufgefressen. Hier, auf der Gezähekiste haben sie gelegen…“,<br />

jammerte der Hungrige. „Du Döskopp – du musst sie<br />

oben <strong>in</strong> <strong>den</strong> Ausbau hängen. De<strong>in</strong> Saukopp war e<strong>in</strong> Mäusekopp<br />

… von <strong>den</strong>en wimme<strong>lt</strong> es hier unten. Die Katzen kommen gar<br />

nich so schnell nach, wie <strong>die</strong> de<strong>in</strong>e Bütterkes wegnagen.“ Gelächter<br />

und Spott – doch dann ließen <strong>die</strong> Kumpels <strong>den</strong> Geschädigten<br />

an ihrer Frühstückspause teilhaben.<br />

Leopold malochte wie besessen. Die Erleichterung, wieder<br />

vor Kohle zu se<strong>in</strong>, verlieh ihm Bärenkräfte. Und doppe<strong>lt</strong>es Glück.<br />

Die Strecke, <strong>die</strong> der Hauer Bialo heute erwischt hatte, war besonders<br />

ergiebig. Die Kohle prasse<strong>lt</strong>e h<strong>in</strong>ab.<br />

„Na, Leo, gib ihm Schmackes! Aber pass auf. Reiß nicht <strong>den</strong><br />

ganzen Berg e<strong>in</strong>“, mahnte Fuhrmann <strong>den</strong> Glücklichen.<br />

Schichtende. Die Kumpels machten sich auf <strong>den</strong> Weg zurück<br />

zum Füllort. Gesichter, Oberkörper, Arme und Hände waren<br />

pechschwarz. Nur das Weiß <strong>in</strong> <strong>den</strong> Augen der Bergleute leuchtete<br />

trotz ihrer Erschöpfung wie glühende Kohlen <strong>in</strong> der Nacht. Am<br />

Korb drückte ihnen e<strong>in</strong> Kollege – heute war’s nicht der Steiger, der<br />

vor Ort zu tun hatte, <strong>die</strong> Marke <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand: 703 – Leopold wusste,<br />

<strong>in</strong> welcher Reihenfolge <strong>die</strong> Kumpels <strong>den</strong> Fahrkorb zu betreten<br />

hatten. Signal – <strong>die</strong> Fahrt zurück zu Licht und Himmel begann.<br />

Eisig wehte <strong>die</strong> Luft auf der Hängebank <strong>die</strong> erschöpften<br />

Knappen an. Dazu tosender Lärm – <strong>die</strong> Kumpels der Spätschicht<br />

trampe<strong>lt</strong>en zum Fahrkorb. „Glück auf!“ Leopold gab se<strong>in</strong> Geleucht<br />

<strong>in</strong> der Lampenstube zurück. Er wol<strong>lt</strong>e rasch nach Hause,<br />

Anna von se<strong>in</strong>em Tag unter Tage berichten. Leo ei<strong>lt</strong>e <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

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Waschkaue, riss sich <strong>die</strong> schwarzen Klamotten vom Leib. Aus<br />

der Decke strömte e<strong>in</strong> Wasserstrahl. Leo nahm Seife und Bürste<br />

und schrubbte sich <strong>den</strong> Schweiß und <strong>den</strong> Staub aus <strong>den</strong> Poren.<br />

„Buckeln!“, forderte se<strong>in</strong> Nachbar und hie<strong>lt</strong> Leopold se<strong>in</strong>e Bürste<br />

h<strong>in</strong>. Leopold bearbeitete <strong>den</strong> Rücken vor ihm, bis er glänzte wie<br />

e<strong>in</strong>e Speckschwarte. Nun war Leo an der Reihe. Die kräftigen<br />

Bürstenstriche des Kamera<strong>den</strong> und dessen lose Scherze lösten<br />

<strong>die</strong> Muskeln im strapazierten Rücken und Nacken. Leo lachte.<br />

Er schnappte se<strong>in</strong>e Kluft, tauschte sie gegen <strong>die</strong> Al<strong>lt</strong>agsklamotten<br />

am Haken. Am E<strong>in</strong>gang gab er se<strong>in</strong>e Blechmarke zurück und trat<br />

aus dem <strong>Zechen</strong>gebäude. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen<br />

über se<strong>in</strong> Gesicht.<br />

Die vertraute Arbeit befreite Leopold von se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Anspannung, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> Unrast niedergeschlagen hatte. Er hörte<br />

damit auf, sich zu Hause ständig „nützlich machen“ zu wollen.<br />

Leopold gönnte se<strong>in</strong>e Freizeit Anna. Die Liebe ließ Anna aufblühen.<br />

Nicht nur deren Gefühle. Anna war, wie sich bald herausstel<strong>lt</strong>e,<br />

schwanger. E<strong>in</strong> knappes Jahr nach der Hochzeit wurde sie<br />

von e<strong>in</strong>em kräftigen Jungen entbun<strong>den</strong>. Der Kle<strong>in</strong>e befand sich <strong>in</strong><br />

Steißlage. Alle<strong>in</strong> der Erfahrung der Hebamme Gerti Friebe war<br />

es zu verdanken, dass Mutter und Sohn mit dem Leben davonkamen.<br />

Zunächst rang sie stun<strong>den</strong>lang darum, das K<strong>in</strong>d im Mutterleib<br />

zu drehen. „Ihre Tochter ist zu schmal gebaut“, klagte sie und<br />

wandte sich zu Clara Hauser, <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>sam mit ihren Töchtern<br />

der Geburtshelfer<strong>in</strong> beistand. Diese anatomische Besonderheit<br />

machte selbst nach der Drehung des Säugl<strong>in</strong>gs dessen Entb<strong>in</strong>dung<br />

zur Schwerstarbeit für <strong>die</strong> Hebamme, <strong>die</strong> nur durch <strong>den</strong> damals<br />

neuartigen Dammschnitt gelang. Bei <strong>die</strong>sem E<strong>in</strong>griff verlor Anna<br />

so viel Blut, dass sie e<strong>in</strong>en Kreislaufkollaps erlitt, von dem sie sich<br />

nur allmählich erho<strong>lt</strong>e. In <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Tagen besuchte Gerti<br />

Friebe ihre Wöchner<strong>in</strong> täglich zweimal. Sie wechse<strong>lt</strong>e dabei <strong>die</strong><br />

B<strong>in</strong><strong>den</strong> und achtete auf pe<strong>in</strong>liche Sauberkeit. „E<strong>in</strong> Stäubchen, e<strong>in</strong><br />

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Schmutzfleck, e<strong>in</strong> Keim auf <strong>den</strong> B<strong>in</strong><strong>den</strong>, oder wenn das Wasser<br />

nicht lange genug abgekocht ist, bedeuten Annas sicheren Tod.“<br />

Leopold Bialo war über <strong>die</strong> Gefährdung se<strong>in</strong>er Frau tief<br />

betroffen. Anna war der e<strong>in</strong>zige Mensch, <strong>den</strong> er vorbeha<strong>lt</strong>los<br />

liebte. Die Angst um sie wirkte nach, selbst als Anna wieder außer<br />

Lebensgefahr war und langsam wieder zu Kräften kam. Der<br />

Schrecken m<strong>in</strong>derte Leos Freude über <strong>die</strong> Geburt se<strong>in</strong>es ersten<br />

K<strong>in</strong>des. Als Trotzreaktion nannte er se<strong>in</strong>en Sohn Otto. Nach dem<br />

Eisernen Kanzler Bismarck. Bialo hasste <strong>den</strong> „Sozialistenfresser“<br />

von ganzem Herzen. Bismarck erzäh<strong>lt</strong>e was von Deutschlands<br />

Größe, von Blut und Eisen. Doch <strong>die</strong> Kumpels, <strong>die</strong> ihren Rücken<br />

krumm machen mussten, damit aus Eisen Stahl wer<strong>den</strong> konnte,<br />

waren dem Preußenschädel egal. <strong>Das</strong>s der Kaiser Bismarck entlassen<br />

hatte, erfül<strong>lt</strong>e Bialo wie fast alle Kumpels mit Genugtuung.<br />

Zuerst war es nur e<strong>in</strong> Gerücht. Es hieß, der Kanzler habe se<strong>in</strong>e<br />

Entlassung e<strong>in</strong>gereicht. Am 21. März 1890 stand es schwarz auf<br />

weiß <strong>in</strong> der Zeitung: Bismarck hatte se<strong>in</strong>e Entlassung erha<strong>lt</strong>en.<br />

<strong>Das</strong> Bürgertum war betroffen. Nicht nur <strong>in</strong> Deutschland, wo viele<br />

ihre Freiheitsideale für <strong>die</strong> lange ersehnte E<strong>in</strong>heit des Reiches<br />

preisgaben und Bismarck als <strong>den</strong> Vollender des Vaterlands priesen<br />

und verehrten. Die Forderung, e<strong>in</strong> gee<strong>in</strong>tes Deutschland<br />

sol<strong>lt</strong>e <strong>in</strong> Freiheit existieren, wie beispielsweise Großbritannien,<br />

stel<strong>lt</strong>en nur wenige. Selbst <strong>in</strong> England wurde Bismarck als unentbehrlicher<br />

Lenker des deutschen Staatsschiffs angesehen. So<br />

veröffentlichte <strong>die</strong> Londoner Zeitschrift „Punch“ nach Bismarcks<br />

Entlassung e<strong>in</strong>e Karikatur, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> neue Zukunftsangst vieler<br />

Deutscher anspie<strong>lt</strong>e: „Der Lotse verlässt das Schiff“.<br />

Leopold Bialo, <strong>die</strong> deutschen Arbeiter und speziell <strong>die</strong> Sozialdemokraten<br />

waren über <strong>den</strong> Abgang ihres unerbittlichen<br />

Gegners froh. Leos Freude kippte <strong>in</strong> Übermut um. Die Mahnungen<br />

Siegfried Hausers, se<strong>in</strong>e Versuche, dem Schwiegersohn<br />

<strong>die</strong> Schnapsidee auszure<strong>den</strong>, blieben vergeblich. Leo Bialo war<br />

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von se<strong>in</strong>em Entschluss, se<strong>in</strong> Söhnchen Otto zu nennen, nicht abzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Se<strong>in</strong>e Ehrwür<strong>den</strong>, Pfarrer Siegmund Bresser, der <strong>die</strong><br />

Taufe vollzog, missverstand <strong>die</strong> Namensgebung, wie aus se<strong>in</strong>er<br />

Predigt hervorg<strong>in</strong>g, als Zeichen des Respekts für <strong>den</strong> soeben <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> Ruhestand abgeschobenen Kanzler, was beim Vater und <strong>den</strong><br />

Männern der Familie Heiterkeit hervorrief. Nach wenigen Wochen,<br />

als Anna wiederhergestel<strong>lt</strong> war, versöhnte sich Leopold mit<br />

se<strong>in</strong>em Erstgeborenen und wurde ihm und später auch se<strong>in</strong>en<br />

Brüdern He<strong>in</strong>rich und Kurt e<strong>in</strong> treusorgender Vater.<br />

Kurz nach Ottos Geburt zog <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>e Familie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Zweizimmerwohnung<br />

der Zeche <strong>in</strong> der Brunnenstraße. Leopold war<br />

glücklich. Endlich war er Herr im eigenen Heim. Auch Anna genoss<br />

es, nicht mehr auf e<strong>in</strong>es ihrer zahlreichen Familienmitglieder<br />

Rücksicht nehmen zu müssen. Die andauern<strong>den</strong> Belehrungen der<br />

Mutter und der Schwestern, was ihren Umgang mit dem Säugl<strong>in</strong>g<br />

betraf, konnte sie ebenfalls nicht mehr hören.<br />

Der Wohnungswechsel setzte bei Leopold wie zuvor im<br />

Haus der Schwiegere<strong>lt</strong>ern neue Energie frei. Während se<strong>in</strong>e<br />

Kumpels e<strong>in</strong>en Teil ihrer Freizeit verschliefen oder versoffen,<br />

arbeitete Bialo an der Verbesserung und Verschönerung se<strong>in</strong>es<br />

Heims. Er schre<strong>in</strong>erte e<strong>in</strong>e perfekte Küche, zimmerte Möbel,<br />

schnitzte Spielzeug für Otto und legte e<strong>in</strong>en Gemüsegarten an.<br />

Was er anbaute, ge<strong>die</strong>h. <strong>Das</strong> konnte auch der Kohlestaub nicht<br />

verbergen, der sich auf Gurken, Kürbissen und Kohlblättern niederlegte.<br />

Anna musste <strong>die</strong> Ernte kräftig wässern und schrubben,<br />

bevor sie sie verarbeiten konnte.<br />

E<strong>in</strong>es Tages packte Leopold unter Tage auf dem Weg durch<br />

<strong>den</strong> Stollen e<strong>in</strong>e verwegene Idee, <strong>die</strong> er, wie es se<strong>in</strong>em Charakter<br />

entsprach, sogleich energisch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tat umsetzte. Leo hatte mitbekommen,<br />

dass <strong>die</strong> Kräfte des Grubengauls Wotan nachließen.<br />

Dies bedeutete, wie ihn Steiger Johann Pirow wissen ließ, dass<br />

man dem Gaul <strong>den</strong> Gna<strong>den</strong>schuss geben müsse, da das Tier durch<br />

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<strong>die</strong> Jahre unter Tage bl<strong>in</strong>d gewor<strong>den</strong> sei. „Oben ist das Biest zu<br />

nichts mehr nütze.“ Leopold, der <strong>den</strong> Gaul seit se<strong>in</strong>er ersten<br />

Grubene<strong>in</strong>fahrt kannte und dem <strong>die</strong> Kreatur ans Herz gewachsen<br />

war, beschloss, Wotan zu retten. Da es s<strong>in</strong>nlos war, selbst beim<br />

<strong>Zechen</strong>direktor vorzusprechen – Bialo kannte se<strong>in</strong>en unvermitte<strong>lt</strong><br />

aufwallen<strong>den</strong> Jähzorn – überredete er Pirow, <strong>den</strong> Grubenchef<br />

zu bitten, das Pferd aus dem Schacht wieder über Tage e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

Den Rest wol<strong>lt</strong>e Leo besorgen. So geschah es nach e<strong>in</strong>igem<br />

H<strong>in</strong> und Her. Der ehemalige Bauernjunge beruhigte das<br />

verschreckte Tier und brachte es zu sich nach Hause. Dort hatte<br />

er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke se<strong>in</strong>es Gartens e<strong>in</strong>en Stall gezimmert, <strong>in</strong> dem er<br />

Wotan unterbrachte. <strong>Das</strong> Pferd gewöhnte sich allmählich an se<strong>in</strong>e<br />

neue Umgebung. Anna hatte zunächst Angst vor dem kräftigen,<br />

schreckhaften Tier, vor allem wegen ihres kle<strong>in</strong>en Otto. Doch das<br />

K<strong>in</strong>d mochte <strong>den</strong> Gaul spontan, und so wuchs der Klepper bald<br />

auch der Mutter ans Herz. Auch für <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der der Nachbarschaft<br />

war „dat Hottemax“ e<strong>in</strong>e Attraktion, der sie mit Respekt<br />

und aufgeregter Neugier begegneten. Wotan fraß noch länger als<br />

e<strong>in</strong> Jahr se<strong>in</strong> Gna<strong>den</strong>brot. Als er starb, waren alle traurig.<br />

Doch für Niedergeschlagenheit blieb <strong>den</strong> Bialos wenig Zeit.<br />

Anna war wieder schwanger. He<strong>in</strong>richs Geburt im Frühjahr 1892<br />

war e<strong>in</strong>e arge Belastung für Annas Gesundheit und <strong>die</strong> Seelen ihrer<br />

Angehörigen. Vor allem Leopold hatte Angst um se<strong>in</strong>e Ehefrau<br />

und schwor sich, sie <strong>in</strong> Zukunft „zu schonen“. Die erneute<br />

kundige Hilfe der Hebamme Gerti Friebe und ihre wiederho<strong>lt</strong>en<br />

strengen Pflegeanweisungen an Clara Hauser und ihre Töchter<br />

Sophie und Helga zeigten jedoch Wirkung. Und so konnten <strong>die</strong><br />

Hauser-Damen schon nach zwei Wochen Anna mit Otto und<br />

dem Säugl<strong>in</strong>g He<strong>in</strong>rich <strong>in</strong> ihrem Heim <strong>in</strong> der Brunnenstraße unbesorgt<br />

zurücklassen.<br />

Leopolds Vorsatz, auf <strong>die</strong> Gesundheit se<strong>in</strong>er Frau fortan<br />

Rücksicht zu nehmen, blieb jedoch ohne Konsequenz, da er ke<strong>in</strong>e<br />

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Ahnung von Schwangerschaftsverhütung hatte. Auch Anna wusste<br />

wenig und war über<strong>die</strong>s als K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er prü<strong>den</strong> Zeit zu schamhaft,<br />

um sich mit ihrem Mann darüber auszusprechen. So liebten sich<br />

Anna und Leopold bald wieder ungeschützt. Dies hatte natürlich<br />

Folgen. Anna erwartete erneut Nachwuchs. Die Eheleute redeten<br />

sich e<strong>in</strong>, <strong>die</strong>ses Mal werde <strong>die</strong> Geburt leichter. Doch wenn sie alle<strong>in</strong>e<br />

war, wurde Anna oft von Angst gepackt. Sie ahnte, dass ihr <strong>die</strong><br />

Kraft feh<strong>lt</strong>e, nochmals e<strong>in</strong>e schwere Entb<strong>in</strong>dung zu überstehen.<br />

Annas Niederkunft mit Kurt endete be<strong>in</strong>ahe tödlich. Zunächst<br />

schien <strong>die</strong> Geburt ohne größere Komplikationen zu verlaufen.<br />

Der Säugl<strong>in</strong>g lag richtig: kopfüber. Doch se<strong>in</strong> Schädel war<br />

kräftig entwicke<strong>lt</strong>, zu breit für das bereits vorgeschädigte Unterleibsgewebe<br />

der Mutter. Als <strong>die</strong> Geburtshelfer<strong>in</strong> vorsichtig versuchte,<br />

<strong>die</strong> Öffnung zu erweitern, platzte e<strong>in</strong>e Schlagader. Gerti<br />

Friebe konnte das Blutgefäß nur kurzfristig abb<strong>in</strong><strong>den</strong>. Sogleich ließ<br />

sie Anna mit der Kutsche <strong>in</strong>s Marienhospital schaffen. Gerti Friebe<br />

kannte dort <strong>den</strong> Chirurgen Professor Anker. Der ließ unverzüglich<br />

<strong>die</strong> Ader von se<strong>in</strong>em Assistenten Dr. Hut schließen. Wie bei der<br />

Geburt Ottos erlitt Anna durch <strong>den</strong> hohen Blutverlust e<strong>in</strong>en Kreislaufzusammenbruch.<br />

Ihr Organismus war derartig mitgenommen,<br />

dass sie knapp vier Wochen <strong>in</strong> St. Marien bleiben musste. Leopold<br />

bezah<strong>lt</strong>e widerspruchslos <strong>die</strong> hohen Krankenhauskosten. Professor<br />

Anker rechnete ebenso wie se<strong>in</strong> Assistent privat ab.<br />

Bevor Anna das Hospital verließ, nahm Fräule<strong>in</strong> Friebe<br />

ihre Patient<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Gebet. Sie bestand darauf, dass <strong>die</strong> Eheleute<br />

fortan „<strong>die</strong> Schwangerschaft felsenfest mit Hilfe von Gummipräservativen<br />

verhüteten. Und sagen Sie das jetzt gleich auch Ihrem<br />

Mann, sonst hat’s nämlich ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n“, beschied <strong>die</strong> resolute<br />

Hebamme. Als Anna <strong>die</strong>s an Leopold weitergab, war er zunächst<br />

empört darüber, dass e<strong>in</strong>e Frau es wagte, ihn über se<strong>in</strong>e Schlafzimmergewohnheiten<br />

zu belehren. Doch gleichzeitig verstand er,<br />

dass er mithelfen musste, e<strong>in</strong>e weitere Schwangerschaft zu ver-<br />

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mei<strong>den</strong>, damit ihm se<strong>in</strong>e Anna erha<strong>lt</strong>en blieb. Dieser E<strong>in</strong>satz war<br />

wertvoller als alles andere, e<strong>in</strong>schließlich se<strong>in</strong>er „rechtschaffenen“<br />

Empörung und se<strong>in</strong>er männlichen Bequemlichkeit im Bett. Fortan<br />

befleißigte sich Leopold e<strong>in</strong>er sexuellen Diszipl<strong>in</strong>, <strong>die</strong> zu se<strong>in</strong>er<br />

Zeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schicht recht se<strong>lt</strong>en war. Die Liebe zu Anna war<br />

ihm allemal wichtiger als se<strong>in</strong>e ungezüge<strong>lt</strong>e Lei<strong>den</strong>schaft, <strong>die</strong> tödliche<br />

Folgen für Anna haben würde.<br />

Bialo konzentrierte sich auf Anna und <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der sowie auf<br />

se<strong>in</strong>en Beruf. Er war e<strong>in</strong> hervorragender Bergmann, darüber waren<br />

sich zum<strong>in</strong>dest <strong>die</strong> Kumpels e<strong>in</strong>ig. So war er, nachdem Alfred<br />

Forbel vorzeitig wegen e<strong>in</strong>er Staublunge aus dem Schacht gezogen<br />

wurde, zum Meisterhauer befördert wor<strong>den</strong>. Mit ihm an der<br />

Spitze und dem jungen Karol Jablonski als Oberhauer, <strong>den</strong> alle nur<br />

„Gimma Mottek“ wegen se<strong>in</strong>es phantasievollen Deutsch-Polnisch<br />

nannten, baute Leos Kameradschaft <strong>die</strong> meiste Kohle der Zeche<br />

ab und kassierte das höchste Ged<strong>in</strong>ge. Diese Leistung, se<strong>in</strong>e unbestrittene<br />

natürliche Intelligenz, der Respekt und <strong>die</strong> Sympathie,<br />

<strong>die</strong> ihm <strong>die</strong> Kumpels entgegenbrachten, prädest<strong>in</strong>ierten Bialo<br />

zum Steiger. Doch <strong>die</strong> <strong>Zechen</strong>direktion hatte Leos aktive Rolle<br />

beim großen Streik nicht vergessen. Man gab dem Meisterhauer<br />

zu verstehen, dass man ihm se<strong>in</strong>e Jugendsün<strong>den</strong> ablassen würde,<br />

falls er sich dafür entschuldige und verb<strong>in</strong>dlich versichere, derartige<br />

Untaten nie wieder auch nur <strong>in</strong> Erwägung zu ziehen. Leopold<br />

dachte nicht daran, auf <strong>die</strong>ses „großmütige“ Angebot e<strong>in</strong>zugehen:<br />

„Knecht war ich <strong>in</strong> Schlesien. Hier nicht. Ich krieche niemandem<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Arsch für e<strong>in</strong> paar Silberl<strong>in</strong>ge.“ Damit war das Gespräch<br />

mit dem Sekretär der <strong>Zechen</strong>verwa<strong>lt</strong>ung beendet. Ebenso wie<br />

Bialos Aufstieg zum Steiger – noch ehe er beg<strong>in</strong>nen konnte.<br />

1899 waren 13 Doppelhäuser, welche <strong>die</strong> Zeche Shamrock<br />

<strong>in</strong> der Hoheneickstraße hatte bauen lassen, bezugsfertig. Trotz<br />

des unerfreulichen Gesprächs <strong>in</strong> der <strong>Zechen</strong>verwa<strong>lt</strong>ung bekamen<br />

Leopold und se<strong>in</strong>e Familie e<strong>in</strong>e Haushälfte zugewiesen. „Auch<br />

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noch <strong>die</strong> Nummer e<strong>in</strong>s“, wie Anna stolz bemerkte. Die Familie<br />

zog wieder um. Otto fiel auf, dass „<strong>die</strong> Mauern ganz rot s<strong>in</strong>d.<br />

Nicht so schwarz wie überall sonst.“ Der Staub der Kohle war<br />

noch nicht <strong>in</strong> <strong>den</strong> neuen Backste<strong>in</strong> gedrungen.<br />

In se<strong>in</strong>er Freizeit nahm der Hauer Leopold Anna jegliches<br />

Schleppen ab. Er trug bei jeder Gelegenheit se<strong>in</strong>e Söhne und<br />

besorgte alle schweren E<strong>in</strong>käufe, auch wenn ihn se<strong>in</strong>e Kumpels<br />

als Pantoffelhel<strong>den</strong> verlachten. Zunächst stopfte er <strong>den</strong> Spöttern<br />

<strong>die</strong> Schnauze mit se<strong>in</strong>en Fäusten. Mit der Zeit aber wurde Bialo<br />

gelassener. Mochten <strong>die</strong> Lästerer sich ihre Mäuler zerreißen. Leopold<br />

wusste, dass er das Richtige tat. Er nahm bei Tag und bei<br />

Nacht Rücksicht auf se<strong>in</strong>e Frau. Anna spie<strong>lt</strong>e <strong>die</strong> entschei<strong>den</strong>de<br />

Rolle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben. Sie hatte dem e<strong>in</strong>st zornigen jungen Zuwanderer<br />

Geborgenheit gegeben und ihn zur gesetzten Persönlichkeit<br />

heranreifen lassen. Die Seelen der Eheleute kamen sich<br />

im Laufe der Jahre immer näher. Ihre Zufrie<strong>den</strong>heit spiege<strong>lt</strong>e sich<br />

<strong>in</strong> ihren Gesichtern.<br />

Beim Bauern kaufte Bialo kurz entschlossen e<strong>in</strong>e Kuh. Den<br />

Spott der Nachbarn, von <strong>den</strong>en manche sich e<strong>in</strong>e Ziege hie<strong>lt</strong>en,<br />

nahm Bialo nicht ernst. E<strong>in</strong>e Geiß war ungebärdig, fraß <strong>den</strong><br />

ganzen Garten kahl und gab nur mäßig Milch. Se<strong>in</strong>e Kuh Babette<br />

h<strong>in</strong>gegen war brav. Sie ließ sich mühelos <strong>in</strong> Wotans a<strong>lt</strong>em Stall<br />

ha<strong>lt</strong>en. <strong>Das</strong> notwendige Heu ho<strong>lt</strong>en Leopold und Otto alle zwei<br />

Wochen beim Bauern. Bette war, das hatte Leo mit Kennerblick<br />

gleich erkannt, e<strong>in</strong>e prächtige Milchkuh. Die Bialo-Jungen waren<br />

fortan ausreichend mit Milch versorgt. Auch <strong>die</strong> übrige immer<br />

größere Enkelschar von Clara und Siegfried Hauser wurde freigebig<br />

bedacht. Anna kümmerte sich zudem darum, dass schwächliche<br />

K<strong>in</strong>der aus der Nachbarschaft Milch bekamen. Sie weigerte<br />

sich, Geld dafür zu nehmen. Leo verstand <strong>die</strong> Großzügigkeit<br />

se<strong>in</strong>er Frau. <strong>Das</strong> Gerede über „<strong>den</strong> Kuhbauern“ verstummte. Als<br />

Bialo <strong>den</strong> Stall für Thor, se<strong>in</strong> nächstes ausrangiertes Grubenpferd<br />

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