»kebab connection«Das Konzept der Transkulturalität: Was ist neu?von Arata TakedaDie eigentlich fortschrittlich gemeinten Kon-zepte der Interkulturalität und der Multikul-turalität von heute speisen nach wie vor von dieser inzwischen überholten Vorstellung und können, trotz ihres Bemühens um ge-genseitige Toleranz und Konfliktvermeidung, gerade wegen ihres kugel-‐ bzw. inselartigen Kulturverständnisses <strong>zu</strong>r Segregation, Ghet-toisierung, Extremismus und Fundamenta-lismus führen. Das Konzept der Transkultu-ralität geht als Gegenkonzept da<strong>zu</strong> von der historischen wie gegenwärtigen Beobach-tung aus, dass Kulturen sich uneinheitlich und nach außen hin grenzüberschreitend sind. […] Eine rigorose Trennung zwischen Eigenem und Fremden besteht nicht mehr, sonder man findet eigenes im Fremden wie-der und vice versa. Es wird auf die Fähigkeit des Einzelnen ankommen, die individuelle Transkulturalität an<strong>zu</strong>nehmen, und sich so der gesellschaftlichen Transkulturalität <strong>zu</strong> stellen. Wenn wir diesen Paradigmenwechsel in der Theorienlandschaft und die damit verbun-denen praktischen Herausforderungen ernst nehmen, so sehen wir uns vor eine Reihe von neuen Erziehungsaufgaben gestellt: Zunächst sollte ein synergetisches Klima geschaffen und gefördert werden, in dem sowohl Lehr-personen als auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ihre persönlich gelebte Transkulturalität als Ressource <strong>zu</strong>m Erkunden und Entdecken von kollektiv wir-kender Transkulturalität einsetzen können. […] Schließlich darf die kritische Frage nicht ausbleiben, ob die Realität von Kulturen tat-sächlich so beschaffen ist, wie die Theoreti-ker der Transkulturalität uns nahe legen. Denn einiges lässt sich nicht leugnen: Es gibt Kulturen, in denen man sich wohl und Zu-hause fühlt, es gibt Kulturen, die man als anders und fremd empfindet, und es fällt einem nicht schwer, eindeutige Unterschiede zwischen der einen oder der anderen Kultur <strong>zu</strong> erkennen und <strong>zu</strong> benennen. Aber wir können noch einen Schritt weitergehen und hinterfragen, ob diese von uns so wahrge-nommene Realität nicht durch die wohlfeilen Konzepte, mit denen wir gedanklich operie-‐42ren, in unseren Köpfen produziert wird. Das heißt: Wenn wir in anderen Kategorien und nach anderen Maßstäben denken, wird sich auch die Realität, die wir emotional wie ko-gnitiv wahrnehmen, verändern. Vier »Rezepte« für eine transkulturellePädagogik: differenzieren, entschematisieren,historisieren, kontextualisierenDifferenzieren Das erste »Rezept« plädiert für einen kultur-sensiblen und <strong>zu</strong>gleich selbstkritischen Um-gang mit Andersheit und Fremdheit. Diffe-renzieren meint hier im ersten Schritt Diffe-renzieren in ihrem Entstehen und Bestehe-nannehmen und verstehen, ohne sie sogleich ästhetisch <strong>zu</strong> urteilen oder <strong>zu</strong> werten; es meint betrachten ohne <strong>zu</strong> polarisieren, ver-gleichen ohne <strong>zu</strong> hierarchisieren. […] Eine transkulturelle Pädagogik muss Schülerin-nen und Schülern Wege eröffnen, die kom-plexe Vielfalt von Kulturen <strong>zu</strong> erkunden, oh-ne Gegensätze oder Hierarchien her<strong>zu</strong>stel-len.Entschematisieren Von Schülerinnen und Schülern bikultureller Herkunft hört man oft, sie fühlten sich weder als das eine noch als das andere, sie seien ein Mittelding. Dies geschieht in besonderem Maße aufgrund der Konditionierung durch die Bilder, die ihre Kulturen typisiert darstel-len, und die Sprache, die sie »Halbdeutsche« oder »Halbtürken« nennt. Dadurch entsteht bei ihnen eine Tendenz, eine Trennung bzw. Spaltung zwischen Identitäten <strong>zu</strong> erleben oder sich unvollkommen vor<strong>zu</strong>kommen. […] Solange man Kulturen als statisch erstarrte Größen begreift, bietet sich einem als Identi-fikationsmodell nur ein entweder-‐ oder an, aber kein sowohl-‐ als-‐ auch, und umso höher steigt die Gefahr, in einem Weder-‐ Noch <strong>zu</strong> enden. […] Historisieren […] Das Denken in historischen Dimensionen ist ein befreiendes Gegenmittel gegen den modischen Zwang, alles Auffällige und Be-fremdliche <strong>zu</strong> kulturalisieren. Ein interessan-‐
»kebab connection«ter Unterrichtsstoff da<strong>zu</strong> wären z.B. Märchen und Sagen: Es stellt sich nicht selten heraus, dass ein populäres nationales Märchen dem entlegensten Winkel der Welt entsprungen ist und durch mehrere exotische Kulturkrei-se hindurch <strong>zu</strong> uns gefunden hat. Kontextualisieren […] Phänomene, die als allgemein kulturspe-zifisch gelten, müssen auf Kontexte hin be-fragt werden, in denen sie stehen und <strong>zu</strong>r Entfaltung gelangen. Es gibt Regionen auf der Welt, in denen besonders radikale religiöse, politische oder kriminelle Gruppierungen an<strong>zu</strong>treffen sind. Um die Probleme in ihrem Wesen <strong>zu</strong> erfassen, ist es wenig damit getan, sie mit dem Gestus der Distanz als Manifesta-tionen andersartiger Kulturen <strong>zu</strong> begreifen. Im Gegenteil: Wo sich der Schleier der Kultur legt, werden machtpolitische und sozioöko-nomische Elemente, die ebenfalls maßgeb-lich <strong>zu</strong>r Radikalisierung beitragen können, unsichtbar. Die Interessen der Potentaten, die Rolle der Geheimdienste, die Klima-‐ und Ressourcenkriege, der konzentrierte Reich-tum und die Massenarmut sind Faktoren, die im wahren Sinne kulturellen Formationen weniger Vorschub leisten als vielmehr im Wege stehen. Es gilt, offenkundig kulturali-‐sierte Denk-‐ und Handlungsmuster in ihren komplexen Zusammenhängen <strong>zu</strong> betrachten und in ihrer negativen Kulturbedingtheit <strong>zu</strong> relativieren. Die »Rezepte« sind insbesondere in den Schulfächern Deutsch, Geschichte und Reli-gion, aber auch in vielen anderen, kreativ und vielseitig anwendbar. […] Schülerinnen und Schüler sollen dabei Unterstüt<strong>zu</strong>ng er-halten, über kulturelle Rastersysteme hinaus transkulturelle Dimensionen <strong>zu</strong> entdecken. Da<strong>zu</strong> gehört vor allen Dingen ein vorsichti-ger Umgang mit tradierten sprachlichen Bil-dern: In der geläufigen Metaphorik, zwischen den Völkern »Brücken« <strong>zu</strong> schlagen oder die »Gräben« zwischen ihnen <strong>zu</strong><strong>zu</strong>schütten, wirkt die traditionelle Vorstellung von Kul-turen als Inseln weiterhin hartnäckig nach. […] Wir dürfen mit guter Hoffnung nach vor-ne blicken: Die »interkulturelle Kompetenz«, die Lehramtsstudierende seit neuem neben anderen Qualifikationen <strong>zu</strong> erwerben haben, könnte bald durch die »transkulturelle Über-gangsfähigkeit« abgelöst werden. aus: Arata Takeda, Transkulturalität im Schulunterricht in Beispielsammlung »Schule gestalten: Vielfalt nutzen!«, Stadt Stuttgart Reithmeier, Neumann43