Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (Viertes & Neuntes Buch)
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (Viertes & Neuntes Buch)
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47.<br />
Gleichwie, wenn ein Gott dir sagte: »Du mußt morgen oder spätestens übermorgen sterben,«<br />
du wohl nicht so sehr darauf bestehen würdest, lieber übermorgen als morgen zu sterben,<br />
wofern du nicht etwa feige dächtest – denn wie kurz ist der Unterschied! – ebenso halte es für<br />
gleichgültig, ob du erst nach langen Jahren oder morgen schon stirbst.<br />
48.<br />
Erwäge beständig, wie viele Ärzte schon dahingestorben sind, die oft am Lager ihrer Kranken<br />
die Stirne in ernste Falten gelegt, und wie viele Astrologen, die wie etwas Wunderbares den<br />
Tod anderer vorausgesagt! Wie viele Philosophen, die über Tod und Unsterblichkeit ihre<br />
tausenderlei Gedanken ausgebrütet; wie viele Kriegshelden, die eine Menge Menschen<br />
getötet; wie viele Gewaltherrscher, die, gleich als wären sie selbst unsterblich, ihre Macht<br />
über fremdes Leben mit furchtbarem Übermute gemißbraucht haben! Wie viele Städte sind<br />
nach ihrem ganzen Umfang, daß ich so sage, gestorben, Helice Einst Stadt in Achaja, sank bei<br />
einem Erdbeben ins Meer. und Pompeji und Herkulanum und unzählige andere! Gehe nun<br />
auch der Reihe nach alle deine Bekannten durch! Der eine hat diesen, der andere jenen<br />
bestattet und ist bald selbst bestattet worden, und das alles in so kurzer Zeit! – Siehe denn also<br />
im ganzen genommen das Menschliche jeder Zeit als etwas Flüchtiges und Wertloses an! Was<br />
gestern noch im Keimen war, ist morgen schon einbalsamiertes Fleisch Bezieht sich auf den<br />
Gebrauch, die Toten einzubalsamieren oder zu verbrennen. oder ein Haufen Asche. Durchlebe<br />
demnach diesen Augenblick von Zeit der Natur gemäß, dann scheide heiter von hinnen, gleich<br />
der gereiften Olive: Sie fällt ab, die Erde, ihre Erzeugerin, preisend und voll Dank gegen den<br />
Baum, der sie hervorgebracht hat.<br />
49.<br />
Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen: Er steht fest und dämpft die Wut<br />
der ihn umbrausenden Wogen. Ich Unglückseliger, sagt jemand, daß mir dieses oder jenes<br />
widerfahren mußte! Nicht doch! sondern sprich: Wie glücklich bin ich, daß ich trotz diesem<br />
Schicksal kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt noch von der Zukunft<br />
geängstigt! Dasselbe hätte ja jedem andern so gut wie mir begegnen können, aber nicht jeder<br />
hätte es ohne Kummer ertragen können. Warum wäre nun jenes eher ein Unglück als dieses<br />
ein Glück? Kann man das überhaupt ein Unglück nennen, was den Endzweck der Natur des<br />
Menschen nicht unerfüllt läßt, oder scheint dir etwas der Natur des Menschen zu<br />
widersprechen, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Was ist aber dieser Wille? Du<br />
kennst ihn. Hindert dich denn das, was dir zustößt, gerecht, hochherzig, besonnen, verständig,<br />
vorsichtig im Urteil, truglos, bescheiden, freimütig zu sein, alle Eigenschaften zu haben, in<br />
deren Besitz die Eigentümlichkeit der Menschennatur besteht? Denke also daran, bei allem,<br />
was dir Traurigkeit verursachen könnte, bei dieser Wahrheit Zuflucht zu suchen: Dies ist kein<br />
Unglück, Nicht der Tod ist ein Unglück, sondern die Furcht vor dem Tode. vielmehr ein<br />
Glück, es mit edlem Mute zu ertragen.<br />
50.<br />
Es ist ein gewöhnliches, aber wirksames Hilfsmittel zur Todesverachtung, sich diejenigen zu<br />
vergegenwärtigen, die mit Zähigkeit am Leben hingen. Was haben sie vor denen, die früher<br />
verstorben sind, voraus? Sie sind auch unterlegen: Cadicianus, Fabius, Julianus, Lepidus<br />
Männer, die ein hohes Alter erreichten. und alle, die viele zur Bestattung hinausgetragen<br />
haben und dann selbst hinausgetragen worden sind. Ja, da ist wenig Unterschied, und unter<br />
wie vielen Mühseligkeiten und in welcher Gesellschaft und in was für einem Körper mußten<br />
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