Kommunikationsprozesse - Studienkreis Rundfunk und Geschichte
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Lüthje <strong>und</strong> Pater: Chancen für die historische Rezeptionsforschung 7<br />
Im Folgenden werden zunächst die methodologischen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen von Gruppendiskussionen <strong>und</strong><br />
ihre Bedeutung für historische Rezeptionsforschung<br />
geklärt. Im zweiten Teil wird der Ablauf eines Forschungsprojektes<br />
anhand der studentischen Arbeiten,<br />
die die Basis dieser Ausführungen bilden, dokumentiert.<br />
Das Gruppendiskussionsverfahren.<br />
Methodologische Gr<strong>und</strong>lagen<br />
Schon Ernst Cassirer stellte in seinem »Versuch über<br />
den Menschen« fest: »Erinnerung bedeutet nicht<br />
bloß Reproduktion, sondern ist eine neue intellektuelle<br />
Synthese – ein konstruktiver Akt.« 9 Dieser kulturphilosophischen<br />
Perspektive schloss sich Pierre<br />
Bourdieu an. Für ihn war eine Lebensgeschichte,<br />
eine autobiographische Erinnerung, ein »untadeliger<br />
Artefakt«, also eine Konstruktion, die der scheinbaren<br />
Notwendigkeit unterliegt, den einzelnen Etappen<br />
des Lebens in der Retrospektive eine Zielgerichtetheit<br />
zu verleihen. 10 Dabei täuschen die unvermeidlichen<br />
perspektivischen Verkürzungen bei der Rekonstruktion<br />
einen vorherbestimmten Sinn der eigenen<br />
<strong>Geschichte</strong> als vorbestimmte Entwicklung vor. Über<br />
den Eigennamen wird die biologische Identität eines<br />
Akteurs dauerhaft zu einer sozialen Identität. Jedoch<br />
hat der namentlich bezeichnete <strong>und</strong> damit identifizierbare<br />
Akteur in jedem Moment seines Lebens nur<br />
die momentane Identität, die sich aus seiner derzeitigen<br />
Position im gesellschaftlichen Raum <strong>und</strong><br />
dem bis dahin akkumulierten Kapital (unbewusst)<br />
definiert. Diese Identität ist permanentem Wandel<br />
unterworfen. Die »biographische Illusion« dient nun,<br />
so Bourdieu, dazu, dem Individuum subjektiv Kohärenz<br />
<strong>und</strong> Konstanz zu verleihen <strong>und</strong> sich seiner<br />
selbst in ständig wechselnden Umwelten als stets<br />
das gleiche Ich zu vergewissern. Die soziale Oberfläche,<br />
welche als die »Gesamtheit der Positionen, die<br />
zu einem gegebenen Zeitpunkt gleichzeitig von einer<br />
sozial feststehenden biologischen Individualität<br />
eingenommen werden«, <strong>und</strong> die »Fähigkeit, als handelnde<br />
Person, in verschiedenen Feldern zu existieren«<br />
verstanden wird, können mit biographischen Interviews<br />
nicht exakt erfasst werden. Als Alternative<br />
nennt Bourdieu die soziale Analyse, mit deren Hilfe<br />
das soziale Altern eines Akteurs – welches vom biologischen<br />
Altern abgekoppelt ist – als »Abfolge der<br />
Zustände des Feldes rekonstruiert (...) [wird], in dem<br />
es sich vollzogen hat.« Verlauf wird nun als eine Abfolge<br />
von Positionen gesehen, »die ein <strong>und</strong> derselbe<br />
Akteur (...) in einem selber im Wandel begriffenen<br />
<strong>und</strong> einem ständigen Wandel unterworfenen Raum<br />
einnimmt«. Platzierungen <strong>und</strong> Platzwechsel des Akteurs<br />
im sozialen Raum stehen im Fokus der sozialen<br />
Analyse <strong>und</strong> damit die jeweilig gültigen Logiken <strong>und</strong><br />
Kapitalstrukturen der betreffenden Felder. Ein individueller<br />
Akteur ist für Bourdieu ein »Träger einer Gesamtheit<br />
von Attributen <strong>und</strong> Zuschreibungen.«<br />
Diese kulturphilosophische (Cassirer: Konstruktion)<br />
<strong>und</strong> kultursoziologische (Bourdieu: Illusion) Sicht auf<br />
biographische Erinnerungen wurde in jüngster Zeit<br />
von einem interdisziplinären Forschungsverb<strong>und</strong><br />
unter Mitwirkung von Neurowissenschaftlern untermauert.<br />
11 Gedächtnis ist nach den Ergebnissen dieses<br />
Projekts ein »biokulturelles Relais zwischen Individuum<br />
<strong>und</strong> Gesellschaft«, ein dynamischer Prozess.<br />
Informationsspeicherung <strong>und</strong> Informationsabruf erfolgen<br />
zustandsabhängig, was auch dazu führt, dass<br />
sich das Gedächtnis im Laufe des Lebens verändert.<br />
Mit zunehmendem Alter werden Gedächtnisinhalte<br />
immer wieder in wechselnden Kontexten <strong>und</strong><br />
Stimmungen neu abgerufen, verknüpft <strong>und</strong> gespeichert.<br />
Mit diesen ständigen »Re-Enkodierungen« in<br />
den jeweils vorherrschenden Stimmungen verändert<br />
sich das Gedächtnis permanent bei Konstanz derselben<br />
Person des Ichs. 12 Dies wird vor allem durch<br />
das »Anwachsen der evaluativen Komponente des<br />
autobiographischen Erinnerns, sowohl auf der Ebene<br />
der subjektiven Repräsentation wie auf der Ebene<br />
der neuronalen Aktivierungsmuster« unterstrichen. 13<br />
Ein weiterer Indikator ist das »geringe Aktivierungspotential<br />
für Erinnerungen aus der frühen Kindheit<br />
[bei älteren Menschen, CL/MP] (...), obwohl diese<br />
narrativ deutlich repräsentiert sind.« Das bedeutet:<br />
Es wird viel über »alte Zeiten« erzählt, aber ob<br />
diese Erzählungen den tatsächlichen Geschehnissen<br />
äquivalent sind, ist zweifelhaft. Dieser Bef<strong>und</strong>,<br />
so Markowitsch <strong>und</strong> Welzer, »weist auf eine zunehmende<br />
Semantisierung älterer Erinnerungen im Lebenslauf<br />
hin.« Zusammengefasst lässt sich sagen,<br />
dass es sich bei dem autobiographischen Gedächtnis<br />
um ein Wandlungskontinuum mit dem Zweck der<br />
Selbstvergewisserung des Ichs in wechselnden Umweltbedingungen<br />
<strong>und</strong> der Integration des Individuums<br />
in Gesellschaft handelt, das von individuell ganz<br />
unterschiedlich gewichteten biologischen <strong>und</strong> sozialen<br />
Determinanten bestimmt wird. Die Entwicklung<br />
des Gehirns verläuft in einem genetisch-biologischen<br />
Programm <strong>und</strong> ist dabei von Umweltreizen,<br />
die vor allem in Form von Wahrnehmung <strong>und</strong> Kom-<br />
9 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Hamburg 2007,<br />
S. 238 [Original 1944].<br />
10 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: Ders.: Praktische<br />
Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998,<br />
S. 75–82.<br />
11 Hans J. Markowitsch <strong>und</strong> Harald Welzer: Das autobiographische<br />
Gedächtnis. Hirnorganische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> biosoziale Entwicklung.<br />
Stuttgart 2005.<br />
12 Ebd., S. 241.<br />
13 Ebd., S. 230.