Vorlesen in Familien - elementargermanistik.uni-bremen.de ...
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ihren Schwestern etwas erklären konnte und tat dies<br />
mit großer Freu<strong>de</strong>.<br />
Unsere Vorleserituale haben sich sehr bewährt. Das<br />
Tragen <strong>de</strong>r Tasche <strong>in</strong>s K<strong>in</strong><strong>de</strong>rzimmer eröffnete das<br />
<strong>Vorlesen</strong>. Weiter g<strong>in</strong>g es mit <strong>de</strong>m Ausbreiten <strong>de</strong>r Decke<br />
auf <strong>de</strong>m Fußbo<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Anschließen <strong>de</strong>r<br />
Lampe. Dies waren ganz klare Zeichen dafür, dass<br />
jetzt die Vorlesezeit beg<strong>in</strong>nen wür<strong>de</strong>. Vivian tat dies<br />
selbstständig und mit großer Freu<strong>de</strong>. Manchmal halfen<br />
ihr ihre Schwestern dabei. Nach <strong>de</strong>m Aufbau<br />
machte sie selbst die Tür zu, weil sie nicht gestört<br />
wer<strong>de</strong>n wollte. Ziemlich schnell etablierte sich auch,<br />
dass wir uns mit <strong>de</strong>m Lesen abwechselten, was auch<br />
zu e<strong>in</strong>er Art Ritual wur<strong>de</strong>.“ (Dokumentation, Stu<strong>de</strong>nt<strong>in</strong>)<br />
Positive Erfahrungen machen die Studieren<strong>de</strong>n auch<br />
mit <strong>de</strong>r Beziehung, die sich zwischen ihnen und ihrem<br />
Vorlesek<strong>in</strong>d entwickelt:<br />
„Es schien mir immer so, dass M. (Junge) sich auf<br />
unsere Treffen freut. Er hat mich immer an <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>gangstür<br />
abgeholt und mich auch zu Begrüßung und<br />
zum Abschied umarmt. Ich glaube, Maurice hat unsere<br />
geme<strong>in</strong>same Zeit genossen, da ich auch ke<strong>in</strong>e<br />
„Leistungen“ von ihm erwartet habe. Se<strong>in</strong>e Mutter war<br />
immer sehr darauf bedacht, dass Maurice <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Schule<br />
gute Noten hat, etc, und hat ihn ziemlich unter<br />
Druck gesetzt, befürchte ich. Bei mir war das nicht<br />
wichtig und das hat ihm gefallen und sich entspannen<br />
lassen. Außer<strong>de</strong>m hatte er mich für sich alle<strong>in</strong>, <strong>de</strong>nn<br />
se<strong>in</strong>e Eltern wollten nicht, dass se<strong>in</strong>e Geschwister an<br />
unseren Lesetreffen teilnahmen. M.‘s Mutter hat mir<br />
auch immer versichert, dass er sich auf unsere Treffen<br />
freut und ständig etwas für mich basteln möchte.<br />
Maurice bastelt sehr gerne.<br />
71 Episo<strong>de</strong>: Wie<strong>de</strong>rholung e<strong>in</strong>es Geschehens <strong>in</strong> äußerlich verän<strong>de</strong>rter Form.<br />
Als feste Rituale hatten M. und ich, dass das Türschild<br />
(Vorlesezeit) aufgehängt wird. Und dieses h<strong>in</strong>g schon<br />
immer an <strong>de</strong>r Wohnzimmertür, wenn ich ankam. M.‘s<br />
Mutter erzählte mir e<strong>in</strong>mal, dass er das Schild an <strong>de</strong>n<br />
Vorlesetagen aufhängt, sobald er aus <strong>de</strong>r Schule<br />
kommt. ... Das Buch, das wir gelesen haben, durfte M.<br />
immer bis zum nächsten Term<strong>in</strong> behalten. Eigentlich<br />
liefen unsere Vorlesestun<strong>de</strong>n alle sehr ähnlich ab.<br />
Nach <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>stieg habe zunächst ich das Buch e<strong>in</strong>mal<br />
vorgelesen und im Anschluss haben wir es noch<br />
e<strong>in</strong>mal zusammen gelesen, wobei M. dann gelesen<br />
hat und nur manchmal bei mir nach Bestätigung gesucht<br />
hat.“<br />
(Dokumentation, Stu<strong>de</strong>nt<strong>in</strong>)<br />
E<strong>in</strong> Stu<strong>de</strong>nt zieht allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong> ernüchtertes<br />
Fazit:<br />
„D. fehlte es fast immer an Basiswissen, um die Inhalte<br />
<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Büchern verstehen und die Forschungsfragen<br />
beantworten zu können. Er war durchweg überfor<strong>de</strong>rt.<br />
Ich habe es nicht geschafft, ihn für Bücher zu<br />
begeistern, auch wenn es ihm zeitweise Spaß gemacht<br />
hat. Er wird auch künftig ke<strong>in</strong> Buch zu Hand<br />
nehmen.“ (Dokumentation, Stu<strong>de</strong>nt)<br />
Die zum Teil schmerzhaften Erfahrungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n <strong>Familien</strong><br />
(O-Ton Stu<strong>de</strong>nt<strong>in</strong>nen: „Ich mochte da me<strong>in</strong>e<br />
Schuhe nicht ausziehen, so dreckig war es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r<br />
Wohnung!“ – „Nach vier Wochen hatte ich <strong>de</strong>n dritten<br />
Lebensgefährten <strong>de</strong>r Mutter kennen gelernt!“), die<br />
Wahrnehmung <strong>de</strong>s „alltäglichen Chaos“, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>ige<br />
K<strong>in</strong><strong>de</strong>r leben, hat <strong>de</strong>n Blick für <strong>de</strong>ren Belastungen<br />
geschärft, e<strong>in</strong>e wichtige Erfahrung für <strong>de</strong>n zukünftigen<br />
Beruf.<br />
Die positiven Erfahrungen <strong>de</strong>r Studieren<strong>de</strong>n kommen<br />
auch dar<strong>in</strong> zum Ausdruck, dass – bis auf e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />
- alle das Projekt bis zum En<strong>de</strong> durchgehalten<br />
haben, trotz hoher zeitlicher Belastung und ke<strong>in</strong>er<br />
zusätzlichen Gratifikation (Sche<strong>in</strong>e!) von Seiten <strong>de</strong>r<br />
Universität. In solchen praktischen Projekten zeigt<br />
sich, wie sehr Studieren<strong>de</strong> e<strong>in</strong> Bedürfnis nach konkreter<br />
und s<strong>in</strong>nhafter Arbeit haben, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sichtbar wird,<br />
wozu theoretisches Wissen brauchbar ist.<br />
Anmerkung<br />
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