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PDF (1,8 MB) - kunst verlassen

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Kunst & InterkontextualitätMaterialien zum Symposium schau-vogel-schauHerausgegeben von Marcel Bühler und Alexander KochSalon Verlag


Die Deutsche Bibliothek - CIP-EinheitsaufnahmeKunst & Interkontextualität:Materialien zum Symposium schau-vogel-schau /mit Beitr. von Jean-Christophe Ammann …Hrsg. von Marcel Bühler und Alexander Koch. – Köln :Salon-Verl., 2001ISBN 3-89770-119-7© 2001 Kunstverein ]postvacuum[ Leipzig e. V.Alle Rechte an den Texten liegen bei den AutorenEine Publikation des Kunstvereins ]postvacuum[ Leipzig e. V.im Salon Verlag, Köln (www.salon-verlag.de)Herausgegeben von Marcel Bühler und Alexander KochLayout und Satz: Claudia HeckelDruck: Messedruck Leipzig GmbHVerarbeitung: Kunst- und Verlagsbuchbinderei Leipzig GmbH


InhaltM A R C E L B Ü H L E R / A L E X A N D E R K O C H . . . . . . . . . . . . . . . . 009VorwortA L E X A N D E R K O C H . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 019In den Falten der KunstEröffnungsredeH A N S D I E T E R H U B E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 029Interkontextualität und künstlerische KompetenzPlamen Dejanov und Swetlana HegerD I E T M A R K A M P E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 049Kunst jenseits der KompetenzErste Podiumsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 056mit Stephan Schmidt-Wulffen,Hans Dieter Huber und Dietmar KamperB E T T I N A A L L A M O D A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 071Architec-Skulptur or Urban LandartJ E A N - C H R I S T O P H E A M M A N N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 097Der 6. Kondratieff und die KunstH O R S T P R E H N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113Zwischen Empfindung und BedeutungS T E P H A N S C H M I D T- W U L F F E N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163Einführende Zusammenfassung des erstenSymposiumstages


InhaltC H R I S T I N E E I C H E L . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173Vom Flaschentrockner zur Imbißbude –künstlerische Strategien in der Ornamentalen KulturO L A F N I C O L A I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Gläserne Räume (Eine Skizze)Zweite Podiumsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210mit Stephan Schmidt-Wulffen,Olaf Nicolai und Christine EichelC H R I S T I A N J A N E C K E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225Service-Kunst.Nutzungsangebote in Projekten der Gegenwarts<strong>kunst</strong>zwischen Bild und VorgeblichkeitK N O W B O T I C R E S E A R C H ( K R + c F ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Für eine künstlerische Praxis mit MedienMaterial aus Kollaborationen zwischen Hans Ulrich Reck,Siegfried Zielinski und Knowbotic ResearchSchlußpodiumsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322mit Stephan Schmidt-Wulffen, Christian Janecke,Christian Hübler und Olaf NicolaiM A R C E L B Ü H L E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341SelbstkonstruktionEin utopischer VersuchAnhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364


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AnmerkungenH O R S T P R E H NZwischen Empfindung und BedeutungRezeption der Gestaltung – Gestaltung der RezeptionEin Versuch der künstlerischen und wissenschaftlichenSondierung einer Empirischen Ästhetik„schau–vogel–schau“ Was schaut er? Aus welcher Position schauter gerade? Welches Bild der Welt sieht der Vogel aus der Sichtständig wechselnder Beobachtung?Damit stellen wir fundamentale Fragen an den Beobachterund seine Wahrnehmung, und so werde ich erst einmal damitbeginnen, einige der verschiedenen Weltsichten unseres Vogels,also das Thema der Wahrnehmung unseres Vogels, zu betrachten.Der physikalische BlickIn unserem elementaren und „physikozentrischen Weltbild“stellen wir uns zunächst einmal unseren Vogel als reinen „physikalischenBeobachter“ vor und zwar einen objektiv messendenPhysikalischen Vogel!Im Laufe dieses Jahrhunderts hat sich sein physikalischesWeltbild dramatisch verändert und alle diese Paradigmenwechselhaben die Weltsicht unseres Vogels erheblich relativiert.Ich will diese Kränkungen des Physikalischen Weltbildes ersteinmal kurz zusammenfassen und dann einige Konsequenzen hierausziehen.Wie Sie in der Abbildung auf Seite 114 sehen, begann dieerste Kränkung der Physik mit der Einführung der RelativitätsTheorie, und diese stellt sich als die erste Relativierung dar, dennhierbei wurde die Absolutheit von Raum und Zeit aufgegeben.Mit der Quantenmechanik wird nun auch der objektive Charakterder Welt relativiert und zwar durch Einführung eines113


AnmerkungenHorst PrehnDas Realitätsproblemoder die Kränkungen des Physikalischen Weltbildes1. Kränkung: Relativitätstheorie RT■ Relativierung ➜ Absolutheit von Raum und Zeitwird aufgegeben➜ „Transformationsdilemma“2. Kränkung Quantentheorie QM■ Einführung des ➜ objektiver Charakter der Welt wird relativiertBeobachters➜ Beobachterabhängigkeit der Welt„Unschärfedilemma“1143. Kränkung Chaostheorie NLD■ Begrenzte ➜ Absoluter Determinismus wird aufgegebenVorhersagbarkeit■ zwei Gesichterder Natur➜ „Komplexitätsdilemma“4. Kränkung Endophysik■ zwei unterschied- ➜ Externer objektiver Beobachter wirdliche Beobachteraufgegeben■ Selbstreferentialität ➜ „Schnittstellendilemma“


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenBeobachters. Damit wird die Welt beobachterabhängig und wirlanden im Unschärfe-Dilemma!Vom Schwindel der Chaos Theorie erfaßt, vollzieht sich diedritte Kränkung in der Aufgabe des „Deterministischen Weltbildes“.Die Kausalität beginnt bisweilen zu zerreißen, und eserscheinen nunmehr zwei unterschiedliche Gesichter der Natur.Die Zukunft wird damit prinzipiell unvorhersagbar, und unserphysikalischer Vogel landet im Komplexitäts Dilemma!Auch der „Göttliche Blick“, nämlich die Annahme einesexternen objektiven ultimativen Beobachters, wird nun durch dieEndophysik relativiert.Das bedeutet, der Vogel muß sich nunmehr als ein Teil derWelt begreifen, und aus dieser „Endo-Sicht“ sieht die Welt ebenanders aus, als die Welt von außen. Aber diese externe, objektiveSicht ist dem Vogel verwehrt. Unser Vogel beginnt nun, dieWelt als Schnittstelle zu erkunden. Das Gesicht der Welt ist dasInterface!Ich weiß nicht, welche Kränkungen der physikalischen Weltsichtnoch bevorstehen, aber eins läßt sich nach unserem kurzenVogelflug über die „Physikalische Welt“ bereits ausmachen: Verkürztund auf einen einfachen Nenner gebracht, bedeutet dies:Nun wird auch noch die Welt der Physik relativiert! Aber dieswar sie in der Phantasie und in der Kunst schon immer! DennKünstler ersannen immer Mittel zur Erzeugung der Illusion,getragen von dem Wunsch, die räumlich-zeitlichen Grenzen zuüberschreiten. Nun erzeugen wir computergestützte „VirtuelleRealitäten“, welche einerseits den Versuch eines Ausstieges ausder Wirklichkeit markieren. Andererseits vermitteln sie uns aberauch einen erneuten und unterschiedlichen Einstieg.Mit der Beobachterabhängigkeit wird die Welt nun subjektiverund unbestimmbarer, und prinzipielle Unvollständigkeit115


AnmerkungenHorst Prehn116und Ununterscheidbarkeit markieren die neuen Grenzen unseresZugangs zur Welt. Auch die Bilderwelten der Künste als beobachtererzeugteRealitäten brachten schon immer den Beobachterimplizit oder auch explizit ins Bild. Und wenn ein Maler alsErzeuger seines Bildes selbst zu einem Teil seines Bildes wird,dann können wir dies heute entweder als Metapher der Selbstreferentialitätdeuten oder einfach als Ausdruck einer künstlerischenund menschlichen Sehnsucht, diese Grenzen zu spürenund zu versuchen, diese schrittweise zu erweitern.Was nun die Wirkungen des physikalischen Vogelflugs auf dieWelt angeht, als auch die Vorhersagbarkeit der Flugbahn unseresphysikalischen Vogels, erscheinen aus der theoretischen Sichtder „Nichtlinearen Dynamik“ – in der Alltagssprache als „ChaosTheorie“ bezeichnet – nunmehr zwei ganz unterschiedlicheGesichter der Natur. Die Welt erweist sich nun als ambivalent.Einerseits erscheint sie uns stabil, berechenbar und vorhersagbar.Somit verlaufen die vollständig determinierten Routen unseresphysikalischen Vogels im Blindflug ganz nach Plan. Schließlichvertrauen auch wir dem großen technischen Vogel sogar unserLeben an! Wir <strong>verlassen</strong> uns auf die Zuverlässigkeit, Stabilität undKausalität der technisch domestizierten Natur.Doch manchmal, unter bestimmten Bedingungen, kann esganz anders kommen. Plötzlich erscheint das „andere Gesicht“der Natur! Sie zeigt sich instabil, nur in Grenzen vorhersagbarund extrem sensibilisiert. Als launisch, unberechenbar und mimosenhaftempfindlich könnte man aus anthropomorpher Sicht indiesem Fall die Natur bezeichnen. Vom Schwindel des DeterministischenChaos wird nun auch unser Vogel erfaßt!In welchem Zustand sich die Natur und der Vogel geradebefinden, können wir einerseits anhand seiner Flugbahn undandererseits anhand seines Zustandes und seines Verhaltens ablesen.


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenIn dieser Welt der strukturellen und dynamischen Komplexitäterscheint uns nun auch „das Schöne“ als Grenzziehung zwischenOrdnung und Chaos und markiert somit ein über die räumlich-zeitlichenBeschränkungen hinausgehendes Territorium derÄsthetik.Auf unserem Weg zu einer „Empirischen Ästhetik“ werdenwir dann auch noch bestimmten generativen Prozessen begegnen,welche aus einfachen Elementen und Regeln Komplexität erzeugenkönnen, aber auch den besonderen Strategien des Geistes undder Wahrnehmung, welche geeignet sind, die Komplexität zu reduzieren.Schließlich beobachtet unser in der Endo-Welt gefangenerVogel sich selbst, als Beobachter, und er stellt erstaunt fest, daßer weder die Welt noch sich selbst beobachtet, sondern nur dieSchnittstelle zwischen sich und der Welt. Damit wird die Schnittstelleselbst zur einzigen Realität!Mit Hilfe von Medientechniken haben Menschen immer wiederversucht, diese Schnittstelle zu erweitern und erzeugen sichsomit neue virtuelle Realitäten.Unser Vogel befindet sich indes in einem Flug-Simulator, under merkt es nicht einmal, denn Simulation und Wirklichkeit sinddurch die Interaktivität zwischen Beobachtung und Erscheinungnun ununterscheidbar. Die künstlich erzeugten Bildwelten sindsomit Ausdruck unseres Weltbildes, und nun haben auch nochdie Weltbilder das Fliegen gelernt!Also werden wir sehen, auf welche Weise es uns gelingenkann, durch Schaffung neuer Schnittstellen verschiedene Formenvon Realitäten zu erzeugen. Darin werden wir nun auch physischmit unserem Körper eintauchen, um zu erleben und zu empfinden,welche neuen Bedeutungen dabei entstehen können. Diehierbei gemachten Erfahrungen könnten unsere Erkenntnisse und117


AnmerkungenHorst Prehn118unser Bewußtsein erweitern und uns den Weg weisen, zu einerneuen (oder uralten?) Bewußtseinskultur. Ich werde später zeigen,wie wir solche interaktive „Interface-Vehikel“ auch dazu gebrauchenkönnen, Bedingungen herzustellen, um damit ganz spezifischeästhetische Erfahrungen zu machen und somit auch derenkünstlerische Relevanz exemplarisch darstellen.Welches sind nun die Konsequenzen nach dem Überfliegender Modell-Welt der Physik? Dies geschah – zugegebenermaßen– aus sehr großem Abstand und auch innerhalb der sehrkurzen, hier verfügbaren Zeit. Doch schon aufgrund dieser rechtoberflächlichen Betrachtung, unter Verzicht auf wissenschaftlichePräzision, wird unsere Aufmerksamkeit nicht mehr, wiegewohnt, nur auf die Objekte und die Erscheinungen selbst, sondernvielmehr auf die verschiedenen Rollen eines oder mehrererunterschiedlicher Beobachter gerichtet. Damit wird die Wahrnehmungselbst zu einem Erkenntnisorgan, und die unterschiedlichenKonzepte der Wahrnehmung werden somit zum Erkenntnisprinzip!In Bezug auf den Gesichtssinn hat Maturana einmal gesagt:„Man sieht mit den Beinen!“ Unter Alltags-Zeitgenossen könntedieser Satz vielleicht Unverständnis hervorrufen. Da wir ja offensichtlichdoch mit unseren Augen zu sehen pflegen, sollte manannehmen, daß Maturana damit vielleicht etwas anderes gemeinthaben könnte. Gewöhnlich halten wir das Sehen ausschließlich füreinen rein sensorischen Prozeß. Schon der Begriff „Wahr-nehmung”verweist ja gerade auf einen passiven Erkenntnis-Vorgang.Maturanas Satz zielt jedoch darauf ab, daß das Sehen nicht nureine passive sensorische, sondern ebenso eine aktive motorischeLeistung darstellt. Der Wechsel der Position des Beobachters, dieBewegung spielt in diesem „Sensomotorischen Prozeß“ eine entscheidendeRolle. Programmatisch soll dies gerade auch für diesesSymposium gelten. Unser Vogel soll schnell die Positionen


AnmerkungenHorst Prehn120 Wir allebesitzen ganzspezifische Aufmerksamkeiten,Vorurteileund Begrenztheiten. Frage: Wer istder Beobachter? Was ist Mode?Ein Zusammenhang, des in diesem Fall im Rauschen verborgenenMusters, wird dadurch erkannt, daß nur die Teile desMusters gleichzeitig und auf gleiche Weise bewegt werden. Allezum Muster gehörenden Teile haben somit eine gemeinsame„bewegte Geschichte”!Wenn Sie dieses sensomotorische Spiel weiterspielen wollen,dann „erfahren“ Sie auf exemplarische, intuitive und sinnlicheWeise dabei ein weiteres Prinzip der neuronalen Mustererkennung,nämlich die Wahrnehmung von Strukturen und ihre Unterscheidungvom Hintergrund. Dabei können Sie den Wahrnehmungsprozeßsowohl subjektiv und individuell aber auch, als einkollektives System, interindividuell betrachten.Auf unser Symposium angewendet bedeutet dies: „All of ushave something in common, so we join together.“ Also schaut–vögel–schaut!Ich glaube, jede hier vertretene „Vogelart“, aus verschiedenenwissenschaftlichen Disziplinen oder Kunstgattungen, schautbereits mit ihrer ganz spezifischen Sichtweise, Präferenz und Voreingenommenheitauf die überaus komplexen, vielfach überlagertenund undurchschaubaren Denkmuster und Vorstellungen.Was geschieht nun? Nach dem hier zugrundeliegenden „neuronalenNetzwerk-Modell“ der Mustererkennung würden sichnun alle diejenigen zusammengruppieren, welche etwas miteinandergemein haben, z. B. diejenigen, welche sich mit dem gleichenObjekt befassen oder mit dem Gegenstand ihrer gemeinsamenInteressen oder Vorlieben. Diejenigen Teilnehmer mit gleicher Präferenz kommunizierennun miteinander und ermutigen sich gegenseitig, d. h. sie verstärkensomit diejenigen Verbindungen, welche das Muster enkodierenund heben sich damit von den anderen ab. Damit tretensie aus dem Hintergrund hervor und können somit wahrgenommenwerden. Durch die vielfältigen Interaktionen und inter-


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenkontextuellen Verknüpfungen sollte dann schon im Verlauf desSymposiums das eine oder andere Sinn-Muster erscheinen! Ichbin weiterhin voll gespannter Erwartung! Vielleicht lesen Sie beimweiteren Spiel mit den Folien auch die hierbei implizierte Bedeutungder Bedingung zeitlich kohärenter Aktivität heraus? Nachdiesem Prinzip können ganz bestimmte Muster des Denkens oderder Imagination aus der grenzenlosen Vielfalt der Vorstellungen,Sichtweisen, Meinungen und Erkenntnisse hervortreten!Doch zurück zu unserem Vogel: schau–vogel–schau!Ich möchte nun die Wahrnehmung unseres Vogels bei seinensensomotorischen Flugmanövern aus verschiedenen wissenschaftlichenSichtweisen betrachten und zwar durch die jeweiligenBrillen verschiedener wissenschaftlicher Modelle. Leider kannuns die wissenschaftliche Beobachtung keine unmittelbare Erkenntnisvermitteln. Wissenschaft vermag uns also nicht zu sagen,wie etwas wirklich ist, sondern lediglich, wie etwas sein könnte.Sie vermag uns auch nicht zu sagen, was im ästhetischen Sinne„schön“ und im moralischen Sinne „gut“ ist. Aber sie liefertuns immerhin mehr oder weniger brauchbare Modelle der Weltund damit müssen wir uns abfinden!Wie ein Vogel fliegen zu können, d. h. die Freiheitsgrade derBewegung (Motorik) und die Möglichkeiten, aus jeder beliebigenräumlichen und mentalen Position zu schauen und das lustvollesensomotorische Erleben dabei war schon immer ein Traum derbodenverhafteten menschlichen Gattung. Wie wir diesen Traumschrittweise verwirklicht haben und wie wir, aufgrund wissenschaftlicherErkenntnisse und mittels technischer Apparate, dieGrenzen erweitert haben, möchte ich nun darstellen.Dabei werde ich ganz vordergründig schildern, welche Stadiendie wissenschaftlich-technische Entwicklung am Beispiel desFliegens genommen hat. Meine hintergründige Absicht dabei istaber, daß Sie dies auch exemplarisch auffassen sollten!Was ist Zeitgeist? epistemologischesProblem:sie kann unsauch nicht sagen,was wahr ist,vielleicht nur, waswahr sein könnte.121


AnmerkungenHorst Prehn122 Selbstreferentialitäts-ProblemIm Hintergrund, oder meinetwegen auch parallel dazu, könnenSie dann Ihre eigenen Zusammenhänge knüpfen. Bei Ihreneigenen mentalen Flugmanövern denken Sie jeweils paralleldazu in Ihrem ganz spezifischen wissenschaftlichen oder künstlerischenKontext.Inzwischen verstehen wir jedoch viel mehr vom „Fliegen“als vom „Schauen“, denn die Leichtigkeit, mit der wir schauen,täuscht uns über die Schwierigkeit, das „Schauen“ zu verstehen.Auch unser natürlicher Vogel hat ein unüberwindliches Problemmit der Transparenz. Seine Wahrnehmung scheitert immerwieder bei transparenten Objekten und dies mit schwerwiegendenKonsequenzen. Der Vogelflug endet jäh bei der Kollision miteiner Glasscheibe! Denn diese soliden und zugleich transparentenmenschlichen Artefakte kommen ja in der natürlichen Weltdes Vogels nicht vor, und kein Vogel der Welt war bisher in derLage, aus seinen Erfahrungen zu lernen, um dann sein Weltbildzu korrigieren. Aufgrund dieser Einsicht bringen Menschen, fürsorglichfür Vögel, Warnzeichen an ihren tückischen gläsernenArtefakten an, und sie tun dies in Form eines symbolischen „Feind-Bildes“ des Vogels. Ist es nun ein purer Zufall oder nicht, daßdie Veranstalter für dieses Symposium das gleiche symbolischeZeichen verwendet haben? Das Motto lautet: schau-vogel-schau,und es ist aber zugleich mit einer Warnung versehen! Denn dasverwendete Symbol warnt uns vor der Transparenz, vor dem allzuSelbstverständlichen und Offensichtlichen!Hinzu kommt, daß auch unsere Selbst-Beobachtung durchgehendmit einem automatischen Selbst-Verständnis behaftet


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenist, denn unser „Sehen“, „Hören“, „Fühlen“ ist für uns selbst,im semantischen Sinne, transparent. Deshalb meinen wir es auchbei unserer Wahrnehmung direkt mit dem Repräsentandum zutun zu haben. Der Traum vom FliegenJede wissenschaftliche Entwicklung beginnt zunächst mit derBeobachtung und Analyse der Phänomene. Ich möchte dies einmalals das „Phänomenologische Stadium“ bezeichnen. In diesemFall begann man zunächst damit, Vögel zu beobachten und studiertedie verschiedenen Federn. Doch selbst durch das akribischeStudium der Federn war ein Verständnis vom Fliegen nichtzu erlangen.Deshalb schloss sich nach dem phänomenologischen Blickein zweites Stadium an, welches ich einmal als „Mimikry Stadium“(Mimesis) bezeichnen möchte. In diesem Fall imitierte man denVogelflug, baute sich Flügel und versuchte, auf die gleiche Weisezu fliegen – doch leider mit vielen Abstürzen! Erst das dritte Stadium, das Stadium der Verallgemeinerung– ich möchte dieses einmal als „Theoretisches Stadium“ bezeichnen –brachte den entscheidenden Fortschritt und zwar durch Modellbildung!In diesem Fall wären dies die Modelle der Aerodynamik.Damit wird nunmehr das Prinzip des Fliegens modelliertund nachgeahmt und nicht mehr das Fliegen selbst. Nun konnte man aus theoretischer Sicht erklären, worin sichdie Flugprinzipien eines Vogels, eines Airbusses, einer Mückeoder Helikopters ähneln oder unterscheiden.Und schließlich im vierten Stadium, ich nenne es das „Simulations-Stadium“,versuchte man die verschiedenen Theorien undModelle mit den spezifischen Bedingungen des Fliegens zu korrellieren.Erst jetzt konnte man neue technische Flugapparate bauen,um die Besonderheiten vieler fliegender Spezies verstehen. Von der griechischenAntike bis heutehaben es die Vogelmenschenimmermal wieder ver-123sucht! Die allgemeinenPrinzipien desSchauens und andererWahrnehmungsartenwären nun ausder Sicht verschiedenerModellezu untersuchen. Sowohl dieErscheinungen alsauch die Funktionalitätder technischenArtefakte unterscheidensich von den


AnmerkungenHorst Prehnnatürlichen Vorbildern,aber beide unterliegenden gleichenGesetzen.124 AchtungWarnsignalleuchtet auf: SemantischeTransparenz! ImmersionsBedingung aber nur bei kon-Mit dem fünften Stadium, welches ich als „Interaktions-Stadium“bezeichnen möchte, werden nun verschiedene Schnittstellenkonzipiert, in unserem Fall „Mensch-Maschine-Schnittstellen“,welche als interaktive Sensomotorische Interfaces technisch realisiertwerden können. Nun inszeniert man verschiedene Prozesse,d. h. man unternimmt einen Flug und wird somit zum Bestandteilder technischen Artefakte, in diesem Fall eines Flugapparates.Mit Hilfe des Apparates und seiner Schnittstelle kann manentweder wirklich durch die Lüfte fliegen oder man simuliert inEchtzeit den Prozeß in einem Flugsimulator.Doch der Traum vom Fliegen bleibt bei kritischer Betrachtungimmer noch eine Illusion und wird es auch immer bleiben.Wir sagen zwar in illusionärer Verkennung „ich fliege“, aberim Cockpit unseres interaktiven sensomotorischen Interfacesteuern wir nur das Flug-Manöver unseres Apparates. Wir interagieren,beobachten und erleben dabei sogar, wie schön es ist,wie ein Vogel durch die Lüfte zu fliegen und tun dies mit Hilfeder Erweiterung der sensomotorischen Möglichkeiten unseresKörpers, durch Mensch-Maschine-Interaktion. Die zentraleAufgabe in diesem Stadium besteht somit darin, geeignete hybridesensomotorische Schnittstellen für ganz unterschiedlicheAnwendungen und für verschiedene Formen der Interaktivität zuentwickeln (z. B. Bewegungsinteraktivität, Verhaltensinteraktivität,Physiologische Interaktivität usw.). Durch die Operationalisierungder Mensch-Maschine-Interaktion wird der Menschselbst zu einem Teil der „Schaltung“ Der Körper verschwindetin den Artefakten und kann somit auch verschiedene virtuelleIdentitäten annehmen.Zentrale gestalterische Aufgabe der „Digitalen Realität“, derechtzeiterzeugten Welt ist somit die Gestaltung der Schnittstelle(der natürlichen, sinnlichen und der künstlichen). Dieses Stadiumbringt somit auch völlig neue Kontexte in die Kunst.


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenÄhnlich wie beim Fliegen gibt es auch in die Virtuelle Realitätkeinen glatten Einstieg. Dazwischen steht immer ein mehroder weniger „dummes“ Interface. Der Künstler, oder „Ingenieurdes Scheins“, verliert zwar damit den persönlichen körperlichenKontakt zu seinem Werk , doch er ist mithin immer nochindirekt beteiligt, nämlich durch die Vorgaben, die er bei derGestaltung der Schnittstelle macht.Der Widerstand des Materials der neuen Medien ist nunmehrweniger materiell, sondern mehr intellektuell. Interaktive Mediensind notwendigerweise performativ, und damit ist der Körperdes Rezipienten oder besser des Benutzers, Flugzeugführers oderCybernauten nun unmittelbar beteiligt.Der Ingenieur denkt und der Pilot lenkt!„Nur über den Wolken muß die Freiheit grenzenlos sein!“Dies gilt nicht nur für Vögel, sondern auch Erdenbürger könnennun die lustvollen sensomotorischen Episoden bewußt erlebenund dabei ein Gefühl der Freiheit spüren.Die Ingenieure des medialen Scheins gestalten somit nichtmehr nur die Objekte, sondern die Wahrnehmung und das Erleben– aber das taten sie doch schon immer und nicht nur erstheute im Zeitalter der Medienkünste – oder?Fazit: Durch Kunst fühlen wir die Grenzen, die Schnittstelle!In unserem interkontextuellen Diskurs möchte ich nun versuchen,die Grenzen zwischen sinnlichen Empfindungen undgeistigen Aussichten zu markieren.ventioneller Sichtweise, wenn man nurauf die Objekte schaut. oder geradedeshalb125Der empirische BlickEin weiterer Menschheitstraum, der ebenfalls nie in Erfüllunggehen wird, aber dennoch immer wieder geträumt wird,ist der Wunsch, unsere Empfindungen dem anderen mitteilen zu


AnmerkungenHorst Prehn welche durchdie o. g. vier Kränkungennoch nichtinfiziert wurden126wollen, nicht nur bei Liebespaaren. Wir möchten gerne mitempfinden,was unser Vogel (Beobachter) schaut, wie er empfindetund was dies für ihn bedeutet. Doch unsere Wahrnehmung undunsere Empfindung selbst kann nicht Gegenstand künstlerischerund wissenschaftlicher Forschung sein, denn sie ist nur unmittelbarerlebbar und läßt sich nicht mitteilen. Wir können uns nurüber Dinge mitteilen, über die wir Empirie betreiben können.Also kann nur unser „Empirisches Subjekt“ (Kant) Gegenstandder Forschung sein. Unser wissenschaftlicher und künstlerischerZugriff auf die empirische Äthetik kann sich demnach nur überdie Phänomene der Wahrnehmung (1. Stadium) oder über Theorienund Modelle (3. Stadium) erstrecken. Vielleicht können wirnoch interaktive Vehikel und Apparate konstruieren und damitBedingungen schaffen, unter denen bestimmte Empfindungenund Erfahrungen gemacht werden können (5. Stadium).Wir verlangen nun von unserem Vogel, daß er uns eineBeschreibung seiner Wahrnehmung liefert, und wir außenstehendenErdbewohner verbinden dann die Beschreibungen semantisch,durch Erklärungen. Immer noch objektivitätsgläubigenWissenschaftlern reicht es meist schon aus, wenn die Eigenschaftendes Beobachters nicht in seinen Beschreibungen enthaltensind und deuten dies als objektive Beschreibung. Leider binich jedoch mächtig infiziert und darin auch subjektiv involviertund alle meine Beschreibungen sind demnach nur durch die Brilledes jeweiligen Beobachters zu sehen.Was heißt es also zu schauen? Auf diese elementare Fragewird es prinzipiell keine Antwort geben können! Dennoch kannman versuchen, verschiedene Teilantworten aus der Sichtweise desjeweiligen Modells zu geben.Ich werde nun versuchen, verschiedene Teilantworten zu finden.Wenn wir primär nach Informationen schauen, dann fassen


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenwir das „Schauen“ als informationsverarbeitende Aufgabe auf, unddann könnte eine Teilantwort lauten: Die Aufgabe des „Schauens“ist zu wissen, was in der Welt ist, wie es beschaffen ist und woes sich befindet. Und wenn man weiter fragt: Was kennzeichnetnun den Prozeß des Schauens? Wiederum eine Teilantwort: DasAbleiten von zuverlässigen Eigenschaften von der Welt, aufgrundvon Bildern dieser Welt. „Schauen“ könnte man deshalb als einenProzeß charakterisieren, welcher von den Bildern der Welt eineBeschreibung liefert. Dieser Prozeß kann hingegen nicht verstandenwerden ohne die Wahl einer geeigneten Beschreibungsebeneoder eines Modells.Deshalb will ich Ihnen nun einige wissenschaftliche Beschreibungenüber das Schauen liefern, und wir werden dann versuchen,diese unterschiedlichen Beschreibungen durch eine verbindendesemantische Geste zu erklären.Das „Schöne“ siedelt aber wiederum im Grenzbereich zwischensinnlicher Empfindung, rauschhafter Verklärung und rationalerErklärung.Beginnen wir nun die Gratwanderung der EmpirischenÄsthetik zwischen Empfindung und Bedeutung.Im physikalischen Licht der Erkenntnis ist die elementareBeobachtung des Vogels zunächst auf die Energie elektromagnetischerStrahlung gerichtet. Der spektroskopische physikalischeBeobachter beschreibt diese Energien durch seine Wellenlänge.Eine für den Menschen sichtbare Energie (z. B. mit der Wellenlängevon 500 nm können wir somit als Farbe (i. d. Fall grün)empfinden (Abb. nächste Seite). Unsere Farbempfindungenbewerten somit die Energie der Strahlung anders als der „PhysikalischeBeobachter“. Wir nennen diesen anderen Beobachterden „Psychophysischen Beobachter“. Die „Psychophysik“untersucht demnach die Schnittstelle (Psychophysisches Inter- Reizgröße =127Physikalisch (ϕ), λ =500 nm; Bewertung =Psychisch (ψ) =Empfindungsgröße =grün


Horst PrehnPhysikBiologiePhysiologiePsychologieKognitions- undGeisteswissenschaftenPhysikalischePhänomeneOrganischePhänomeneSinnesphänomeneBild-, Sprach-Phänomene128Reiz Erregung Empfindung BedeutungObjektiveSinnesphysiologiePsychophysiologiePsychophysikTerra Incognita?


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenface) zwischen zwei unterschiedlichen Beschreibungen. Wirddie Zusammensetzung des Lichtes nun komplexer und enthält diespektrale Emission mehrere Wellenlängen, wobei die Energiespektral unterschiedlich verteilt ist, so sehen wir dennoch nureine Farbe.Eine Farbempfindung vermag nun ganz unterschiedlicheBilder und/oder Begriffe und weitere Bedeutungsketten oderAssoziationen auszulösen und besitzt gegebenenfalls auch metaphorischeBedeutungen (z. B grün > unreif > unerfahren). Dieseevozierten Bedeutungen vermögen wiederum auf rekursive Weiseunterschiedliche Sinnes- und Körperempfindungen hervorzurufen.500 nm Grün unreif sauerReiz Empfindung Begriff sekundäre Empfindung129Folgen Sie selbst einmal Ihren eigenen Imaginationen undAssoziationen oder spielen Sie dieses Spiel gemeinsam mit anderen!Eine Systematisierung der Phänomene im wissenschaftlichenKategoriensieb sowie die Zuständigkeit der entsprechenden wissenschaftlichenDisziplinen können Sie ohne weitere Worte der Synopsisin der Abbildung auf der Seite gegenüber entnehmen. 2Dabei habe ich neben den bekannten wissenschaftlichen Disziplinenwiederum auch ein unbekanntes Terrain markiert, nämlichan der Schnittstelle zwischen Empfindung und Bedeutung.Vermuten wir einmal, daß diese Schnittstelle das „terra incognita“der Empirischen Ästhetik markiert.Lassen wir unseren Vogel nun mit dem ästhetischen Blickschauen und fragen wir: Von welchen Phänomenen geht ein2 154


AnmerkungenHorst Prehnästhetischer Reiz aus, und was kennzeichnet diesen ästhetischenReiz? Und fragen wir weiter: Welche Empfindungen, Bedeutungenund Erkenntnisse sind schön?Dazu habe ich Ihnen ein weiteres Spiel mitgebracht . Siekönnen dies auch als Erkenntnisspiel auffassen.Der formierende Blick130 Frage: Was istder Kitt, und wiebestimmen seineEigenschaften dieStruktur?3 156Hier ist nun ein wirklich handliches, durchschaubares undeinfaches „Weltmodell“, ein nicht mehr ganz frisch gebackenerKosmos, ein „Brötchen“! Als Wahrnehmungs- und Handlungsspiel(sensomotorisches Spiel) aufgefaßt, stellt es keineswegs lediglichein profanes Brötchen und einen Haufen Paniermehl dar. Wirdefinieren dieses Ensemble nunmehr als reales dreidimensionalesPuzzle-Spiel! Übrigens, das Spiel ist auch gut als Geschenkgeeignet und ist eine Herausforderung an die Geschicklichkeit,Vorstellungskraft, Geduld und an den theoretischen Geist. DiePuzzle-Aufgabe besteht nun darin, aus dem ungeordneten Fundusder Teilchen die vorgegebene holistische Form nach der„Idee des Brötchens“ zusammenzusetzen. Bei der Lösung dieserAufgabe müssen Sie notwendigerweise immer wieder den Blickwechseln! Während Ihr mikroskopischer Blick auf die Teilegerichtet ist, muß Ihr makroskopischer, holistischer Blick sowohldie Struktur als auch die Form im Auge behalten und mit demästhetischen Blick beurteilen Sie, wie schön und wie geschmackvollIhr Werk geraten ist.Bei diesem Spiel können Sie nun mit drei unterschiedlichenStrategien ans Werk gehen oder diese auch nach Belieben wechseln.3Mit der künstlerischen Strategie der Plastik setzen Sie einfachalle Teile zur Form des Brötchens zusammen. Doch dieunabhängigen Teilchen sind äußerst schwer miteinander zuverbinden, und Sie benötigen dazu zusätzlich ein Bindemittel.


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungen Nach dem Prinzip der Plastik erzeugen wir also Bedeutungdurch Zusammenfügen der Teile. Frage an dieSollten Sie jedoch gerade kein Bindemittel zur Hand haben, Sandkasten-Ästhetik:können Sie eine andere Strategie wählen, um zur Form des Brötchenzu gelangen – durch „In-formation”. Nehmen 4 Sie dazu eine Fujiyama schön?Warum ist derentsprechende Form (Hülle) und drücken Sie diese auf die Teilchen.Nach diesem Prozeß sind Brötchen als „in-formierte Krü-eines tragenden Bal- Die Bedeutungmel“ anzusehen. Sie sehen dabei auch, daß und auf welche Weiseman Information in der Struktur speichern kann. Übrigens, deutlich durch „Wegkenswird schnellviele elementare Erfahrungen und Erkenntnisse haben wir schon nahme“.als Kinder bei Sand-Kasten-Spielen mit „Förmchen“ gewonnen.Dies waren Erfahrungen mit Vielteilchensystemen und mit denPrinzipien der Muster- und Formentstehung sowie mit den Prinzipiender Information und Ästhetik.Auch die Strategie des Bildhauers, um eine Skulptur des Brötchenszu schaffen, also das Erzeugen von Bedeutung durch „Wegnahme”,können wir hier spielend anwenden.Dazu nehmen wir einfach einen großen Laib Brot und nehmenall das weg, was nicht nach Brötchen aussieht! Die makroskopischeholistische Form eines Brotes besteht natürlich nichtaus kleinen Brötchen-Strukturelementen, und im Gegensatz zuunserem Kunstbrötchen besteht das normale natürliche Brötchenweder aus Paniermehl noch aus Krümeln.4 157Der Back-ProzeßUnser Bäcker, dem wir meist die Back-Kunst anvertrauen,wird sein „Back-Werk“ weder nach den Methoden der Plastikund Skulptur noch nach den Prinzipien der Informatik erreichen,sondern er organisiert und inszeniert einen physikochemischenstrukturerzeugenden Prozeß – den „Back-Prozeß“. Dabei beobachtet,kontrolliert und korrigiert er sowohl die Erscheinung alsauch die Prozeßparameter solange, bis das Back-Werk vollendet131


AnmerkungenHorst Prehn132ist, so gut und so schön und so geschmackvoll wie möglich!Auch die „hausbackene“ Entstehung der Struktur kann aufeine lange Tradition und auf vielfältige Erfahrungen verweisen,und manchmal läßt sich die Grenze zwischen Hand-Werk oderKunst-Werk nur schwerlich ziehen.Für die Erzeugungsprozesse unterschiedlich strukturierterund geschmacklicher Produktionen finden wir mehr oder wenigerzutreffende Beschreibungen und Rezepturen, und wir könnenuns dadurch leiten oder verleiten lassen oder uns je nach gustoauch auf die eigenen empirischen und intuitiven Fähigkeiten <strong>verlassen</strong>.Eine präzise wissenschaftliche 5 und produktionstechnische5 158, 160Beschreibung der unserer „Back-Ästhetik“ zugrundeliegendengenerativen physikochemischen Prozesse könnten uns die industriellenArtefakt-Produzenten liefern, doch diese sind kaumgeneigt, ihr okkultes Wissen über ihre Rezepturen, Formeln undVerfahren für ihre Erzeugnisse preiszugeben.Trotz unterschiedlicher Mittel verfahren jedoch alle „Struktur-Bäcker“,zumindest aus organisatorischer Sicht, nach demgleichen Prinzip der Struktur- und Formenentstehung. Deshalbmöchte ich Sie dazu animieren, auch Ihre eigenen profundenBack-Kenntnisse oder Back-Künste nun aus einer verallgemeinerndenSicht zu betrachten.Also rühren wir erst einmal unseren „theoretischen Grundteig“an und versehen diesen mit den entsprechenden Zutaten.Hierbei können wir unter unterschiedlichen Teigarten nach verschiedenenRezepturen auswählen. (Hefe-, Brand-, Mürbe-, Bisquit-,Rühr-, Blätter-, Sauerteig u. v. a. m.) Vielleicht lesen Sienoch einmal ein Rezeptbuch mit dem theoretisch aufgerüstetenBlick oder betrachten die Vielzahl der Back-Werke aus der Sichtder zugrundeliegenden strukturerzeugenden Prozesse mit ihrenunterschiedlichen Verfahren.Eine der Grundfragen müßte somit lauten: Was ist das Prin-


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenzip des Teiges? Bei der Herstellung unseres „Theorien-Teiges”formen wir die Substanz für einen strukturerzeugenden Prozeß,welche verschiedene Konzepte und Modelle elastisch miteinanderverbindet und diese zusammenhält. Damit geben wir unserenvorzüglichen Empfindungen und Gedanken eine Richtung. Der„Teig“ vermittelt uns somit die Orientierung für die jeweiligenKonzepte und Modelle, welche den verschiedenen Möglichkeitenund Sichtweisen des Denkens und Fühlens eine plastisch veränderbareForm und Richtung verleiht.Nun mischen, rühren und kneten wir das Ganze und fügendabei entsprechende stoffliche, emotionale, rationale und logischeZutaten, Bindemittel, Treibmittel und Flüssigkeiten hinzu, prüfendie elastischen Eigenschaften und die Konsistenz und machenGeschmacksproben am rohen Teig. Dabei stützen wir uns aufunsere Urteilsfähigkeit und Erfahrung, aufgrund der Qualitätendes rohen „Natur-Werks“ das gebackene „Kultur-Werk“antizipieren zu können. Dazu müssen wir die unterschiedlichenEmpfindungsqualitäten zwischen „roh“ und „gebacken“ in Beziehungzum Prozeß bringen. Nach der plastischen und elastischenTeig-Behandlung (z. B. mit den Mitteln der Tranformation,Dekonstruktion u. a.) bringen wir diesen entweder in einevorbestimmte starre, aber offene Form oder legen ihn auf einemgeeigneten Träger oder Medium einfach ab. In manchen Fällenist es ratsam, den „Teig“ noch etwas in Ruhe „gehen“ zu lassen,damit der autonome Strukturbildungsprozeß initialisiert wird.Nach Ablauf dieser Zeit wird nun endlich gebacken! Im Backofenwird dem Prozeß nun systematisch Energie zugeführt. Dabeiwerden die Kontrollparameter (z. B. Temperaturverteilung) überwachtund geregelt, damit sich unser nun autonom ablaufenderstrukturbildender Prozeß optimal nach unseren Erwartungenentwickeln kann. Auf die Entwicklung selbst haben wir jedoch133


AnmerkungenHorst Prehn134keinen unmittelbaren Einfluß mehr. Wir können lediglich a posteriorientscheiden, in welchem Zustand wir den Prozeß abbrechenwollen. Dies kann nur geschehen, solange sich die Strukturnoch entwickelt und noch nicht fixiert ist.Nachdem die „Ausbildung“ der Struktur beendet ist, werdenwir unser „frischgebackenes“ Produkt beurteilen. Locker, leichtund lecker soll das „Back-Werk“ sein! Unser prüfender Blickauf die Struktur ermöglicht uns bereits, ohne daß wir probierthaben, eine Einschätzung und Antizipation des Gewichts undGeschmacks. Unsere vergleichende Fähigkeit zur Beurteilunggeschmacklicher Qualitäten aufgrund von visuellen Merkmalender Struktur weist bereits darauf hin, daß auch die physiologischenund psychophysischen „Back-Prozesse“ verschiedener Sinnesmodalitätennach ähnlichen Prinzipien ablaufen. Die dabeierzeugte sinnliche Realität unserer Empfindungen erscheint unsdeshalb aus gleichem „Schrot und Korn“ gebacken zu sein.Doch manchmal täuscht uns auch der Schöne Schein! Unddies gilt nicht nur für Brötchen! Ich für meinen Teil neige eherdazu, ein grundehrliches hausbackenes „Back-Werk“ zu genießenals eines der massenhaft verbreiteten künstlichen Erzeugnisse.Vorsicht, die schöne und anreizende Form täuscht! Oft verbirgtsich dahinter ein vorsätzlicher „Prozeß-Betrug“. Unser guterGeschmack wird ihn jedoch beim ersten Bissen schnell entlarven.Doch auch unser Geschmacksinn läßt sich täuschen! In diesemFall bleibt uns nur noch die Möglichkeit, entweder den objektivenGehalt selbst nachzuprüfen oder aber auf die Redlichkeitdes Produzenten zu vertrauen. Übrigens, nicht nur bei „Lebens-Mitteln“ werden deshalb entsprechende Kontrollinstanzen eingerichtet,welche sowohl den Inhalt als auch die Herstellungsprozessemit Sachverstand kritisch überprüfen sollen. Obwohl jederRezipient für sich allein entscheidet, welche Qualität er für sichbeansprucht, bestimmen aber wiederum die Entscheidungen aller,


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungen Die Komplexität,die der Beobachtererfährt, ist nicht dieKomplexität desErzeugers (Generawasauf den Markt kommt. Und die Gesetze des Marktes sind wiederumentscheidend dafür, ob wir überhaupt noch und wenn, inwelchem Maße wir die Freiheit haben, uns entscheiden zu können.Doch dies ist nun ein anderer wirklichtkeitserzeugender Prozeß.Hinter meinem vordergründigen Spiel ahnen Sie bereitsmeine hinterhältige Intention, nun auch wissenschaftlich kleineBrötchen backen zu wollen.Ich habe unseren exemplarischen und gleichzeitig verallgemeinerndenBlick somit auf allgemeine Systeme gelenkt, welcheaus vielen Elementen oder Teilchen bestehen (Vielteilchensysteme),welche eine bestimmte Ordnung aufweisen und angedeutet,daß die Art der Kopplungen zwischen den Elementen und dieArt des Prozesses und der Bearbeitung und deren Parameter diemakroskopische erscheinenden Strukturen und Formen determinieren.Es geht also nun um den Zusammenhang zwischen strukturerzeugendenProzessen und ihre mehr oder weniger schönenErscheinungen (Phänomene).Wer könnte diese Reflexionen besser in einer poetischensprachlichen Form fassen als ein Dichter? Und so werde ich diefolgenden Worte einer dichterischen Instanz daraufhin auch sehrprogrammatisch auffassen: Schau–Goethe–schau! „Die Alten, weit entfernt von dem modernen Wahn (!), daß einKunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse,bezeichneten ihre Kunstwerke als solche durch gewählte Ordnung derTeile. Sie erleichtern dem Auge die Einsicht in die Verhältnisse, durchSymmetrie, und so wird ein verwickeltes Werk faßlich …“Goethes phänomenologische Sicht enthält im Grunde schon Goethe beimAnblick derLaokoongruppeoder vielleicht doch beiseinem Frühstücksbrötchen?135


AnmerkungenHorst Prehn136alle wesentlichen Hinweise für eine spätere theoretische undempirische Ästhetik. Dies ist also unser Programm:1. Es geht zunächst um die Unterscheidung zwischen Kunstwerk(thesei) und Naturwerk (physei)2. um die Bezeichnung, d. h. Beschreibung eines ästhetischenPhänomens auf der Grundlage von Ordnungsprinzipien3. um die Erzeugung von Ordnungen sowie um die Erkennbarkeitder den Erscheinungen innewohnenden Ordnungen4. um ein gemeinsames fundamentales Ordnungs- und Gestaltungsprinzip,der Symmetrie5. um die Lösung des Komplexitäts-Dilemmas, d. h. die Erfassung,Reduktion, Kontrolle und Prognose komplexer PhänomeneEin weiteres Dichterwort – von Kleist – möchte ich dem nunfolgenden interkontextuellen Diskurs auch noch voranstellen: „Esgibt zwei Klassen von Menschen, solche, die sich auf eine Metapher undsolche, die sich auf eine Formel verstehen.“Lassen Sie mich nun versuchen, diese Dichotomie mittelsSprache zu überwinden und die wissenschaftlichen Modelle undTheorien in Metaphern verwandeln.Also zurück zum Brötchen! Die Fragen zu den o.g. Punktenlauten dann: Wie beschreiben wir die Form des Brötchensmathematisch, und wie können wir Struktur messen? Wie erzeugenwir und wie empfinden und erkennen wir Strukturen? Sind 66 155die Erscheinungen physikalischer und lebendiger Prozesse sowiedie ästhetischen Gestaltungsprozesse Ausdruck eines Ordnungsprinzipsvon Symmetrien? Wie können wir mit struktureller unddynamischer Komplexität umgehen? (Stellen wir die erste Frageeinmal zurück, denn sie wird später beantwortet.)Fragen wir zunächst nach der Form dieses Brötchens. Sie wissensicher, daß diese Form im Gegensatz zu meinem bisherigenModellbrötchen nicht aus zusammengeformten Krümelelemen-


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenten entsteht. Was verbirgt sich also unter der knusprigen (verkrusteten)Oberfläche eines echten Brötchens? Sie wissen ja alleaus Erfahrung, welche innere Struktur sich unter der Oberflächeverbergen kann. (Frage an die Kunsthistoriker: Könnte diese Formeher von einem Konstruktivisten oder Suprematisten stammen?)Der fraktale BlickIn der Welt der Bilder richtet sich unser Augenmerk nunfast unmerklich auf die Texturen, Strukturen und Muster – alsoauf die „Morphologie“ des Brötchens! Die geometrische äußereHülle erscheint uns dabei als ein massives dreidimensionalesGebilde. Doch die Euklid’sche Hülle täuscht! Das enthüllte oderangebissene nicht-euklid’sche „Brötchen-Innere“ erscheint unsnun eher als ein ganz natürliches organisches Gebilde mit dichtenStrukturen, welche beinahe das ganze Objekt darstellen. ManchesBrötchen entpuppt sich allerdings auch als ein ziemlich schwammartigesGebilde. Derartigen nicht-euklid’schen Gebilden undorganisch anmutenden Strukturen mit einem höheren Grad anKomplexität begegnen wir z. B. auch bei der Schau auf unsereKörperorgane wie Lunge, Niere, Leber etc. Sowohl in der Naturals auch in der Kunst begegnen wir nun den „zerbrochenen Bildern“,den Fraktalen, gleichsam einer komplexen „Morphologiedes Amorphen”. Während wir sprachliche Beschreibungenfür klassische, kontinuierliche und stetige euklid’sche Objekte(zumindest bei oberflächlicher Betrachtung) besitzen und auchihre Dimension als Linie (D=1), Fläche (D=2) oder Körper (D=3)eindeutig festmachen können, versagt auch unsere Sprache beider Beschreibung und Kennzeichnung dieser „seltsamen Gebilde”.Uns bleiben nur sprachliche Metaphern für diese fraktalenFormen. Wir bezeichnen diese demnach als schwammig, faltig,flockig, wolkig, körnig, wuschelig, wirr, pickelig, pockennarbig,137


AnmerkungenHorst Prehn138 zwischen zweiObjekten, System undUmgebung, zwischenschlängelnd, polypenförmig, gewunden, verzweigt u. v. a. m.Intuitiv werden wir dabei auch gewahr, daß wir bei der Angabezur Dimension und Oberfläche unseres exemplarischen „fraktalenBrötchens“, bei endoskopischer Betrachtung, auf eine ungewohnteSchwierigkeit stoßen.Wir vermuten, daß wir es nun mit Gebilden zu tun haben,welche irgendwie zwischen den festen ganzzahligen Dimensionenliegen! Das fraktale Brötchen ist beinahe ein Körper, aber ebennoch nicht ganz, aber es ist doch schon mehr als eine Fläche.Es besitzt eine gebrochene Dimension zwischen D=2 und D=3.Aus der nicht-alltäglichen und ungewohnten Sicht der „fraktalenBeobachterbrille“ erscheint uns auch der Mensch nun nichtmehr als dreidimensionaler Körper, sondern als ein „hochverfaltetesflächiges Wesen“. Intuitiv wissen wir ebenso, daß auch dieOberfläche unseres fraktalen Brötchens keine Konstante seindürfte. Und auch dieser Sachverhalt ist empirisch augenscheinlich,wenn wir beobachten, was geschieht, wenn wir unser Brötchenin den Kaffee tauchen und auf welche Weise dies von derSruktur abhängt.Dieses Spiel vermittelt uns aber noch eine wichtige Einsicht:Das Studium der Form muß somit jenseits der Topologie liegen!Tauchen wir deshalb etwas weiter ein in das theoretische Stadiumder fraktalen Geometrie!Um der Unterscheidung willen fragen wir zunächst nach denGrenzen der klassischen Euklid’schen Geometrie. Diese lassensich präzise angeben: Die Grenzen sind die Skalen! Kennzeichnendfür die nicht-euklid’sche Geometrie ist demnach die Vielskaligkeit.Wechseln wir also jetzt den Maßstab des Beobachters!Schau–vogel–schau – auf das Fraktale Brötchen und verändere denAbstand der Beobachtung.Im Gegensatz zu der klassischen Sichtweise kontinuierlicherund stetiger Objekte werden bei näherer Betrachtung des frakta-


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenlen Brötchens und bei der Variation vom teleskopischen bis zummikroskopischen Blick, in jedem Maßstab, weitere Details vermutet,ohne daß wir sie genau kennen. Bei jeder Vergrößerungerscheinen die Formen immer unregelmäßiger und mit unterschiedlichenStrukturen. Aus dieser wechselnden Beobachtungauf das gleiche Objekt schließen wir somit: Die fraktale Dimensionändert sich beim Wechsel der Auflösung! Dies impliziert, daßauch die Oberfläche keine Konstante ist – wie bei Euklid’scherSicht –, sondern sie ist ebenfalls eine Funktion der Auflösung!Dies hat mithin eine weitreichende Konsequenz für unserenBeobachterstandpunkt bei der Wahrnehmung der Form durchdie Form der Grenzen.Aber die Form der Grenzen bestimmt der Maßstab! Wollenwir die Grenzen fühlen, erfordert dies einen angemessenen Maßstab!Für unseren aerodynamischen Vogelflug bedeutet dies, daßdas Fühlen der Turbulenzen vom Maßstab des tastenden Test-Vogels im Strömungsfeld abhängt.Wie Sie aus eigener Erfahrung wissen, reagiert ein kleinesFlugteilchen (z. B. Sportflugzeug, Vogel, Fliege, Rauchteilchen)viel empfindlicher als ein großes Teil (z. B. Jumbo). Das kleineFlugobjekt (dies entspricht einer Verfeinerung des Maßstabes)„fühlt“ die Turbulenzen als Erschütterung, während der großeJumbo (dies entspricht der Vergröberung des Maßstabes) kaumerschüttert wird. Das bedeutet: Jeder Maßstab verlangt eineNeudefinition der Turbulenz! Metaphorisch gilt dies auch aufpsychischem, mentalem oder ästhetischem Terrain: Beobachtermit groben Maßstäben sind kaum zu erschüttern!Die ästhetische (auch ethische?) Sichtweise auf die Erscheinungenliefert implizit den jeweilig geeigneten Beobachter-Maßstabmit, um die Grenzen zu spüren und zwar durch Erschütterungen(Irritationen).Bei unserer normalen Alltagsbeobachtung richten wir esGemeintem undNicht-Gemeintem139 Schauen Sie dieseSchrift einmal unterdem Mikroskop an.


AnmerkungenHorst Prehn140 Spielen Sie nocheinmal mit den übereinanderliegendenFolien und wechselnSie den Beobachter-Abstand oder die Vergrößerung. KlassischeFrage: Wie langist die Küstenlinievon England?nun absichtlich immer so ein, daß die Grenzen auf keinen Fallspürbar sind. Dann sehen wir wieder die kontinuierliche stetigeEuklid’sche Welt der makroskopischen Objekte regulär und präzis,an der wir uns orientieren können. Unser globales Verhaltenunterwerfen wir mit Absicht dem Prinzip, die Grenze nicht zuspüren.Die Frage, was ist die wirkliche Form eines Brötchens, istdemnach prinzipiell nicht zu beantworten! Bei alltäglicher globalerSicht im Kontext der Nahrungsmittel bleiben wir deshalbweiterhin bei der Form eines Brötchens!Auch bei unserer interkontextuellen Beobachtung diesesSymposiums müssen wir den jeweils passenden Maßstab finden,damit gerade schon eine zusammenhängende Form erscheint,aber wir noch nicht ganz das Gespür für die zugrundeliegendeOrdnung verlieren – eine ästhetische Balance zwischen „noch”und „schon“.Die Fraktale Dimension (D F ) ist demnach ein Maß für dieRauhigkeit, Zersplitterung oder Verzweigung und dies auf jederSkala! Diese fraktale Dimension liefert uns denn auch eine mathematischeBeschreibung für die Struktur, sie ist ein Intensitätsmaßfür die Struktur! Intuitiv würden wir dies als „Dichtheit“des fraktalen Gebildes auffassen. Diese intuitive und signifikanteBewertung der Struktur nach „Augenmaß“ erweist sich durchausals praktisch und sinnvoll, denn auch die präzise analytischeBestimmung der fraktalen Dimension verwendet hierzu ebenfallsein Dichtemaß (Masse-Radius Analyse), d. h. Brötchen mit einerhohen strukturellen Intensität (z. B. D F =2,90) unterscheiden sichvon den etwas lockeren Produkten (z. B. D F =2,75) in ihrer Dichtheitund Oberfläche. Übrigens, auch unser „Augen-Maß“ bemißt diese Strukturenjenseits der ausschließlich visuell erfahrbaren Topologie mit Hil-


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenfe einer zusätzlich antizipierten Sinnesmodalität. (Dies überlasseich nun Ihrem „Spür-Sinn”.)Es ist außerdem „augen-scheinlich“, daß fraktale Objekte einerseitseine gewisse Ordnung in der Unordnung und auch einegewisse Ähnlichkeit aufweisen, wodurch sie sich von den Euklid’-schen Konstruktionen unterscheiden. Unser Blick fällt somitnicht nur auf die sichtbare Struktur selbst, sondern vielmehr aufdie Erzeugung der Struktur.Trotzdem betrachten wir die Phänomene der Welt meist alsgegeben und nicht als erzeugt, und wir sind meist geneigt, unsmit fast allen Gegebenheiten abzufinden, statt nach dem Verursacheroder Erzeuger zu fragen. Damit fließt unversehens aucheine ethische Bewertung in die ästhetische Betrachtung ein. Mitder Frage nach der Ursächlichkeit stellt sich nunmehr auch dieFrage nach der Verantwortung! Die Haltung des Künstlers, seineProduktivität, behauptet nun Freud, beruht lediglich auf einem„Mangel an Abfindung“ – oder aber auf einem Überfluß an Verantwortung– dies ist wiederum eine Frage nach dem Maßstabund nach der Regulation der Flüsse (Mangel oder Überfluß). Ichmöchte es jetzt aber dabei bewenden lassen und die bereits eingeschlagene,generative und prozessuale Sicht weiter verfolgen.Vielleicht gelingt uns dann eine Beschreibung der Phänomenedurch Kennzeichnung des Generators und des Prozesses derStrukturerzeugung.Fragen wir also nicht mehr danach, wie etwas ist, sondernvielmehr danach, wie etwas geworden ist! Vielleicht gelingt unsdann auch eine Beschreibung der Phänomene durch Kennzeichnungdes Generators und des Prozesses seiner Determinantenund seiner Bedingungen? Aus der Sicht einer prozessualen Realität,welche unter den gegebenen Umständen ganz signifikanteErscheinungen produziert, werden wir auch einen Blick auf Das Prinzip der141Morphogenese ist derräumliche Ausdruckeiner zeitlichen Symmetrie.


AnmerkungenHorst Prehn142 Krümel sindschwer zu befestigen! Für Kunsthistoriker:Was würde KarlJoganson zu einemdie Prozesse und Produkte unserer „bilderzeugenden Phantasie“werfen. Damit hat sich auch ein „generativer Kunstbegriff“ selbsteingeführt!Also: Von der Morphologie zur Morphogenese, von derOntologie zur Ontogenese, vom Sein zum Werden! Dies istzugleich auch eine generalisierende Sicht, denn das „Sein“ ist im„Werden“ inbegriffen.Den struktur- oder mustererzeugenden Prozessen, welchefraktale Objekte erzeugen, liegt eine gleichbleibende Vorschriftzugrunde (z. B. eine Verzweigungsvorschrift oder Faltungsvorschrift),welche rekursiv auf das Muster angewandt wird. Aufgrundder gleichen Vorschrift (linear, nicht-linear) werden dieObjekte ähnlich, unter bestimmtem Umständen auch selbstähnlich.Diese Selbstähnlichkeit ist ein spezifisches phänomenologischesKennzeichen bestimmter fraktaler Muster und ein Beweiszeichenfür das Erzeugungsprinzip. Mit der Zahl der Iterationennimmt somit auch die Komplexität der Muster zu. Das fördertauch die Erkenntnis zutage, daß äußerst komplexe Erscheinungendurch rekursive Anwendung einfacher Regeln entstehen, undspulen wir den gleichen Prozeß zurück, dann reduziert sich Schrittfür Schritt die Komplexität der Erscheinung.Die phänomenologische Empirische Ästhetik lehrt: SchöneFormen sind meist einfach oder gehen aus funktional einfachenRegeln hervor.Während Euklid’sche Formen mit zunehmender Kompliziertheitimmer weniger durchschaubar werden, bleibt die prozessualeRegelhaftigkeit fraktaler Muster trotz höchster Komplexitätder Erscheinung intuitiv durchschaubar. Läßt sich mit dem ästhetischenBlick hinter die Erscheinungen Komplexität reduzieren?Wir werden noch sehen!Doch zurück zu den kleinen wissenschaftlichen „Metaphern-Brötchen“ und zurück zu Goethes „Ordnung der Teile“.


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenBei der klassischen „Anordnung der Teile“ (je nach Substrat,z. B. Krümel, Paniermehl, Mehl, Voxel, Pixel u. v. a. m.)eines Vielteilchen-Systems kann der Gestalter (Skulptur oderPlastik) selbst Hand anlegen und versuchen, die strukturelleOrdnung gemäß seiner Idee von einem Brötchen nach seinereigenen Willkür erzwingen. Dazu muß er jedes einzelne Brötchenteilchenverwalten und entsprechend fixieren! Unter derzentralistisch geordneten „Teilchen-Bürokratie“ entstehen starre(mentale) Festkörper im starren Griff einer Idee oder Ideologie.Dieses Produkt mag, bei reflektierender Beobachtung, dennocheine Bedeutung für die Kunst aufweisen. Die Konstruktion selbstbesitzt jedoch keine systemimmanente Zweckmäßigkeit und istauch nicht extrasystemisch utilaristisch. Eine weitere Konstruktion könnte vielleicht mit Hilfe einesanderen physikalischen Ansatzes erfolgen. Dazu nehmen wir einGefäß-System, in dem wir ein Vielteilchen-Gemisch zusammenmit bestimmten Flüssigkeiten ansetzen. Das Weltbild wird nunflüssig! Die nunmehr elastisch miteinander verkoppelten Krümelwollen wir nun dazu veranlassen, daß sie in kollektiver Ordnungdie Struktur und Form eines Brötchens annehmen sollen. Dieskönnte, außerhalb der Zuständigkeit der Physik, nur durch einWunder geschehen! Auch durch Zuhilfenahme des Zufalls würdesich aus der „Teilchenanarchie“ kein wohlgeordnetes Brötchenorganisieren. Deshalb versuchen wir an Stelle der mühsamenhandwerklichen Methode, jedem einzelnen Krümelteilchenunsere Idee aufzuzwingen, die Arbeit besser an die PhysikalischenEnergien und Kräfte zu delegieren und auf das „Krümelkollektiv“im Sinne unserer Idee einwirken zu lassen. Statt in klassischerManier nun die Objekte zu gestalten, versuchen wir einenneuen Weg, und werden nun die Regeln gestalten und damiteinen muster- und strukturerzeugenden Prozeß in Gang bringen!solchen „Ding“ sagen?143 Z. B. durch raumzeitlicheStrukturierungder einwirkendenEnergien und durchVariation der Teilchenund ihrer Bindungen. Auch Maler erzie-


AnmerkungenHorst Prehn144len vielfältige strukturbildendeodermusterbildende Effekteaufgrund physikalischerProzesse. Siehaben die Gesetzeder Fluid-Dynamik,Farbrheologie undFarbmischung ausErfahrung intuitivgelernt.Durch Beobachtung und Steuerung der Prozeßparameter hoffenwir nun, daß die hierbei erzeugte kollektive MakroskopischeOrdnung auch unserer Idee von einem Brötchen gleichkommt.Versuchen wir zunächst einmal, mit kausaler Steuerung dieOrganisation der Brötchenstruktur zu erzwingen. Nach vielensystematischen Versuchen stellen wir fest, daß der Prozeßin der Tat viele schöne eigene Strukturen und Muster erzeugenkann, doch die kollektiven Teilchen gehorchen nur den Regelnder Physik, aber nicht unserem Willen nach der Struktur einesBrötchens.Falls wir uns damit abfinden sollten, können wir immerhinmit den so erzeugten verschiedenen Strukturelementen auchObjekte nach unserem Willen konstruieren, vorausgesetzt, wirhaben diese flüchtigen Muster auf irgendeine Weise fixiert. Dannkönnen wir diese Strukturen als Zeichenrepertoire oder diese alsStrukturelemente in eine vorgefertigte Form einhüllen.Dabei entstehen, je nach Prozeß, Randbedingungen undZuständen des Systems, reguläre, periodische oder deterministischechaotische Muster.Statt einer erzwungenen Organisation der Materie mit kausalerSteuerung können wir auch versuchen zu erreichen, daßdas kollektive System sich selbst seine Ordnung erzeugt durchSelbst-Organisation der Teile, indem wir dafür sorgen, daß sichdie wechselwirkenden Teile ihre Ordnungsparameter (Moden)selbst generieren. Diese wirken dann wieder auf die Teile zurückund bestimmen ihr Verhalten. Damit landen wir wieder beirekursiven oder rückgekoppelten Systemen (s. fraktale Muster).Autopoietische Systeme besitzen demnach eine zirkuläre Kausalitätund sind somit autonome und spontane „Muster-Produzenten“.Eine unmittelbare Gestaltung dieser systemeigenen Ordnungsparameterist uns nicht mehr möglich, sondern nur nochmittelbar durch Variation der Bedingungen und Kontrollpara-


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenmeter des Prozesses. In der wissenschaftlichen Terminologie derhier zuständigen „Synergetik“ (die Lehre vom Zusammenwirken)bezeichnet Haken dieses Prinzip als „Versklavungsprinzip“, wassoviel bedeutet, daß die Teile durch das Ganze (Ordnungsparameter)versklavt werden.Statt auf die hierzu notwendigen autopoietischen Gestaltungs-Prozesseund ihre Bedingungen und Determinanten nähereinzugehen, will ich lieber zwei wesentliche Aspekte beleuchten,welche mir für die Ästhetik relevant erscheinen: Sowohlbei der Gestaltung als auch bei der Rezeption von komplexenkollektiven Strukturen ist die Kenntnis aller Teile und ein zentralerZugriff auf alle Teile nicht möglich und auch gar nicht notwendig.Statt das Untersystem der Teilchen selbst, beobachtenwir nun die spontan auftretenden makroskopischen Phänomene(Meta-Ebene) und variieren oder selektieren die Muster, die dasSystem autonom hervorbringt. Dies gelingt durch Beobachtungdes Musters und durch Steuerung nur weniger Kontrollparameter.Der Prozeß selber sagt uns nun explizit, durch seine Phänomeneund seine Regeln, wie sich das Ganze zu seinen Teilen undsich die Teile zum Ganzen verhalten. Hieraus können wir empirischeAntworten zur Ästhetik erhalten. Auch meine Gedanken– merke ich gerade – werden durch die Ordnungsparameterdieses Textes versklavt, welchen sie selbst hervorgebracht haben.Das Subsystem ist der Wechselwirkung versklavt. Oder andersausgedrückt: Das System erzeugt sich selbst seine Schrittmacher.Lassen auch Sie sich weiter zu Ihren eigenen Denkmustern stimulieren.Doch die Schleife ist notwendig, damit ein System aktivwird. Nach der Betrachtung der aktiven, durch physikalische Prozesseerzeugten Muster machen wir nun einen ontologischenSprung – also hinein ins volle Leben! – und lassen nun Brötchen AutopoietischemustererzeugendeProzesse finden wirnatürlich nicht nurauf der physikalischenEbene, sondern unterbestimmten Bedingungenund Voraussetzungenaufjeder ontologischenStufe, unabhängigvon dem System,Substrat, den Elementenund der Art145der Wechselwirkung. ich schreibe – esschreibt Ständige undausschließlich positiveRückkopplung inIdeologischen Systemenoder im Hirn endet oftim Selbsterregungs-Wahn.


AnmerkungenHorst PrehnKreativität?KünsteWahrnehmungModellGestaltungDenken?Künstliche IntelligenzPsychologieBiologie?EvolutionAnwendung auf jede Artvon EntwicklungKünstliches Leben?RobotikPhysik?Virtuelle Realität146TechnologieÖkonomie?Ökologie??wachsen und sich vermehren, und dann betrachten wir mit dem„evolutionären Blick“ unsere „Brötchen-Zucht“ und schauen, aufwelche Weise die Prinzipien der Evolution auch ein Modell fürviele andere schöpferische Prozesse liefern könnten. Außerdemwollen wir erkunden, ob die Produktion von Artefakten nachdem Vorbild des Lebendigen neue Kunstgattungen hervorbringenkann, auf welche Weise wir diese dann sinnstiftend implementierenund was wir dadurch erfahren und dabei erleben können.Der evolutionäre BlickMit dem generalisierenden Blick betrachtet, ist es allzu verführerisch,das evolutionäre Prinzip auf jede Art von Entwicklunganzuwenden. Das Rad der Evolution dreht sich, wie die


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenuntenstehende Abbildung zeigt, auf dem Terrain ganz unterschiedlicherKontexte, wobei zunächst das biologische Vorbilddes „Lebendigen“ Pate stand.Das Rad der Evolution dreht sich bei unterschiedlichen Prozessenauch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, das bedeutet,daß sich die jeweiligen Entwicklungen mit einer ganz unterschiedlichenZeitdauer vollziehen (Zeitkonstanten des Prozesses). Dazubrauchte die biologische Evolution einige Millionen Jahre. Diekulturelle Entwicklung benötigte einige tausend Jahre. Das individuelleLernen unserer Sprache gelingt (je nach Entwicklungsstand)in einigen Jahren bis Jahrzehnten. Der individuelle Wahrnehmungsprozeßdagegen läuft in einem Zeitraum von wenigenMillisekunden bis Minuten ab (Rezeption > Perzeption). Wie wiraus der Schule schon wissen, bestimmt der langsamste Schüler,mit der längsten Zeitkonstante, den Fortschritt des Lernprozesses.– Die denkbaren Schlußfolgerungen hieraus überlasse ichwieder Ihnen!Bevor wir uns jedoch mit dem Prinzip des „Bilderbrütens“befassen, konstatieren wir bereits wieder einen folgenschwerenBlickwechsel. Denn wer den evolutionären Blick versucht, erzeugtdamit zugleich einen Paradigmenwechsel. Der „Stoffhuber“ mußnun den Schutzraum des „physikozentrischen Weltbildes“ <strong>verlassen</strong>.Aug’ in Aug’ begegnen sich nun „Stoffhuber“ und „Sinnhuber“,denn Leben und Über-Leben gelingt nur durch Sprache.Die Evolution hat eine Sprache!Aus informationstheoretisch verkürzter Sicht betrachtetbedeutet das: Lebensprozesse sind zugleich Struktur- und Informationsprozesse.Auch die semantische Evolution sinnkonstituierenderSysteme vollzieht sich auf ganz unterschiedlichenBedeutungsebenen. Zum Beispiel auf der Ebene der StrukturerzeugendenEvolution ist dasjenige sinnvoll, was die Ordnung147


AnmerkungenHorst Prehn148erhöht, das heißt, die Wirkungen müssen den Sinn stabilisieren.Evolutionsfähige Systeme sind deshalb prinzipiell dialogisch! DiePrinzipien der Evolution scheinen uns auch in vielerlei Hinsichtdienlich zu sein, auf unserer Suche nach einem sinnvollen Erklärungsmodellfür die Entwicklung von Semiotik, Sprache, Lernenund Kreativität. Der jeweils entwickelte Sinn entsteht dabei allerdingsnicht „a priori“, sondern „a posteriori“, und statt in derlinearen Kausalität landen wir wiederum in der zirkulären Kausalitätrekursiver dialogischer Schleifen.Damit stellt sich die semantische Kernfrage: Wo, wie undunter welchen Bedingungen entsteht Bedeutung?Zuvor schauen wir zunächst danach, wie „Brüten“ Objekteund Bedeutungen erzeugt, und auf welche Weise der evolutionäreProzeß aus seinen funktionellen Elementen heraus startet undwie das Leben die Entscheidungen trifft.Starten wir also schrittweise die verschiedenen Stufen adaptiverProzesse, welche alle aufeinander aufbauen und wo jede Stufeeine kritische Rolle spielt, und drehen wir das Rad der Evolutionso lange, bis die Muster und ihre Bedeutungen ausgebrütet sind.Jeder neue Zyklus der Evolution weist gemäß der Abbildung aufder nächsten Seite jeweils vier aufeinanderfolgende Schritte auf,die wir gemäß unserer Hypothese der Generalisierbarkeit desevolutionären Konzepts auf jede Art von Entwicklung anwendenwollen, wobei wir unterstellen, daß dieses Konzept auch in anderenMedien und Substraten funktioniert. Aufgrund der Mimesisder Regeln des Lebendigen werden wir sehen, wie mit Hilfesimulierter evolutionärer Artefakte neue Werkzeuge zur kreativenEntwicklung und Gestaltung gewonnen werden können undwelche Anwendungen sie uns erschließen.Dazu werde ich die vier elementaren Schritte der Mutation,Selektion, Reproduktion und Isolation exemplarisch nur ein einzigesMal und nur an einem Beispiel durchlaufen und Sie dann mit


EvolutionMutationSystemGeneratorSelektionPhänotypBeobachterGenotypAktuatorHandlungIsolation„Tod“SystemBeobachterAktuatorKompetenzenBedingungenSchaffung vonVariationenZulassen von– Zufällen– Fehlern– Störungen—> formaler Reichtumvon Objektenund OptionenWahrnehmungWahrnehmungskompetenzdesBeobachters—> Reichtum anWahrnehmungsobjektenund Optionen—> Große Bandbreitean spezifischenVoreingenommenheitenReproduktionHandlungs-Kompetenz desProduzenten—> Reichtum anHandlungsobjektenund Optionen—> Große Bandbreitean spezifischenHandlungsmöglichkeitenUnterscheidungskompetenzfürBedeutungenInkompatibilitätneuer Entitäten—> spezifischeTrennschärfe derKlassifizierungKreationProbiere aus!Nutze den Zufall!Gestaltungdes ZufallsSchau, was passiert!Treffe Entscheidungen!(möglichst viele)VermeideVorhersagen!Gestaltung derWahrnehmungBring’ es zumAusdruck!Nutze mehrereRepräsentationen!Gestaltung desAusdrucksVergiß den Rest!Gestaltungder AbgrenzungErzeugeInkompatibilität!DenkenVariationBerücksichtigedie Einflüsse!z. B. VersprecherVariation derGedankenAusleseAuslese des„Un-Sinns“ProduktionProduktion vonDokumentenredenschreibenzeichnenmalenIsolation undTodTod derAlternativenTod derGedankendurchVergessen149


AnmerkungenHorst Prehn150Ihrer eigenen Evolution der Gedanken allein lassen. Die Abbildungzeigt Ihnen dann, welche Schritte Sie unternehmen müssenund welche Bedingungen der Kreativität förderlich sind und Sielassen es einfach weiterwachsen ohne meinen Kommentar!Betrachten wir ein allgemein gut bekanntes Beispiel aus demKunstkontext. Beobachten wir deshalb den „Malprozeß“ aus derSicht dieses Modells!Als Maler beginne ich meinen Gestaltungs-Prozeß zunächstmit einer ungeordneten Aktion, mit der Erzeugung von Mustern(Generator). Dabei lasse ich alles zu, was sich abspielt, wasgeschieht im Denken, Fühlen, Wünschen, Vorstellen und Handeln.Ich verfüge somit über einen endogenen und exogenenFundus außerhalb der Grenzen des Begrifflichen, der Regeln,der Codes. Dieses „Erzeugnis“ ungeordneter und gleichwertigerTeile erkenne ich als mein „Material“ an.Mit dem ersten Schritt der Mutation versuche ich, dannmöglichst vielfältige Variationen zu erzeugen. Hierbei kann ichsowohl Zufälle, Fehler oder Störungen zulassen als auch verschiedeneStrategien der Dekonstruktion anwenden. Damit werden imeigenen Denken und Fühlen die sinnproduzierenden Bezugssystemegelockert, oder ich kann Identitätssysteme platzen lassen undBedeutungsstrukturen und Signifikanzen verbiegen. Die Strategiender Dekonstruktion wende ich deshalb an, um die „Materialien“auf neue Weise miteinander zu verknüpfen (z. B. durch Verbinden,Verkoppeln, Verzerren, Verstärken, Vermindern, Verformen,Vermischen, Überlagern, Falten, Transformieren u. v. a. m.), ummöglichst vielfältige und formal reiche Mutationen zu erzeugen.Der zweite Schritt der Selektion geschieht nun aufgrundmeiner Beobachtung und Wahrnehmung mit meinen ganz spezifischenVoreingenommenheiten, Aufmerksamkeiten undEmpfindungen. Dabei wechsele ich die Sicht des Beobachters– schau-vogel-schau … von einer Wahrnehmungsmöglichkeit


Zwischen Empfindung und BedeutungAnmerkungenzur anderen und entdecke mit der jeweiligen „selektiven“ Brillevielfältige Inseln struktureller und semantischer Ordnungen.Hierbei strebe ich einen möglichst großen Reichtum und einemöglichst große Bandbreite an Wahrnehmungsoptionen an. Ichtreffe auch möglichst viele Entscheidungen, und dies gelingt mirdann umso besser, wenn ich die Zukunft offen halte und versuche,Vorhersagen zu vermeiden.Durch Rückkopplung meiner Wahrnehmungen auf denmalerischen Handlungsprozeß kann nun der dritte Schritt derReproduktion einsetzen, wodurch ganz bestimmte Muster mit spezifischersubjektiver Signifikanz und „Eigen-Art“ entstehen. Oder,um es mit Goethe zu sagen: „Es regt sich kühn des Bildes Kraft, dieetwas zu Bestimmtem schafft“. Oder weniger poetisch ausgedrückt,durch diese rekursive Operation wird „etwas“ mit jeder Iterationimmer „etwas-iger“”.Die reproduzierten Muster werden dann umso weniger stereotyp,je größer die Bandbreite und der Reichtum meiner malerischenHandlungsoptionen ist. In manchen Fällen kann die Bandbreiteder Handlungsoptionen und Wahrnehmungsoptionenplötzlich dramatisch verengt werden – zum Beispiel durch Angst(lat. angus=Enge) – so daß die Wahrscheinlichkeiten für allevielfältigen weiterreichenden Wahrnehmungen und Handlungendramatisch sinken und sich somit die Wahrscheinlichkeit für nureinige wenige Handlungsoptionen erhöht. In diesem Fall werdennur sehr stereotype Erscheinungen zum Ausdruck gebracht.Der vierte Schritt der Isolation bedeutet schließlich den „Todder Alternativen” durch Vergessen, durch Auslöschen alternativerMuster. Die neuen Muster grenzen sich ab und sind nicht mehrformal und semiotisch kompatibel mit den Mustern oder Bedeutungen,aus welchen sie entstanden sind. Damit bilden sich neueHandlungsfelder und Wahrnehmungshorizonte aus, mit neuen Auch die stereotypensensomotorischenFluchtreflexe werdenbei Gefahr, Angst undBedrohung ausgelöst. Auch biologischkönnen die neuenArten keineNachkommen mehrmit ihren Vorfahrenhervorbringen. Auch neue151Kunstgattungen undStile oder neue wissenschaftlicheParadigmenoder soziale, ideologischeGruppen grenzensich ab!


Metaphern zum Evolutionsmodell152– Es gibt keine zentralistische Kreativität!– Es gibt kein „Gesetz“ der Evolution!– Kreativität ist verästelt!– Kreativität (Evolution) ist spontan!– Kreativität (Evolution) ist nicht zu stoppen!– Jeder Augenblick hat eine andere Zukunft!– Do not design just decide!– Wenn man ein Tonband der Evolution zurückdreht,erhält man völlig andere Ergebnisse!– Laß es wachsen und beobachte!– Etwas Neues ist noch lange keine Kreativität!– Neue Arten gehen auf Distanz!– Jedes System ist selbstsüchtig!– Jede Struktur erhält sich selbst!Vom Wahren, Guten, Schönen zum Lebendigen!


GestaltungsprinzipSymmetrienKunst: „Syn-metron“d. i. Zusammen-Maß;Regeln, nach denen dieTeile eines Ganzen zusein habenÄsthetikOrdnungsprinzipSymmetrienabgeschlossenStilerhaltungErhaltung des Prinzipsder Gestaltungoffen Systeme offen abgeschlossenStilbrücheGeneratorenProzeß-InvarianzenGenerativeGestaltungsprozesseSymmetriebrücheSymmetrieerhaltungErhaltungssätze153Mathematik: Idee derInvarianz eines Gebildesgegenüber einer Gruppeautomorpher Transformationenbeing becoming becoming beingVirtuosität KreativitätSelbst- FundamentaleKräfteVerboten!Verstöße gegenmehrere SymmetrienAuswahlprinzipVerboten!Verstöße gegenmehrere SymmetrienAlles, was erlaubt ist, kommt vor undist Ausdruck eines Ordnungsprinzipsvon Symmetrien


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