Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (Viertes & Neuntes Buch)
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (Viertes & Neuntes Buch)
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40.<br />
Stelle dir stets die Welt als ein Geschöpf vor, das nur aus einer Materie und aus einem<br />
einzigen Geiste besteht. Sieh, wie alles der einen Empfindung derselben sich fügt; wie<br />
vermöge einheitlicher Triebkraft alles sich bildet, wie alles zu allen Ereignissen mitwirkt,<br />
alles mit allem Werdenden in begründetem Zusammenhang steht und von welcher Art die<br />
innige Verknüpfung und Wechselwirkung ist.<br />
41.<br />
»Ein Seelchen bist du, von einem Leichnam belastet,« sagt Epiktet.<br />
42.<br />
Es ist kein Übel für die Wesen, die Veränderung zu erleiden, wie es kein Gut für sie ist, kraft<br />
der Veränderung zu existieren. D. h.: Der Tod ist kein Übel und das Leben kein großes Gut.<br />
43.<br />
Die Zeit ist ein Fluß, ein ungestümer Strom, der alles fortreißt. Jegliches Ding, nachdem es<br />
kaum zum Vorschein gekommen, ist auch schon wieder fortgerissen, ein anderes wird<br />
herbeigetragen, aber auch das wird bald verschwinden.<br />
44.<br />
Alles, was geschieht, ist so gewöhnlich und bekannt wie die Rose im Frühling und die Frucht<br />
zur Erntezeit. Dahin gehören also auch Krankheit und Tod, Verleumdung und Nachstellung<br />
und was sonst noch die Toren erfreut oder betrübt.<br />
45.<br />
Das Folgende schließt sich jederzeit dem Vorangehenden verwandtschaftlich an. Es ist hier<br />
nicht etwa so wie bei einer Reihe von Zahlen, die im Zusammenhang einen andern Wert<br />
bezeichnen als jede einzelne; hier ist eine vernunftmäßige Verbindung; und gleich wie in<br />
allem, was schon existiert, eine vollkommene Zusammenfügung herrscht, so zeigt sich auch<br />
in dem, was noch geschieht, keine bloß äußerliche Aufeinanderfolge, sondern eine<br />
wunderbare Zusammengehörigkeit.<br />
46.<br />
Stets erinnere dich des Ausspruchs von Heraklit, daß es der Erde Tod sei, zu Wasser zu<br />
werden, des Wassers Tod, zu Luft zu werden, der Luft Tod, zu Feuer zu werden, und<br />
umgekehrt. D. h.: Nichts stirbt, sondern wird in etwas anderes verwandelt. Erinnere dich jenes<br />
Menschen, der es vergißt, wohin sein Weg führt, desgleichen wie wir mit der alles<br />
regierenden Vernunft, mit der wir doch täglich verkehren, uns im Zwiespalt befinden und wie<br />
uns selbst Dinge, die uns jeden Tag vorkommen, fremd erscheinen; ferner, daß wir nicht wie<br />
Schlafende handeln und reden dürfen, denn auch im Schlaf scheinen wir zu handeln und zu<br />
reden, und daß wir es endlich ebensowenig wie die verzogenen Kinder machen sollen, die nur<br />
den Grundsatz haben: So haben wir's von unsern Eltern gelernt.<br />
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