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3Einführung“Material, von spätlateinisch materialis – das zur Materie gehörende – allgemein sinnverwandtzu Stoff, Substanz, Werkstoff, im Bereich der Fertigung übliche Bezeichnung für dieRoh -, Hilfs - und Betriebsstoffe, . . . , die im Rahmen der Fertigung eingesetzt werden”(Meyers Lexikon).Material ist also fast alles was von Menschen eingesetzt wird um daraus etwas anderesherzustellen. Etwas genauer ist vielleicht der Begriff Werkstoff, der genau dies sagt – der Stoffaus dem man ein Werk herstellt. Heute unterscheidet man bei Werkstoffen häufig zunächstzwei Gruppen:• Funktionswerkstoffe – das sind alle die Materialien, die für einen Zweck jenseits mechanischerEigenschaften eingesetzt werden; also z.B. das große Gebiet der Halbleiter,Supraleiter, elektrokeramischen Materialien, Magnetwerkstoffe usw.• Strukturwerkstoffe – die Materialien, die für einen im weitesten <strong>Si</strong>nn mechanischenZweck, Herstellung einer Struktur eben, eingesetzt werden. Hierzu zählen insbesonderedie meisten Einsatzgebiete der Metalle und Polymere, aber auch etwa Beton, Ton, Glasusw.Natürlich ist eine solche Unterscheidung nicht immer streng möglich, denn häufig mussein Kompromiss verschiedener Eigenschaften gefunden werden, wobei mechanische gegenandere Eigenschaften abgewogen werden. Eine Hochspannungsleitung etwa muss natürlichzunächst einen kleinen elektrischen Widerstand haben, andererseits darf sie nicht zu schwersein, muss über eine möglichst große Länge ihr Gewicht tragen, muss korrosionsfest sein, etc.In dieser Vorlesung soll die Physik von Materialien behandelt werden, wobei neben denstrukturellen auch mechanische, magnetische und thermische Eigenschaften besprochen werden.Die klassische Festkörperphysik behandelt im wesentlichen das Studium perfekter, oderidealisierter Strukturen, während die Materialphysik die realen Strukturen mit ihren Defekten,die für sehr viele Eigenschaften von zentraler Bedeutung sind, untersucht. Dazu kommendann in der Materialphysik eine Reihe von Anleihen bei der Thermodynamik, statistischenPhysik und bei der Chemie, die für das Verständnis von Phasenumwandlungen und Transportprozessenwichtig sind.Weiters wird sich die Vorlesung in vielen Fällen auf metallische Materialien beschränken,denn für diese sind die meisten physikalischen Konzepte häufig entwickelt worden. Allerdingssind sie meist so allgemein, dass sie auch auf andere Werkstoffklassen übertragbar sind.Diese hier vorliegende Ausgabe des Skriptums über Materialwissenschaften beruht inTeilen auf Vorlesungsunterlagen, die an anderen Universitäten verwendet werden (z.B. Prof.Freudenberger, IFW Dresden, Materialwissenschaften and der T.U. Darmstadt), einem ausgezeichnetaufbereitetem interaktiven Kurs über Materialwissenschaften (Prof. Föll, UniKiel, http : //www.tf.uni−kiel.de/matwis/amat/generalinfo en/index.html), dem Lehrbuchaus Experimentalphysik 3, Prof. Demtöder, der Einführung in die Festkörperphysik, Ch.Kittel und einige weitere Lehrbücher und Übersichtsartikel. Es gibt natürlich auch spezielleEinführungen in die Materialwissenschaften, die den einen oder anderen Aspekt stärker


4betonen, als es im vorliegenden Skriptum der Fall ist. Verschiedene Forschungsergebnisseder verantwortlichen Autoren, sowie weiterer Mitarbeiter am Institut für Festkörperphysik,haben ebenfalls Eingang in diese Unterlagen gefunden und stellen damit einen Beitrag zurforschungsgeleiteten Lehre dar.Dieses Skriptum soll Ihnen helfen, die knapper gehaltenen Vorlesungsunterlagen,die den Stoffbereich der Prüfung definieren, besser zu verstehen. Es soll Ihnen aber auchden einen oder anderen interessanten Aspekt der Materialwissenschaften näher erläutern.Wir ersuchen <strong>Si</strong>e höflich, Druckfehler oder sonstige Fehler, sowie Verbesserungsvorschlägeden Autoren dieses Skriptums mitzuteilen (bauer@ifp.tuwien.ac.at, eisenmenger@ifp.tuwien.ac.at,fidler@ifp.tuwien.ac.at).Wien, im Februar 2010E. Bauer (Tel. 01 58 801 131 60)Ch. Eisenmenger - <strong>Si</strong>ttner (Tel. 01 58 801 137 74)J. Fidler (Tel. 1 58 801 137 14)Die jeweils aktuelle Version dieses Skriptums sowie Vorlesungsunterlagenkönnen über TUWIS kostenlos bezogen und heruntergeladen werden.


Inhaltsverzeichnis1 Kristallstrukturen 91.1 Translationsgitter, Symmetrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.2 Kristallklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.3 Miller Indizierung und reziprokes Gitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151.4 Einfache Kristallstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201.5 Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.5.1 Ionenbindung – heteropolare Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271.5.2 Kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301.5.3 van der Waals-Bindung – Edelgaskristalle . . . . . . . . . . . . . . . 331.5.4 Metallische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351.6 Kristallgitterdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Strukturbestimmung 512.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512.2 Streuung am einzelnen Atom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552.2.1 Streuamplitude und Bornsche Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . 562.2.2 Röntgenstreuung am Atom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582.2.3 Elektronen-Beugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602.2.4 Neutronenstreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612.2.5 Vergleich der Streulängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642.3 Beugung an periodischen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662.4 Grundlagen der Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682.5 Experimentelle Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712.5.1 Röntgenbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742.5.2 Elektronenbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802.5.3 Neutronenbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833 Mehrstoffsysteme 873.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873.2 Thermodynamische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893.2.1 Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 893.2.2 Entropie, freie Energie und freie Enthalpie . . . . . . . . . . . . . . . 933.3 Konstitutionslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995


6 INHALTSVERZEICHNIS3.3.1 Die Phasenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993.3.2 Thermodynamisches Gleichgewicht in Zweistoffsystemen . . . . . . . 1023.3.3 Ideale Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033.3.4 Herleitung binärer Zustandsdiagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093.3.5 Vollmischbare Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123.4 Reale Zustandsdiagramme und ihre Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . 1193.4.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1193.4.2 Eutektische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203.4.3 Kornseigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243.4.4 Vollmischbare Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263.4.5 Systeme mit Mischungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263.4.6 Peritektische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1273.4.7 Allgemeine Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1293.4.8 Beispiel: Stahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323.5 Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343.5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343.5.2 Atomistische Diffusionsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1353.5.3 Diffusion in kontinuierlichen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1403.5.4 Diffusion und Phasendiagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1443.6 Entmischungsvorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1493.6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1493.6.2 Nukleation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1503.6.3 Spinodale Entmischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1563.7 Oberflächen und Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1583.7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1583.7.2 Grundlagen der Grenzflächenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1593.7.3 Technologische Bedeutung von Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . 1623.8 Präparationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643.8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643.8.2 Abscheidung aus der Schmelze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1643.8.3 Abscheidung aus der Gasphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1653.8.4 Abscheidung aus der Flüssigphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1653.8.5 Darstellung aus der festen Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1663.8.6 Nachbehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1674 Makroskopische Eigenschaften 1694.1 Metalle, Halbleiter und Isolatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1694.1.1 Metalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1694.2 Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1834.2.1 Reine Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1834.2.2 Gestörte Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1864.2.3 Halbleiter-Elektronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1904.3 Mechanische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194


INHALTSVERZEICHNIS 74.3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1944.3.2 Elastische Grundgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1944.3.3 Kristallstruktur und elastische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . 1994.3.4 Nichtelastische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2014.3.5 Messung mechanischer Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2064.4 Thermische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2084.4.1 Spezifische Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2084.4.2 Thermische Leitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2184.4.3 Thermische Ausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2264.5 Magnetische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2334.5.1 Magnetisches Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2344.5.2 Einteilung der magnetischen Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 2374.5.3 Klassische Theorie des Ferromagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2424.5.4 Magnetisierungsprozesse, Hysteresis und Domänentheorie . . . . . . . 2464.5.5 Einteilung der magnetischen Werkstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 250A Modellbildung zur thermischen Ausdehnung 261


8 INHALTSVERZEICHNIS


Kapitel 1Kristallstrukturen1.1 Translationsgitter, SymmetrienDie Vielzahl der verschiedenen Erscheinungsformen der Festkörper lassen sich nach unterschiedlichenKriterien in Klassen einordnen. Ein wichtiges Ordnungskriterium ist ihreräumliche Struktur. Man unterscheidet dabei:• Einkristalle, bei denen die Orte der Atome durch ein periodisches Gitter von Raumpunktenbeschrieben werden können. Die Periodenlängen des Gitters sind für den jeweiligenFestkörperkristall charakteristisch. Bei einem idealen Einkristall erstreckt sichdieses periodische Raumgitter über den gesamten Kristall. Man sagt dann, dass eineFernordnung vorhanden ist (Abb. 1.1). Im einfachsten Fall nur einer Atomsorte könnenwir uns den Festkörper - z.B. die elementaren Metalle, oder einen Diamanten - als Anordnungvon Kugeln vorstellen, die sich berühren müssen, d.h. gegenseitige Bindungenaufweisen. Aus der bekannten Position einiger Atome lässt sich die Position aller anderenAtome berechnen. Entlang einer Linie, die durch die Zentren zweier beliebigerAtome führt, lassen sich die Wahrscheinlichkeiten, bei einer beliebigen Position einAtom zu finden, durch δ - Funktionen angeben. Es existiert eine Nah- und Fernordnungund eine Translationssymmetrie.• Polykristalline Festkörper, die aus vielen kleinen Einkristallen bestehen, deren Größeund relative Orientierung regellos variiert. Die Periodizität der Atomanordnung giltjeweils nur für jeden einzelnen dieser Mikrokristalle; sie erstreckt sich nicht über denganzen Festkörper (Abb. 1.2).• Amorphe Festkörper, bei denen die Atome bzw. Moleküle unregelmäßig verteilt angeordnetsind. Es gibt keine strenge Periodizität mehr und daher auch keine Fernordnung(Abb. 1.3). Aus der bekannten Position einiger Atome lässt sich die Positionaller anderen Atome nicht berechnen. Entlang einer beliebigen Linie lässt sich dieWahrscheinlichkeit, bei einer beliebigen Position ein Atom zu finden, durch eine radialeVerteilungsfunktion angeben. Es existiert nur eine beschränkte Nahordnung. Esexistiert keine Translationssymmetrie.9


10 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.1: a) Schematische 2-dimensionale Darstellung einer streng regelmäßigen Kristallstruktur.b) Wahrscheinlichkeit, bei einer beliebigen Position ein Atom zu findenAbbildung 1.2: Zweidimensionale Darstellung eines polykristallinen FestkörpersAbbildung 1.3: a) Schematische 2-dimensionale Darstellung einer regellosen amorphen Struktur.b) Radiale Verteilungsfunktion. c) schematische zweidimensionale Darstellung einesamorphen Festkörpers ohne Fernordnung, z.B. von Glas.


1.1. TRANSLATIONSGITTER, SYMMETRIEN 11• Flüssigkristalle, die sich in einem Zwischenzustand befinden zwischen dem geordnetenZustand eines kristallinen Festkörpers und dem einer isotropen Flüssigkeit mit statistischvariierenden Orten individueller Atome bzw. Moleküle. Je nach Temperaturoder äußerem angelegten Feld lassen sich Flüssigkristalle mit eindimensionaler Periodizitätrealisieren oder auch eine Anordnung, bei der die Moleküle in einer Ebeneeine Fernordnung zeigen, die aber für verschiedene Ebenen ganz verschieden sein kann.Translationsgitter Wir wollen zuerst die einkristallinen Festkörper behandeln. Am einfachstenzu beschreiben sind atomare Kristalle, bei denen an jedem Punkt des Raumgittersgenau ein Atom sitzt. Wir wählen den Ort eines dieser Atome als Nullpunkt unseres Koordinatensystemsund nennen die Ortsvektoren a 1 , a 2 , a 3 zu den drei Nachbaratomen die Basisvektorendes Gitters. Bei einem rechtwinkligen Gitter zeigen sie in x-, y- und z-Richtung.Wir werden jedoch weiter unten sehen, dass nicht alle Gitter rechtwinklig sind.Der Ortsvektor zu einem beliebigen Gitterpunkt (Translationsvektor)T = u · a 1 + v · a 2 + w · a 3 (1.1)lässt sich dann immer als Linearkombination der Basisvektoren darstellen (u,v,w ganzzahlig).Das Parallelepiped, das sich aus den drei Basisvektoren a, b, c aufbaut, heißt Elementarzelledes Kristalls. Da sich das gesamte Kristallgitter durch Translationen der Elementarzelleaufbauen lässt, nennt man ein solches Gitter auch Translationsgitter.Symmetrie Bedeutet, dass sich Eigenschaften eines Systems unter bestimmten Operationennicht ändern. Für den kristallinen Aufbau, soweit wir ihn bereits kennen, herrschtoffensichtlich Translationssymmetrie.• Translationsymmetrie heißt: Ein Kristall ändert sich nicht, wenn alle Atome um bestimmteWerte x 0 , y 0 , z 0 verschoben werden. In anderen Worten, es ist egal wo wirden Ursprung eines Koordinatensystems hinlegen, solange er an einem Symmetriepunktsitzt.• Ein Kristall ändert sich möglicherweise auch nicht, wenn man ihn um bestimmte Winkeldreht, an bestimmten Ebenen spiegelt oder relativ zu einem gegebenen Punkt invertiert(d.h. alle Vektoren r vom Aufpunkt aus zu einem Atom durch −r ersetzt).• Wir erwarten damit noch weitere Symmetrien: Rotationssymmetrie, Spiegelsymmetrie,Inversionssymmetrie.• Eine Symmetrieachse C n heißt n-zählig, wenn der Kristall bei der Drehung um denWinkel ϕ = 2π/n wieder in sich übergeht. In Kristallen treten Symmetrieachsen C nmit n = 2, 3, 4 oder 6 auf. So gibt es bei einem kubischen Kristall drei Symmetrieebenenparallel zu den Seitenflächen (Abb. 1.4a) und sechs Ebenen durch die Flächendiagonale(Abb. 1.4b). Es gibt drei vierzählige Symmetrieachsen C 4 (Abb. 1.4c), vier dreizähligeAchsen C 3 (Abb. 1.4d) und vier zweizählige Achsen C 2 (Abb. 1.4e). Es gibt jedochfür ein Translationsgitter keine Symmetrieachsen mit n = 5 und n ≥ 7. Man kann


12 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENeine Ebene nicht vollständig mit Fünfecken oder <strong>Si</strong>ebenecken ausfüllen, ohne dass freieStellen oder Überlappungen auftreten.Abbildung 1.4: Einige Symmetrieebenen (a)-(b) und Symmetrieachsen (c)-(e) eines kubischenKristallsQuasikristalline Materialien verhalten sich in vielen Experimenten wie ein Kristall mit einer5-zähligen Symmetrie, d.h. die konventionellen Regeln der Kristallographie gelten nicht.Quasikristalle sind Kristalle, die Symmetrien aufweisen und wo Atome regelmäßig angeordnetsind, ohne dabei ein periodisches Gitter (keine Translationssymmetrie) zu bilden. Mankennt heute eine ganze Reihe von Legierungssystemen (über 60, die meisten auf der Basis vonAluminium oder Titan), die eine oder mehrere quasikristalline Phasen mit 5-, 8-, 10- oder 12-zähliger Symmetrie bilden können. Die Mehrheit dieser Phasen ist metastabil, d. h. sie gehenbei höheren Temperaturen in periodisch kristalline Phasen über. Die Herstellung beruht indiesem Fall auf schnellen Abschreckverfahren. Inzwischen hat man auch einige Legierungenhergestellt, in denen stabile quasikristalline Phasen existieren. Aus Legierungen wie AlCu-Co oder AlCuFe lassen sich mit klassischen Kristallzuchtverfahren Ein-Quasikristalle vonmehreren Zentimetern Größe direkt aus der Schmelze ziehen.Damit sind Kristallstrukturen mathematisch erfassbar. Das Vorgehen dabei ist wie folgt:Zuerst betrachten wir eine rein mathematische Konstruktion: Das Punktgitter oder kurzGitter. In ihm sind mathematische Punkte so angeordnet, dass sie zumindest eine Translationssymmetriebesitzen. Das Punktgitter ist ein mathematisches Objekt und damit keinKristall; denn ein Kristall ist ein physikalisches Objekt und bedarf der Atome. Vom Punktgitterzum Kristall kommt man, indem jedem Punkt des Punktgitters ein Baustein des Kristallzugeordnet wird, die so genannte Basis. Das kann ein einziges Atom sein, aber auch Verbändeoder Moleküle mit hunderten von Atomen. Damit folgt eine sehr wichtige Definition (Abb.1.5):Kristall = Gitter + Basis


14 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTUREN1.2 KristallklassenMan kann alle möglichen Kristallgitter nach ihren Symmetrien in sieben Kristallsysteme einteilen,wobei zu jedem dieser Systeme entweder nur ein einziges primitives Gitter gehört oderzusätzlich noch nichtprimitive Gitter mit mehr als einem Atom pro Einheitszelle. Insgesamtgibt es 14 Gittertypen, die nach dem französischen Physiker Auguste Bravais (1811-1863) die14 Bravaisgitter heißen. Die sieben Kristallsysteme unterscheiden sich durch die Winkel α, βund γ, welche die Basisvektoren a, b, c miteinander bilden und durch die Längenverhältnisseder Basisvektoren. Wir wollen sie, geordnet nach steigender Symmetrie, kurz besprechen(Abb. 1.8):a) Triklines Kristallsystema ≠ b ≠ c und α ≠ β ≠ γ. Es gibt nur das triklin primitive Gitter.b) Monoklines Kristallsystema ≠ b ≠ c und α = γ = 90 ◦ ≠ βHier gibt es zwei Bravaisgitter: Das monoklin primitive und das monoklin basiszentrierteGitter, bei dem zusätzlich Gitterpunkte im Zentrum der von den Basisvektoren a und baufgespannten Flächen liegen.c) Rhombisches Kristallsystema ≠ b ≠ c und α = β = γ = 90 ◦Hier gibt es vier verschiedene Bravaisgitter: Das rhombisch primitive, das rhombischbasiszentrierte, das rhombisch raumzentrierte und das rhombisch flächenzentrierte Gitter.d) Hexagonales Kristallsystema = b ≠ c und α = β = 90 ◦ γ = 120 ◦Es gibt nur ein Bravaisgitter, nämlich das hexagonal primitive Gitter, dessen Einheitszelleeine rechtwinklige Säule mit einer Raute als Basisfläche ist.e) Rhomboedrisches oder trigonales Kristallsystema = b = c und α = β = γ ≠ 90 ◦Es gibt nur das trigonal primitive Bravaisgitter.f) Tetragonales Kristallsystema = b ≠ c und α = β = γ = 90 ◦Es gibt zwei Bravaisgitter: Das tetragonal primitive und das tetragonal raumzentrierteGitter.g) Kubisches Kristallsystema = b = c und α = β = γ = 90 ◦Die zugehörigen drei Bravaisgitter sind das kubisch primitive, das kubisch raumzentrierteund das kubisch flächenzentriertes Gitter.Wenn wir uns die Symmetrien dieser Kristallsysteme anschauen, so erkennen wir, dassdas kubische System die höchste Symmetrie hat (Inversionssymmetrie am Mittelpunkt derEinheitszelle, sechs Symmetrieebenen, drei vierzählige Symmetrieachsen C 4 , vier dreizähligeAchsen C 3 , vier C 2 -Achsen, Abb. 1.4), während das trikline System die geringste Symmetriehat (nur eine einzählige Symmetrieachse, d. h. kein echtes Symmetrieelement).Man kann zeigen, dass sich die nicht primitiven Gitter (z.B. das kubisch flächenzentrierte,


1.3. MILLER INDIZIERUNG UND REZIPROKES GITTER 15fcc, ,,face centered cubic“) auf primitive Gitter mit geringerer Symmetrie und kleinererEinheitszelle reduzieren lassen (Abb. 1.7).Abbildung 1.7: a) 3D- und b) 2D-Darstellung des kubisch flächenzentrierten (fcc) Kristallgitters.So lässt sich z.B. das kubisch raumzentrierte Gitter (bcc, ,,body centered cubic“) mitden beiden gleichen Atomen A an den Orten {0, 0, 0} und {1/2, 1/2, 1/2} auf eine kleinereprimitive Elementarzelle des trigonalen Systems mit den gleich langen Basisvektorenzurückführen. Diese Einheitszelle enthält nur noch ein Atom und ist also halb so groß wiedie nicht primitive Elementarzelle des fcc Gitters. Eine weitere Zelle mit nur einem Gitterpunkterhält man, indem man, von einem Atom ausgehend, die Verbindungsstrecken zu denNachbaratomen durch Normalebenen halbiert. Das von diesen Ebenen begrenzte Volumenheißt Wigner-Seitz-Zelle. Oft ist es jedoch einfacher, die nichtprimitiven Gitter mit höhererSymmetrie zu behandeln, als die primitiven mit geringerer Symmetrie.1.3 Miller Indizierung und reziprokes GitterWir brauchen eine Notation, die uns erlaubt, bestimmte Richtungen und Ebenen in einembeliebigen Gitter eindeutig anzusprechen, d.h. eine mathematische Formulierung für Aussagenwie “entlang der Flächendiagonalen” oder “auf der Würfelebene”. Man könnte mehrereArten von Rezepten angeben, mit denen man eine Richtung (d.h. einen Vektor) oder eineEbene in einem Gitter eindeutig indizieren kann. Es gibt aber ein besonderes System, diesogenannten Miller Indizes, die zwar vielleicht nicht sofort einleuchten, mit denen man aber(später) sehr bequem rechnen kann.Wir betrachten zunächst die Miller-Indizierung für Richtungen. Eine Richtung in einemGitter wird durch drei ganze Zahlen indiziert, indem• Der Ursprung der EZ in die gewünschte Position gelegt wird.• Ein Vektor in der gewünschten Richtung in kleinstmöglichen ganzzahligen Komponentender Basisvektoren ausgedrückt wird.• Auftauchende negative Zahlen durch einen Überstrich dargestellt werden.


16 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.8: Die sieben Kristallsysteme mit den 14 Bravaisgittern


1.3. MILLER INDIZIERUNG UND REZIPROKES GITTER 17• Das erhaltene Zahlentripel uvw in eckige Klammern [uvw] gesetzt wird wenn es sichum eine spezifische Richtung handelt, und in spitze Klammern , wenn die Gesamtheitaller kristallographisch gleichwertigen Richtungen gemeint ist.In Abb. 1.9 ist die Indizierung der wichtigsten Richtungen im kubischen Gitter dargestellt.Abbildung 1.9: Die Indizierung der wichtigsten Richtungen im kubischen Gitter.Durch mindestens drei nicht auf einer Geraden liegende Gitterpunkte wird eine Gitterebenedefiniert (auch Netzebene genannt). Die Orientierung dieser Ebene relativ zu denKristallachsen a, b, c wird durch die Schnittpunkte der Ebene mit den Achsen festgelegt(Abb. 1.10).<strong>Si</strong>nd diese SchnittpunkteS 1 : m 1 a, S 2 : m 2 b, S 3 : m 3 c.dann bildet man die reziproken Werte 1/m 1 , 1/m 2 , 1/m 3 und multipliziert sie mit einerkleinsten ganzen Zahl p, welche die Kehrwerte zu teilerfremden ganzen Zahlenh = p m 1, k = p m 2, l = p m 3(1.3)macht. Dieses Tripel (hkl) ganzer Zahlen heißt Millersche Indizes. Jedes Tripel definierteine Schar paralleler Netzebenen. Die Richtung einer Ebene wird durch die Ebenennormalebestimmt. Der Normalenvektor n einer Ebenenschar (hkl) hat die Komponenten in Richtungder Basisvektoren n = [hkl]. Der Normalenvektor der (100)-Ebene zeigt also in Richtung desBasisvektors a bzw. [100]. Die Achsenabschnitte zwischen zwei Nachbarebenen sind∆ a = a h , ∆ b = b k , ∆ c = c l . (1.4)Verläuft die Ebenenschar parallel zur Kristallachse, so schneidet sie diese Achse nicht. Derentsprechende Millersche Index ist dann Null. In Abb. 1.11 sind zur Verdeutlichung einigeNetzebenen dargestellt. Die (100)-Ebenenschar verläuft parallel zu den Achsen b und c, die


18 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.10: Zur Definition einer NetzebeneAbbildung 1.11: Einige ausgewählte Netzebenen in einem kubischen Gitter


1.3. MILLER INDIZIERUNG UND REZIPROKES GITTER 19(110)-Ebene parallel zur c-Achse, aber schräg zu den Achsen a und b. Auf jeder Ebeneder Ebenenschar (hkl) liegen gleich viele Gitterpunkte. Die Dichte der Gitterpunkte proFlächeneinheit hängt jedoch von den Indizes (hkl) ab.Das Zahlentripel hkl wird in runde Klammern (hkl) gesetzt, wenn es sich um eine spezifischeEbene handelt, und in geschweifte Klammern {hkl}, wenn die Gesamtheit aller kristallographischgleichwertigen Ebenen mit denselben Indizes gemeint ist. Alle äquivalentenEbenen haben die gleiche Indizierung. Das Kürzel (112) bezeichnet also nicht eine Ebene,sondern unendlich viele parallel laufende Ebenen; {112} mehrere Sätze unendlich vielerparallel laufender Ebenen.Einige Vorteile der Miller-Indizes lassen sich zusammenfassen in:• Kristallographisch äquivalente Richtungen und Ebenen haben immer den gleichen Satzan Miller Indizes.• Die Richtung [hk] steht immer senkrecht auf die Ebene (hkl).• Die Abstände d hkl zwischen zwei benachbarten Ebenen sind direkt aus den Indizesberechenbar. Die Formeln für nichtkubische Gittersysteme können etwas kompliziertsein, aber im kubischen Gittersystem gilt ganz einfach:d hkl =a√h2 + k 2 + l 2 (1.5)Bei der Analyse experimenteller Daten zur Untersuchung der Kristallstruktur erweist essich als sehr zweckmäßig, das sogenannte reziproke Gitter einzuführen, das durch reziprokeBasisvektoren g 1 , g 2 ,g 3 aufgebaut wird. Diese Vektoren werden formal als die Translationsvektorenim reziproken Raum wie folgt definiert:g 1 = 2π a 2×a 3a 1 (a 2 ×a 3 ) = 2π a 2×a 3V Eg 2 = 2π a 3×a 1a 1 (a 2 ×a 3 ) = 2π a 3×a 1V Eg 3 = 2π a 1×a 2a 1 (a 2 ×a 3 ) = 2π a 1×a 2V E,(1.6)wobei V E das Volumen der Einheitszelle ist.Der Basisvektor g 1 des reziproken Gitters steht senkrecht auf der durch die Vektoren a 2und a 3 aufgespannten Ebene des Raumgitters.Das reziproke Gitter ist die Fouriertransformierte des Ortsgitters und es hat wichtigeEigenschaften:• steht senkrecht auf der Ebene des Raumgitters mit den Miller Indizes (hkl)• die Länge von G hkl ist proportional zum reziproken Abstand der Netzebenen d hkl .• das Skalarprodukt zwischen einem beliebigen Translationsvektor T des Raumgittersund einem beliebigen Translationsvektor des zugehörigen reziproken Gitters ist immer2πn (mit n = 0, 1, 2, 3, . . .).


20 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENEs gilt allgemein:G hkl = hg 1 + kg 2 + lg 3 ,|G hkl | = 2πd hkl(1.7)G · T = 2πn a i · g j = 2πδ ij , (1.8)wobei die a i die Einheitsvektoren in Richtung a,b,c sind und δ ij das Kroneckersymbol ist.Das reziproke Gitter zum kubisch raumzentrierten Gitter ist ein kubisch flächenzentriertesGitter und umgekehrt. Als Beispiel ist in Abb. 1.12 die geometrische Konstruktion eines 2Dreziproken Gitters abgebildet.Abbildung 1.12: Zweidimensionales Raumgitter (links) und dazugehöriges reziprokes Gitter(rechts).Eine wichtige Anwendung des reziproken Gitters betrifft die sogenannte Ewald-Konstruktion der Beugung. Es handelt sich dabei um eine an Einfachheit nicht mehr zuüberbietende geometrische Umsetzung der vektoriellen Bragg-Bedingung.k ′ i − k i = G i . (1.9)Alle Ebenen, deren reziproke Gitterpunkte von der Ewaldkugel geschnitten werden, erfüllendie Bragg-Bedingung der elastischen Beugung (siehe Kapitel 2). Jeder Punkt im reziprokenGitter steht für eine Ebenenschar des Raumgitters. =2π/λ ist der Wellenvektor der einfallendenWelle. Die ganze Konstruktion ergibt die möglichen k ′ -Werte (Wellenvektor derelastisch gebeugten Wellen) (Abb. 1.13).1.4 Einfache KristallstrukturenAlle Kristallstrukturen können durch eines der im vorigen Abschnitt behandelten Bravais-Punktgitter beschrieben werden, indem jedem Gitterpunkt die entsprechende Atombasis


1.4. EINFACHE KRISTALLSTRUKTUREN 21Abbildung 1.13: Ewald Kugel Konstruktion der Braggschen Beugung.zugeordnet wird. Um bei Gittern, die mehr als ein Atom pro Einheitszelle haben, die Lage derAtome innerhalb der Basis anzugeben, legt man den Bezugspunkt (den Gitterpunkt) in denMittelpunkt des ausgewählten Basisatoms. Die Positionen der anderen Basisatome innerhalbder Einheitszelle werden dann in Bruchteilen der Gitterkonstanten a, b, c angegeben. Hat dieBasis mehr als ein Atom, so kann die Symmetrie des Kristallgitters kleiner sein als die deszugehörigen Bravaisgitters. Die Elemente des Periodensystems erstarren alle bei genügendtiefer Temperatur (und bei He nur bei genügend hohem Druck) in feste Körper und diesesind durchwegs Kristalle. Ungefähr 95% aller Elementkristalle haben dabei einen der dreifolgenden Gittertypen:Kubisch flächenzentriertes Bravais-Gitter, kfz (fcc für “face centered cubic”)Mit einem Atom in der Basis, das dann auf den Ecken und Seitenmitten des Würfelssitzt, kristallisieren z.B. Al, Ni, Cu, Pd, Ag, <strong>Pt</strong>, Au sowie alle Edelgase. Mit zwei Atomenin der Basis, eines bei der Position (0,0,0) der Würfelecke, das andere dann bei (1/4, 1/4,1/4), kristallisieren <strong>Si</strong>, Ge, C (als Diamant) und Sn unterhalb von 13 ◦ C. Diese Kristallsortehat einen eigenen Namen; man spricht vom “Diamantgitter” (obwohl man eigentlich“Diamantkristall” meint). Etwa 30 % aller Elemente kristallisieren in einem fcc-Gitter.Kubisch raumzentriertes Bravais-Gitter, krz (bcc für “body centered cubic”)Mit einem Atom in der Basis, das dann auf den Ecken und im Zentrum des Würfelssitzt, kristallisieren z.B. K, Rb, Cs, V, Nb, Ta, Cr, Mo und W. Etwa 30 % aller Elementekristallisieren in einem bcc-Gitter.Hexagonal dichteste Kugelpackung, hdp (hcp für “hexagonal close packed”)Die hexagonal dichteste Kugelpackung entsteht, wenn man ein hexagonales Bravais-Gitter mit einer Basis aus (mindestens) zwei gleichartigen Atomen kombiniert. Das ersteAtom sitzt bei (0,0,0), das zweite bei (2/3, 1/3, 1/2); also auf halber c-Achsenhöhe im Zentrumeines Basisdreiecks. Dass mit dieser Anordnung eine dichteste Kugelpackung entsteht,


22 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.14: (a) fcc-Kristallstrukur (b) Diamantstruktur/einatomigAbbildung 1.15: Abbildung 1.15: bcc-Kristallstrukturd.h. dass es keine Möglichkeit gibt, mehr (gleichgroße) Kugeln in ein gleichgroßes Volumenzu packen, werden wir weiter unten sehen. Etwa 35 % aller Elemente kristallisieren in einemhcp-Gitter, darunter beispielsweise Mg, Re, Co, Zn, Cd, C (als Graphit) und N. Die beidenmit A gekennzeichneten Ebenen konstituieren das bekannte hexagonale Bravais-Gittermit der hexagonalen Basisebene und der hexagonalen Achse in c-Richtung. Die zusätzlicheAtome der 2er-Basis des hcp-Kristalls bilden die mit B gekennzeichnete Ebene. Ihre Anordnungist identisch zu der einer A-Basisebene; sie sind nur lateral verschoben. Man erkennt:Der hcp-Kristall kann auch gebildet werden, wenn man identische Atomebenen oder auchKristallebenen – aber nicht Gitterebenen! – in einer bestimmten Stapelfolge aufeinanderpackt.Wir sehen, dass es zunehmend (sprachlich) schwer fällt, die saubere Unterscheidung zwischenGitter und Kristall aufrechtzuerhalten. Je nach Element wird immer diejenige Kristallstrukturgewählt, die am besten zu den Bindungsverhältnissen passt, d.h. die größteEnergieabsenkung zur Folge hat. Viele Elemente kommen aber in mehreren Kristallstrukturenvor – z.B. der Kohlenstoff, der, wie wir wissen, in der Regel als Graphit (hcp-Gitter)und nur selten als Diamant (fcc-Gitter) vorliegt. Bei gegebenem Druck und Temperaturkann allerdings immer nur ein Gitter stabil, d.h. energetisch am günstigsten sein. Diamant


1.4. EINFACHE KRISTALLSTRUKTUREN 23Abbildung 1.16: hcp Kristallstrukturist bei Raumtemperatur und Normaldruck eigentlich nicht stabil sondern nur metastabil;glücklicherweise dauert aber die Umwandlung zum stabilen Graphit bei Raumtemperaturnahezu unendlich lange. Bei anderen Elementen, oder ganz allgemein, bei beliebigen Kristallen,ist das aber nicht immer so. Bei bestimmten Temperaturen und Drücken erfolgteine spontane Umwandlung in ein anderes, bei diesen Zustandgrößen stabiles und nicht nurmetastabiles Gitter. Eisen (Fe), unser wichtigstes Metall, erstarrt unterhalb des Schmelzpunktesvon 1536 ◦ C in ein bcc-Gitter, das sich aber unterhalb von 1402 ◦ C in ein fcc-Gitterumwandelt. Unterhalb von 723 ◦ C nimmt es wieder die bcc-Gitterstruktur an. Die KoordinationszahlKZ gibt die Zahl der gleichwertigen nächsten Nachbarn an (KZ für fcc und hcpist 12 und für bcc 8).Bravaisgitter und dichteste Kugelpackung Neben der Beschreibung eines Kristallsmit Bravaisgittern und Basis ist es manchmal einfacher, sich einen gegebenen Kristall direktaus Atomen oder Molekülen, die in Ebenen liegen, zu konstruieren. Die Bauelemente sinddann z.B. simple Kugeln für alle Atome, die ungerichtete Bindungen haben, Kugeln mitdefinierten “Ärmchen”, falls kovalente Bindungen vorliegen, oder auch ganze Moleküle mitihren noch verfügbaren Bindungsgeometrien, falls wir einen komplexen Kristall bauen wollen.Wir beginnen, indem wir zunächst unsere Kugeln auf einer Ebene zweidimensional möglichstdicht packen. Als nächstes legen wir eine neue Lage von Kugeln auf die bereits vorhandeneEbene. Wir legen nun eine dritte Ebene auf, so dass die Atome wieder in den Kuhlen der2. Ebene liegen. Dabei gibt es aber zwei unterscheidbare Möglichkeiten. Liegt das Atom inder dritten Ebene in der Projektion exakt über einem Atom der A-Ebene, erhalten wir alsowieder eine A-Ebene. Im Fall, dass das Atom aber weder über der A- noch über der B-Ebeneliegt, erhalten wir eine neue Ebene, die in unserer Nomenklatur konsequenterweise C-Ebeneheißt (Abb. 1.17).Wir haben also zwei Möglichkeiten, einen Kristall mit hcp- und fcc-Struktur in dichtesterKugelpackung zu erzeugen. Wir starten mit einer hexagonalen zweidimensionalen A-Ebene;darauf kommt eine B-Ebene:


24 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.17: Dichteste Kugelpackung mit den zwei möglichen Varianten der 3. Ebene.• Wählen wir als dritte Ebene wieder eine A-Ebene und machen dann periodisch weiter,erhalten wir die Stapelfolge: ABABABABA.... Der Kristall den wir so erhalten, hatdie vorher diskutierte hexagonal dichteste Kugelpackung (hcp).• Wählen wir als dritte Ebene aber eine C-Ebene, bekommen wir die StapelfolgeABC. Wenn wir diese Folge dann immer wieder wiederholen, erhalten wirABCABCABCABC..., – und dies ist genau das fcc-Gitter wenn wir die Aufeinanderfolgeder {111}-Ebenen betrachten.NaCl-Struktur (Abb.1.18)In der Kochsalz oder NaCl-Struktur kristallisieren viele Salze und Oxide, z.B. KCl, AgBr,KBr, PbS, MgO, FeO, ... . Das Gitter ist kubisch flächenzentriert, mit zwei Atomen Na + undCl − in der Basis; eines bei (0, 0, 0) und das andere bei (1/2, 0, 0) [gleichwertig: (1/2, 1/2, 1/2)].CsCl-Strukur (Abb.1.19)In der Cäsiumchlorid-Struktur kristallisieren viele intermetallische Verbindungen, aberauch Salze und andere zweiatomige Verbindungen, z.B. CsCl, TlJ, AlNi, CuZn, ... . DieCsCl-Struktur ist bemerkenswert, denn sie ist kubisch primitiv, aber mit zwei Atomen inder Basis: eines bei (0,0,0) und das andere bei (1/2, 1/2, 1/2).Die Zinkblende-Struktur oder Diamant-Struktur (Abb.1.20)Wir kennen es schon; das fcc-Gitter mit Atomen bei (0, 0, 0) und (1/4, 1/4, 1/4) (Abb.1.14b). Allgemein heißt dieser Kristalltyp auch ZnS- oder Zinkblende-Struktur. Neben derKohlenstoffform, die man Diamant nennt, kristallisieren in dieser Struktur <strong>Si</strong> und Ge, aberauch technisch wichtige Kristalle wie GaAs, InSb, GaP, Ga x Al 1−x As (mit Ga und Al beliebigaustauschbar). Das folgende Bild zeigt die ZnS-Struktur. Die schwarzen Atome könnten In


1.4. EINFACHE KRISTALLSTRUKTUREN 25Abbildung 1.18: NaCl KristallstrukturAbbildung 1.19: CsCl-Kristallstruktur


26 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENsein, die weißen Sb – wir hätten Indiumantimonid. Die schwarzen Atome könnten aber auchGa oder Al sein, die weißen As – wir hätten Ga x Al 1−x As.Abbildung 1.20: ZnS-Kristallstruktur1.5 BindungenAtome, die in einem Festkörper gebunden sind, haben eine niedrigere Gesamtenergie alsdieselben Atome in einem großen Abstand voneinander und ohne Wechselwirkung. Die Verringerungder Energie, also die Bindungsenergie, kommt in allen Fällen dadurch zustande,dass die Elektronen im Festkörper mit mehr als einem Atomrumpf in Wechselwirkung treten.Alle Kräfte, die Kristalle zusammenhalten, sind ausschließlich elektrostatischer Natur.Magnetische Kräfte können vernachlässigt werden. Die Coulombkräfte aber wirken sich vielgestaltigaus und haben ganz verschiedene Größenordnungen, je nach Anordnung der Kerneund Elektronen in den “Einheiten”, die das Gitter aufbauen.Die Erfahrung zeigt, dass es zweckmäßig ist, zwischen verschiedenen Bindungstypen zuunterscheiden. Allerdings heißt dies nicht, dass die in der Natur vorkommenden Bindungensich streng einem dieser <strong>Type</strong>n zuordnen ließen.• Ionenbindung oder heteropolare Bindung: Man findet sie bei der Bindung zwischeneinem metallischen und einem nichtmetallischen Element. <strong>Si</strong>e hat Sättigungscharakterund ist gerichtet. Die Bindungsenergien liegen bei etwa 1 bis 10 eV.• Kovalente oder homöopolare Bindung: Kovalente Bindungen liegen z.B. bei Nichtmetallenund häufig in der organischen Chemie vor. Besonders ausgeprägt ist dieser Bindungstypbei Gasmolekülen, wie z.B. H 2 oder O 2 . Die homöopolare Bindung ist ebenfallsgerichtet und hat Sättigungscharakter. Die Bindungsenergien liegen auch bei etwa1 bis 10 eV.• van der Waals-Bindung: Es handelt sich dabei um eine Art der chemischen Bindung,die durch zwischenmolekulare Wechselwirkung zustande kommt. <strong>Si</strong>e ist relativ schwach


1.5. BINDUNGEN 27(Bindungsenergien zwischen 0.01 bis 0.1 eV) und wird daher meist von anderen Bindungstypenüberdeckt.• Metallische Bindung: <strong>Si</strong>e ist die Bindung von Metallen und Legierungen. Bei ihr sind diebindenden Elektronen quasifrei im Metall beweglich. Ihre Bindungsenergie entsprichtetwa den ersten beiden <strong>Type</strong>n.• Wasserstoffbrückenbindung: Die Wasserstoffbrückenbindung findet man zwischen denelektronegativsten Atomen. Ihre Bindungsenergie kann bis zu 0.5 eV betragen.1.5.1 Ionenbindung – heteropolare BindungTypische Vertreter von Ionenkristallen sind Alkalihalogenide,bei denen das Elektron aus deräußeren Schale der Alkaliatome A sich überwiegendbeim Halogenatom B (mit einem freien Platz inder äußeren Schale) aufhält. Dadurch entsteht eineelektrostatische Anziehung zwischen den IonenA + +B − (vgl. Abb. 1.21). Da die Ionen abgeschlosseneSchalen bilden, wie z.B.Na + (1s 2 , 2s 2 2p 6 ) + Cl − (1s 2 , 2s 2 6p 6 , 3s 2 3p 6 ),sind ihre Ladungsverteilungen kugelsymmetrisch.Man wird daher bei einem Na + Cl − -Ionenkristall Elektronenverteilungen erwarten,die annähernd kugelsymmetrisch um ihre Ionenrümpfesind. Dies wird in der Tat durchRöntgenbeugungsexperimente bestätigt (vgl. Abb.1.22).Um eine Abschätzung der Bindungsenergiezu erhalten, nehmen wir den durchdie Röntgenbeugung ermittelten AbstandR(Na + − Cl − ) = 2.81 × 10 −10 m und erhaltendie CoulombenergieE pot (Na + − Cl − ) =e24πɛ 0 R = 9.7×10−19 J = 6.1 eVAbbildung 1.21: Schematische Darstellungder elektrostatischen Anziehungbei Ionenbindung.der elektrostatischen Anziehung zwischen den beidenIonen des Ionepaares. Der experimentelle Wert der Bindungsenergie pro Molekül ist8.2 eV. Die Anziehung zwischen den nächsten Nachbarn macht also schon einen Großteil derGesamtenergie aus.Um eine genauere Berechnung der elektrostatischen Energie durchzuführen, müssen wirberücksichtigen, dass wegen der großen Reichweite des Coulombpotentials (∝ 1/R) nicht nur


28 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENdie nächsten Nachbarn (wie beim van der Waals-Potential ∝ 1/R 6 ), sondern auch weiter entfernteIonen durchaus noch einen Beitrag zur Bindung zwischen entgegengesetzt geladenenund zu Abstoßung zwischen gleich geladenen Ionen liefern.Beschreibt man den abstoßenden Teil des Potentials bei Überlappen der inneren Elektronenschalendurch eine Exponentialfunktion (Abb. 1.23), so wird die potentielle Energiezwischen einem beliebig gewählten Ion i und einem anderen Ion jE i,jpot = C exp(−r ij /ϱ) ± 14πɛ 0q 2r ij, (1.10)wobei ϱ der Abstand ist, bei dem die Abstoßungsenergie auf 1/e gesunken ist und dasAbbildung 1.22: Räumliche Dichteverteilung der Elektronen im NaCl Kristall.Pluszeichen für gleichnamige Ladungen von i und j, das Minuszeichen für entgegengesetzteLadungen gilt.Die Wechselwirkungsenergie des Ions i mit allen anderen ist dannE i pot = ∑ j≠i(C exp(−r ij /ϱ) +q )iq j. (1.11)4πɛ 0 r ijDa der abstoßende Teil des Potentials nur über kurze Abstände ϱ wirksam ist, brauchen wirfür den ersten Term nur die nächsten Nachbarn mit r ij = R nN zu berücksichtigen. Schreibtman r ij = p ij R nN , so wird bei Z nN aus Glchg. 1.11 mit q j = ±q iE i pot = Z nN C exp(−R nN /ϱ) +q2 ∑4πɛ 0j±1p ij R nN= Z nN C exp(−R nN /ϱ) −αq24πɛ 0 R nN(1.12)Die Summeα = ∑ j±1p ij


1.5. BINDUNGEN 29Kristall NaCl CsCl ZnS CaCl CdCl2 ZnO <strong>Si</strong>O 2 Al 2 O 3Madelungkonstante 1.748 1.73 1.638 2.365 2.244 1.498 2.219 4.172Tabelle 1.1: Madelungkonstante für verschiedene binäre Verbindungen.heißt Madelung-Konstante. Ihr Wert hängt von der speziellen Gitterstruktur des Ionenkristallsab (vgl. Tabelle 1.1).Hat der Kristall N Moleküle, also N positive und N negative Ionen, so ist die gesamteBindungsenergieE B = NE i pot. (1.13)Beim Gleichgewichtsabstand R 0 muß dE B / dR = 0 gelten. Damit erhält man aus Glchg.1.12 die Bestimmungsgleichung( dEi)potN= − NZ nNCexp(−R 0 /ϱ) + Nαq2 = 0 (1.14)dRR 0ϱ4πɛ 0 R02für R 0 . Die gesamte Bindungsenergie ist dannE B = Nαq24πɛ 0 R 0(1 − ϱ/R 0 ). (1.15)<strong>Si</strong>e hängt von dem Abstoßungsparameter ϱ und von der Madelungkonstante α ab. Für denNaCl-Ionenkristall wird die Madelungkonstante α = 1.748, für CsCl 1.763 und für ZnS 1.641.Die Bindungsenergie E B eines Ionenkristalls, die manaufwenden muss, um den Kristall in freie atomare Ionenzu zerlegen, läßt sich experimentell nicht unmittelbarmessen, weil z.B. ein NaCl-Kristall beim Verdampfennicht in freie Ionen, sondern in neutrale Atome zersetztwird. Deshalb benutzt man folgende Energiebilanz:Bei der Neutralisation von Na + in Na wird die Ionisierungsenergiefrei, während durch den Prozess Cl − → Cldie Bindungsenergie des Elektrons (die Elektronenaffinität)aufgewendet werden muß. Wenn dampfförmigesNa fest wird, gewinnt man dann die SublimationsenergieE Sub , bei der Bildung von Cl 2 aus Cl-Atomen dieDissoziationsenergie. Das feste NaCl wird gebildet durchdie Reaktion von festem Na mit gasförmigem Cl 2 . Dabeiwird die Reaktionswärme Q als Energie frei.Insgesamt gibt es folgende Energiebilanz:Abbildung 1.23: DominierendePotentiale für die Ionenbindung.E Bind = +E ion − E aff + E Sub + E Diss + Q. (1.16)Die Größen auf der rechten Seite lassen sich alle experimentell bestimmen. Abb. 1.24 zeigtschematisch die Energiebilanz eines NaCl-Moleküls und Tabelle 1.2 stellt einige charakteristischeParameter für Ionenkristalle vor.


30 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENKristall r 0 [Å] ϱ [Å] E B /N [eV]LiF 2.014 0.29 10.92NaCl 2.82 0.32 8.23NaI 3.23 0.35 7.35KCl 3.147 0.33 7.47RbF 2.815 0.3 8.17Tabelle 1.2: Gleichgewichtsabstände r 0 , Abschirmparameter ϱ und Bindungsenergien E B /Npro Molekül für einige Ionenkristalle.Abbildung 1.24: Bildungsenergien des NaCl-Moleküls aus Na und Cl.1.5.2 Kovalente BindungDie kovalente Bindung beruht auf der räumlichen Umordnung der Elektronenhüllen, bei derdie Elektronendichte zwischen benachbarten Atomen erhöht wird. Die kovalente Bindung istdaher eine gerichtete Bindung.Kovalente Bindungen treten hauptsächlich auf, wenn zwei Atome, die beide keinevollständig gefüllte äußere Schale haben, sich verbinden. Beispiele sind Halogenide in GasformF 2 , Cl 2 , Br 2 usw., viele typische Gase: O 2 , N 2 , NH 3 (Ammoniak), CO 2 usw. WeitereBeispiele für diesen Bindungstyp sind Kohlenstoff und insbesondere <strong>Si</strong> und Ge, die in derTechnik eine herausragende Stellung einnehmen und in der Diamantstruktur kristallisieren.Elektronische Eigenschaften dieser Elemente sind unmittelbar mit der kovalenten Bindungkorreliert.In diesen Festkörpern sind die Bindungen zu den nächsten vier Nachbarn entlang der


1.5. BINDUNGEN 31Abbildung 1.25: Kovalente Bindung im stark vereinfachten Schema des Schalenmodellsvier Kanten eines Tetraeders angeordnet. Jedes Atom liefert je ein Elektron in jeder dervier Bindungen (sp 3 Hybridisierung), so dass insgesamt 2 Elektronen mit entgegengesetztemSpin die Bindung zwischen zwei Nachbaratomen bewirken (vgl. auch Abb. 1.31). Die darausresultierende Elektronendichteverteilung ist in Abb. 1.26 dargestellt. Die Raumausfüllungist bei der Diamantstruktur mit η = 0.34 wesentlich geringer als bei der dichtesten Kugelpackungmit η = 0.74. Dies liegt daran, dass bei der tetraedrischen Anordnung jedes Atomnur 4 nächste Nachbarn hat, bei der fcc-Struktur dagegen zwölf.Qualitativ kann kovalente Bindung derGruppe IV-Elemente dadurch verstandenwerden, dass die Energie, die notwendig ist,um alle vier Valenzelektronen zu entfernen,zu groß ist, um ionische Bindung zu realisieren.Es ist aber möglich, dass diese Elementeihre äußere Schale vollständig auffüllen, indemsie Elektronen mit ihren Nachbarn teilen.Betrachtet man Kohlenstoff, so hat diesesElement eine gefüllte K-Schale und 4 Elektronenin der L-Schale mit der elektronischenKonfiguration 1s 2 2s 2 2p 2 . Vier weitere Elektronensind notwendig, um die L-Schale aufzufüllen.Dies wird also dadurch erreicht, dassAbbildung 1.26: Elektronendichteverteilungim <strong>Si</strong>liziumkristalljeweils ein Atom mit jedem der nächsten 4 Nachbarn ein Elektron teilt, wenn C im festenZustand ist. Eine Möglichkeit, wie das realisiert werden kann, ist schematisch in Abb. 1.28gezeigt. Um das zu verstehen, kann die Gestalt der Elektronenwolke (Orbitale) in C betrachtetwerden. Die 4 Elektronen der K-Schale wechselwirken sehr stark untereinander und


32 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.27: (a) Keulenförmige Valenzelektronenwolke der kovalenten Bindung des Kohlenstoffatoms;(b) die C-Atome in der Umgebung haben ähnlich geformte Elektronenwolken.modifizieren dadurch die Form der s- und der p-Wellenfunktion, bis sie nahezu (virtuell)ident sind. Die elektrostatische Abstoßung ist so stark, dass jede “einzelne” Elektronenwolkegut separiert von allen anderen ist. Wie in Abb. 1.27 dargestellt, sind alle Orbitale “keulenförmig”und zeigen vom Kern weg. Diese vier sind dann im größtmöglichen Winkel von109.5 ◦ zwischen jedem Paar angeordnet und weisen damit in die Ecken eines imaginärenTetraeders.Wegen der starken Abstoßung ist diese Anord-nung nur schwer zu deformieren und zu stören. DieC-Atome haben dann ihre Elektronenwolken gegeneinandergerichtet, so dass jedes C-Atom von8 Elektronen umgeben ist und somit eine stabileKonfiguration bildet. Die Struktur, die so geformtwird, ist sehr stark und fest, eben die Diamantstruktur.Es können keine Moleküle unterschiedenwerden, aber der Festkörper ist wie ein riesiges Molekül(Makromolekül), da es eine nicht endendeStruktur bildet. Man kann immer neue C-Atomeanhängen [vgl. Abb. 1.27 (b)].Die anderen Elemente der Gruppe IV (<strong>Si</strong>und Ge) kristallisieren in der gleichen Struktur,und Verbindungen von Gruppe III- und GruppeV-Elementen formieren in der verwandtenZinkblende-Struktur (ZnS).Abbildung 1.28: Kovalente Bindungvon C. Die kurzen Striche deuten an,dass Elektronen eines C-Atoms mit denNachbarn geteilt werden und damit 4Bindungen formen.Mathematisch wird die kovalente Bindung durch Überlappung von Orbitalwellenfunktionenbeschrieben. In erster Näherung gilt für die Überlagerung der beiden individuellen


1.5. BINDUNGEN 33Orbitalwellenfunktionen Ψ 1 und Ψ 2 zu einem Molekülorbital Ψ Mol :Ψ Mol = A 1 Ψ 1 ± A 2 Ψ 2 .Die A i sind Konstanten, die sich (bis auf eine) aus der Normierungsbedigung ergeben. Nureines der beiden möglichen Summenorbitale führt zur Energieabsenkung und damit zur Bindung.Das andere führt zur Energieerhöhung; es ist “antibindend”. Diese antibindendenOrbitale erklären das Auflösen von Verbindungen: Bei Energiezufuhr werden Elektronen indas antibindende Orbital angehoben.1.5.3 van der Waals-Bindung – EdelgaskristalleKristalle aus Edelgasatomen (Ne, Ar, Kr, Xe) haben eine sehr kleine Bindungsenergie undkönnen deshalb nur bei sehr tiefen Temperaturen als feste Körper existieren (vgl. Tabelle1.3). Helium wird auch für T → 0 unter Normaldruck nicht fest sondern bildet nur bei einemäußeren Druck von p ≥ 28 bar eine feste Phase.Element E B [eV] T S [K] d nN [nm]Ne 0.02 24 0.313Ar 0.08 84 0.376Kr 0.116 117 0.401Xe 0.17 161 0.435Tabelle 1.3: Einige Eigenschaften von Edelgaskristalle; E B : Bindungsenergie pro Atom, T S :Schmelzpunkt, d nN : Abstand nächster Nachbarn.Da die Edelgasatome abgeschlossene Schalen besitzen, aus denen die Elektronen nurunter großem Energieaufwand in höhere Zustände angeregt werden können, kann sich dieräumliche Elektronenverteilung der Atome beim Zusammenfügen im Festkörper nur geringfügigverändern. Deshalb können keine Atomelektronen in bindende Orbitale umgelagertwerden, wie bei der Valenzbindung des H 2 -Moleküls, sondern es kommt bei größerenAbständen nur zu einer geringen Verformung der kugelsymmetrischen Ladungsverteilung derAtome (Polarisation) und damit zu einer schwach anziehenden Wechselwirkung zwischen deninduzierten Dipolen (van der Waals-Wechselwirkung),E pot (R) = −C α 1α 2R 6 ,die proportional zum Produkt der atomaren Polarisierbarkeit ist und mit 1/R 6 abfällt.Van derWaals hat folgenden Vorschlag für die Wechselwirkung zwischen solchen Atomengemacht: Durch die Bewegung der Elektronen um den Kern wird die kugelsymmetrischeLadungsverteilung ständig gestört (diese ist nur im zeitlichen Mittel gegeben), wodurchfluktuierende elektrische Dipole erzeugt werden. Das elektrische Feld des Dipols p A eines


34 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAtoms A kann nun in einem benachbarten Atom B ein elektrisches Dipolmoment p B induzieren.Die Wechselwirkung zwischen diesen Dipolen ist anziehend. Die dabei auftretendenKräfte werden Van der Waals Kräfte genannt. <strong>Si</strong>e treten in einer quantenmechanischenStörungsrechnung erst in 2. Ordnung auf.Bei kleinen AbständenAbbildung 1.29: Gesamtptential (abstoßend+ anziehend) für verschiedeneEdelgaskristalle.R < 〈r A 〉 + 〈r B 〉überlappen Elektronenhüllen benachbarter Atome,und es kommt auf Grund der elektrostatischenAbstoßung zu einem repulsiven Teil desPotentials, der näherungsweise durch eine R −12 -Abhängigkeit beschrieben werden kann. Insgesamtgibt das Lennard-Jones-PotentialV (R) =aR 12 − b R 6 (1.17)den Potentialverlauf zwischen benachbarten Edelgasatomenbefriedigend wieder (vgl. Abb. 1.29).Die gesamte Bindungsenergie eines van der Waals-Kristalls mit N Atomen istV (R) = 1 2 N ∑ ( a−b )R 12j ij Rij6(1.18)wobei R ij der Abstand zwischen einem beliebig gewählten Atom i und seinen Umgebungsatomenist. Der Faktor 1/2 berücksichtigt, dass man bei der Summation über alle Atomejedes Paar doppelt zählt.Die Summen in Glg. 1.18 hängen von der Gitterstrukur ab. Drückt man R ij = p ij R nNdurch den Abstand R nN zu den nächsten Nachbarn aus, so werden beim fcc-Gitter dieSummen∑j( 1p ij) 12= 12.13∑j( 1p ij) 6= 14.45 (1.19)Da im fcc-Gitter jedes Atom 12 nächste Nachbarn im Abstand R nN = a/ √ 2 hat, folgt ausGlchg. 1.19, dass die nächsten Nachbarn fast den gesamten Anteil zu den Summen liefern,nämlich 12.Die Gleichgewichtsabstände R 0 beim Minimum von E pot R betragen R 0 = (2a/b) 1/6 . DieBindungsenergie Epot(R tot = R 0 ) ergibt sich dann aus Glg. 1.18 zuE totB= − Nb28a . (1.20)Zur negativen potentiellen Energie kommt noch die positive kinetische Energie hinzu, die ausder mittleren thermischen Energie Ekintherm = N(3/2)k B T und der Nullpunktsenergie besteht.Ist die Gesamtenergie E tot = Epot tot + Ekin tot > 0 so schmilzt der Kristall (vgl. Tabelle 1.3).


1.5. BINDUNGEN 351.5.4 Metallische BindungViele Festkörper sind Metalle und Legierungen. Kennzeichnende physikalische Eigenschaftendieser Stoffe sind u.a. ihre mit hoher Festigkeit verbundene große Dehnbarkeit, ihr großerAbsorptions- und Reflexionsgrad sowie ihre hohe elektrische und thermische Leitfähigkeit.Drude zog 1900 daraus den Schluss, dass für die metallische Bindung die vollständige Delokalisierungvon Valenzelektronen charaktristisch ist (vgl. Abb. 1.30 und 1.31).(a)(b)Abbildung 1.30: (a) Schalenbild von Na-Atomen im Dampf. Die Atome befinden sich inthermisch induzierter Bewegung. (b) Kleine Na + Ionenrümpfe eingebettet in das negativgeladenene (rosa) Elektronengas. Die Atomrümpfe sitzen fest auf ihren Plätzen, währenddie Leitungselektronen sich frei bewegen und nicht mehr einzelnen Ionen zugeordnet werdenkönnen.Das Metallgitter wird aus positiven Ionen gebildet, in deren Feld sich die Valenzelektronenquasifrei bewegen können. Man spricht daher auch vom Elektronengas des Metalles.Größenordnungsmäßig kommt auf ein Gitterion etwa ein quasifreies Elektron. Das Elekronengasbesitzt also eine enorme Dichte. Mit ihm können typische Eigenschaften der Metalleerklärt werden.Abbildung 1.31: Schematische Darstellung (a) der metallischen Bindung durch delokalisierteElektronen, (b) der lokalisierten kovalenten Bindung im <strong>Si</strong>liziumkristall.


36 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAus der vollständigen Delokalisierung der Elektronen des Elektronengases folgt, dassdie metallische Bindung weder absättigbar noch gerichtet ist. Die metallische Bindung istein Bindungstyp, der ebenfalls nur quantenmechnisch verstanden werden kann. Die Wechselwirkungder räumlich verteilten Leitungselektronen mit den positiven Ionenrümpfen derMetallatome macht bei Metallen einen großen Teil der Bindungsenergie aus. Obwohl sichdie Ionen abstoßen, vermittelt das negativ geladene Kontinuum des Elektronengases eineBindungskraft. Die Bindungsenergie beruht insgesamt auf einer Absenkung der Nullpunktsenergieder Valenzelektronen, die statt einer Atomhülle jetzt das ganze Kristallvolumen zurVerfügung haben.Die Bindungsenergie pro Atom variiert für die verschiedenen Metalle beträchtlich.Während sie für Alkalimetalle etwa 1 eV/Atom ist, beträgt sie bei Eisen 4.3 eV/Atom undbei Wolfram sogar 8.7 eV/Atom. Dies liegt darin, dass bei den Übergangsmetallen wie Fe,Ni, Co unaufgefüllte innere Schalten (d-Schale) vorliegen, deren räumliche Verteilung sichbei der Bindung ändert und damit, ähnlich wie bei der Valenzbindung, zu einer Erhöhungder Elektronendichte zwischen benachbarten Atomen führt.Die Bindungskräfte zwischen den Atomen können ebenfalls mit Hilfe einer Potentialformelbeschrieben werden, die auch für die Ionenbindung und die kovalente Bindung gilt:U Bind = − A r n + B r m (1.21)Die 4 Konstanten A, B, m, n sind natürlich für die gewählten Atome spezifisch; zwei davonlassen sich durch den Bindungsabstand a 0 und die Bindungsenergie E Bind ausdrücken.Da in Metallen praktisch keine Richtungsabhängigkeit der Bindung vorliegt, besitzen diesedichte Packungen mit hoher Koordinationszahl (kubisch-flächenzentriert, hexagonal dicht,kubisch-raumzentriert). Verschiebungen der Gitterebenen gegeneinander sind im Gegensatzzu den Ionenkristallen möglich: Den Rumpfionen einer Schicht ist es egal, in welche Tälerder Nachbarschicht sie einrasten. Daher lassen sich Metalle unter Erhaltung des Volumensleicht verformen. Welchen Widerstand sie der Verformung entgegensetzen, hängt vor allemvom Beitrag der kovalenten Bindung ab, der bei Übergangselementen besonders groß ist. BeiLegierungen und verunreinigten Metallen verzahnen Fremdatome die einzelnen Gitterebenenineinander und erschweren ihr Gleiten.1.6 KristallgitterdefekteDie in den vorigen Abschnitten behandelten idealen Kristalle mit völlig regelmäßiger Anordnungder Atome sind in der Natur nur näherungsweise realisiert. In realen Kristallenkommen Gitterfehler vor, welche die strenge Periodizität stören. Bei guten Einkristallen sindsolche Gitterfehler jedoch selten, d. h. die Zahl der an falschen Plätzen sitzenden Atome istsehr klein gegen die Zahl der an regulären Gitterplätzen angeordneten Atome. Trotz ihrerkleinen Zahl können Gitterfehler jedoch das mechanische und elektrische Verhalten einesFestkörpers massiv beeinflussen. Denn jeder Kristall hat eine Oberfläche, und für die Atomeauf der Oberfläche ist die Umgebung anders als für Atome im Volumen – die Oberflächeist somit ein Defekt. Reale Kristalle sind damit Kristalle, die Defekte enthalten. Falls um


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 37ein beliebig herausgegriffenes Atom die unmittelbare Umgebung (im zeitlichen Mittel) eineandere prinzipielle Symmetrie hat als die Umgebung eines Referenzatoms in einem perfektenTeil des Kristalls, haben wir am Aufpunkt einen Defekt. Für ein Atom auf der Oberflächeeines Kristalls ist diese Bedingung zweifellos erfüllt. Die einfachsten Fehlordnungen im Kristallsind reguläre Gitterstellen, an denen ein Atom fehlt (Schottkysche Fehlstellen). SolcheLeerstellen lassen sich z.B. durch Bestrahlen des Festkörpers mit Neutronen oder schnellenIonen erzeugen, die ein Atom aus seinem Gitterplatz herausschlagen und an die Oberflächebefördern.Defekte bestimmen z.B., ob ein Stück Eisen sich leicht oder schwer verformt, hart oderweich ist, leicht bricht oder sich zäh verhält, leicht oder schwer korrodiert, sich hart- oderweichmagnetisch verhält, schnell oder nur langsam ermüdet – die Liste wäre verlängerbar. Diegesamte Halbleitertechnologie dreht sich um die Manipulation von Defekten in Halbleiternwie <strong>Si</strong>lizium oder GaAs. Die thermischen Schwingungen der Atome um ihre Gleichgewichtslagezählen nach obiger Definition nicht als strukturelle Defekte – im zeitlichen Mittel sind sieNull. Elastische Verbiegungen des Gitters, also lokal leicht veränderte Gitterkonstanten unddamit Bindungslängen, sind ebenfalls keine Defekte, da sich die lokale Symmetrie dadurchnicht im Prinzip geändert hat, sondern allenfalls einige Zahlenwerte, z. B. bei den Translationsvektorendes Gitters. Defekte kann man zunächst in vier große Klassen einteilen, derenOrdnungskriterium die Dimensionalität des Defekts ist. Wir unterscheiden:• Nulldimensionale Defekte (oder Punktdefekte, Punktfehler, atomare Defekte). Symmetrieverletzungnur in Bereichen mit Ausdehnung ca. “Null”, d.h. in einem Bereichmit atomaren Dimensionen.• Eindimensionale Defekte (oder Versetzungen, Liniendefekte). Entlang einer Linie (dienicht gerade verlaufen muß, sondern willkürlich gekrümmt und in sich geschlossen seinkann) ist die Symmetrie verletzt.• Zweidimensionale Defekte (oder Flächendefekte). Auf einer Fläche (beliebig gekrümmt)ist an jedem Punkt die Symmetrie verletzt.• Dreidimensionale Defekte (oder Volumendefekte). In einem beliebigen Volumen liegtan jedem Punkt eine andere Symmetrie vor.Diese noch etwas abstrakte Definition wird sofort klar, wenn wir uns typische Vertreterdieser vier Defekttypen anschauen (Abb. 1.32): Die Leerstelle für nulldimensionale Defekte:Ein Atom fehlt irgendwo im Kristall, der entsprechende Platz ist leer. Die Stufenversetzungfür eindimensionale Defekte: Zwischen zwei Kristallebenen ist teilweise eine dritte eingezwängt.Diese zusätzliche Ebene im Kristall endet entlang einer Linie; diese Linie definiertden eindimensionalen Defekt (Stufenversetzung). Die Korngrenze für zweidimensionale Defekte:Zwei beliebig zueinander orientierte Kristalle sind längs einer Ebene – der Korngrenzenebene– verbunden. Die Ausscheidung für dreidimensionale Defekte: In einem Kristall derSorte 1 sitzt ein Kristall (oder amorpher Körper) der Sorte 2.


38 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENAbbildung 1.32: Defekte in Kristallen. a) Zwischengitter Fremdatom, b)Stufen Versetzung,c) Zwischengitteratom, d)Leerstelle, e) Ausscheidung, f) Leerstellen Typ VS Loop, g) ZwischengitterTyp VS Loop, h) “Substitutional” FremdatomNulldimensionale Defekte Der gebräuchliche Name für nulldimensionale Defekte istPunktfehler, auf englisch “point defects”. Es gibt dabei zwei Haupttypen: Intrinsische undextrinsische atomare Defekte, je nachdem, ob die Defekte ohne Hilfe von außen erzeugtwerden können, sozusagen aus einem gegebenen perfekten Kristall heraus (dann sind sieintrinsisch) oder ob man von außen (extrinsisch) eingreifen muss.Die beiden Grundtypen der intrinsischen Defekte sind: Die Leerstelle [Abb. 1.33 (a)],oder, gebräuchlicherweise auf englisch, “vacancy”. Ein Atom fehlt. Die restlichen Atomewerden natürlich nicht starr am Platz sitzen bleiben, wie in der Graphik gezeigt, sondern sichetwas in Richtung auf die Lücke zu festsetzen. Das Eigenzwischengitteratom [Abb. 1.33 (b)],oder, gebräuchlicherweise auf englisch self-interstitial ist die zweite Form eines intrinsischennulldimensionalen Defekts. Ein Atom der Sorte, aus denen der Kristall besteht, sitzt aufLücke zwischen den regulären Atomen.Extrinsische atomare Defekte kann man mit Hilfe einer anderen Atomsorte konstruieren:Wir setzen einfach ein “falsches” Atom in einen Kristall. Das kann man auf zwei Arten tun:Ein reguläres Atom des Kristalls wird gegen ein Fremdatom ersetzt oder substitutiert. Wirbekommen als atomaren Defekt ein substitutionelles Fremdatom. Ein Fremdatom wird insZwischengitter gezwängt. Wir erhalten ein interstitielles Fremdatom.Bei extrinsischen atomaren Fehlstellen (AF) in einem gegebenen Kristall ist die Herkunftklar (Abb. 1.34): Die als AF vorliegenden Fremdatome stammen aus dem Rohmaterial – d.h.sie waren schon im Ausgangsmaterial vorhanden. Ein weiterer Grund ist die Bearbeitungdes Materials. Vom Rohmaterial (z.B. ein Stück Stahlblech) bis zum Produkt führen immereinige Bearbeitungsschritte. Dabei ist es grundsätzlich möglich, dass sich der Gehalt an extrinsischenAF ändert. Neben diesen natürlich vorkommenden atomaren Fehlordnungen inKristallen gibt es auch bewusste Dotierungen mit Fremdatomen, wo man z.B. bei Halbleitern


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 39Abbildung 1.33: Intrinsische nulldimensionale Defekte. a) Leerstelle, b) EigenzwischengitteratomAbbildung 1.34: Extrinsische nulldimensionale Defekte. a) substitutionelles Fremdatom, b)interstitielles Fremdatomanderswertige Fremdatome in ein Gitter einbringt, um damit die elektrische Leitfähigkeit zuändern. Diese Atome können entweder auf Zwischengitterplätzen sitzen oder andere Gitteratome auf regulären Gitterplätzen ersetzen. Man nennt sie Substitutions-Störstellen. Oftgeschieht die Dotierung durch Beschuss mit Ionen (Ionenimplantation). Bei dieser Methodekann man gezielt eine geringe Konzentration gewünschter Fremdatome in ein Kristallgittereinbringen. Allerdings wird dabei oft der Bereich des Gitters, in den ein Ion eindringt,gestört, so dass man durch Aufheizen (Tempern) die Schäden am Gitter wieder ausgleichenmuss. Durch die Erhöhung der Temperatur wird die Diffusion der Gitteratome erhöht, sodass die Atome des gestörten Gitters leichter ihre reguläre Anordnung, die einem Zustandminimaler Energie entspricht, erreichen können. Jedoch gibt es in jedem Kristall auch ohneäußere Einflüsse im thermischen Gleichgewicht eine von der Temperatur abhängige Zahl vonFehlstellen. Man braucht zwar Energie, um solche Fehlstellen zu erzeugen, aber durch diedadurch vergrößerte Unordnung im sonst regelmäßig angeordneten Kristall erhöht sich die


40 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENEntropie. Beim thermischen Gleichgewicht befindet sich der Kristall im Zustand minimalerfreier Energie.Wo kommen die intrinsischen AF her? Die Antwort führt uns zur statistischen Thermodynamik.Ein Kristall enthält im thermodynamischen Gleichgewicht immer eine bestimmteAnzahl von intrinsischen AF; sie gehören untrennbar zu seiner Struktur. Ihre Konzentrationn ist gegeben durch folgende Formel:n = exp − Ek B T(1.22)mit a = Konstante (1 cm −3 ), E ist eine für den spezifischen Defekt typische Energie, ≈ (0,5– 2) eV für Leerstellen und ≈ (2 – 5) eV für Zwischengitteratom.Die Konzentration von Leerstellen und Eigenzwischengitteratomen steigt also exponentiellmit der Temperatur; nur bei T = 0 K wäre sie exakt Null. Am Schmelzpunkt – das ist eineFaustregel – liegt die Konzentration an Leerstellen in Metallkristallen bei ≈ 10 −4 ≈ 0.01 %.Die Konzentration von Eigenzwischengitteratomen ist i.d.R. viel niedriger, so dass sie meistvernachlässigt wird. In anderen Kristallen – z.B. in Halbleitern – kann die max. Konzentrationam Schmelzpunkt noch einige Größenordnungen kleiner sein.Die Bedeutung der Diffusion, d.h. der Bewegung von Atomen in Kristallen für die Technologiekann kaum überschätzt werden. Betrachten wir als Beispiel die Standardaufgabe derHalbleitertechnik, die Herstellung eines MOS-Transistors (Abb. 1.35).Abbildung 1.35: Querschnitt durch einen einfachen MOS-TransistorEntscheidend ist, dass der <strong>Si</strong>-Kristall ganz bestimmte substitutionelle Fremdatomeenthält – z. B. Phosphor-Atome unterhalb von ,,Source“ und ,,Drain“, Bor-Atome im <strong>Si</strong>-Substrat in Konzentration um 1 ppm. Diese Fremdatome müssen bei der Herstellung desTransistors in die richtigen Bereiche des Kristall in der richtigen Konzentration eingebrachtwerden – aber wie? <strong>Si</strong>e können nur von außen kommen, d.h. sie müssen durch die Oberflächein den Kristall hinein diffundieren.Nur über Diffusion ist die Bewegung von Atomen auf Gitterplätzen möglich (Abb. 1.36).In der Regel werden die Atome des Kristalls selber in eine benachbarte Leerstelle springen


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 41– man spricht dann von Selbstdiffusion – aber hin und wieder gelingt das auch der kleinenMinorität der substitutionellen Fremdatome. Die Leerstelle selbst muss dabei notwendigerweiseauch beweglich sein. <strong>Si</strong>e sitzt nicht immer am selben Platz, sondern bewegt sich durchdas Kristallgitter in völlig statistischer Weise – sie diffundiert, indem Gitteratome mit ihrden Platz wechseln. Damit wird klar, dass die Diffusionsgeschwindigkeit, mit der sich einPhosphoratom im <strong>Si</strong>-Gitter bewegen kann (oder jedes andere substitutionelle Fremdatom injedem anderen Gitter), im Wesentlichen davon abhängt, wie hoch die Leerstellenkonzentrationist und wie schnell sich die Leerstellen selbst bewegen. Die entscheidende Größe für dieMobilität eines Fremdatoms ist seine Sprungfrequenz, d.h. die (mittlere) Zahl von Sprüngenpro Sekunde, mit der sich (im Mittel) eine Leerstelle auf einen Nachbarplatz bewegt. DieDiffusion von interstitiellen Fremdatomen kommt dagegen ohne Leerstellen aus. Hier hüpfendie Atome direkt von einem Zwischengitterplatz zum nächsten. Interstitielle Fremdatomediffundieren deshalb häufig schneller als die substitutionellen.Abbildung 1.36: Leerstellenmechanismus der DiffusionVersetzungen Außer den atomaren Punktdefekten gibt es Störungen der regulären Kristallstruktur,wenn Atome auf einer Gitterebene sich zwischen benachbarte Netzebenen schieben.Dadurch werden die Nachbarebenen in der Umgebung der eingeschobenen Extraebeneetwas zusammengedrückt und gekrümmt. Dazu muss gegen die elastischen Kräfte Arbeitgeleistet werden (typische Werte sind etwa l eV/Atom der Extraebene). Da die Entropie sichbei solchen Versetzungen wesentlich weniger erhöht als bei Punktdefekten, sind solche Versetzungenseltener als Punktdefekte und außerdem thermodynamisch instabil. <strong>Si</strong>e werdenerzeugt durch äußere Einflüsse (z.B. ungleichmäßige Scherspannungen, Temperaturgradientenbeim Kristall Wachstum etc.). Definiert man als Versetzungsdichte (= Gesamtlängeder Versetzungen pro Kristallvolumen) die Anzahl der Versetzungslinien pro Flächeneinheitdes Querschnitts, so haben gute Halbleiterkristalle eine Versetzungsdichte von etwa 10 3 –10 5 )/cm 2 , während stark deformierte Metalle (z.B. gewalzte Stähle) bis zu 10 12 /cm 2 erreichen.10 10 cm −2 bedeutet, dass in einem cm 3 Kristall insgesamt 10 10 cm = 100 000 kmVersetzungen vorhanden sind. Versetzungen sind die einzigen eindimensionalen oder linienhafteDefekte in Kristallen; es gibt sie aber in vielen Varianten. Versetzungen sind die


42 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENfür die gesamte plastische Verformung kristalliner Materialien – d.h. aller Metalle – verantwortlichenDefekte. Gäbe es keine Versetzungen in Kristallen, wären alle Kristalle sprödewie Glas! Die gesamte metallverarbeitende Industrie mit all ihren Produkten würde nichtexistieren. Andererseits: Versetzungen sind absolut tödliche Defekte für viele Halbleiterbauelemente.Könnte man nicht vollständig versetzungsfreie <strong>Si</strong>liziumkristalle herstellen, gäbe eskeine Mikroelektronik.Die allgemeinste Definition aller möglichen Versetzungen stammt von Volterra, der 1907aus allgemeinen elastizitätstheoretischen Überlegungen heraus die folgenden Betrachtungenanstellte. Die Versetzung selbst wurde erst 1934 als tatsächlicher Defekt postuliert! Volterraverallgemeinerte den Umgang mit dem fiktiven Messer, das wir auch Volterra-Messer nennen.In moderner Notation sieht das Rezept so aus:• (Fiktiver) Schnitt in den Kristall [Abb. 1.37 (a)]; die Schnittlinie entspricht dem Linienvektort der zu bildenden Versetzung. Die Schnittlinie im Material definiert dieVersetzungslinie; sie kann nicht im Material enden. Der Schnitt bildet immer einedurch einen geschlossenen Ring berandete Fläche.• Verschieben der beiden Schnittebenen um einen beliebigen Translationsvektor des Gitters[Abb. 1.37 (b) und (c)]. Der gewählte Translationsvektor ist für die entstehendeVersetzung charakteristisch und heißt Burgersvektor b nach dem Erfinder Burgers.• Wir stellen wieder einen perfekten Kristall her – mit Ausnahme der Umgebung derVersetzgslinie – indem wir die Schnittflächen wieder “verschweißen”. Da der Burgersvektorein Translationsvektor des Gitters ist, passen die beiden Hälften immer exaktaufeinander.Abbildung 1.37: Allgemeine Definition einer VS nach Volterra. a) Fiktiver Schnitt, b) Stufenversetzung,c) SchraubenversetzungZur Beschreibung einer Versetzung gehört immer eine Aussage über die Versetzungslinie.Im allgemeinen verläuft diese Linie gerade, aber das ist künstlich. Selbst mit dem fiktivenMesser hätten wir ja auch krumm in den Kristall schneiden können. Eine Versetzung kannnicht im Inneren des Kristalls enden. Der aufgeschnittene Bereich hat immer eine Umrandung(= die Versetzungslinie), die entweder bis zur Oberfläche läuft oder einen geschlossenen


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 43Kreis bildet. Nach dem Schneiden mussten wir die Schnitthälften wieder zusammenfügen; dazuwar eine Verschiebung der Schnittebenen nötig. Die Stärke dieser Verschiebung definiertuns die Stärke der Versetzung. Hätten wir zum Beispiel zwei Ebenen herausgeschnitten,hätten wir doppelt so viel verschieben müssen, um die Schnitthälften wieder zusammenzufügen.Entlang der im Material verlaufenden Schnittlinie, der Versetzungslinie entstehtein eindimensionaler Defekt – eine Versetzung. Die Versetzung ist dabei eindeutig durchihren Linienvektor t = t(x, y, z) und ihren Burgersvektor b = const. = Translationsvektordefiniert mit Linienvektor = Schnittlinie (Burgersvektor = Verschiebungsvektor). DerBurgersvektor ist für eine gegebene Versetzung überall gleich, da es nur eine Verschiebungder Schnittflächen relativ zueinander gibt. Der Linienvektor kann jedoch (als Tangente andie Versetzungslinie = Schnittlinie) an jedem Punkt anders sein, da wir ja auch willkürlicheSchnitte machen könnten. Stufen- und Schraubenversetzung [mit einem Winkel α(t, b) = 90 ◦bzw. 0 ◦ zwischen dem Linienvektor t und Burgersvektor b der Versetzung] sind Grenzfälledes allgemeinen Falls einer gemischten Versetzung, mit Winkel α(t, b) = beliebig. DerjenigeVektor, der benötigt wird, um im Referenzkristall wieder zum Startpunkt zu kommen ist derBurgersvektor (Abb. 1.38)Abbildung 1.38: Bestimmung des Burgersvektors einer Versetzung. a) Führe einen beliebiggestalteten geschlossenen Umauf von Gitterpunkt zu Gitterpunkt um die Versetzung durch.b) Führe exakt denselben Umlauf in einem Referenzkristall durch – der Umlauf wird sichjetzt nicht mehr schließen.Der Burgersvektor gibt direkt die Größe der Stufe an, die durch die Erzeugung der Versetzungauf der Kristalloberfläche entstanden ist. Das Verfahren kann umgedreht werden: Istdie atomare Struktur einer Versetzung gegeben (z.B. aus einem elektronenmikroskopischenBild), kann der zunächst ja nicht bekannte Burgersvektor aus einem Burgersumlauf bestimmtwerden. Burgersvektor und Linienvektor spannen die Gleitebene auf. Nur auf dieser Ebenekann sich die Versetzung bewegen ohne dass Material eingefüllt oder herausgenommen werdenmuss. Das ist leicht einzusehen, denn Versetzungsbewegung heißt, den Schnitt mit demVolterra-Messer fortzuführen.


44 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENPlastische Verformung aller Kristalle erfolgt ausschließlich durch die Erzeugung und Bewegungvon Versetzungen. Plastische, d.h. bleibende Verformung heißt, dass sich ein Kristallnach Einwirkung einer Kraft bleibend verformt hat. Plastische Verformung bedingtzwangsläufig, dass Teile eines Kristalls sich gegenüber anderen Teilen verschoben haben.Einige Atome sind nicht mehr dort, wo sie früher waren. Die damit verbundenen bleibendenVerschiebungen der Atome werden immer durch den Durchlauf von Versetzungen durchden Kristall erzeugt. Die makroskopische plastische Verformung ist die Summe aller mikroskopischenVersetzungsbewegungen auf den betätigten Gleitsystemen. Es müssen sehr vieleVersetzungen zusammenwirken, und auf vielen verschiedenen Ebenen durch den Kristalllaufen.Jede Versetzung hat eine Gleitebene; sie wird aufgespannt durch Linien- und Burgersvektor.Die Illustration (Abb. 1.39) zeigt dies für den einfachen Fall einer reinen Stufenversetzung.Versetzungen sind nur auf ihrer Gleitebene relativ leicht beweglich. Bei reinenSchraubenversetzungen sind Burgersvektor und Linenvektor parallel – damit kann jede Ebeneeine Gleitebene sein.Abbildung 1.39: Gleitebene einer StufenversetzungBevorzugte Burgersvektoren sind die kürzest möglichen Gittervektoren, und bevorzugteGleitebenen sind die dichtest gepackten Ebenen. Damit gibt es eine vom Kristalltypabhängige bestimmte Zahl an möglichen Abgleitungen, d.h. der Verschiebung eines Teils einesKristalls relativ zu einem anderen, gekennzeichnet durch die Ebene, auf der die Verschiebungstattfindet, und die Richtung der Verschiebung auf dieser Ebene. Viele Gleitsysteme ineinem Kristall bedeuten, dass es relativ einfach ist, in jede gewünschte Richtung Abgleitungzu produzieren. Entweder ist eines der Gleitsysteme bereits zufällig richtig orientiert, oderman muss einige Gleitsysteme kombinieren. Ein allgemeiner Satz der Topologie sagt, dassman mindestens 5 unabhängige Gleitsysteme braucht, um jede beliebige Verformung durchgeeignete Überlagerungen von Abgleitungen auf den verfügbaren Ebenen zu erhalten. Schonhier wird also klar, warum hexagonale Metalle, insbesondere Mg, Zn und Co, vergleichsweiseschwer verformbar sind, während sich die fcc-Metalle leicht verformen lassen und deshalb“weich” erscheinen. Abb. 1.40 zeigt eine der vier {111}-Ebenen mit den drei in dieser Ebeneenthaltenen Burgersvektoren vom Typ b = (a/2)〈110〉.


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 45Abbildung 1.40: Gleitsysteme der fcc KristallstrukturAbbildung 1.41: Vergleich der Gleitsysteme von fcc-, bcc- und hcp-Kristallstrukturen.


46 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENEine Versetzung hat eine Energie pro Längeneinheit, genannt Linienenergie:E V S ≈ G · b 2 , mit G als Schubmodul (1.23)Falls der Kristall seine Versetzungen nicht verschwinden lassen kann, wird er ein metastabilesGleichgewicht mit minimierter Versetzungsenergie anstreben. Der Burgersvektor hat immerden kleinst möglichen Wert, der für Translationsvektoren des Gitters zugelassen ist. GrößereBurgersvektoren dissoziieren in kleinere:[b 1 + b 2 ] 2 > b 2 1 + b 2 2 (1.24)Die Versetzung verläuft möglichst gerade, d.h. minimiert die Länge – sie verhält sich wie eingespanntes Gummiband. Die Versetzung dreht sich so, dass sie möglichst viel Schraubencharakterhat. Die Versetzungsknoten des Versetzungsnetzwerks sind häufig unbeweglich – daserklärt, warum die Versetzungen den Kristall nicht verlassen können. Mechanische Spannungenüben Kräfte auf Versetzungen aus, wobei nur die Komponente in der Gleitebenesenkrecht zur Versetzungslinie wichtig ist, da nur sie zu einer Versetzungsbewegung führt.Flächenhafte Defekte Jeder flächenhafte Defekt ist eine Grenzfläche zwischen zweiKörpern; man kann dem Defekt auch immer eine Grenzflächenenergie analog der Oberflächenenergiezuschreiben. Je nach Art der sich entlang der Grenzfläche berührenden Körperspricht man abgesehen von der Oberfläche im wesentlichen von folgenden zweidimensionalenDefekten:• Phasengrenze:Grenzfläche zwischen zwei verschiedenen festen Körpern• Korngrenze:Grenzfläche zwischen identischen, aber zueinander beliebig orientierten Kristallen• Stapelfehler:Grenzfläche zwischen zwei identischen und sehr speziell zueinander orientierten Kristallen• Antiphasengrenze:Stapelfehler in der Überstruktur• ZwillingsgrenzePhasengrenzen sind wohl die häufigsten und sehr leicht zu verstehende Defekte. Untereiner Phase wollen wir einen homogenen, unterscheidbaren und (im Prinzip) mechanischabtrennbaren Teil eines gegeben Materials mit gegebener chemischer Zusammensetzung verstehen.Phasengrenzen umfassen eine Unzahl von möglichen Grenzflächen – zum Beispiel dieGrenzfläche zwischen kristallinem und amorphem <strong>Si</strong>lizium, zwischen <strong>Si</strong> und <strong>Si</strong>O 2 oder Pd 2 <strong>Si</strong>(Palladiumsilizid), oder .... Aber auch die Grenzflächen zwischen dem Fe-Kristall und den eingelagertenkleinen Graphitpartikeln des Gusseisens, den Glasfasern und dem Epoxyharz der


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 47Abbildung 1.42: Schematische Darstellung von Phasen- und Korngrenzen.glasfaserverstärkten Kunststoffe, zwischen den Glimmer- und Feldspatteilchen des Granitsoder den Bestandteilen von Beton sind Phasengrenzen. Die Phasengrenze zwischen zwei Kristallenidentischer Bauart aber verschiedener Orientierung heißt Korngrenze, ihre Geometrieist damit verständlich. Ein Schemabild (Abb. 1.42) zeigt eine schematische (zweidimensionale)Darstellung von Kristallkörnern in willkürlicher Form mit den zugehörigen Korngrenzen,der Phasengrenze zu einer Ausscheidung und der Oberfläche. ,,Misfit“-Versetzungen kompensierenden Gitterkonstantenunterschied an der Phasengrenze. Korngrenzen sind per definitionemdie (meist beherrschenden) Defekte in Polykristallen, während sie – ebenfalls perdefinitionem – in Einkristallen nicht vorkommen. Fast alle natürlicherweise vorkommendenKristalle sind Polykristalle. Einkristalle sind selten und dann oft kostbar; man denke an dieEdelsteine.Abbildung 1.43: Stapelfehler im fcc-Kristall. a) intrinsischer STF b) extrinsischer STFStapelfehler entstehen (per Definition), wenn man zwei durch ihre Stapelfolge definierteKristalle entlang einer Grenzfläche so zusammensetzt, dass beide Kristalle zwar exaktgleich orientiert sind, an der Nahtstelle aber die Stapelfolge nicht stimmt. Die StapelfolgeABCABC... definiert den fcc-Kristall. Intrinsische oder extrinsische Stapelfehler unterschei-


48 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTURENden sich, je nachdem ob eine Ebene fehlt oder zuviel ist (Abb. 1.43). Stapelfehler enden aninneren oder äußeren Oberflächen oder sind durch eindimensionale Defekte (= Partial VS)begrenztStapelfehler in dichtestgepackten Kristallen sind sehr prominente Defekte, die sehr häufigauftreten und oft nur schwer zu vermeiden sind. Stapelfehler und Versetzungen sind insbesonderein fcc-Kristallen oft zu etwas Neuem kombiniert (einer aufgespaltenen Versetzung).Ohne auf Einzelheiten einzugehen, soll doch angemerkt werden, dass die Eigenschaften derStapelfehler damit sehr stark die Versetzungsmechanik und damit die plastische Verformbarkeitdieser Materialien beeinflusst. Stapelfehler in einer geordneten Überstruktur nenntman Antiphasengrenze (Abb. 1.44).Abbildung 1.44: Antiphasengrenze in einem Fe 3 Al Kristall.Zwillingsgrenzen bzw. Zwillingskorngrenzen treten häufig in <strong>Si</strong> (Diamantgitter) und fccKristallen auf (Abb. 1.45).Abbildung 1.45: Zwillingskorngrenze in <strong>Si</strong>.


1.6. KRISTALLGITTERDEFEKTE 49Dreidimensionale Defekte Dreidimensionale Defekte sind notwendigerweise von zweidimensionalenDefekten begrenzt und können durch Diffusion und Zusammenlagerung (=Agglomeration, “clustern”) von nulldimensionalen Defekten entstehen. Treffen sich vieleLeerstellen an einem Platz, entsteht ein Void. Auch hier ist der dreidimensionale Defektdurch den zweidimensionalen Defekt Oberfläche begrenzt. Selbstverständlich können auchsubstitutionelle oder interstitielle Fremdatome per Diffusion agglomerieren; es resultiert eineAusscheidung. Voids entstehen z.B. direkt bei der Herstellung, insbesondere beim <strong>Si</strong>nternvon Keramiken, durch die Zusammenballung vieler Leerstellen, durch den Aufstau vielerVersetzungen (das gibt dann Mikrorisse), durch die Agglomeration von ins Gitter (als extrinsischeatomare Defekte) eingebaute Gasatome (vor allem Wasserstoff; führt ebenfalls zuMikrorissen) und insbesondere durch Bestrahlung eines Kristalls mit Teilchen aller Art. Ausscheidungen(engl. “precipitates”) sind einfach vollständig in die Matrix des Wirtskristallseingebettete andere Phasen, sozusagen gefüllte Voids.In der Regel unterstellt man mit dem Wort “Ausscheidung”, dass sie sich im Kristall erstgebildet hat, z.B. durch Diffusion und Agglomeration von Fremdatomen beim Abkühlen.In anderen Worten: Direkt nach dem Erstarren einer Schmelze sind Ausscheidungen nochnicht vorhanden. In den Kristall eingebettete Teilchen, die schon immer da waren (weil siez.B. schon in der Metallschmelze gelöst waren und beim Erstarren einfach in das Kristallgittereingebaut wurden), heißen Dispersionspartikel. Ausscheidungen können also wachsenund schrumpfen – je nachdem, ob die beteiligten Atome zur Ausscheidung hin- oder vonihr wegdiffundieren. Dreidimensionale Defekte sind notwendigerweise von zweidimensionalenDefekten begrenzt. Dies bedeutet, dass bei der Bildung einer Ausscheidung die Energieimmer erst anwächst, bevor sie abnimmt. Der energetisch günstigere Zustand kann damitnur durch Überwinden einer Energiebarriere erreicht werden, es bedarf einer Nukleation,einer Keimbildung der Ausscheidung, bevor durch Wachstum der Ausscheidung immer mehrEnergie gewonnen werden kann, so dass das Wachstum “von alleine” abläuft.Die Gesamtheit aller strukturellen Besonderheiten eines Materials bezeichnen wir als dasGefüge des Materials. Aussagen wie “polykristallin – einkristallin”, “einphasig – mehrphasig”,“grobkörnig – feinkörnig” sind Aussagen über das Gefüge.


50 KAPITEL 1. KRISTALLSTRUKTUREN


Kapitel 2Strukturbestimmung2.1 EinleitungDie Streuung von Röntgenstrahlen und von Neutronen ist eine hervorragende Methode, dieStruktur und Dynamik im Bereich atomarer Abstände zu erforschen. Methoden mit vergleichbarerAussagekraft sind nur noch die Beugung und Abbildung mit Elektronen, dieFeldelektronen- und Feldionenmikroskopie. Im Folgenden sollen die physikalischen Grundlagen,die experimentellen Methoden und die verschiedenen Anwendungen der Röntgen- undNeutronenstreuung dargestellt und erläutert werden.Das Phänomen der Beugung wurde wohl zuerst von Huygens klar erkannt. Unsere anschaulichsteVorstellung haben wir aus den Interferenzversuchen mit Wasserwellen: Hintereinem Loch in einer Wand, die von vorn mit ebenen Wasserwellen angestrahlt wird, breitensich ringförmig Wasserwellen aus, vorausgesetzt, das Loch ist genügend klein im Vergleichzur Wellenlänge der Wasserwellen. Bei zwei und mehr Löchern in der Wand bilden sichcharakteristische Interferenzmuster, deren Struktur vom gegenseitigen Abstand der Löcherrelativ zur Wasserwellenlänge abhängt. Ganz analog ist die Versuchsführung bei der Beugungvon Röntgenstrahlen und Neutronen, natürlich mit gewissen kleinen Unterschieden.Erstens lassen wir, grob gesehen, der Welle ihren freien Lauf, wir bringen also keine Wändemit kleinen Löchern in den Strahl, sondern nur die beugenden Objekte. Die entsprechendenBilder für die ungestörte Welle, die Beugung an einem Streuzentrum und die Beugung anzwei Zentren sind in Abb. 2.1 dargestellt.Abbildung 2.1: Beugung einer ebenen Welle an Streuzentren51


52 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGZweitens, die mittleren Abstände von Atomen in Festkörpern und Flüssigkeiten sind etwa3 × 10 −10 m (0.3 nm). Damit wir Aussagen über die atomaren Anordnungen bekommen,muss die Wellenlänge der verwendeten Strahlung vergleichbar oder kleiner als dieser Wertsein. Die Wellenlänge der CuK α -Strahlung ist 0.154 nm und erfüllt damit ausgezeichnetdiese Bedingung. Die Wellenlänge der häufigsten Neutronen im thermischen Geschwindigkeitsspektrumist 0.18 nm und ebenso vergleichbar mit den atomaren Dimensionen. BeideArten von Strahlungen können in genügender Menge erzeugt werden. Neuerdings wird zuRöntgenstreuexperimenten auch die Bremsstrahlung von Elektronensynchrotrons und vonSpeicherringen verwendet. Dies sind Quellen von enormer Leuchtdichte.Für das Verständnis zunächst wichtiger ist aber unsere Vorstellung über den Mechanismusder Streuung am einzelnen Atom. Die Streuung von Röntgenstrahlen am einzelnenAtom ohne Änderung der Energie des Atoms ist zurückzuführen auf die ”Schwingung“ derElektronenhülle. Eine essentielle Rolle spielt der Beugungsvektor Q, gegeben durch die Differenzder Wellenzahl Vektoren k und k ′ der einfallenden und der gebeugten Welle (Abb.2.2):Abbildung 2.2: Schematische Darstellung der Bragg-Beugung im reziproken Raum.Q = k − k ′ (2.1)Der differentielle Streuquerschnitt des einzelnen Atoms ist im Wesentlichen eine Funktionvon Q und nicht explizit von k oder k ′ abhängig (|k| = 2π/λ, mit λ als Wellenlänge der verwendetenStrahlung). Neutronen werden entweder am Kern des Atoms oder aufgrund ihresmagnetischen Moments an der Hülle des Atoms gestreut, sofern diese auch ein magnetischesMoment hat. Im ersten Falle ist die Streuung am einzelnen Atom unabhängig von Q. DieStreuung am einzelnen Atom führt zu einem Wirkungsquerschnitt dσ/ dΩ, der aufgefasstwird als Quadrat einer Streulänge b, die ihrerseits von Q abhängen kann:dσdΩ = b2 (2.2)Der nächste Schritt ist zu zeigen, dass die Streuung an einem Ensemble von N Atomen diekohärente Überlagerung der Streuwellen der einzelnen Atome ist. Dies führt für das Ensemblezu dem Wirkungsquerschnitt∣dσ ∣∣∣∣ N 2dΩ = ∑b n e iQR n(2.3)∣n=1


2.1. EINLEITUNG 53n ist der Summationsindex, b die Streulänge des einzelnen Atoms und R n der Ortsvektorfür seinen Schwerpunkt. Je nach Anordnung der Atome hängt dσ/ dΩ in ganz verschiedenerWeise von Q ab. Also ist dσ/ dΩ ein Indikator für die Struktur des Festkörpers. Bei periodischerAnordnung der Atome ist dσ/ dΩ sehr groß, wenn Q die Braggbedingung erfüllt, d.h.Q senkrecht auf einer Netzebenenschar steht und sein Betrag 2π geteilt durch den Netzebenenabstandoder sein Vielfaches ist. Diese Q-Werte bilden im Q-Raum ein Gitter, das sogenannte reziproke Gitter. Bei streng periodischen Kristallen ist für alle anderen Q-Wertedσ/ dΩ praktisch Null. Für gestörte Kristalle ergibt sich aber auch Intensität zwischen diesenreziproken Gittervektoren. Deshalb können oft Störungen mit Beugungsmethoden guterfasst werden.Bislang haben wir die Atome so behandelt, als ob sie ortsfest wären. Dies trifft aber füreinen Festkörper wegen der so genannten Nullpunktsschwingungen nicht einmal am absolutenNullpunkt und noch viel weniger bei endlichen Temperaturen zu. Die Bewegung der Atomeverändert die Energie bzw. die Wellenlänge der Streustrahlung.Zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen:1. Ein Neutron werde an einem freien, sich bewegenden Proton gestreut. Dies kann, wiefolgt, mit einfachen Stoßdiagrammen behandelt werden und führt zu einer Energieänderungdes Neutrons bei der Streuung (Abb. 2.3).Abbildung 2.3: Streuung eines Neutrons an einem Proton.2. Die Streuwelle, die von einem Atom ausgeht, ist proportional b/|R| exp(ikR), wobeidas Atom bei R = 0 sitzt. Macht das Atom eine zusätzliche zeitabhängige Auslenkung s(t),so müssen wir mit exp(iQs(t)) multiplizieren und generell die Zeitabhängigkeit der Wellebetrachten. Die Streuamplitude ist dannbexp i[kR − ωt] exp i[Qs(t)], (2.4)Rwobei ω gleich der Energie der Strahlung ist. Man sieht, dass die Streuwelle mit der Frequenz


54 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGder Auslenkung moduliert wird und man kann z.B. für s(t) = s 0 cos(ω 0 t − α) und Qs ≪ lleicht ausrechnen, dass neben der elastischen Streuung auch zwei energiegeänderte Wellenmit ω − ω 0 und ω + ω 0 auftreten.Die obige Betrachtung, wie die Bewegung der Atome den Wirkungsquerschnitt verändert,ist klassisch und deshalb nur zur Veranschaulichung verwertbar. Im Speziellen wird derBegriff der Streufunktion eingeführt:S(Q, ω) mit Q = k − k ′ und ω = E − E ′ (2.5)wobei E und E ′ die Energien der Strahlung vor und nach der Streuung sind. Die charakteristischenFrequenzen ω mit denen sich Atome im Festkörper bewegen, liegen im Bereich10 9 bis 10 14 s −1 . Dies entspricht ω-Werten von 4 µeV bis 500 meV. Die Energie der CuK α -Strahlung ist 9 keV, die von einem 0,18 nm-Neutron hingegen nur 25 meV. Es ist ganzklar, dass mit Neutronen die charakteristischen Bewegungszustände in Festkörpern wegender relativ großen Energieänderungen leicht messbar sein sollten. Mit Röntgenstrahlen istdies ungleich viel schwieriger und kommt auch deshalb in der Praxis nicht vor.In anderen Worten: Mit Röntgenstrahlen messen wir nur die Struktur, mit Neutronenhingegen die Struktur und die Dynamik von Festkörpern. So ist auch die Technik der Neutronenstreuung– im Gegensatz zu der von Röntgenstrahlen – in vielen Fällen noch zusätzlich aufdie Energieanalyse nach der Streuung ausgerichtet. Ansonsten gleichen sich die Techniken inmancher Hinsicht. Die inelastische Neutronenstreuung ist eine der wichtigsten Methoden inder Festkörperphysik. Eine der wichtigsten Anwendungen der inelastischen Neutronenstreuungist die Bestimmung von sogenannten Phononen-Dispersionskurven und Gitterschwingungsspektren.Wegen ihrer magnetischen Wechselwirkung sehen die Neutronen neben der Bewegung derAtomkerne auch die Bewegung der magnetischen Momente. Hier ist zu unterscheiden zwischender Änderung der Ortslage des magnetischen Moments und der zeitlichen Änderungseiner Richtung. Die letztgenannte Dynamik der magnetischen Momente führt zu dem Beispielder Streuung an magnetischen Spinwellen (Abb. 2.4). Diese Spinwellen können verstandenwerden als gekoppelte Präzessionsbewegungen der atomaren Gesamtspins um die festvorgegebene Richtung der mittleren Magnetisierung M.Abbildung 2.4: Schematische Darstellung einer magnetischen Spinwelle


2.2. STREUUNG AM EINZELNEN ATOM 55Wie bei den Phononen stehen auch hier Frequenz und Wellenlänge in fester Beziehungzueinander, was wiederum zu maximalen Neutronenstreuquerschnitten für die entsprechendenEnergie- und Impulsüberträge des Neutrons führt. Der Wirkungsquerschnitt nach Glg.(2.3) ist nur gültig, wenn die gestreute Welle nicht noch einmal gestreut wird; d.h. für dasGesamtwellenfeld soll das Streuensemble nur eine schwache Störung sein. Es lässt sich leichtausrechnen, dass Kristallite, die diese Bedingung erfüllen, für normale Röntgen- und Neutronenstrahlenkaum größer als 0.1 µm bzw. 5 µm sein dürfen. Im Allgemeinen setzen sichEinkristalle aus kristallinen Blöcken von etwa dieser Größe zusammen, und diese Blöckesind ohne strenge Phasenbeziehung gegeneinander verkippt. Dies erlaubt bei Anwendungsogenannter Extinktionskorrekturen weiterhin den in Glg. (2.3) angegebenen Wirkungsquerschnittzu verwenden. Man sagt dann, dass die kinematische Theorie verwendet werden kann.<strong>Si</strong>nd jedoch die Kristalle periodisch über wesentlich größere Distanzen, d.h. hat man es mitgroßen perfekten Kristallen zu tun, dann muss eine ganz andere Theorie, die sogenanntedynamische Theorie der Beugung, verwendet werden. In dieser Theorie werden die Wellengleichungenfür die jeweilige Strahlung in dem jeweiligen Medium gelöst, was mit relativguter Näherung für periodische Kristalle bei einfachen Randbedingungen (z.B. ebene Begrenzungsflächen)möglich ist. Darüber hinaus kann man dann noch schwache Störungen imKristall haben und ihren Einfluss auf die dynamische Beugung untersuchen.2.2 Streuung am einzelnen AtomAtome haben einen Durchmesser, der in der Größenordnung von kleiner als 1 nm liegt.Wenn sie sich zu größeren Molekülen oder im flüssigen bzw. festen Aggregatzustand zusammenlagern,so liegen ihre nächste-Nachbar-Abstände ebenfalls bei Nanometern. Um dieStruktur einer solchen Ansammlung von Atomen durch ein Beugungsexperiment zu bestimmen,benötigt man Wellen, deren Wellenlänge ebenfalls von dieser Größenordnung ist bzw.deren Wellenvektor k = 2π/λ im Bereich 10 10 – 10 11 m −1 liegt. Die wichtigsten Wellentypenfür Strukturuntersuchungen sind:.• Röntgenstrahlen: E = 10 keV → λ = 2πc/E ≈ 0.124 nm• Elektronen: E = 100 eV → λ = 2π/(2Em e ) 1/2 ≈ 0.123 nm• Neutronen: E = 50 meV → λ = 2π/(2Em n ) 1/2 ≈ 0.128 nmIm Prinzip können natürlich eine Reihe weiterer Materiewellen, z.B. Protonen, zu Strukturuntersuchungenherangezogen werden. Praktisch sind jedoch die oben genannten am wichtigsten.In diesem Kapitel soll zunächst die Streuung der oben genannten Wellen am einzelnenAtom diskutiert werden. Die Wechselwirkung der verschiedenen Wellen mit dem einzelnenAtom ist sehr unterschiedlich. Die Röntgenstrahlung zwingt die Ladungswolke der Atomelektronenzu erzwungenen Schwingungen. Die Elektronen werden am elektrischen Potential desAtoms gestreut. Die Neutronen werden zum einen am Atomkern gestreut, zum anderen anlokalen Magnetfeldern der Elektronenhülle wie sie in magnetischen Substanzen vorkommen.Wir werden also die verschiedenen Mechanismen der Streuung im einzelnen diskutieren. Da


56 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGdie Atome selbst einen Durchmesser haben, der vergleichbar ist mit der Wellenlänge, findetbereits eine Interferenz der elementaren Streuwellen von verschiedenen Teilen des Atomsstatt. Dies wird sich im atomaren Formfaktor ausdrücken. (Lediglich bei der Kernstreuungder Neutronen an nicht magnetischen Atomen ist dieser Formfaktor gleich 1, weil die Ausdehnungdes Kerns klein ist gegen die Neutronenwellenlänge). Wenn die Atome jetzt zu größerenVerbänden oder Kristallen zusammengelagert werden, so werden wir in der Regel annehmen,dass die eintretende Welle an jedem Atom unabhängig gestreut wird und dass die Atome imVerband genauso streuen wie im isolierten Zustand. Die Streuwellen überlagern sich nun undliefern ein Beugungsbild, das der vorliegenden Struktur entspricht und Rückschlüsse auf dieAnordnung der Atome erlaubt. Während die Streuung der verschiedenen Wellentypen ameinzelnen Atom recht unterschiedlich ist, wird die Überlagerung am Atomverband für alleWellen gleich behandelt. Wir werden im Folgenden die Streuung von Röntgen-, ElektronenundNeutronenwellen am Atom im Detail behandeln. Wir beginnen also mit der Frage: Waspassiert, wenn eine Welle auf ein Atom trifft? Dabei soll das Atom am Orte 0 fest verankertsein.2.2.1 Streuamplitude und Bornsche NäherungZunächst wollen wir diese Frage allgemein, d.h. unabhängig von der speziellen Art der einfallendenWelle für die elastische Streuung diskutieren.Die einfallende Welle e ikr wird am Atom gestreut. Die Streuwelle hat in großenAbständen die Form1r f (Ω) e ikr (2.6)Abbildung 2.5: Streuung einer ebenen Welle an einem Atom.Für die Streuung definiert man den partiellen Streuquerschnitt dσ/dΩ. Dieser gibt den


2.2. STREUUNG AM EINZELNEN ATOM 57Bruchteil der einfallenden Welle an, der in das Raumwinkelelement [Ω,dΩ] gestreut wird.dσdΩ =Strom der gestreuten Teilchen in [Ω, dΩ]Stromdichte der einfallenden Teilchen × dΩ . (2.7)Da bei der elastischen Streuung die Gruppengeschwindigkeiten von einfallender und gestreuterWelle gleich sind, giltdσdΩ = |f (Ω)|2 , (2.8)wobei f(Ω) die Streuamplitude in die Richtung Ω bezeichnet.Als totalen Streuquerschnitt definiert man∫σ =dσdΩ. (2.9)dΩDie Streuung kann auch als Übergang vom Zustand k in den Zustand k ′ beschrieben werden(Abb. 2.6). Das Matrix-Element der potentiellen Energie sei U k’k .Abbildung 2.6: Streuung als Übergang vom Zustand k in den Zustand k ′Dann ist die Übergangswahrscheinlichkeit von k nach k ′ in Bornscher Näherung:W k ′ k = 2π ∣ Uk ∣ 2 ′k δ ( )E k′ − E k . (2.10)Der Zusammenhang von f(Ω) und U k’ksoll hier in Bornscher Näherung angegeben werden.Die Streuwahrscheinlichkeit vom Zustand k in den Zustand k ′ ergibt einen Zusammenhangzwischen Streuamplitude und Matrix-Element:f (Ω) =k U k2πv ′ kV, mit v gr = dEgr d (k)(2.11)


58 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGV ist das Normierungsvolumen und v gr ist die Gruppengeschwindigkeit.Damit ergibt sich für den differentiellen Streuquerschnitt in Bornscher NäherungFür Korpuskularwellen gilt E = 2 k 2 /2m. Damit finden wir2.2.2 Röntgenstreuung am Atom( ) −2dσdΩ = k2 dE|V U4π 2 kdk′ k| 2 . (2.12)dσ( m) 2dΩ = |V Uk2π 2 ′ k| 2 . (2.13)Wir betrachten zunächst die Streuung durch ein klassisches (lokalisiertes) Elektron am Orte0, auf das eine elektromagnetische Welle (Röntgenwelle) trifft. Die elektromagnetische Wellebehandeln wir in diesem Kapitel stets klassisch. <strong>Si</strong>e besitzt eine Komponente des magnetischenund des elektrischen Feldes. Letztere beschreiben wir durchE = E 0 e i(kr−ωt) . (2.14)Dieses elektrische Feld regt das Elektron zu erzwungenen Oszillationen an, wobei s die Amplitudedes Elektrons beschreibt. Das schwingende Elektron ist nun seinerseits ein HertzscherDipol. Dieser Dipol emittiert ein elektromagnetisches Feld. Das Verhalten von StreuamplitudeE S0 zu Einfallsamplitude E 0 führt zum differentiellen Streuquerschnitt.Im Allgemeinen benutzt man unpolarisierte Röntgenstrahlung. Dann liegt der Vektor E 0im statistischen Mittel gleichverteilt in der x-y-Ebene. Wenn wir den Winkel zwischen k undk ′ mit ϑ bezeichnen, so ergibt die Mittelung über alle Polarisationen des elektrischen Feldesfür den differentiellen StreuquerschnittdσdΩ = r2 (ESE 0) 2= 1 c 4 e 4m 2 e( 1 + cos 2 ϑ2). (2.15)Dieser Faktor 1/2(1+cos 2 ϑ) tritt stets als Charakteristikum der Dipolstreuung im Endresultatfür die Intensität auf. Jetzt betrachten wir das streuende Atom zunächst einmalhalbklassisch. Es besteht aus einem positiven Kern und einer elektronischen Ladungswolkemit der Ladungsdichte eρ(r). Der Kern trägt wegen seiner großen Masse kaum zur Streustrahlungbei. Von der Ladungswolke der Elektronen nehmen wir zunächst an, dass sie lokalohne Behinderung durch atomare Bindungskräfte zu erzwungenen Schwingungen gebrachtwird. Dies wird umso besser, je höher die Energie der Röntgenstrahlung im Vergleich zu atomarenBindungsenergien ist. Jetzt überlagern sich die Streuwellen von verschiedenen Teilender Elektronenhülle, wie in Abb. 2.7 demonstriert.Die Feldstärke der Welle in Richtung k ′ für große Abstände ist− 1 r1c 2 e 2m eE 0 F x (Q) C ϕ (ϑ) mit Q = k − k ′ (2.16)


2.2. STREUUNG AM EINZELNEN ATOM 59Abbildung 2.7: Streuung an der Elektronenhülle.dem atomaren Streufaktor∫F x (Q) =ρ (R)e iQR d 3 R (2.17)und der Elektronendichte ρ(R), sowieDamit ist die Streuamplitudef (Ω) =C ϕ (ϑ) = [E 0 − (E 0 · r) r] . (2.18)e2m e c 2 F x (Q) C ϕ (ϑ) = r el F x (Q) C ϕ (ϑ) , (2.19)wobei r el = 2.8 × 10 −13 cm der klassische Elektronenradius ist.In dieser und folgenden Formeln wird f(Ω) oft als Funktion von Q angegeben. Da Q =2k sin(ϑ/2) ist, gibt Q die Abhängigkeit von Ω = Ω(ϑ, ϕ) an.Bei der bisherigen Betrachtung war sowohl das Wellenfeld der Röntgenstrahlen als auchdie Elektronenhülle der Atome klassisch behandelt worden. Diese Betrachtung liefert den fürStrukturuntersuchungen wichtigen Anteil der Röntgenstreuung. Dabei ist die Streuung derRöntgenstrahlen elastisch, d.h. ohne Energieverlust. Wir wollen jedoch noch kurz auf inelastischeProzesse eingehen. Die Elektronenhülle kann z.B. einen Röntgenstrahl absorbierenund dabei in einen angeregten Zustand übergehen. In diesem Fall ist die Wellenfunktion vorund nach dem Übergang verschieden. Diese inelastische Streuung kann in Glg. (2.19) inkorporiertwerden, indem für die Elektronendichte ein zusätzlicher Operator eingesetzt wird.Eine Quantisierung der Röntgenstrahlung soll hier nicht durchgeführt werden. <strong>Si</strong>e ist jedochfür die Röntgenstreuung nicht unerheblich. <strong>Si</strong>e liefert z.B. die Comptonstreuung (Abb. 2.8),


60 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGbei der ein x-Photon mit einem Elektron kollidiert und Energie und Impuls austauscht. Dabeierfährt der x-Strahl eine Änderung der Wellenlänge um∆λ =h (1 − cos ϑ) (2.20)m e cAbbildung 2.8: Comptonstreuung, schematisch2.2.3 Elektronen-BeugungFür Elektronen besitzt ein Atom ein Potential u(R). Die Berechnung dieses Potentials istnicht einfach. Wir werden auf diesen Punkt noch kurz zurückkommen. Für große Abstände seiu(R → ∞) = 0. In diesem Potential hat die einfallende Elektronenwelle eine veränderteWellenlänge.λ = 2π k = 2π√ (2.21)2me [E − u (R)]Die führt zu einer Streuung der Elektronenwelle. Dabei überlagern sich wie zuvor die Streuwellenvon verschiedenen Bereichen des Atoms.Nun können wir leicht die Matrix-Elemente für den Übergang von k nach k ′ berechnen:u k ′ k = 1 ∫u (R)e i(k−k′ )R d 3 R (2.22)VEntsprechend der Glg. (2.22) hat dann die Streuwelle in Bornscher Näherung die Form:1r f (Ω) e ikr = 1 m er 2π V u 2 k ′ k e ikr (2.23)Das Potential u(R) setzt sich zum einen aus dem positiven Coulomb-Anteil des Kerns zusammen.Zum anderen enthält es die Coulomb-Abstoßung der übrigen Elektronen sowiedie Austauschwechselwirkung mit diesen. Letztere ist nur näherungsweise berechenbar. Diesführt dazu, dass man ein Pseudopotential einführen muss. Diese Schwierigkeiten sind nurnumerisch zu lösen. Für viele Elemente kann man die Potentiale tabelliert erhalten.


2.2. STREUUNG AM EINZELNEN ATOM 61Für hohe Elektronenenergien kann man die Austauschwechselwirkung vernachlässigen.Dann kann man das Potential aus der Ladungsdichte des Atoms berechnen. Damit ergibtsich für die Streuamplitude bei der Streuung von Elektronen:f (Ω) = m ee 22π 2 1Q 2 (Z − F x) =12πa H Q 2 (Z − F x) (2.24)wobei a H = 0,53 10 −8 cm der Bohr’sche Radius ist. Wenn wir diesen Ausdruck mit Glg.(2.24) für die Röntgenstreuung vergleichen, so tritt zwischen beiden grob gesprochen derFaktor (2πQ 2 a H r el ) −1 auf. Setzen wir für Q einen typischen Gitterimpuls ein (Q = 0.1 nm),so finden wir grob als Verhältnis der Streuamplituden von Elektronen zu Röntgenstreuungden Faktor 10 3 – 10 4 .2.2.4 NeutronenstreuungDie Wechselwirkung von Neutronen mit Atomen wird durch eine Reihe von Termen beschrieben.Wir beschränken uns auf die Kernkräfte (Nukleon-Nukleon) und die Wechselwirkung desmagnetischen Moments vom Neutron mit dem magnetischen Moment der Elektronenhüllebzw. deren Magnetfeld. Alle anderen Terme liefern nur sehr kleine Korrekturen.1.) KernstreuungBei der Streuung niederenergetischer Neutronen am Kern findet man experimentell eineräumlich isotrope Streuung f(Ω) = const. Eine solche reine s-Streuung wird durch ein δ-förmiges Potential geliefert. Dies soll zunächst in Bornscher Näherung gezeigt werden. DieWellenlänge der verwendeten Neutronen ist mindestens vier Größenordnungen größer als dieReichweite der Kernkräfte. Bei der Streuung an einem solchen ,,punktförmigen“ Potentialkann nur ein zentraler Stoß stattfinden und in Folge dessen kein Bahndrehimpuls übertragenwerden. Die Kernstreuung der Neutronen ist daher unabhängig von den Details der Kräftezwischen den Nukleonen vollkommen isotrop und nur vom relativen Abstand r zwischenNeutron und Kern abhängig. Zur Vereinfachung der später hergeleiteten Gleichungen setzenwiru (R) = V 0 ūδ (r) . (2.25)Dabei ist V 0 das Volumen des Kerns und ū das mittlere Kernpotential, das auch als Fermi-Pseudopotential bezeichnet wird.In naiver Bornscher Näherung erhält man für das Matrix-Element der Streuung von knach k ′u k ′ k = 1 ∫V 0 ūe i(k−k′ )r δ (r) d 3 r = V 0 ū. (2.26)VVDamit hat die Streuwelle in Bornscher Näherung gemäß Glg. (2.26) die Streuamplitude1r f (Ω) e ikr = 1 m nr 2π V 0ūe ikr = a 2 r e ikr . (2.27)Die Streuung ist isotrop (s-Streuung). Die Konstantea =m2π V 0ū (2.28)2


62 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGnennt man Streulänge. Damit istDer differentielle Streuquerschnitt ist gemäß Glg. (2.29)f (Ω) = a. (2.29)dσdΩ = a2 . (2.30)Die hier gegebene Streuung ist in Bornscher Näherung berechnet. Das heißt, dass das Streupotentialu(R) nur in erster Potenz in der Streuwelle auftritt. Wenn das Potential jedochstark ist, so kann man die Bornsche Näherung nicht mehr verwenden. Dies wird im Fall derNeutronenstreuung am Kern, aber auch bei Resonanzstreuung der Elektronen nötig sein. Resonanzstreuungtritt auf, wenn die Energie des einfallenden Neutrons mit einem angeregtenZustand des Systems (Kern oder Atom) übereinstimmt. In diesem Fall verweilt – anschaulichgesprochen – das Neutron (Elektron) eine gewisse Zeit in dem angeregten Zustand und dieWechselwirkung wird so intensiv, dass alle Potenzen des Potentials berücksichtigt werdenmüssen.In der Praxis bestimmt man die Streulänge experimentell. In Abb. 2.9 sind einige experimentelleStreulängen eingetragen.Abbildung 2.9: Experimentelle Streulängen für Neutronenstreuung.Bisher haben wir den Spin von Neutron und Kern außer acht gelassen. Das beschreibtdie Streuung an Kernen mit Spin 0. Wenn der Kern selbst noch einen Spin besitzt, so hängtdas Potential vom Gesamtspin ab. Kern und Neutron können einmal den Gesamtspin J =I + 1 / 2 und J = I – 1 / 2 bilden. Während des Streuprozesses bleibt der Gesamtspin erhalten.


2.2. STREUUNG AM EINZELNEN ATOM 63Daher gibt es auch zwei Streulängen a + und a − . Da verschiedene Isotope eines Elementsunterschiedliche Kerne haben, besitzen sie für die Neutronen auch ein verschiedenes Potentialund damit eine verschiedene Streulänge. Diese Tatsache spielt eine gravierende Rolle, wennwir an einem Komplex von Atomen mit verschiedenen Isotopen streuen. Als Beispiel kannaus Abb. 2.9 der Unterschied zwischen Wasserstoff H und Deuterium D entnommen werden.2.) Magnetische StreuungDa das Neutron ein magnetisches Dipolmoment hat, besitzt es eine Wechselwirkung mitinneren Magnetfeldern eines Atoms, die durch die Hüllenelektronen hervorgerufen werden.Solche Felder tauchen z.B. auf, wenn das Atom ein magnetisches Moment, also ungepaarteElektronen, besitzt. Die Wechselwirkungsenergie istu mag = −µ n B e . (2.31)Das Magnetfeld der Elektronen setzt sich aus einem Spinanteil und einem Bahnanteil zusammen.Allerdings mittelt sich das Bahnmoment der Elektronen in vielen Festkörpern durchden Einfluss kristallelektrischer Felder nahezu gänzlich weg, so dass effektiv nur mehr dasSpinmoment der (ungepaarten) Elektronen zur magnetischen Wechselwirkung beiträgt.Unter Vernachlässigung der Bahnanteile kann die magnetische Streuamplitude inBorn’scher Näherung durchf (Ω) = p (Q) σ = g n r e S ⊥ e F mag (Q) ⃗σ (2.32)beschrieben werden, worin g n = −1.91 der gyromagnetische Faktor des Neutrons, ⃗σ derPauli-Spinoperator, r e = (µ 0 /4π)e 2 /m e c 2 der klassische Elektronenradius“ und S ⊥”e dieKomponente des Gesamtelektronenspins senkrecht auf die Richtung des ImpulsübertragesQ bedeuten. F mag (Q) ist der so genannte magnetische Atomformfaktor, welcher der Fouriertransformiertender Spindichteverteilung der Elektronen entspricht. Als eigentliche magnetischeStreulänge wird die Größe p(Q) bezeichnet. Da g n r e = −1.08 × 10 −12 cm, ist sievon derselben Größenordnung wie die nuklearen Streulängen.Aus Glg. (2.32) erkennt man, dass die magnetische Streuung total unterdrückt werdenkann, wenn der Elektonenspin in Richtung des Streuvektors Q orientiert wird (bei der Streuungan einem Vielteilchensystem geschieht dies durch Parallelstellung von Magnetisierungder Probe und Streuvektor, wie in Abb. 2.9 dargestellt). Maximale Streuwirkung ergibt sichdagegen, wenn der Elektronenspin senkrecht zu Q ausgerichtet ist. Dies bedeutet, dass manaus zwei aufeinander folgenden Messungen mit verschiedener relativer Orientierung von S eund Q die Anteile der Kern- und der magnetischen Neutronenstreuung voneinander separierenkann.Verwendet man polarisierte Neutronen (|〈⃗σ〉| = 1), so lässt sich die Trennung von nuklearenund magnetischen Intensitätsanteilen auf Grund des Vorzeichenwechsels der magnetischenStreuamplitude aus zwei aufeinander folgenden Messungen mit entgegengesetzterPolarisation durchführen (Abb. 2.10). Die Separation erfolgt dabei generell genauer als imFall unpolarisierter Neutronen, da dabei die Streulängen im Streuquerschnitt auch linear


64 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGAbbildung 2.10: Zur Trennung von nuklearen und magnetischen Streubeiträgenauftreten, d.h. ihre gegenseitige Interferenz zu tragen kommt:dσ∝ (a + p(Q) dΩ 〈⃗σ〉)2 = a 2 + p 2 (Q) unpolarisiert= a 2 + p 2 (Q) ± 2ap(Q) polarisiert (2.33)Grundsätzlich muss auch festgehalten werden, dass Glg. (2.33) in dieser Form selbstverständlichnur dann gilt, wenn die Elektronenkonfiguration des Atoms beim Streuprozessnicht verändert wird. Dies ist etwa bei der störungstheoretischen Berechnung der Streulängenvon Röntgenstrahlen von Bedeutung, welche außerdem zum Unterschied von Neutronen auchTerme 2. Ordnung in der Born’schen Reihenentwicklung erfordert.2.2.5 Vergleich der StreulängenZusammenfassend sollen nun grob die Größen der Streuamplituden für verschiedene Streumechanismenverglichen werden (Abb. 2.11):a) RöntgenstrahlenEin charakteristisches Maß für die Stärke der Streuung ist Z . r el = Z · 2.8 × 10 −13 cm≈ 10 −11 cm.b) ElektronenbeugungEin charakteristisches Maß für die Stärke der Streuung ist Z/(2πa H G 2 ), wobei G einreziproker Gittervektor ist. Die Streuamplitude ist um den Faktor 10 3 – 10 4 größer als bei


2.2. STREUUNG AM EINZELNEN ATOM 65Abbildung 2.11: Röntgenbeugungs- und Neutronenbeugungsaufnahmen von Magnetit beiRaumtemperatur.x-Strahlen und etwa 10 −8 – 10 −7 cm. Da Q 2 = 4k 2 sin 2 (ϑ/2), ist der totale Streuquerschnittumgekehrt proportional zur kinetischen Energie der Elektronen. Aus diesem Grunde benutztman im allgemeinen Elektronstrahlen von 10 eV und mehr zur Strukturuntersuchung, umtief genug in die Materie einzudringen. Dann liegen allerdings die interessanten Reflexe unterkleinen Winkeln. Niedrige Elektronenenergien eignen sich vor allem, um Oberflächen zuuntersuchen.c) NeutronenstreuungFür die meisten Elemente liegt die Streulänge bei der Kernstreuung in der Größenordnung±5×10 −13 cm. Bei reiner Spin-Streuung (im Falle der magnetischen Streuung) liegt F mag (Q)für kleine Q in der Größenordnung 1 (z.B. bei Fe). Wenn Q⊥Q ist, so liegt die charakteristischeLänge bei 5 × 10 −13 cm. <strong>Si</strong>e ist also mit der Kernstreuung vergleichbar.


66 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNG2.3 Beugung an periodischen Strukturen -(Elastische Streuung an vielen Atomen)Nachdem wir die verschiedenen Wellentypen und ihre Streuung durch das einzelne isolierteAtom diskutiert haben, wollen wir nun einen Schritt hin zur Strukturuntersuchung von einergrößeren Anordnung von Atomen machen. Dabei werden wir die Atome als lokalisiertam Orte r betrachten, denn wir werden uns auf die elastische Streuung beschränken. Wirbetrachten eine einlaufende Welle e ikr . Die Dämpfung dieser Welle in der Atomanordnungmöge so gering sein, dass jedes Atom die einlaufende Welle mit der Amplitude 1 spürt. JedesAtom streut nun mit seiner Amplitude f(Ω). Die Streuwelle möge so klein in der Amplitudesein, dass eine weitere Streuung der gestreuten Welle einen verschwindenden Beitragliefert. Das heißt, Mehrfachstreuung wird vernachlässigt. Diese Voraussetzungen sind besondersgut für Neutronen erfüllt. Bei der Elektronenstreuung wird im Kapitel über dynamischeTheorie diese Voraussetzung fallengelassen. Wir können nun die Amplitude der gestreutenWelle berechnen, indem wir die Streuamplituden der einzelnen Atome (1/r)f(Ω)e ikr mit denentsprechenden Phasendifferenzen überlagern oder indem wir das Matrix-Element bezüglichdes Gesamtpotentials aller Atome bilden. Beide Wege sind äquivalent. Hierbei wird angenommen,dass das Potential bzw. die Ladungsverteilung des Atoms sich durch die Nähe deranderen Atome nicht wesentlich ändert. Wir berechnen das Matrixelement für den Übergangvon k nach k ′ :U k ′ k = 1 ∫ ∑u (r − r i )e i(k−k′ )r(2.34)ViDabei ist ∑ iu (r − r i )das Gesamtpotential.Verglichen mit der Streuamplitude des einzelnen Atoms bei der Streuung von k nach k ′ist die Streuamplitude des Atomkomplexes lediglich mit dem Phasenfaktor ∑ e iQr i multipliziert.Die gesamte Information über die Anordnung der Atome liegt in diesem Phasenfaktor.iEr ist auch vom Wellentyp gänzlich unabhängig und enthält nur den Übertrag des WellenvektorsQ.Bei der Berechnung der Streuintensität müssen wir die Amplitude quadrieren. Daher istdie Intensität des Atomkomplexes gegenüber dem einzelnen Atom um∑∣ e iQr 2i∣ vergrößert.iWir definieren nun als Strukturfaktor für k ≠ 0F (Q) = 1 ∑e iQr iN ∣ ∣i2= 1 ∑e iQ(r i−r j )r i, (2.35)Nwobei N die Zahl der streuenden Atome ist. Da man in einem Streuexperiment im Allgemeinennur die Streuintensität messen kann, ist die Information, die das Streuexperimentliefert, in F (Q) gespeichert. Bei der Analyse müssen wir nun versuchen, aus F (Q) wiederrückwärts die Anordnung der Atome zu entschlüsseln.i,j


2.3. BEUGUNG AN PERIODISCHEN STRUKTUREN 67Der Strukturfaktor für den periodischen Kristall ist dannF (Q) = N ∑ G nδ Q,G n(2.36)mit G n als Basis des reziproken Gitters.Diese Beziehung enthält die bekannte Bragg-Bedingung (Abb. 2.12). Wenn D der Netzebenenabstandist und ϑ der Winkel zwischen k und k ′ , dann ist die Phasendifferenz zwischenden an zwei benachbarten Netzebenen gestreuten Wellen ein Vielfaches von 2π, wenn2D sin ϑ 2 = n · λ (2.37)oderoder2D sin ϑ 2 2πλ= 2π D n (2.38)k − k ′ = G (2.39)Abbildung 2.12: Schematische Darstellung der Bragg-Beugung.Für die Streuung von Röntgenstrahlen sind die Elektronen in einem Festkörper, derenDichte durch eine Funktion ρ(r) beschrieben werden, verantwortlich. Man findet die Amplitudeder Streuwelle in Bornscher Näherung, indem man die Streuwellen, die von den einzelnenPunkten des Streukörpers ausgehen, unter Berücksichtigung ihrer Phasenunterschiedeaufsummiert:∫∫F (Q) = ρ (r)e i(k′ −k)r dV = ρ (r)e iQr dV. (2.40)


68 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGDie gestreute Intensität ist gleich dem Betragsquadrat der Fouriertransformierten der DichtefunktionI ∼ |F (Q)| 2 (2.41)2.4 Grundlagen der StrukturanalyseZur Erforschung kleiner Gegenstände bedient man sich am einfachsten eines Mikroskops.Die Abbe’sche Theorie erklärt die Bildentstehung im Mikroskop: Die einfallende Strahlungwird am Objekt gebeugt. Durch das Objektiv werden die Strahlen einer Beugungsordnungin einem Punkt der Brennebene vereint. Die Überlagerung der Strahlen auf ihrem weiterenWeg in der Bildebene ergibt dann ein vergrößertes Bild des Objekts. Für Strahlungen,die wegen ihrer Wellenlänge zur Erforschung des atomaren Aufbaus der Kristalle geeignetsind, für Röntgenstrahlen, Elektronenstrahlen und thermische Neutronen, gibt es noch keineLinsen hinreichender Auflösung: Was man bei diesen Strahlen beobachten kann, sindBeugungsbilder in hinreichend großem Abstand vom Objekt. Diese Bilder entsprechen denBildern in der Brennebene eines Mikroskops. Obwohl man die Gesetze, nach denen sich dieWellen von der Brennebene zur Bildebene fortbewegen, kennt, kann man aus dem Bild (derIntensitätsverteilung) in der Brennebene nicht das vergrößerte Bild des Objekts berechnen.Man müsste dazu noch die Phasenunterschiede der einzelnen Strahlen in der Brennebenekennen.Ebenso wenig ist es möglich, aus dem Beugungsbild eines Kristalls ohne zusätzlichesWissen die Kristallstruktur zu berechnen. Es fehlen die Phasenbeziehungen zwischen denverschiedenen abgebeugten Strahlen (Phasenproblem der Strukturbestimmung). Trotzdemist es möglich, aus Beugungsuntersuchungen eindeutig die Kristallstruktur zu bestimmen.In manchen Fällen ist so etwas wie eine experimentelle Phasenbestimmung möglich, indemman weitere Atome in den Kristall einlagert und die Veränderung der Beugungs-Intensitätenbeobachtet. In vielen Fällen reicht die Information, die im Beugungsbild steckt, zusammenmit der Kenntnis der Zahl und Art der Atome, die den Kristall aufbauen, für eine Strukturbestimmungaus. Aus den Beugungswinkeln lassen sich die Abmessungen der Elementarzelleentnehmen, die Lage der Atome in der Zelle, die die Elektronendichte bestimmt, äußertsich nur in der Intensität der verschiedenen Bragg-Reflexe. Dies zeigt, dass man bei einerStrukturbestimmung in 2 Schritten vorzugehen hat.1.) Bestimmung der GitterkonstantenDie Bestimmung der Gitterkonstanten beruht stets auf Winkelmessungen. Es gibt verschiedeneMethoden, um entweder an einzelnen Kristallen oder an Kristallpulvern Gitterkonstantenzu bestimmen. Man kann z.B. Gitterkonstanten an Einkristallen mit Hilfe derLauebeziehung bestimmen. Ein Röntgenstrahl falle senkrecht auf eine Kristallachse. Strahlen,die an Atomen, die um die Gitterperiode D versetzt sind, gebeugt werden, verstärken sichnur, wenn die Bragg-Bedingung erfüllt ist. Bei monochromatischer Strahlung (λ = konstant)erfolgt aus der Bragg-Gleichung die Bestimmung der Gitterperiode D. Mögliche Reflexe liegenauf Kegeln um die Kristallachse. Diese schneiden einen zylindrisch um den Kristallgelegten Film in Schichtlinien (Drehkristallaufnahme). Aus den Abständen der Schichtlinienlässt sich die Gitterkonstante berechnen.


2.4. GRUNDLAGEN DER STRUKTURANALYSE 692.) Bestimmung der AtomlagenIm Fall der Erfüllung der Bragg-Bedingung (G = Q n ) ist die Elektronendichte in einemKristall gegeben durchρ (r) = 1 ∑F (G n ) e −2π iGnr . (2.42)VG nDie Phasenwinkel können nicht direkt den Beugungsaufnahmen entnommen werden. Deshalbgibt es auch kein direktes Verfahren, ausgehend von den beobachteten Beugungs-Intensitätendurch Fouriersynthese die Elektronendichte zu berechnen. Es muss dem eine Bestimmungder Phasen vorausgehen. In manchen Fällen kann das experimentell geschehen. Man bautschwere Atome in das Kristallgitter ein und beobachtet die damit verbundenen Änderungender Beugungsintensitäten. Diese lassen Rückschlüsse auf die Phasen zu. Viele organischeKristallstrukturen sind auf diese Weise ermittelt worden.Oft lässt sich das ”Phasenproblem“ auch rein rechnerisch lösen, denn man weiß, dassdie Elektronendichte nicht jede beliebige Gestalt haben kann, da die Kristalle aus Atomenaufgebaut sind. Für die Intensität eines bestimmten Bragg-Reflexes gilt:∫I G ∼∣ρ (r) e 2π iGr dV∣2. (2.43)Nimmt man punktförmige Atome an, so kann das Integral durch eine Summe ersetzt werden:I G ∼∣∑i(Atome/EZ)f i · e 2π iGr ∣ ∣∣∣∣∣2= |F G | 2 . (2.44)Die f i sind die Atomstreufaktoren der verschiedenen Atome, die r i ihre Lagevektoren innerhalbder Elementarzelle. Zu summieren ist nur über die Atome einer Elementarzelle, denn dieStreuwellen der Atome verschiedener Zellen sind in Phase wenn die Bragg-Gleichung erfülltist und liefern alle den gleichen Beitrag zur Streuamplitude. Die Bedeutung dieser Formeldes so genannten Strukturfaktors F (G) sollen folgende Beispiele erläutern, vergleiche Abb.2.13:• Kubisch raumzentriertes Gitter (bcc), 2 Atome gleicher Art (0, 0, 0) und (1/2, 1/2, 1/2)F g = f A · {1 + exp [πi(h + k + l)]}F g = 0 für h + k + l = 2n + 1F g = 2f A für h + k + l = 2n• Kubisch flächenzentriertes Gitter (fcc), 4 Atome gleicher Art(0, 0, 0), (1/2, 01/2), (0, 1/2, 1/2) und (1/2, 1/2, 0)F g = 0 für h, k, l gemischt, d.h. gerade und ungerade ZahlenF g = 4f A für h, k, l ungemischt, d.h. entweder gerade oder ungerade


70 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNG• Hexagonal dichteste Kugelpackung (hcp)2 Atome gleicher Art (0, 0, 0) und (1/3, 2/3, 1/2)F g = 0 für l ungerade und h + 2k = 3n√F g = f A 3 für l ungerade und h + 2k = 3n + 1F g = 2f A für l gerade und h + 2k = 3nF g = f A für l gerade und h + 2k = 3n + 1Abbildung 2.13: Elementarzellen des hcp-, bcc- und fcc-Gitters.Wieviele Atome in der Elementarzelle sind, lässt sich aus der Dichte des Kristalls, ausder chemischen Zusammensetzung und der Größe der Elementarzelle einfach ermitteln.Aus den Zellparametern lässt sich das Volumen einer Zelle ausrechnen. Ist die chemischeZusammensetzung bekannt, kann man mit Hilfe einer experimentell bestimmten Dichte desStoffes das Gewicht einer Elementarzelle auf 2 Arten ausdrücken.V Zelle ρ = Z · M · 1.66 · 10 −24 (2.45)Z . . . Zahl der Moleküle der Elementarzelle, M . . . Molekulargewicht, 1.66 · 10 −24 g = Massein Gramm der chemischen Masseneinheit.Aus dieser Glg. (2.45) bekommt man Z, damit weiß man, wie viele und welche Atomesich in einer Elementarzelle befinden. Da man im Prinzip unendlich viele Intensitäten I Gmessen kann, müssen sich die endlich vielen Lageparameter r i bestimmen lassen. Aus demVergleich des Experimentes mit den berechneten Intensitäten gelangt man zu einer eindeutigenBestimmung der Kristallstruktur. Um mit Aussicht auf Erfolg die Bestimmung derAtomkoordinaten angeben zu können, muss man die Symmetrie der Kristalle mit einbeziehen.Die Kenntnis der Symmetrie reduziert aber die Zahl der Parameter, die die Strukturbestimmen, ebenso wie die Zahl der unbekannten Phasen in der Fourierdarstellung und istVoraussetzung für die richtige Wahl der Elementarzelle.


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 712.5 Experimentelle GrundbegriffeStreuexperimente am Festkörper liefern sowohl mit Röntgenstrahlen als auch mit Neutronenoder Elektronen sehr direkte Informationen über ihre atomare Struktur, denn in allen dreiFällen können – als generelle Voraussetzung hierfür – immer Wellenlängen im Bereich derzwischenatomaren Abstände gewählt werden.Die wesentlichen Elemente eines Streuexperiments sind Quelle, Probe und ein Nachweissystemfür die Streustrahlung (Abb. 2.14):Abbildung 2.14: Schematische Darstellung eines Streuexperimentes.Im Streuexperiment kann der Streuwirkungsquerschnitt gemessen werden, d. h. die Wahrscheinlichkeit,mit der beispielsweise Röntgenstrahlen, Neutronen oder Elektronen einer bestimmtenWellenlänge λ unter einem Streuwinkel ϑ gestreut werden; gegebenenfalls mitgeänderten Wellenlängen λ ′ bei inelastischer Streuung.Röntgen- und Neutronenquellen emittieren ein ganzes Wellenlängenspektrum. Normalerweisewird daher ein zwischen Quelle und Probe angeordneter Monochromator verwendet,mit dessen Hilfe eine bestimmte Wellenlänge aussortiert werden kann.Im Folgenden sollen die experimentellen Grundlagen und die Frage diskutieren werden,ob die Streuexperimente mit den drei “Festkörpersonden” Röntgenstrahlen, Neutronen undElektronen gleiche oder unterschiedliche Informationen über den Festkörper liefern.Im Allgemeinen unterscheidet man zwei Fragestellungen:1.) Die Statik des Festkörpers, d. h. seine atomare Struktur (amorph, gestörter oderperfekter Gitteraufbau). Diese Information erhalten wir aus der elastischen Streuung.2.) Die Dynamik des Festkörpers, d. h. Energien und gegebenenfalls Dispersionsrelationenmöglicher atomarer Bewegungszustände (lokalisierte Schwingungen einzelner Atome oder


72 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGAtomgruppen, kollektive Schwingungen der Gitteratome). Diese Information erhalten wiraus der inelastischen Streuung.StatikDie an den als unbeweglich vorausgesetzten Atomen des Festkörpers elastisch gestreutenWellen überlagern sich zu strukturspezifischen Interferenzmustern. Die Amplitude F (Q) dervon einem Atom-Ensemble mit N Atomen gestreuten Welle erhält man durch phasenrichtigeAufsummation aller Einzelamplituden a der von den Atomen am Ort r n elastisch gestreutenWellen.2I (Q) ∼ |F (Q)| 2 N∑=f∣ n (Q) e iQr n(2.46)∣Die Streuintensität der elastischen Streuung hängt von der Differenz der Wellenvektoren kund k ′ von einfallender und gestreuter Welle, dem Streuvektor Q, ab (Abb. 2.5).n=1Abbildung 2.15: Streuvektor im reziproken Raum.Q = k − k ′ = 4π λ sin ϑ 2(2.47)Durch Wahl von Wellenlänge λ, d.h. Monochromatoreinstellung und Streuwinkel ϑ, d.h.Detektorstellung können mit allen drei ”Sonden“ die interessierenden Q-Vektoren eingestelltund die Streuintensität für diese Vektoren gemessen werden (d.h. Wirkungsquerschnitt alsFunktion von Q). Bei der Strukturanalyse muss dann rückwärts versucht werden, die atomareAnordnung zu entschlüsseln. In Bezug auf Informationsgehalt sind die jeweiligen Streumusterjedoch insofern etwas unterschiedlich, als die atomaren Streulängen Q für die drei Sondenstark unterschiedlich sind.Wie Abb. 2.16 zeigt, konnte beispielsweise mit Röntgenstrahlen der (111)-Reflex vonKCl wegen f K ≈ f Cl nicht gemessen werden, während der im Vergleichsspektrum für KBr(gleicher Gitteraufbau) wegen f K ≈ 0.5f Cl gut aufgelöst werden konnte. Im Gegensatz dazuunterscheiden sich die Neutronen-Streulängen auch von K und Cl stark (um einen Faktor5), so dass mit der ”Neutronensonde“ auch der mit Röntgenstreuung schlecht messbareKCl (111)-Reflex gut detektierbar ist. Auch auf Grund des verschieden starken Abfalls deratomaren Streulängen mit wachsendem Streuvektor kann eine bestimmte Sonde zur Lösungbestimmter Fragestellungen besser als eine andere geeignet sein.Auf einen weiteren Unterschied, der sich aus der verschieden starken Absorption vonRöntgenstrahlen, Neutronen und Elektronen ergibt, wird in dieser Vorlesung nicht eingegangen.


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 73Abbildung 2.16: Vergleich der Röntgenspektren von KCl und KBr.DynamikBei der inelastischen Streuung tauschen die gestreuten Röntgenstrahlen, Neutronen oderElektronen Impuls und Energie mit möglichen Bewegungszuständen des Festkörpers aus(Energiegewinn- oder Energieverluststreuung!). Bei einem durch die Detektorstellung festgelegtenStreuwinkel können nur solche Bewegungszustände angeregt oder ”vernichtet”werden,für die sowohl Energie - als auch Impulserhaltungssatz erfüllt ist.Impuls von einlaufender und gestreuter Welle: k, k ′Impulsübertrag:Q = k−k ′ (2.48)Bei einem durch die Detektorposition festgelegten Streuwinkel ϑ sind in Abhängigkeit vomEnergieübertrag viele Q-Vektoren möglich, vgl. Abb. 2.17.Zusammenhang zwischen Wellenvektor k und Energie E = ω|k| = k = 2π = ω f. elektromagnetische Welleλ c√|k| = k = mv = 2mωf. Teilchen(2.49)(c . . . Lichtgeschwindigkeit, m . . . Teilchenmasse, ω . . . Frequenz). Somit ist der Ener-


74 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGAbbildung 2.17: Schematische Darstellung der elastischen und inelastischen Streuung.gieübertrag:ω = E − E ′ = c (k − k ′ ) el.m. Welle(k 2 −k ) ′ 2Teilchen= 22m(2.50)E ist die Energie der einfallenden Welle und E ′ die Energie der gestreuten Welle.Gesucht wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Impulsübertragung Q zu einer Energieänderungω in dem betrachteten System führt, d. h. der Wirkungsquerschnitt ( =Streuintensität) mit dem in Abhängigkeit vom Impulsübertrag Energie übertragen wird.Hierzu ist eine Energiemessung der gestreuten Strahlung notwendig, um die übertrageneoder absorbierte Energie bestimmen zu können.Wellenlängen und Energien für Röntgenstrahlen, Elektronen und Neutronen (Abb. 2.18)Energieüberträge sind gut messbar für Neutronen (großes ∆E/E !!). Hoffnungslos ist die<strong>Si</strong>tuation bei Röntgenstrahlen, wo für meV-Auflösung ein ∆E/E = 10 −7 gemessen werdenmüsste, was jedenfalls zur Zeit noch nicht möglich ist (Auflösung derzeit ∆E/E = 10 −4 −−10 −5 ). Die Untersuchung von dynamischen Festkörperphänomenen ist eine Domäne derNeutronenstreuung!2.5.1 RöntgenbeugungApparaturen zur Beugung von Röntgenstrahlen an Kristallen bestehen meist aus folgendenElementen:• Quelle


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 75Abbildung 2.18: Wellenlänge und Energie für Röntgenstrahlen, Elektronen und Neutronen.• (Monochromator)• Streuapparatur• DetektorRöntgenstrahlquellenAbbildung 2.19: Querschnitt durch eine Röntgenröhre für Beugungsexperimente und typischeBremsstrahlungsspektren in Abhängigkeit der Beschleunigungsspannung.


76 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGEnergieverlust der beschleunigten Elektronen (typische Spannungen bei einigen 10 kV)im Anodenmaterial führt u.a. zu:(a) Bremsstrahlung (kontinuierliches Spektrum)(b) charakteristischer Strahlung (Linienspektrum)Bremsstrahlung entsteht durch die Abbremsung der Elektronen durch Wechselwirkungmit den elektrischen Feldern der Targetatome. Die Intensitätsverteilung von einem dickenTarget in Abhängigkeit der Beschleunigungsspannung U ist in Abb. 2.19 dargestellt. Daskurzwellige Ende des Bremsstrahlungsspektrums ist gegeben durch:λ min =c = chv max eU = 1.234U(λ in nm, U in kV) . (2.51)Charakteristische Strahlung wird emittiert, wenn Elektronen aus höheren Schalen in tiefereSchalen fallen, aus denen vorher Elektronen durch den Elektronenbeschuss aus der Kathodeentfernt wurden. Die Wellenlängen der kurzwelligsten charakteristischen Strahlung der inder Röntgenbeugung verwendeten Anoden liegen etwa zwischen 0,055 nm (Ag) und 0,23 nm(Cr). Am häufigsten wird Cu-Strahlung eingesetzt (0,15 nm). Die charakteristischen Linienkönnen Übergängen zwischen verschiedenen Schalen zugeordnet werden (Abb. 2.20).Abbildung 2.20: Energieniveaudiagramm zur charakteristischen Strahlung und Spektrum dercharakteristischen Cu-Strahlung.Eine zweite Art der Erzeugung von Röntgenstrahlung erfolgt durch Synchrotronstrahlung.Dies ist eine ”magnetische“ Bremsstrahlung, die Beschleunigung der Elektronen erfolgthier durch das Magnetfeld, das sie auf eine Kreisbahn zwingt und nicht, wie bei derRöntgenröhre, durch Streuung an Atomen, weil v elektronen ≈ c und daher die Abstrahlung


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 77praktisch tangential zur Kreisbahn erfolgt (typischer Radius R einige 10 m, ElektronenenergienE im GeV Bereich).Abbildung 2.21: Erzeugung von Röntgenstrahlung durch Synchrotronstrahlung.Streuapparaturen, Abb. 2.22Abbildung 2.22: Schematische Darstellung einer Streuapparatur.Geometrische Darstellung der Laue- bzw. Bragg-Bedingungk − k ′ = G hkl wobei |k| = 2π λ und |G hkl| = 2πd hkl(2.52)Um die Beugungsbedingung zu erfüllen, ist es bei Experimenten erforderlich, eine der dreiGrößen Θ, λ oder G kontinuierlich verändern zu können. Daraus ergeben sich die drei Hauptmethodender Röntgenbeugung:1. Diffraktometeranordnung (Bragg): gestattet Änderung von Θ bei festem λ und G2. Laue Methode: durch Verwendung ”weißer“ Röntgenstrahlung wird dem Kristall einganzer Wellenlängenbereich angeboten


78 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNG3. Pulvermethode (Debye-Scherrer): der monochromatische Röntgenstrahl trifft auf einegroße Zahl kleiner Kristallite, von denen einige so orientiert sein werden, dass sie dieBeugungsbedingung erfüllen.Röntgendiffraktometer, vgl. Abb. 2.23, (Bragg 1913)Hier wird die Beugungsbedingung durch Variation der Richtung zwischen einfallendemund gebeugtem Strahl erfüllt. Der Θ−2Θ-“scan” stellt dabei sicher, dass der Detektor immerim gleichen Winkel zur Probe steht wie der einfallende Strahl. Dadurch ist die Diffraktome-Abbildung 2.23: Röntgendiffraktometerteranordnung für Beugungsintensitätsmessungen mit elektronischen Zählern besonders geeignetund findet in zunehmendem Maße Verwendung. Außerdem ist sie relativ intensitätsstark,obwohl sie bei ebenem Kristall nur “parafokussierend” (siehe Abb. 2.23) ist. Wenn nämlichein schwach divergenter Röntgenstrahl mit einer gewissen spektralen Breite verwendet wird,kommt es ebenfalls zu einem Intensitätsgewinn, da kleine Verdrehungen der Probe bewirken,dass sie die verschiedenen Wellenlängenkomponenten des Strahls zum selben Punkt desFokussierungskreises beugt (“reflektiert”). Die Hauptanwendung eines Diffraktometers liegtin der Strukturanalyse. Aus den gemessenen Beugungsrichtungen und -intensitäten kanndarauf geschlossen werden, welche Atome sich auf welchen Plätzen einer Substanz befinden.Laue-Methode, vgl. Abb. 2.24:λ-Bereich gegeben durch λ min (bestimmt durch Röhrenspannung) und λ max (bestimmtdurch Absorption im Strahlengang, ≈ 0.2 nm).Eine Hauptanwendung der Laue-Methode ist die Orientierungsbestimmung von Einkristallenbzw. die Einjustierung einer bestimmten Kristallachse parallel zu einer vorgegebenenRichtung. Der Kristall ist dabei zweckmäßigerweise auf einem Goniometer montiert.Pulvermethode, vgl. Abb. 2.25, (Debye-Scherrer 1916)Die Wellenlänge wird so gewählt, dass möglichst viele Reflexe auf dem Filmstreifen verteiltsind (wenn λ zu klein: alle Reflexe bei Θ = 0, wenn λ zu groß: nur sehr wenige Reflexe).


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 79Abbildung 2.24: Laue-MethodeAbbildung 2.25: Debye-Scherrer-MethodeWenn sehr nahe benachbarte Linien noch aufgelöst werden müssen oder wenn die Linienlagensehr genau bestimmt werden müssen (z.B. bei Präzisionsgitterparametermessungen),müssen Kristallmonochromatoren verwendet werden.


80 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGAus den Beugungswinkeln der verschiedenen Debye-Scherrer-Linien kann man die Netzebenenabständeder entsprechenden Gitterebenen bestimmen und diese zusammen mit denIntensitäten der Linien benützen, um auf die Kristallstruktur der Probe zu schließen. In derPraxis geschieht dies durch Vergleich des Beugungsbildes mit dem ”X-ray Diffraction DataIndex”, in dem für viele tausend Elemente und Verbindungen die Bragg-Winkel und dierelative Intensität aller wichtigen Debye-Scherrer Linien aufgelistet sind (ASTM-Kartei).Die zweite Hauptanwendung der Pulvermethode liegt in der Gitterparameterbestimmung,insbesondere in der Ausmessung von kleinen Gitterparameteränderungen bei verschiedenenBehandlungen des Materials (Legieren, Bestrahlung, Temperatur- und Druckänderungenusw.). Präzisionsgitterparametermessungen wird man immer bei großen Θ (nahe π/2) vornehmen,da dort der Fehler in d bei vorgegebener Unsicherheit ∆Θ in der Winkelauflösungsehr klein wird. ∆d/d = 10 −4 ist leicht erreichbar, mit einigem Aufwand 10 −5 , mit sehrgroßem Aufwand bis 10 −6 .2.5.2 ElektronenbeugungDas Transmissions-Elektronenmikroskop (TEM) ist zu einem wichtigen Forschungsinstrumentin der Festkörper- und Metallphysik geworden. Der Grund liegt in der Möglichkeit,gleichzeitig Abbildungs- und Beugungsmethoden anwenden zu können; sowie in der starkenWechselwirkung zwischen Elektronen und Materie, die auf kurze Belichtungszeiten führt.Die Wellennatur der Elektronen bestimmt (wie im optischen Fall) die Abbildungs- undBeugungseigenschaften des TEMs.λ =h[ ( )] 1/2(2.53)2m 0 eU 1 + eU2m 0 c 2Die extrem kleinen Wellenlängen λ = 0,0037 nm der Elektronenstrahlen führen zu kleinenBraggwinkeln von Θ ≈ 0.5 bis 1 ◦ bei Netzebenenabständen von 0,1 nm. Die Streuung erfolgtam Atomkern. Die Intensität der Beugungsreflexe ist ca. 10 6 -mal stärker als im Fall vonRöntgenstrahlen. Die Eindringtiefe von 100 keV Elektronen ist < 1 µm. Das erfasste Proben-Volumen ist in der Größenordnung von 10 −9 mm 3 (ca. 1 mm 3 im Röntgenfall und einige cm 3bei Neutronenstreuung).Bei Elektronenbeugung reflektieren nur Netzebenen, die parallel zu dem Primärstrahl sind(Abb. 2.26). Das Beugungsbild besteht aus den Schnittpunkten der Ewald-Kugel (die hierzu einer Ebene entartet ist) mit dem 3-dimensionalen reziproken Gitter. Das 2-dimensionaleBeugungsmuster entspricht dieser Schnittebene.Im Falle kleiner Beugungswinkel (Elektronenbeugung) gilt (Abb. 2.27):λ · L = R H · d H (2.54)R ist der Abstand des Beugungspunktes vom Mittelpunkt im Beugungsbild und L ist dieKameralänge des Mikroskopes. λL wird als Beugungslänge bezeichnet.Die Indizierung eines Beugungsdiagrammes ist einfach. Die Basisvektoren R1, R2 definierenhier den 2-dimensionalen Gitterschnitt. Im Wesentlichen gibt es 2 <strong>Type</strong>n von Beugungsdiagrammen(Abb. 2.28):


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 81Abbildung 2.26: ElektronenbeugungAbbildung 2.27: Ableitung der Grundformel der Elektronenbeugung.• Einkristall-Diagramme• Polykristall-DiagrammeDas gesamte Beugungsbild entsteht durch Linearkombinationen von 2 Basisvektoren R1,R2.Trifft der Elektronenstrahl auf viele Körner gleichzeitig, so entstehen Ringe im Beugungsbild,die “Debye-Scherrer-Ringe”. Die Ewald-Kugel kann durch mehrere Schichten desreziproken Gitters gehen, dabei wird die 0., 1., 2., “Laue-Zone” abgebildet (Abb. 2.30).Bei Indizierung von Einkristall-Beugungsdiagrammen gilt die Regel der Vektoraddition(Abb. 2.29):R 3 = R 1 +R 2 (2.55)


82 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGAbbildung 2.28: Elektronenbeugung an Ein- und Polykristallen.Abbildung 2.29: Beispiel für die Regel der Vektoraddition für die vom Nullpunkt (000) zuden Beugungspunkten (hkl) führenden Vektoren R n .


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 83Abbildung 2.30: Einfluss der Form der Kristallinität auf das Elektronenbeugungsbild2.5.3 NeutronenbeugungThermische Neutronen haben bekanntlich gleichzeitig Wellenlängen und Energien, die vergleichbarsind zu den interatomaren Abständen und zu den kollektiven Anregungen in kondensierterMaterie. Somit können Neutronen direkte Informationen über die StreufunktionS(Q,ω) einer Probe liefern.ZweiachsenspektrometerDie Zielsetzung für ein Zweiachsenspektrometer ist die gleiche wie bei einemRöntgendiffraktometer, nämlich die Bestimmung von Strukturen und damit die Messungelastischer, kohärenter Streuung. Abb. 2.31 zeigt den prinzipiellen Aufbau einer derartigenApparatur.Aus dem ”weißen”, isotropen Neutronenspektrum des Moderators wählt das Strahlrohreine Richtung aus. Aus diesem Strahl wird per Bragg-Reflexion am Monochromatorkristallein schmales Wellenlängenband herausreflektiert. Ein zweiter Kollimator verschärft die Richtungsauswahlder auf die Probe treffenden Neutronen und ein Monitor dient als Maß für ihreAnzahl, indem er einen Bruchteil von ihnen registriert. Ein dritter Kollimator wählt für diegestreuten Neutronen eine bestimmte Richtung aus und ein Detektor weist diese Neutronennach. Der Detektor des Zweiachsenspektrometers ”sieht“ also alle ”k-Neutronen“ , die unterdem Winkel 2Θ s gestreut werden.DreiachsenspektrometerBei Messproblemen, die sich nicht auf die punktförmige Streufunktion der elastischen,


84 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNGAbbildung 2.31: Zweiachsenspektrometer.kohärenten Streuung beziehen, muss man auf der Kurve ω(Q, k i , Θ s ) ein bestimmtes Gebietauswählen, indem man die gestreuten Neutronen noch nach |k ′ | analysiert . Eine Möglichkeitist die Selektion durch einen Analysatorkristall analog zum Monochromatorkristall. Ein derartigesSpektrometer ist identisch mit dem schon beschriebenen Zweiachsenspektrometer bisauf den Zusatz einer dritten Achse, die den Analysatorkristall trägt. Der prinzipielle Aufbauist in Abb. 2.32 gezeigt. Die Freiheitsgrade dieses Spektrometers sind die Winkel Θ M , Θ A ,Θ s , ψ. Θ M und Θ A bestimmen die Längen von k und k ′ (bei gegebenem Kristall und Reflex);2Θ s ist der Winkel zwischen den beiden Vektoren, womit das Streudreieck festgelegtist. Die Probenorientierung relativ zum Vektor k wird durch den Winkel ψ festgelegt. Esgibt eine unendliche Vielfalt von k, k ′ -Paaren, um einen Punkt im Q, ω-Raum festzulegen.Deshalb wird den vier Freiheitsgraden Θ M , Θ A , Θ s , ψ eine Nebenbedingung auferlegt (Θ M =konstant oder Θ A = konstant).Ein Dreiachsenspektrometer kann im Prinzip jeden “scan“ fahren. Häufige “scans“ sindder ,,constant-Q-scan“ (parallel zur ω-Achse) und der ,,const-E-scan“ (i.a. parallel zu einemG hkl ).FlugzeitspektrometerWährend das Dreiachsenspektrometer k ′ über einen Analysatorkristall bestimmt, geschiehtdies beim Flugzeitspektrometer über die Messung der Flugzeit des Neutrons. Um dieFlugzeit bestimmen zu können, muss ein ,,Startschuss“ gegeben werden; d.h. der Neutronenstrahlmuss unterbrochen werden. Dies geschieht mittels eines ,,choppers“. Abb. 2.33 zeigtden prinzipiellen Aufbau eines derartigen Spektrometers.Der zeitliche Abstand der Neutronenpulse hinter dem ,,chopper“ muss so bemessen sein,dass sich die k ′ -Spektren der einzelnen Pulse nicht überlappen. Dies bedingt eine Strahlausnutzungvon nur < 1% bei kontinuierlichen Neutronenquellen. Diese schlechte Strahlausnut-


2.5. EXPERIMENTELLE GRUNDBEGRIFFE 85Abbildung 2.32: Neutronen Drei-Achsen-Spektrometer.Abbildung 2.33: Neutronen Flugzeitspektrometer.zung wird z.T. kompensiert durch das Aufstellen vieler Detektoren unter vielen StreuwinkelnΘ s . Jeder Detektor tastet dann den Q, ω-Raum entlang einer Kurve ab.Neben den genannten Neutronenspektrometern gibt es auch noch Spektrometer mit hoherEnergieauflösung, wie das Rückstreuspektrometer und das Spin-Echo Spektrometer.


86 KAPITEL 2. STRUKTURBESTIMMUNG


Kapitel 3Mehrstoffsysteme3.1 EinleitungMaterialien, die mehr als eine Atomsorte enthalten, werden als Mehrstoffsysteme bezeichnet.Diese sind aus technologischen Anwendungen nicht wegzudenken. Genaugenommen gibt eskaum ein technisches Material, welches in seiner elementaren Form zum Einsatz kommt.Dies ist einsichtig bei metallischen Legierungen wie z. B. Bronze oder Messing, die zu denersten vom Menschen verwendeten metallischen Mehrstoffsystemen zählen, oder für moderneStähle, die ein komplexes, wohldefiniertes System aus Eisen und verschiedenen Zusatzstoffen(Ni, Mn, Co, C, O) darstellen. Aber selbst Halbleiter, bei denen auf den ersten Blickdie elementare Reinheit und die hohe kristalline Ordnung wesentliche Anwendungskriteriendarstellen, erlangen ihre technologisch relevanten Eigenschaften erst durch den Zusatz vonDotierungsstoffen, die die elektronischen Eigenschaften in hohem (und kontrollierbarem)Ausmaß beeinflussen. Keramiken und Polymere sind, als oxidische und organische Verbindungen,bereits auf der molekularen Ebene Mehrstoffsysteme.Von ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis von Mehrstoffsystemen ist daher,in welcher Art und Weise sich ein Ensemble von N Atomen mehrerer Elemente anordnenwird. Wird die Anzahl der Elemente mit E bezeichnet und die Anzahl der Atome des i-tenElements mit n i , so muss gelten ∑ Ei=1 n i = N. Als Konzentration des i-ten Elements, c i ,wird das Verhältnis n i /N bezeichnet und es gilt ∑ Ei=1 c i = 1.Leider reicht die Kenntnis der Atomzahlen bzw. der Konzentrationen der Einzelelementenicht aus, um Aussagen über die Atomverteilung im resultierenden Mehrstoffsystem zu treffen,wie ein einfaches Beispiel in Abbildung 3.1 zeigt. Für alle in Abbildung 3.1 dargestelltenatomaren Anordnungen gilt zwar N = 100, E = 2, n 1 = n 2 = 50, d. h. c 1 = c 2 = 0.5, dieUnterschiede zwischen den gezeigten Systemen sind aber deutlich sichtbar.Alle in Abb. 3.1 gezeigten Fälle sind in der Materialwissenschaft wohl bekannt. Abb.3.1(a) ist der typische Fall einer sogenannten Substitutionslegierung, Abb. 3.1(b) beschreibtein System, in dem sich die einzelnen Atomsorten bevorzugt in einer Ebene anordnen, wie esz. B. (wenn auch in einer komplizierteren Struktur) bei Hochtemperatursupraleitern der Fallist. Abb. 3.1(c) ist ein typisches Beispiel für die Bildung von Ausscheidungen, wie sie z. B. beiStählen beobachtet werden und Abb. 3.1(d) schließlich kann als Beispiel für die vollkommene87


88 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.1: Unterschiedliche atomare Anordnungen für ein Zweistoffsystem (c 1 = c 2 =0, 5):(a) zufällige Atompositionen(b) regelmäßige Atompositionen(c) Ausscheidungsbildung(d) vollkommene Entmischung und Ausbildung einer GrenzflächeEntmischung zweier Materialien unter Ausbildung einer wohldefinierten Grenzfläche dienen.Die Details der atomaren Nah- und Fernordnung im thermodynamischen Gleichgewichtwerden einerseits durch die interatomaren Wechselwirkungspotentiale bestimmt, andererseitsaber auch durch makroskopische Parameter wie Temperatur, Druck oder die Konzentrationender einzelnen Komponenten.Während die Ableitung der atomaren Wechselwirkungspotentiale im Wesentlichen aufder Lösung der Schrödingergleichung beruht, so ist die Abhängigkeit von den makroskopischenParametern durch thermodynamische Potentiale, insbesondere die Gibbs’sche freieEnergie oder die freie Enthalpie gegeben. Die Abhängigkeit der Systemkonfiguration von denäußeren Parametern wird als Phasendiagramm bezeichnet. Auf die Ableitung dieser Phasendiagrammeaus den entsprechenden thermodynamischen Potentialen soll im Folgenden nähereingegangen werden.


3.2. THERMODYNAMISCHE GRUNDLAGEN 893.2 Thermodynamische Grundlagen3.2.1 Der 1. Hauptsatz der ThermodynamikAls Ausgangspunkt betrachtet man die innere Energie eines Teilchensystems. “Innere” heißt,dass man nur die dem System innewohnenden wichtigen Energiebeiträge mitnimmt, die zumTeil schon durch die Wahl eines ”inneren“ Koordinatensystems bestimmt sind. Wenn wir z.B.einen <strong>Si</strong>-Kristall betrachten, der auf einem Tisch liegt und den wir vielleicht erwärmen oderabkühlen und evtl. noch irgendwelchen Drücken aussetzen wollen, interessiert uns nicht diekinetische Energie, die im Kristall steckt, weil sich die Erde um die Sonne bewegt usw.; dieseBeiträge sind auch automatisch eliminiert, wenn wir unser Koordinatensystem am Kristall(oder, in dem Beispiel, am Tisch) ”festmachen“. In diesem Beispiel interessiert aber auchnicht unbedingt die potentielle Energie des <strong>Si</strong>-Kristalls im Schwerefeld der Erde, weil sieim Vergleich zur kinetischen und elektrostatischen Energie der Atome klein ist und sich vorallem bei geplanten Manipulationen nicht ändert.Von Bedeutung sind nur Energiebeiträge, auf die man Einfluss nehmen kann, die sich alsoändern können; z.B. indem man dem System Wärme zuführt. Damit fallen (fast immer) auchdie Energien der inneren Elektronen weg; denn die können wir nur beeinflussen, wenn wir (perKernspaltung) die Atome ändern. Da bei einem ruhenden Stück <strong>Si</strong> auch keine chemischenReaktionen stattfinden (im wörtlichen oder im erweiterten <strong>Si</strong>nn), können wir die Energiender Elektronen auch weitgehend ignorieren. Was für den <strong>Si</strong>-Kristall (oder jeden anderenfesten Körper) bleibt, ist also nur noch die kinetische und potentielle Energie der um ihreGleichgewichtslage im Gitter schwingenden Atome. Wenn wir ein Gas betrachten, ist es nurdie kinetische Energie der im vorgegebenen Volumen sich bewegenden Atome und Moleküle.Bei Molekülen muss man evtl. auch noch die Energie mitbetrachten, die in Rotationen undSchwingungen steckt. Man betrachtet also, was geschieht, wenn man einem solchen SystemEnergie in Form von Wärme zuführt.Abbildung 3.2: Energiemodell für Festkörper und Gase


3.2. THERMODYNAMISCHE GRUNDLAGEN 91erste Hauptsatz, enthält aber seinen Kernpunkt, nämlich den Verbleib der in einen Körperhineingesteckten Wärmeenergie. Nicht alle möglichen Freiheitsgrade werden aber in realenSystemen beobachtet. Dies liegt darin, dass Schwingungen, z.B. gegeneinander in 2-atomigenMolekülen klassisch mit beliebig kleiner Amplitude stattfinden könnten; quantenmechanischist aber die Energie gequantelt. Bei kleinen Temperaturen reicht die thermische Energie nichtaus um die Schwingung anzuregen, der Freiheitsgrad ist ”eingefroren“.Wie beobachtet man die Zahl der Freiheitsgrade experimentell? Um das zu verstehenformuliert man zunächst den ersten Hauptsatz der Thermodynamik in der üblichen mathematischenFormdU = dQ − dW, (3.2)mit dU als Änderung der inneren Energie U des betrachteten Systems, dQ als zugeführte(differentiell kleine) Wärmeenergie und dW als nach außen geleistete (differentiell kleine)Arbeit.Das ist der Energieerhaltungssatz unter Einschluss der Wärmeenergie. In Worten besagtGleichung 3.2: Die (differentielle) Änderung der im System vorhandenen inneren Energieist gleich der (differentiellen) zugeführten Wärmeenergie minus der nach außen geleisteten(differentiellen) Arbeit. Die nach außen geleistete Arbeit resultiert zum Beispiel aus einerVolumenänderung – ein Kolben bewegt sich in einem Zylinder, z.B. in Wärmekraftmaschinen,Benzin- oder Dieselmotoren. Diese Formulierung war eine monumentale Leistung und gelangRobert Mayer und J. P. Joule (1842).Einfaches Beispiel: Einem (perfekten) Kristall wird Wärme (dQ) zugeführt. Die nachaußen geleistete Arbeit ist Kraft mal Weg, oder umgeschrieben, Druck p mal Volumen V . Dawir unseren Kristall nur ”rumliegen“ lassen, ändert sich der Druck nicht, der Kristall wirdsich aber etwas ausdehnen, d.h. das Volumen ändert sich. In differentieller Form erhaltenwir für die geleistete Arbeit dWdW = p dV. (3.3)Dass hier wirklich Arbeit geleistet wird, kann man sofort sehen, wenn man gedanklich versuchtden Kristall an der Volumenausdehnung zu hindern. Man müsste dazu beachtlicheKräfte aufwenden und den Kristall dann unter sehr hohem Druck halten. Oder, andersherum,der sich ausdehnende Kristall kann eine große Kraft auf einem sehr kleinen Weg wirkenlassen, d.h. Arbeit leisten.Noch einfacher wird es, wenn wir statt des Kristalls ein Gas nehmen: AlleWärmekraftmaschinen – von Dampfmaschine über den Ottomoter zum Düsentriebwerk –beziehen die nach außen geleistete Arbeit aus der Ausdehnung von Gasen bei Erwärmung.Lässt man die Ausdehnung nicht zu, so wächst der Druck. Dabei wird aber keine Arbeitnach außen geleistet. In diesem Fall gilt dW = 0 und der erste Hauptsatz reduziert sich fürden Fall konstanten Volumens aufdU |V =const = dQ (3.4)Die gesamte zugeführte Wärme geht in die Erhöhung (oder, bei Vorzeichenwechsel, Erniedrigung)der inneren Energie. Für unseren Kristall jedoch, den wir i.A. bei konstantem Druck


92 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEbelassen und dafür eine Volumenausdehnung akzeptieren, schreibt sich der erste Hauptsatzwie folgt:dU |p=const = dQ − p dV. (3.5)Die Enthalpie als neues EnergiemaßBei festen Körpern ist konstanter Druck (im Gegensatz zu Gasen) die weitaus überwiegendeErscheinungsform. Um in vielen Beziehungen den Term −pdV nicht immer mitschleppen zumüssen, führt man eine neue Größe ein, die unter diesen Bedingungen anstelle der (inneren)Energie verwendet wird, die Enthalpie H.Die Enthalpie ist eine Energieform, so wie die kinetische, potentielle oder innere Energie.<strong>Si</strong>e hängt mit der inneren Energie über eine einfache Gleichung zusammen:H = U + pV. (3.6)Formuliert man den ersten Hauptsatz nun mit der Enthalpie, bildet man zuerst dH; das istin diesem Fall das totale Differential der Enthalpie H. Man erhältdH = dU + p dV + V dp. (3.7)Mit V dp = 0, weil wir ja konstanten Druck annehmen, und dem ersten Hauptsatz ( dU =dQ − p dV ) ergibt sich danndH = dQ (3.8)Die gesamte zugeführte Wärme geht jetzt also in die Erhöhung (oder, bei Vorzeichenwechsel,Erniedrigung) der (inneren) Enthalpie des Materials. Wir können die Enthalpie also als dieum die Wärmeausdehnung korrigierte innere Energie betrachten.Das führt sofort auf eine wichtige Konsequenz: Da die Wärmeausdehnung bei Festkörperni.A. klein ist, sind Enthalpie und (innere) Energie dann fast identisch. Man spricht deshalboft von ”Energie“, wenn man eigentlich ”Enthalpie“ meint und macht dabei auch keinengroßen Fehler. Für Gase gilt dies aber nicht!Aus dem 1. Hauptsatz ergeben sich sofort die Wärmekapazitäten C aller Materialien.<strong>Si</strong>e sind definiert als der (Differential)quotient aus der (differentiellen) Zunahme derWärmenergie und der (differentiellen) Änderung der Temperatur, in anderen WortenC ≡ dQdT(3.9)für den jeweiligen Körper mit der Masse M. Die Wärmekapazität (mit Index V oder p fürdie jeweils konstant gehaltene Zustandsvariable) für einen Körper der Masse M sind dannunter Verwendung des 1. Hauptsatzes und der inneren Energie U bzw. Enthalpie H gegebendurchC V = dU(3.10)dTundC p = dHdT . (3.11)


3.2. THERMODYNAMISCHE GRUNDLAGEN 93Die innere Energie für einen Kristall folgt ausU Atom = (1/2)fk B T U Kristall = N(1/2)fk B T,mit N = Zahl der Atome im Kristall.Ist N A die Avogadrokonstante = Zahl der Teilchen (= Atome oder Moleküle) in einemMol einer Substanz, definiert man die sog. Gaskonstante R = k B N A = 8.314 J/(mol·K).Damit ergibt sich für die Wärmekapazität von 1 Mol eines beliebigen Kristalls, unabhängigvon der Temperatur, immerC Krist,mol = C p = (1/2)6R = 3R.Das ist das lange vor der Rechnung experimentell gefundene Dulong-Petitsche Gesetz. Diesimple statistische Behandlung der Wärme liefert die Formel dazu. <strong>Si</strong>e ist bemerkenswert,sagt sie doch, dass alle Kristalle – ob mit einfachem oder kompliziertem Gitter, ob miteinfacher oder komplizierter Basis, ob mit mit leichten oder schweren Atomen in der Basis– dieselbe spezifische Wärmekapazität haben wenn man sie auf 1 Mol bezieht. DieseBeobachtung gilt für hohe Temperaturen; für tiefe Temperaturen dagegen tritt eine starkeAbnahme ein. Der mikroskopische (quantenmechanische) Grund dafür wird im Kapitel überThermische Eigenschaften näher erläutert.Zusammenfassung:• Der erste Hauptsatz stellt fest, dass nur thermodynamische Prozesse, bei denen dieEnergie erhalten bleibt, in der Natur vorkommen können. Er verbietet aber beispielsweisenicht, dass aus einem Wärmereservoir (z.B. den Meeren), mechanische Arbeitentnommen werden kann, wobei sich das Reservoir abkühlt. Auch die Umkehrung desGedankenversuchs zum thermischen Gleichgewicht wäre prinzipiell möglich: Ein lauwarmerKörper wird an einem Ende heiß, am anderen kalt. Mit dem 1. Hauptsatz alleinkönnen wir noch keine Gleichgewichte bekommen. Wir brauchen weitere Prinzipien,den 2. Hauptsatz!3.2.2 Entropie, freie Energie und freie EnthalpieMakrozustände, Wahrscheinlichkeit eines Makrozustandes und EntropieDer erste Hauptsatz verlangt nur, dass die Energie eines Systems ohne Einwirkung von außenkonstant bleibt. Er macht aber keine Aussage darüber, welcher von vielen möglichenZuständen, die alle dieselbe Energie haben, wirklich vorliegt, d.h. welcher Zustand der wahrscheinlichsteist. Ein Zustand des Systems ist eine der möglichen konkreten Ausformungendes Systems, die mit den Randbedingungen verträglich ist. Jeden denkbaren Zustand, derdurch dieselben statistischen Werte für das Gesamtsystem beschrieben werden kann – z.B.durch ein und dieselbe innere Energie, Temperatur oder Druck – nennen wir einen Makrozustand.Die beiden linken Makrozustände (Abb. 3.3, links), in der alle vier (oder in einer etwaskomplexeren Zeichnung alle ca. 10 24 ) Gasmoleküle mit gleicher Geschwindigkeit parallel


94 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.3: Links: Mögliche Makrozustände in einem Gas mit derselben kinetische Energieund damit Temperatur. Rechts: Mögliche Makrozustände in einem zweiatomigen Kristallmit identischen Bindungsenergien.fliegen oder ob nur ein Molekül sich bewegt, können alle dieselbe Energie haben wie derrechte Makrozustand – aber sie sind offenkundig unwahrscheinlich. Der linke Kristall auszwei Atomsorten ist in perfekter Ordnung. Falls die Bindungskräfte zwischen den beidenAtomsorten – wie vorausgesetzt – gleich groß sind, ist dies sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlichist offensichtlich der rechte Zustand. Auch wenn man mit einem unwahrscheinlichenZustand startet, wird nach kurzer Zeit der rechte Zustand vorliegen: Die ungeordneteBewegung aller Moleküle. Dass aus einem solchen Zustand von selbst einer der ordentlichenlinken Zustände entsteht, ist sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist der rechte Zustandder zufälligen Verteilung der Atome. Die eher ungeordneten, chaotischen Zustände sind meistdie wahrscheinlicheren – besonders bei höherer Temperatur. Falls die Bindungskräfte aberverschieden sind, kann auch der geordnete Zustand realisiert werden.Um aus vielen denkbaren Makrozuständen den wahrscheinlichsten auswählen zu können,braucht man ein neues Axiom; der 1. Hauptsatz ist dazu offenbar nicht ausreichend. AlsMaß für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Makrozustandes definieren wir eineneue fundamentale Größe, die Entropie S des Zustands. Der wahrscheinlichste Makrozustand,die Konfiguration, oder schlicht der Zustand, den man tatsächlich findet, ist dann perdefinitionem derjenige Makrozustand, der die größte Entropie hat, die unter Beachtung derRandbedingungen möglich ist. Der wahrscheinlichste Makrozustand ist, bezogen auf obigeBeispiele, auch der ungeordnetste Zustand. Man sieht damit schon, dass die Entropie auchein Maß für den Ordnungsgrad eines Zustands ist, und postuliert:• Je ungeordneter ein Zustand, desto größer ist seine Entropie.Auch ohne genaue Details der Entropie zu kennen, kann eine erste (qualitative) Fassungdes 2. Hauptsatzes angegeben werden:• Im thermodynamischen Gleichgewicht besitzt ein System eine möglichst große Entropie;sowie: Die Entropie eines abgeschlossenen Systems wird nie von alleine kleiner!


3.2. THERMODYNAMISCHE GRUNDLAGEN 95Der 2. Hauptsatz definiert irreversible Prozesse: Denn ein Prozess, bei dem die Entropiezunimmt, kann offenbar geschehen, der Rückwärtsprozess jedoch nicht (siehe obige Gasbilder).Die Konsequenz daraus ist: Der 2. Hauptsatz definiert eine Richtung der Zeitachse: Aufder Zeitachse kann man sich nur in Richtung höherer Entropie bewegen. Der 2. Hauptsatzist im übrigen das einzige Naturgesetz oder Axiom, das eine Zeitrichtung kennt. Wenn manbedenkt, wie fundamental es für uns ist, daß die Zeit immer nur in eine Richtung fließt, istdas schon sehr erstaunlich!Der 2. Hauptsatz definiert den ”Wärmetod“ des Universums: Irgendwann wird universellesGleichgewicht im wahrsten <strong>Si</strong>nne des Wortes, und damit maximale Unordnung, erreichtsein. Nichts wird sich mehr ändern – das Universum hat den Wärmetod erlitten.Man hat also nun eine neue Bedingung, um Gleichgewichte zu bestimmen. Nach wie vorgilt, dass die Energie, also die innere Energie U oder die Enthalpie H, minimal sein sollte.Für viele Massenpunkte – für Materialien – gilt gleichzeitig, dass die Entropie S des Systemsmaximal sein soll. Das ist eine komplizierte Bedingung, denn eine Verkleinerung vonU kann durchaus eine Vergrößerung von S zur Folge haben; man kann also beide Bedingungennicht unabhängig voneinander erfüllen. Man sucht also zwei neue Funktionen, dieEnergie bzw. Enthalpie und die Entropie so verknüpfen, dass diese neuen Funktionen fürdie bestmögliche Kombination von U (bzw. H) und S ein Minimum haben. Diese neuenFunktionen beschreiben dann den Zustand, d.h. den wirklich realisierten Makrozustand ausder Menge der vielen möglichen Makrozustände des Systems; sie sind Zustandsfunktionen.Wir wollen diesen neuen Zustandsfunktionen folgende Namen geben:• Die freie Energie F verknüpft U und S;• die freie Enthalpie G verknüpft H und S.Aus historischen Gründen heißt die freie Energie auch Helmholtz-Energie, nach Hermannvon Helmholtz, einem Physiker des 19. Jahrhunderts; die freie Enthalpie heißt auch GibbsscheEnergie, nach Gibbs, einem berühmten amerikanischen Physiker.Freie Energie und freie EnthalpieDie Thermodynamik – in der klasssischen phänomenologischen oder in der statistischen Form– lehrt wie man zu sinnvollen Definitionen der freien Energie und Enthalpie kommt. Mankann auch qualitativ überlegen, wie man diese Funktionen sinnvoll definieren kann. Ein ersternaheliegender, aber (falscher!) Ansatz wäre z.B.:F = U − S. (3.12)F wird dann, wie gefordert, minimal, falls U möglichst klein und S möglichst groß ist.Natürlicherweise fehlt aber die Temperatur T , da mit fallender Temperatur die Tendenz fürOrdnung zunimmt! Es genügt vollständig, sich ein x-beliebiges Material vorzustellen, und zuüberlegen, was mit seinem Zustand passiert wenn man die Temperatur ändert; z.B. von hohenTemperaturen herkommend abkühlt. Aus einem ungeordneten Gas wird eine Flüssigkeit,dann ein Festkörper. Eine Flüssigkeit ist aber geordneter als ein Gas; ein (perfekter) Kristall


96 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEhätte perfekte Ordnung; und selbst ein Realkristall ist ja wohl ein viel geordneteres Systemvon Atomen als ein Gas. Es gilt ganz allgemein: Mit abnehmender Temperatur steigt dieTendenz für Ordnung, mit zunehmender Temperatur steigt die Tendenz für Unordnung;und das muss berücksichtigt werden! Offenbar spielt der Grad an Unordnung, d. h. derZahlenwert der Entropie, bei tiefen Temperaturen keine so große Rolle mehr, während dieMinimierung der Energie bei allen Temperaturen gleich wichtig ist: Heiße und kalte Objektefallen z.B. immer gleich schnell nach ”unten“. Wir müssen die Entropie also mit einem Faktorgewichten, der mit der Temperatur ansteigt. Am einfachsten ist es, die Temperatur selbstzu nehmen, also T · S statt nur S. Damit kommen wir zur richtigen Definition der freienEnergie und Enthalpie:F = U − T S (3.13)undG = H − T S. (3.14)Das sind unsere gesuchten Zustandsfunktionen, aber sie sind mehr als das: Es sind die thermodynamischenPotentiale, die zur Betrachtung des chemischen Gleichgewichts postuliertwerden. Damit ergeben sich allgemeine Bedingungen für das thermodynamische Gleichgewicht,die darüber hinaus noch extrem einfach sind. Wir unterscheiden aus Bequemlichkeitsgründendie beiden Fälle mit konstantem Volumen bzw. konstantem Druck.Daraus ergeben sich folgende Aussagen:• Spontane Vorgänge können dann, und nur dann ablaufen, wenn sich bei konstantemVolumen und gegebener Temperatur die freie Energie F verkleinert; bei konstantemDruck und gegebener Temperatur ist es die freie Enthalpie G. Es gilt also für spontaneVorgänge bei konstantem Volumen bzw. Druck:dF ≤ 0 und (3.15)dG ≤ 0 (3.16)Nach Atkins sind das die wichtigsten Gleichungen der (physikalischen) Chemie, und damitsind sie auch für die Materialwissenschaft von überragender Bedeutung. Das thermodynamischeGleichgewicht ist dann erreicht, wenn ein Zustand mit dF = 0 bzw. dG = 0 erreichtist, und zwar bezüglich aller Variablen des Systems.Wie das “funktioniert” sieht man sofort, wenn man Salz in Wasser betrachtet: Da dieEntropie H bei der Auflösung von Kochsalz von den Teilchenzahlen abhängt, z.B. von derKonzentration der Na + - und Cl − -Ionen (n Na und n Cl ), muß für das chemische Gleichgewichtbei konst. Druck gelten:dG =∂G dn Na + ∂G dn Cl +∂G dn NaCl + ∂G dT + . . . (3.17)∂n Na ∂n Cl ∂n NaCl ∂TDer Term + . . . berücksichtigt, dass G im Prinzip noch von allen möglichen Größen abhängigsein könnte (z.B. elektrische Felder). Man kann aber im Gedankenversuch alle ”uninteressanten“Variablen (oder “verallgemeinerte Koordinaten”) von G konstant halten, sie tauchendann in dG nicht mehr auf.


3.2. THERMODYNAMISCHE GRUNDLAGEN 97dG bezeichnet das totale Differential von G, ∂G/(...) die partielle Ableitung nach einerVariablen. Zwischen totalen Differentialen und Potentialen besteht ein enger mathematischerZusammenhang. Die partiellen Ableitungen sind messbare Größen und damit könnte mandie Gleichgewichtskonzentrationen ausrechnen. Man muss aber berücksichtigen, dass die Variablennicht unabhängig sind. Geht eine kleine Menge ( dn Na ) der Na-Ionen in Lösung,wird eine gleichgroße Menge ( dn Cl = dn Na ) an Cl-Ionen ebenfalls in Lösung gehen müssen.Gleichzeitig wird der NaCl Anteil, d.h. dn NaCl , um den gleichen Betrag kleiner:dn NaCl = − dn Na ,da die Teilchenzahlen in einem geschlossenen System nicht unabhängig voneinander sind; esgilt für dieses Beispiel und ganz allgemein:∑dn i = 0.Damit gelten als Gleichgewichtsbedingungen für das chemische Gleichgewichtundi∑i∂G∂n idn i = 0∑dn i = 0.iGleichgewicht liegt also dann vor, wenn den Na + -Ionen egal“ ist, ob sie im Wasser gelöst”sind oder noch zum Kristall gehören, denn dann werden im Mittel genauso viele Na + -Ionenin Lösung gehen wie sich wieder abscheiden – die mittlere Zahl der gelösten und im Kristallgebunden Ionen bleibt konstant. In anderen Worten: Fügt man zu einem System, das chemischesGleichgewicht erreicht hat, bei konst. Volumen bzw. Druck eine infinitesimale MengeTeilchen ( dn) zu, ändert sich seine freie Energie bzw. Enthalpie nicht, denn falls chemischesGleichgewicht vorliegt giltdF = ∑ ∂Fdn i = 0 (3.18)∂ni iunddG = ∑ i∂G∂n idn i = 0. (3.19)Damit kann nun auch das chemische Potential definiert werden: Das chemische Potentialeines Teilchens in einem gegebenen System (üblicherweise abgekürzt mit µ) ist die partielleAbleitung der freien Enthalpie (bei konst. Druck) oder der freien Energie (bei konst.Volumen) nach der Teilchenzahl (oder Konzentration) des betrachteten Teilchensµ i | p=const = ∂G∂n i(3.20)


98 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEundµ i | V =const = ∂F(3.21)∂n iIm chemischen Gleichgewicht muss das chemische Potential eines Teilchens überall gleichgroß sein (aber nicht unbedingt Null!), und dG ist bezüglich Änderungen der TeilchenzahlenNull.Ein Wort zum Verständnis der Nomenklatur: Man nennt µ chemisches Potential, obwohlchemisches Gleichgewicht nicht ein Minimum der einzelnen chemischen Potentiale bedingt(wie beim mechanischen Gleichgewicht), sondern nur eine Art ”Kräftegleichgewicht”, d.h.∑i∂G∂n idn i = ∑ iµ i dn i (3.22)Das chemische Potential ist damit eine Art Gewichtsfaktor auf der Balkenwaage der freienEnthalpie: Falls die Summe der chemischen Potentiale der Ausgangsstoffe (z.B. NaCl) gleichder Summe der chem. Potentiale der gebildeten Stoffe (Na + und Cl + ) ist, ist die ”Waage“im Gleichgewicht. Ein Begriff wie ”Teilchenzahlfaktor“ oder ”Teilchenkraft“ wäre eigentlichbesser. Das eigentliche Potential, dessen Minimum Gleichgewicht bedingt, ist die freieEnthalpie bzw. Energie. Diese Zustandsfunktionen heißen deshalb auch thermodynamischePotentiale.Beispiel zur freien Enthalpie: Wir vergleichen die freien Enthalpien eines beliebigenMaterials im festen und flüssigen Zustand, wobei wir zunächst annehmen, dass beideZustände bei allen Temperaturen existieren könnten.TS flüssig H flüssigBei konstantem Druck ist die richtigeZustandsfunktion die freie EnthalpieH. Die einzige Variable, die wir zulassen,ist die Temperatur T , wir haben al-fest Hso G = G(T ). In beiden Zuständen oderPhasen ist der Faktor T S = 0 für T = 0.TS festDa die Flüssigkeit aber der ungeordnetereZustand ist, hat sie bei jeder endlichenTemperatur eine größere Entropieals der feste Zustand; T S wird von 0 beginnendfür die Flüssigkeit also schnelleranwachsen müssen als für den festenG festG flüssigZustand. Die innere Energie U, oderTemperaturbesser die Enthalpie H, ist im flüssigenZustand ebenfalls immer größer als imfesten Zustand (Bindungen sind nichtAbbildung 3.4: Energien der flüssigen und festen abgesättigt; die Teilchen haben kinetischePhase.Energie); in beiden Fällen wächstH mit T (T ist ein Maß für die im System steckende Energie!). Man erhält also folgendesprinzipielles Diagramm (die roten Kurven sind die beiden freien Energien G fest und G fl .H, TS, G


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 99Der Einfachheit halber sind alle Kurven als Geraden gezeichnet und Schnittpunkte fürH(T ) und T S(T ) eingezeichnet (damit kennt man die Nullpunkte von G(T ); angedeutet mitden gestrichelten Hilfslinien). Das ist aber völlig irrelevant. Die Schlussfolgerung aus diesemDiagramm gilt für alle monoton ansteigenden Funktionen, ob mit oder ohne Schnittpunkte:Es existiert (fast) immer eine Temperatur T m , die Schmelzpunktstemperatur, oberhalbder die freie Enthalpie G fl der flüssigen Phase kleiner ist als G fest der festen Phase. Andersausgedrückt: Materialien schmelzen bzw. gefrieren, weil in der jeweilig stabilen Phasedie freie Enthalpie am kleinsten ist. Das ist eine ziemlich weitreichende Vorhersage, die wirhier zwanglos erhalten! Wir können noch mehr erahnen: Falls die beiden G(T )-Kurven sichso flach oder noch flacher schneiden, als in der Zeichnung angedeutet, wird die quantitativeBerechnung von Schmelzpunkten sehr schwierig sein. Denn die Lage des Schnittpunktszweier sich flach schneidender Geraden wird sehr stark davon abhängen, wie genau mandie Geraden kennt. Das ist in der Tat so; Schmelzpunkte ergeben sich aus dem Vorzeichender Differenz großer Zahlen. Kleinste Änderungen haben große Effekte, und die Berechnungvon Schmelzpunkten aus Daten der Atome des Materials ist nach wie vor schwierig undunbefriedigend.Das Beispiel zeigt schon, dass wir das Minimierungsprinzip der freien Energie oder Enthalpietatsächlich so interpretieren können, dass eine möglichst kleine Energie bei möglichstgroßer Entropie angestrebt wird. Mit dieser Interpretation liegt man für alle Anwendungenimmer richtig. Wir erkennen auch, daß mit den thermodynamischen Potentialen weitreichendeallgemeine Schlussfolgerungen möglich sind, ohne dass wir diese Potentiale genaukennen.3.3 Konstitutionslehre und PhasendiagrammeNeben dem Kristallwachstum reiner Substanzen sind in der modernen Metallkunde undFestkörperphysik mehrkomponentige Systeme von übergeordneter Bedeutung.3.3.1 Die PhasenregelMaterie kann in drei Aggregatzuständen (Phasen) vorliegen: fest, flüssig und gasförmig. Generellexistiert immer die Phase im thermodynamischen Gleichgewicht, deren freie Enthalpiedie geringste ist. In Abbildung 3.5 sind die freien Enthalpien der drei Phasen in Abhängigkeitvon der Temperatur für ein beliebiges System aufgetragen.


100 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEME∆ GgasförmigflüssigfestfestflüssiggasförmigT [ K ]Abbildung 3.5: Freie Enthalpie der drei Aggregatzustände eines beliebigen Systems.Bei hohen Temperaturen ist die freie Enthalpie der Gasphase am geringsten; dieser Zustandliegt im thermodynamischen Gleichgewicht vor. Bei tiefen Temperaturen ist das Materialfest. Der Existenzbereich der drei Phasen wird in erster Linie durch die charakteristischenTemperaturen festgelegt:Schmelztemperatur : fest ⇒ flüssig<strong>Si</strong>edetemperatur : flüssig ⇒ gasförmigSublimationstemperatur : fest ⇒ gasförmig.Diese Temperaturen sind jedoch druckabhängig. Die Existenz einer Phase wird also imDruck-Temperatur-Phasendiagramm durch einen Bereich beschrieben.Am Knotenpunkt (= Tripelpunkt) sind alle drei Phasen miteinander im Gleichgewicht.Vom Tripelpunkt aus für steigenden Druck und Temperatur ist der Übergang flüssig ⇋gasförmig unstetig, bis der so genannte kritische Punkt erreicht ist. Jenseits des kritischenPunktes verläuft der Übergang kontinuierlich.p [mbar]kr. P.p [mbar]3kr. P.p*fest3flüssig2p*festflüssig26.11TPgasförmig5.01TPgasförmig110T [ K ]T* s 273.16 T* b 0216.6 T* s T* bT [ K ]Abbildung 3.6: Druck-Temperatur-Phasendiagramme von Wasser (H 2 O) und Kohlendioxid(CO 2 ).Die Existenzbereiche der Phasen im Gleichgewicht lassen sich qualitativ mit derGibbs’schen Phasenregel beschreiben.F = n − P + 2 (3.23)Hierin sind: F . . . Freiheitsgrade; P . . . Anzahl der Phasen; n . . . Anzahl der Komponenten.• Komponenten sind die verschiedenen chemischen Elemente (Bausteine), aus denendas System zusammengesetzt ist.


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 101• Als Phasen bezeichnet man den Zustand von Materie, der durch Homogenität der chemischenZusammensetzung und des physikalischen Zustandes gekennzeichnet ist. Manspricht von der festen, flüssigen und gasförmigen Phase eines Stoffes, oder von verschiedenenPhasen desselben Stoffes z.B. im festen Zustand (z.B. Phosphor in der schwarzenoder weißen Modifikation). Die Anzahl der Phasen eines Systems ist P . Ein Gas oderGasgemisch, oder eine Flüssigkeit, oder zwei vollständig mischbare Flüssigkeiten bestehenaus einer einzigen Phase. Für Eis bei normalen Bedingungen gilt auch P = 1.Schneematsch besteht aber aus Wasser und Eis, daher P = 2.Phasen sind also physikalisch einheitliche Substanzen, wobei die chemische Zusammensetzungnicht notwendigerweise einheitlich sein muß.Die Legierung zweier Metalle besteht aus zwei Phasen, P = 2, wenn keine vollständigeMischbarkeit vorliegt; sind sie dagegen vollständig mischbar, so gilt P = 1. Es ist abernicht immer ganz einfach, die Anzahl der Phasen zu bestimmen!• Die Freiheitsgrade geben die Anzahl der Systemgrößen an, die unter bestimmtenBedingungen noch frei wählbar sind.p [mbar]2kr. P.fest1flüssig3TPgasförmig0T [ K ]Abbildung 3.7: Ausgezeichnete Punkte im Zustandsdiagramm von Wasser.Im Einstoffsystem (n = 1) gilt:F = −P + n + 2✐1 P = 1 ⇒ F = −1 + 1 + 2 = 2 (p und T sind frei wählbar.)✐2 P = 2 ⇒ F = −2 + 1 + 2 = 1 (p oder T ist frei wählbar.)✐3 P = 3 ⇒ F = −3 + 1 + 2 = 0 (p und T sind fest vorgegeben.)Da Schmelz- und <strong>Si</strong>edepunkt in Metallen nur schwach von dem äußeren Druck abhängenund der Druck in der Regel der Atmosphärendruck ist, wird die Gibbs’sche Phasenregel inder Form F = n − P + 1 (p = konstant) verwendet, was in der Abbildung 3.7 einem isobarenSchnitt entspricht.Das Aufschmelzen und Verdampfen bei konstantem Druck läßt sich recht einfach ausdem p − T -Phasendiagramm ermitteln. Man braucht lediglich bei dem gesuchten Druck einehorizontale Linie durch das Diagramm zu ziehen (isobarer Schnitt). Diese Linie ist das T -Zustandsdiagramm, die im Abbildung 3.8 aufgestellt gezeigt ist.


102 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEp [mbar]T [ K ]kr. P.flüssigT <strong>Si</strong>T Sm T <strong>Si</strong>gasförmigflüssig+gasförmigflüssigfestTP gasförmigT Smfest+flüssigfest0T [ K ]Abbildung 3.8: Zum isobaren Schnitt im Zustandsdiagramm.3.3.2 Thermodynamisches Gleichgewicht in ZweistoffsystemenBei binären Systemen ist n = 2. Wenn mindestens eine der beiden Komponenten des Systemsein Metall ist, spricht man von Legierungen. Als möglicher Freiheitsgrad tritt nunneben der Temperatur und dem als konstant betrachteten Druck p auch die Zusammensetzungx auf. Die Zusammensetzung entspricht dabei der Konzentration einer Komponente inder anderen.Die Gibbs’sche Phasenregel wird erst später nach der Einführung der binären Phasendiagrammeauf diese Systeme angewendet, wenn auch hier die Details klar sind. Die Gleichgewichtsbeziehungzwischen den Phasen und die vielgestaltigen Zustandsdiagramme vonZweistoffsystemen können am besten aus dem chemischen Potential abgeleitet werden.Ein System verändert sich solange, bis es das thermodynamische Gleichgewicht erreichthat, wobei die Einstellung des Gleichgewichtes kinetisch möglich sein muß. Das thermodynamischeGleichgewicht ist erreicht, wenn die Entropie ein Maximum einnimmt. Die Entropieentspricht der Zahl von mikroskopischen Realisierungsmöglichkeiten. Das Eta-Theorem(Boltzmann) beschreibt diesen Zusammenhang.Die Entropie bei einer gegebenen Energie ist S = k B ln ω. Hierin ist kB die Boltzmann-Konstante und ω die Anzahl der Realisierungsmöglichkeiten. Damit ist die Entropie einZustand der Unordnung.Legierungen sind im thermodynamischen Gleichgewicht, wenn die Entropie maximalwird. Wegen G = U + pV − T S wird die freie Enthalpie ein Minimum.GleichgewichtsbedingungG = min (3.24)dG = 0 (3.25)dG = dU + pdV + V dp − T dS − SdT (3.26)mit T , p = konst.dG = dU − T dS + pdV}{{}vernachlässigbar in FK(3.27)= dU − T dS = 0 (3.28)


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 103tiefe T : dU wichtig → Festkörper stabilhohe T : T dS wichtig → Unordnung dominiert; flüssig, gasförmigIn Legierungen laufen Reaktionen so lange ab, bis dG = 0 ist.G = ∑ iµ i n i ⇒ dG = d( ∑iµ i n i)= 0 (3.29)Die Änderung erfolgt um die Zahl n von Atomen der Komponente i. µ i ist das chemische Potentialder Komponente i. Bis das Gleichgewicht erreicht ist, werden Atome der Komponentei hinzugefügt oder weggenommen und dabei das chemische Potential geändert.Für ein Zweistoffsystem ist die freie Enthalpie G = ∑ i µ ix i n (x i = n i /n gibt die Konzentrationder Teilchen an; n . . . totale Teilchenzahl), alsoG = (µ 1 x 1 + µ 2 x 2 ) n mit x 2 = 1 − x 1bzw. G = [µ 1 x 1 + µ 2 (1 − x 1 )] n. (3.30)Dabei sind µ 1 und µ 2 Funktionen von T , p, und x. Fügt man bei konstanter Temperaturund Druck eine Komponente 1 mit dem chemischen Potential µ 1 0 und eine Komponente 2mit µ 2 0 in ein durch x gegebenes Verhältnis zusammen und es passiert sonst nichts, so ergibtsich die freie Enthalpie G(x) einfach summarischG(x) = [ µ 1 0 x 1 + µ 2 0 x 2]n, (3.31)sodaß G(x) in einem Diagramm durch eine Gerade zwischen µ 1 0 und µ 2 0 dargestellt wird.Werden beide Komponenten jedoch vermischt ineinander aufgelöst, also zu einer Phasevereinigt, dann treten sie miteinander in Wechselwirkung, weshalb für die freie EnthalpieG = H − T S ein zusätzlicher Term zu berücksichtigen ist.∆ G0µ 1G−T ∆µ 0 S2GG = G + ∆G M} {{ } (3.32)aus Mischungsenthalpie und Entropie∆G M = ∆H M − T ∆S M (3.33)G = G + ∆H M − T ∆S M (3.34)A x B(3.35)Mischungen, die der Voraussetzung genügen, dass die Wechselwirkung zwischen den Komponentendenen in den reinen Komponenten entsprechen, sodass sich die innere Energie desSystems durch Mischung nicht ändert (∆U M = 0), heißen ideale Mischung (ideale Lösung).Es wird also nicht impliziert, dass es in idealen Mischungen keine Wechselwirkungen zwischenden Komponenten gibt.3.3.3 Ideale MischungAm Modell der idealen Mischung lassen sich viele Grundzüge des Verhaltens von Zweistoffsystemendeutlich machen. Bei einer idealen Mischung tritt beim Vermischen weder ein


104 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEVolumenzuwachs auf (∆V M = 0), noch gibt es eine Wärmetönung (∆H M = 0), jedoch gibtes einen Entropiezuwachs, da durch das Vermischen die reinen Stoffe in einen Zustand geringererOrdnung gebracht werden. Damit ergibt sich die freie Enthalpie einer idealen Mischungzu:G = G − T ∆S (3.36)Die Gleichgewichtsbeziehungen von zwei Phasen α und S in einem System aus zwei Komponentenwerden aus dem Vergleich der freien Enthalpien der Phasen deutlich (α . . . feste Phase;S . . . Schmelze). Im Allgemeinen hat bei einer gegebenen hohen Temperatur die flüssige Phaseeine höhere Energie und damit auch eine höhere Enthalpie aber auch eine höhere Entropieals eine feste Phase (H S > H α ; S S > S α ).∆ GT 1T 2T 3T 4T 5αSαSαSSSAxBαα+SSA x B A x B A x B A x BααTT 1αα+SST 2T 3T 4T 5AxBAbbildung 3.9: Freie Enthalpie Kurven einer festen und flüssigen Phase in Abhängigkeitvon der Zusammensetzung für verschiedene Temperaturen. Im unteren Teil ist das darauskonstruierte Temperatur – Konzentrations-Zustandsdiagramm gezeigt.Bei niedrigen Temperaturen ist der Term T S in G = H − T S klein, es überwiegt H,sodaß H α < H S für alle Zusammensetzungen und damit G α < G S gilt. Das System ist dannfest, da es die geringste freie Enthalpie hat, wenn es ganz aus einer festen Phase besteht (T 5in Abb. 3.9). Im Gegensatz dazu wird bei höheren Temperaturen (T 1 ) der Term T S so groß,daß für alle Zusammensetzungen S S > S α gilt. Dann gilt auch G S < G α und es ist alleine dieflüssige Phase stabil.Dazwischen gibt es einen Temperaturbereich zwischen T 2 und T 4 , in welchem sich beideKurven von G S (x) und G α (x) schneiden. Für sinkende Temperaturen (T 1 . . . T 2 . . . T 5 )schneiden sich die Kurven bei T 2 bei x = 0. Hier sind erstmalig beide Phasen im thermodynamischenGleichgewicht, die Temperatur entspricht dem Schmelzpunkt der reinen PhaseA, während für alle anderen Zusammensetzungen (x ≠ 0; T 2 ) alleine die Schmelze stabil ist.


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 105Analog stehen für x = 1 alleine bei T 4 beide Phasen im Gleichgewicht, während für x < 1alleine die feste Phase stabil vorliegt.Durch die Absenkung der Temperatur werden die freie Enthalpie-Kurven der beiden Phasenα und S abgesenkt. Durch den unterschiedlich steilen Verlauf der Kurven in Abhängigkeitvon der Temperatur, wie er in Abbildung 3.9 dargestellt ist, wird die freie Enthalpie der festenPhase wesentlich stärker abgesenkt als die der Schmelze, wodurch es zu dem Schneidender Kurven kommt.Betrachtet man nun ein System mit mittlerer Zusammensetzung x bei einer Temperaturzwischen den beiden eben diskutierten, zum Beispiel T 3 (T 2 > T 3 > T 4 ), dann gilt imgezeigten Fall zwar G α (x) < G S (x) und die Phase α hat die kleinere freie Enthalpie als dieSchmelze, jedoch wird dadurch nicht der Gleichgewichtszustand dargestellt. Dieser Sachverhaltwird im Abschnitt über die Doppeltangentenregel erklärt.Die DoppeltangentenregelEin System mittlerer Zusammensetzung in dem Temperaturbereich zwischen den beidenSchmelzpunkten der reinen Komponenten erreicht seine geringste freie Enthalpie (und damitdas Gleichgewicht) in Gestalt eines zweiphasigen Zustandes. Dieser wird aus der SchmelzeS und der festen Phase α gebildet. Die Schmelze hat dann die Zusammensetzung x S und diefeste Phase x α . x S und x α werden durch eine gemeinsame Tangente an beide freie EnthalpieKurven bestimmt. Die Konstruktion mit der Tangente an beide freie Enthalpie-Kurven wirdals Doppeltangentenregel bezeichnet. Zwischen den beiden Zusammensetzungen x S und x αgibt es keinen einphasigen Zustand, sondern stets eine Mischung aus fester Phase α undSchmelze S, da dies energetisch günstiger ist.∆ GαSAαα+S Sx α x x SxBAbbildung 3.10: Zur Konstruktion der Doppeltangentenregel.Es ist anschaulich leicht einzusehen, dass ein zweiphasiges System bestehend aus derSchmelze und der festen Phase energetisch günstiger ist. Die freie Enthalpie dieses zweiphasigenZustandes wird durch eine lineare Variation der Ausgangswerte bestimmt – dies istdie Gerade zwischen den Werten, die durch die Doppeltangente bestimmt wurde. Aufgrundder Mischungsentropie liegen die tatsächlichen Werte möglicherweise sogar tiefer, als durchdie Tangente angegeben. Die Tangente selber liegt aber zwischen den Berührungspunkten injedem Punkt unter den G α (x)- oder G S (x)-Kurven und weist damit geringere Werte auf.


106 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEBeweis des anschaulichen Sachverhaltes Die Phase S bekommt bei x S die EnthalpieG S (x S ) und analog bekommt α bei x α die freie Enthalpie G α (x α ). Die freie Enthalpie G(x)der zweiphasigen Zustände wird dann durch die gemeinsame Tangente dargestellt.SRückblende: Entropie beim Mischen:∆S = −k B [x 1 ln(x 1 ) + x 2 ln(x 2 )]= −k B [x ln x + (1 − x) ln(1 − x)](3.37)∆ GAxBDie freie Enthalpie des idealen Gemisches ist:G(x) = [ ]µ 0 1 x 1 + µ 0 2 x 2 n= [ µ 0 1 x + µ 0 2 (1 − x) ] n (3.38)(3.39)AxB⇒G = G − T ∆S (3.40)G(x) = [ µ 1 0 x 1 + µ 2 0 x 2]n + kB T [x ln x + (1 − x) ln(1 − x)]= x [ µ 1 0 n + k B T ln x ] + (1 − x) [ µ 2 0 n + k B T ln(1 − x) ] (3.41)Dies ist die sogenannte Kettenlinie, ihre Steigung lautet:∂G(x)∂x= µ 1 0 − µ 2 0 + k B T lnx1 − x = µ 1 − µ 2 . (3.42)Die Tangente kann also in beiden Fällen sowohl anhand der Steigung δG α (x)/δx der KurveG α (x) an der Stelle x α als auch anhand der Steigung δG S (x)/δx der Kurve G S (x) an derStelle x S formuliert werden, nämlich:sowieG(x) = G α (x α ) + [µ 1 (x α ) − µ 2 (x α )] (x − x α )n (3.43)G(x) = G S (x S ) + [ µ 1 (x S ) − µ 2 (x S ) ] (x − x S )n. (3.44)Mit G = [µ 1 x + µ 2 (1 − x)]n folgt für Gleichung 3.43:G(x) = [µ 1 (x α ) + µ 2 (x α )(1 − x α ) + [µ 1 (x α )x − µ 1 (x α )x α − µ 2 (x α )x + µ 2 (x α )x α ]](3.45)n= µ 1 (x α )x + µ 2 (x α ) − µ 2 (x α )x= µ 1 (x α )x + µ 2 (x α )(1 − x) (3.46)In gleicher Weise folgt aus Gleichung 3.44:G(x) = µ 1 (x S )x + µ 2 (x S )(1 − x). (3.47)Werden die Gleichungen 3.46 und 3.47 gleichgesetzt, so gilt für x = 1 ⇒ µ 1 (x α ) = µ 1 (x S )und für x = 0 µ 2 (x α ) = µ 2 (x S ). Dies bedeutet, daß die chemischen Potentiale in beidenPhasen eben bei den durch die gemeinsame Tangente bestimmten Zusammensetzungen x αund x S gleich sind, wodurch das Gleichgewicht nachgewiesen ist.


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 107Das HebelgesetzFührt man nun analoge Betrachtungen auch für die anderen Temperaturen zwischen T 2 undT 4 (Abb. 3.9) aus, dann ergeben sich im Zustandsdiagramm drei Bereiche: Einen Bereicheinphasig flüssiger Zustände (S), der durch die sogenannte Liquiduslinie begrenzt wird,einen Bereich einphasig fester Zustände (α), der durch die sogenannte Soliduslinie begrenztwird und zuletzt einen linsenförmigen Bereich zweiphasiger Zustände flüssig / fest zwischenLiquidus- und Soliduslinie.TST 1T 2αα+ST 3T 4T 5Aαx x xSxBAbbildung 3.11: Zustandsdiagramm eines vollständig mischbaren SystemsDer zweiphasige Bereich bedeutet, dass ein System mit der summarischen Zusammensetzungx bei der Temperatur T 3 im Gleichgewicht aus einer flüssigen Phase (S) mit derZusammensetzung x S und einer festen Phase (α) mit der Zusammensetzung x α besteht.Diese Zusammensetzungen findet man, indem man bei der Temperatur T 3 horizontaleLinien vom Punkt der Zusammensetzung x zu der Solidus- und Liquiduslinie zieht. DieseLinien heißen Konoden. Es ist trivial, dass bei einer konstanten Konzentration, die nicht einemreinen System entspricht (x = 0 oder x = 1), die Temperatur nicht festgelegt ist, bei derSchmelze und feste Phase im Gleichgewicht stehen; es gibt einen endlichen Schmelzbereich.Bei einer gegebenen Temperatur T 3 sind die Zusammensetzungen x α und x S stets diegleichen für jede beliebige Zusammensetzung x zwischen x α und x S . Hierbei entfällt auf diePhase α ein Anteilm α = xS − xx S − x α (3.48)an der Gesamtmenge, während auf die Phase S der Anteilm S = x − xαx S − x α (3.49)entfällt. Zwischen den Anteilen besteht die sogenannte Hebelbeziehungm αm = xS − x(3.50)S x − x αDiese Gesetzmäßigkeiten treffen auf alle Zweiphasengebiete zu, sie gelten also auch für dasMengenverhältnis von zwei festen Phasen. Generell gilt: je dichter eine mittlere Konzentrationan der Liquiduslinie ist, desto größer ist der Anteil an flüssiger Phase im Gleichgewicht.


108 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEDas Entsprechende gilt für eine Konzentration nahe der Soliduslinie. Der Name Hebelgesetzist aus der Mechanik entliehen: Ein großer Anteil der einen Phase mit einem kurzen Hebelsteht im Gleichgewicht, oder hält sich die Waage, mit einem kleinen Anteil der anderenPhase, die jedoch an einem langen Hebel hängt.Die Konzentration der flüssigen Phase kanngrößer oder kleiner sein als die der festen TS TSPhase. Entsprechend fällt die Liquiduslinieα+Sα(und die Soliduslinie) mit steigender Konzentrationab, oder steigtKonodeKonodean.LiquidusSolidusα+SαLiquidusSolidusAxBAxBVerlauf der KristallisationT21SAα4x 2 x 1 x 43α+SxBAbbildung 3.12: Verlauf der Erstarrung eines zweikomponentigen SystemsIst eine flüssige Phase (S) der Zusammensetzung x 1 gegeben und überschreitet sie durchAbkühlung die Liquiduslinie beim Punkt ✐ 1, so entstehen Kristalle der Phase α entsprechenddem Punkt ✐ 2 mit der Zusammensetzung x 2 . In einem geschlossenen System verschiebtsich dadurch die Zusammensetzung der flüssigen Phase im Diagramm nach links. Um denFortgang der Kristallisation aufrechtzuerhalten, muss die Temperatur weiter herabgesenktwerden und der Zustand der flüssigen Phase verschiebt sich entlang der Liquiduslinie inRichtung Punkt ✐ 4. Der entsprechende Gleichgewichtszustand der Phase α, der den neu entstehendenKristallen zukommt, verschiebt sich entlang der Soliduslinie in Richtung auf Punkt✐3. Damit befindet sich aber die zuerst entstandene Kristallsubstanz nicht mehr im Gleichgewicht.Um das Gleichgewicht zu bewahren, muss sich auch die Zusammensetzung der vorherentstandenen Kristallsubstanz kontinuierlich entlang der Soliduslinie ändern, das heißt, esmuss ein ständiger Stoffaustausch zwischen der bereits ausgeschiedenen Kristallphase undder flüssigen Phase stattfinden (= Diffusion). Unter diesen Umständen hat der letzte Tropfender flüssigen Phase schließlich entsprechend dem Zustand ✐ 4 die Zusammensetzung x 4und die gesamte kristalline Phase α entsprechend dem Zustand ✐ 3 wieder die ursprünglicheZusammensetzung x 1 .


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 109Allerdings findet im Experiment oft der zur Einstellung des Gleichgewichts erforderlicheStoffaustausch mit der bereits kristallisierten Phase aus kinetischen Gründen nicht oder nurunvollständig statt, sodass die Kristallisation mit einer sogenannten Seigerung verbundenist. Diese Seigerung geht dann über die Punkte ✐ 4 beziehungsweise ✐ 3 hinaus, wodurch diePhasen auch Zusammensetzungen aufweisen können, die lokal über die Grenzen von x 1beziehungsweise x 4 hinausreichen.3.3.4 Herleitung binärer ZustandsdiagrammeDie überwiegende Zahl metallischer Systeme ist im flüssigen Zustand vollständig mischbar.Daneben gibt es Systeme mit begrenzter Mischbarkeit, sowohl im Festen, als auch imFlüssigen. Ein solches System mit begrenzter Mischbarkeit wird als monotektisch bezeichnet(z. B. Fe – Pb).TS 1+S2S 1+βα+βAxBAbbildung 3.13: Beispiel für ein monotektisches System mit begrenzter Mischbarkeit imFlüssigen und Festen.Im Festen tritt viel häufiger der Fall begrenzter Löslichkeit auf. Durch thermische Aktivierungwird nämlich die Tendenz zur Lösung mit steigender Temperatur begünstigt. Liegtdie Mischungslücke nur bei tiefen Temperaturen vor, so erstarrt die Schmelze stets zumMischkristall und erst bei weiterer Abkühlung zerfällt die Lösung in ein Phasengemenge.Liegt die Maximaltemperatur der Mischungslücke oberhalb der Soliduslinie, dann kommtes zu einer neuen Form des Zustandsdiagramms. Am Schnittpunkt der Soliduslinie mit derGrenze der Mischungslücke stehen drei Phasen miteinander im Gleichgewicht und es wirdaus der Phasenregel F = n − P + 1: F = 0Es gibt für im Flüssigen vollständig mischbare Systeme im Prinzip drei Formen für denKoexistenzbereich von flüssiger und fester Phase. Dies ist zum einen der zigarrenförmige(monoton fallende) Verlauf, wie er für ideale Mischungen beschrieben wurde. In diesem Fallkommt es zur Bildung des peritektischen Zustandsdiagramms.


110 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMETT AST AST AST ASαS+α S+α S+αTBαTBTBS+α2TBα 1 α 1 + α 2 α 2 α 1 α 1 + α 2 α 2 α 1S+αα 1 + α 2 α 2AxBA x B A x B A x BAbbildung 3.14: Entwicklung eines peritektischen Zustandsdiagramms für Systeme mit zigarrenförmigemKoexistenzbereich von Schmelze und fester Phase, sowie steigendem Temperaturbereichder Mischungslücke im Festen und ihre Fortsetzung im Flüssigen.Zum Anderen kann der Verlauf von Solidus- und Liquiduslinie ein Minimum aufweisen.In diesem Fall kommt es zur Bildung des eutektischen Zustandsdiagramms.TT AST AST AS+α1SS+ααS+αTBαS+αS+αTBS+α 2TBα 1 α 1 + α 2 α 2 α 1 α 1 + α 2 α 2AxBA x B A x BAbbildung 3.15: Entwicklung eines eutektischen Zustandsdiagramms für Systeme mit einemMinimum der Solidus- und Liquiduslinie für mittlere Konzentration, sowie steigendemTemperaturbereich der Mischungslücke im Festen und ihre Fortsetzung im Flüssigen.Ein peritektisches System ist dadurch gekennzeichnet, daß eine feste Phase α mit derKonzentration x P bei der peritektischen Temperatur T P unter Zersetzung schmilzt. Daskann durch die peritektische Reaktion S + α 1 → α 2 beschrieben werden. Die peritektischeTemperatur liegt immer zwischen den Schmelztemperaturen der beiden reinen Komponenten.Peritektische Systeme entstehen gewöhnlich dann, wenn die Schmelztemperaturen der beidenKomponenten stark verschieden sind.Ein eutektisches System ist dadurch gekennzeichnet, daß eine mehrkomponentige Schmelzemit der eutektischen Zusammensetzung x E während der Erstarrung bei der eutektischenTemperatur T E in ihre Komponenten zerfällt. Das kann durch die eutektische ReaktionS → α 1 + α 2 beschrieben werden.Die dritte prinzipiell mögliche Form eines Zustandsdiagramms ist der Fall, dass Solidus-


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 111und Liquiduslinie ein Maximum zeigen. In diesem Fall besteht die Tendenz zur Bildung einerintermetallischen Phase bei der Erstarrung der Schmelze.TST ASTS+α 1 AS+αS+S+α α 2 S+α α21αTBα 2S+α3T Bα’α 3α 1 + α 2 α 2 + α 3AxBAxBAbbildung 3.16: Entwicklung eines Zustandsdiagramms mit intermetallischer Phase für Systememit einem Maximum der Solidus- und Liquiduslinie für mittlere Konzentration sowiesteigendem Temperaturbereich der Mischungslücke im Festen und ihre Fortsetzung imFlüssigen.Die entstehende intermetallische Phase kann in einem weiten Konzentrationsbereich vorliegenoder scheinbar zu einer streng stöchiometrischen Zusammensetzung entarten. Aberschon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es eine Randlöslichkeit gibt, die solchePhasen verbietet. Aufgrund thermodynamischer Überlegungen muss es immer eineRandlöslichkeit und damit für Phasen auch eine endliche Breite geben, auch wenn in realenPhasendiagrammen oft sogenannte Strichphasen eingezeichnet werden. In diesen Fällen istdie Breite der Phase so gering, dass sie entweder nicht gemessen oder nur nicht dargestelltwerden kann. Ein Teilchen kann nicht bei kleinen Konzentrationen neben einer imaginärenStrichphase ein anderes chemisches Potential haben als bei geringfügig größerer Konzentration(auf der anderen Seite der Strichphase). Der Übergang im chemischen Potential kannbeliebig steil werden, aber er muss stetig sein. In Analogie kann eine Randphase nicht reinsein und es gibt immer eine, manchmal geringe, Randlöslichkeit.Alle anderen möglichen Formen von Zustandsdiagrammen, die durchaus kompliziert aufgebautsein können, lassen sich aus diesen Grundtypen herleiten. In Abhängigkeit vonden Wechselwirkungen zwischen den Komponenten findet man für größere Wechselwirkungzwischen den gleichen Komponenten im Vergleich zu zwei verschiedenen (W AB W AA = W BB ) die Bildung intermetallischer Phasen beobachtet. Wenndann noch die Wechselbeziehungen zwischen den Komponenten komplizierterer Natur sind(W AB ≠ W AA ≠ W BB ) wird die Bildung peritektischer Zustände beobachtet (s. Abb. 3.17).


112 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMETTTABABABTAMischungs−lückeBWW(AB)=WW(AA)=WW(BB)mitPhasenbreiteABTTATBRand−löslichkeiteinfacheutektischWW(AB)WW(AA)=WW(BB)inkongruentschmelzendkongru−entschmel−zendohnePhasen−breiteATBTABTTABA B A BAbbildung 3.17: Zustandsdiagramme in Abhängigkeit der Wechselwirkungen zwischen denKomponenten.Thermodynamik der LegierungenDie Zustandsdiagramme lassen sich prinzipiell thermodynamischherleiten und deuten. Zunächst einmal werdendie einzelnen freie Enthalpie-Kurven der festen Phasenzur besseren Übersicht zu einer einzigen zusammengefasst.G α 1, G α 2u.s.w., die für jede feste Phase in einemmehrkomponentigen System existieren (also nicht demgleich als erstes behandelten vollmischbaren System),werden lediglich anhand ihrer gemeinsamen Minimalwertebeschrieben. Die festen Phasen werden von linksnach rechts durchnummeriert.∆ GGα 1GαGα 2AxB3.3.5 Vollmischbare SystemeWir betrachten zunächst den Fall der vollständigen Löslichkeit. Bei sehr hohen Temperaturenist G S < G α für alle Konzentrationen (in Abb. 3.18 wurde G S durch S und G α durch α zurbesseren Übersicht ersetzt) und das System liegt im gesamten Konzentrationsbereich flüssigvor (T 1 ).


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 113∆ GT 1T 2T 3T 4T 5αSαSαSSSAxBαα+SSA x B A x B A x B A x BααTT 1αα+SST 2T 3T 4T 5AxBAbbildung 3.18: Entwicklung des vollständig mischbaren Zustandsdiagramms aus freie EnthalpieKurven bei verschiedenen Temperaturen.Mit abnehmender Temperatur ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem beide freieEnthalpie-Kurven denselben Wert haben, also G S = G α . Bei dem hier betrachteten Fallmit zigarrenförmigem Koexistenzbereich von Schmelze und fester Phase kann dies nur beix = 0 oder x = 1 eintreten. In diesem Fall passiert dies bei x = 0 und daraus folgt, daßdie freie Enthalpie-Kurven am Schmelzpunkt der reinen Phase A denselben Wert aufweisen.Für diese Temperatur liegt alleine die feste Phase α bei x = 0 vor, während alle anderenKonzentrationen bei der Schmelztemperatur der Phase A, T 2 , noch im flüssigen Zustandvorliegen. Bei weiterer Absenkung der Temperatur (z. B. T 3 ) erhält man getrennte Konzentrationsbereiche,in denen entweder die Schmelze S oder die feste Phase α die geringerefreie Enthalpie haben. Hier befinden sich S und α im thermodynamischen Gleichgewicht.Zwischen diesen Bereichen wird die kleinste freie Enthalpie durch ein Gemenge aus Schmelzeund fester Phase (S + α) erreicht (vgl. Doppeltangentenregel). Die Konzentrationen, diedurch die Tangente zwischen den G(x)-Kurven der S- und α-Phase bestimmt werden, legenden Solidus- und Liquiduspunkt bei der gegebenen Temperatur fest. Damit entspricht derExistenzbereich der auftretenden Phasen gemäß dem G(x)-Verlauf einem isothermen Schnittdurch das Zweiphasengebiet eines zigarrenförmigen T (x)-Zustandsdiagramms. Bei weitererAbsenkung der Temperatur verlagern sich die Berührungspunkte der Tangente, das heißt derKonzentrationsbereich des Zweiphasengebietes verschiebt sich, bis schließlich bei Erreichender Schmelztemperatur der niedriger schmelzenden Komponente B (T 4 ) die freie Enthalpieder Phase α kleiner als die der Schmelze S für alle mittleren Konzentrationen 0 ≤ x < 1 istund für x = 1 beide freien Enthalpien gleich sind G S = G α . Unterhalb dieser Temperaturist für alle Konzentrationen 0 ≤ x ≤ 1 die freie Enthalpie der festen Phase α kleiner als dieder flüssigen Phase S (G α < G S ). Daraus folgt, daß unter dieser Temperatur (T 4 ) alleine diefeste Phase α vorliegt; z. B. T 5 . Durch konsequente Anwendung dieser Betrachtungen für


114 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEmöglichst viele Temperaturen kann das Zustandsdiagramm konstruiert werden.Auf diese Weise – unter Betrachtung der freie Enthalpie-Kurven der beteiligten Komponenten– werden auch kompliziertere Zustandsdiagramme entwickelt. Diese treten dann auf,wenn es im festen Zustand eine Mischungslücke gibt.Eutektische SystemeDie freie Enthalpie der Schmelze S in Abhängigkeit von der Konzentration x hat einennahezu parabelförmigen Verlauf. Nun existieren zwei feste Phasen α 1 und α 2 , die entmischen.Wenn deren freie-Enthalpie-Kurven in ihren Minima und Existenzbereichen ähnliche Werteaufweisen, das heißt, sie liegen∆ GT 1T 2T 3T ET 5ααSSSSSαααα 1 α α 2 α 1 α 2 α 1 α 2α 2α 1 α 1 +S S1 +S S +Sα 1 +α 2 +Sα 1 +α 2α 2α 1 α 1 +α 2T EA x B A x B A x B A x B A x BTST 1T 2S+α 1S+α 2T 3T 5AxBAbbildung 3.19: Entwicklung des eutektischen Zustandsdiagramms aus freien Enthalpie-Kurven bei verschiedenen Temperaturen.bei jeweils kleinerer und größerer Konzentration im Vergleich zum Minimum der freien-Enthalpie-Kurve der Schmelze, dann kommt es zur Bildung des eutektischen Zustandsdiagramms.Im weiteren Verlauf werden beide freie Enthalpie-Kurven der festen Komponentenα 1 und α 2 zu einer zusammengefasst.Solange die freie Enthalpie der Schmelze S kleiner als die der festen Phasen α ist, liegt dieSchmelze bei hohen Temperaturen (z. B. T 1 ) vor. Sobald die Schmelztemperatur der höherschmelzenden Komponente unterschritten ist, kommt es zu getrennten Konzentrationsbereichen.Solange nur eine gemeinsame Tangente an die G S - und die G α -Kurve gelegt werdenkann, existieren wie im Fall der vollständigen Mischbarkeit drei Phasengebiete (T 2 ). Sobaldaber die G α -Kurve an zwei unterschiedlichen Stellen unter der G S -Kurve liegt, kann eineweitere Tangente an beide Kurven gelegt werden und es kommen zwei neue Phasengebietehinzu (T 3 ). Damit existieren ausgehend von den beiden reinen Komponenten jeweils zwei


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 115Konzentrationsbereiche mit fester Phase (α 1 und α 2 ) und Koexistenzbereiche (S + α 1 undS+α 2 ) neben der Schmelze (S). Bei weiter absinkenden Temperaturen werden diese Bereichegrößer, bis irgendwann der in der Mitte schrumpfende Bereich der Schmelze S aufgezehrt ist.An dieser Temperatur (T E ) sind beide Tangenten kollinear, das heißt, die Tangenten liegen andrei Punkten an (einmal an der G S (x)- und zweimal an der G α (x)-Kurve). Unterhalb dieserTemperatur verschwindet die Schmelze aus dem Zustandsdiagramm, da die G S (x) Kurve füralle Konzentrationen oberhalb der G α (x) Kurve oder der Tangente an ihren beiden Minimaliegt. Die beiden Minima deuten schon auf die eingangs erwähnte Mischungslücke im Festenhin (T 5 ).Doch noch einmal zurück zu T E : An dieser Temperatur schneidet die Tangente drei Punkte.An diesem Punkt wird letztmalig eine Tangente an die G S (x)-Kurve gelegt werden können,da für kleinere Temperaturen die freie Enthalpie der Schmelze stets größer als die der festenPhasen ist. Dies ist damit auch die niedrigste Temperatur des Systems, bei der nochSchmelze vorliegt, daher kommt auch der Name; Eutektikum heißt das Niedrigstschmelzende.Im Phasendiagramm gibt es bei dieser Temperatur eine horizontale Linie zwischen denBegrenzungslinien der Randphasen.TTAS++S +Sα 1 1αS 12α 1S+ α 1α 1xSSBMonotecticTEutectoidTS+ α 1α 1 +α 2S+α 2α 2S+α 2α 2S+α 2 S+ α 3α 2α 3α 1 +α 2 αα 2 +α 32 +α 3αα 1 1α 3α 1 +α 2α 1 +α 3α 1 +α 3α 1 +αS+α 21 S+αα 31 S+α 1A x B AxBMetatecticTSTSα 2S+α 2α 1 +α 2α 1S+α 2AS 1+S 2α 3α 1 +α 3A x B A xBxSSα 2BEutecticMonotecticEutectoidMetatecticα 1SS + α 1 S+α 2α 1 +α 2α 2S1αS+ α 1 S 11+S2S 2α 1 +S 2α 2α 1 +α 2 α 2 +α 3α 1 α 3α 1 3α 2αα 1 +α 2 +1S++α S α 2 Sα 1Abbildung 3.20: Verschiedene ’eutektischartige’Systeme. Der Unterschied in derBezeichnung resultiert aus der Art undAnzahl der beteiligten Phasen (flüssig /fest)An dieser Stelle sei noch auf die verschiedenen Erscheinungsformen “eutektisch-artiger”


116 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEZustandsdiagramme verwiesen. Es wird anhand der beteiligten Phasen unterschieden:• Monotektisch ist gekennzeichnet durch zwei flüssige Phasen in Koexistenz.• Eutektoid ist gekennzeichnet als Festphasenumwandlung.• Metatektisch ist gekennzeichnet durch die Reaktion einer festen Phase zu einemGemisch aus fester und flüssiger Phase.Peritektische SystemeDie beiden freie Enthalpie-Kurven der festen Phasen können jedoch unterschiedlich sein,das heißt, sie haben deutlich unterschiedliche Existenzbereiche. Beide Minima der freien-Enthalpie-Kurve der festen Phasen liegen auf einer Seite in Bezug auf das Minimum derfreien Enthalpie Kurve der Schmelze. Die Minima weisen darüberhinaus vergleichbare Werteder freien Enthalpie auf. In diesem Fall kommt es zur Bildung des peritektischen Phasendiagramms.∆ GT 1T 2T pT 4T 5SαSαSSαααTAα 2Sα 1 Sα α 1 +α 2 +S S α 1 α 1 +α 2S+α 2 S α 1 α 1 +α 2 α 2S+α 1T 2x B A x B A x B A x B A x BT 1Sα 1+ST 5α 1 S+α 2T 4T pα 1 +α 2α 2AxBAbbildung 3.21: Entwicklung des peritektischen Zustandsdiagramms aus freien-Enthalpie-Kurven bei verschiedenen Temperaturen.Auch hier gilt: solange die G S -Kurve für alle Konzentrationen den geringsten Wert aufweist,liegt alleine die Schmelze im thermodynamischen Gleichgewicht vor. Bei weiter absinkenderTemperatur bricht zunächst ein Minimum der freien Enthalpie-Kurve der festenPhase nach unten durch. Damit werden, wie zuvor besprochen drei Konzentrationsbereichegeschaffen, in denen α, S und das Gemenge aus beiden Phasen vorliegen (T 2 ). Für weitersinkende Temperaturen liegt die Tangente an der G S (x)-Kurve und am Minimum derG α 1(x)-Kurve an (z.B. T 2 ), bis der Fall eintritt (T P ), dass beide Minima der G α (x)-Kurve,


3.3. KONSTITUTIONSLEHRE 117also die Minima beider festen Phasen und das Minimum der freien Enthalpie-Kurve derSchmelze, an einer gemeinsamen Tangente anliegen. An dieser Temperatur liegt zum erstenMal die zweite feste Phase im Gleichgewicht vor, man bezeichnet diese Temperatur alsperitektische Temperatur. Für fortan kleiner werdende Temperaturen wird der Konzentrationsbereichder Schmelze immer kleiner und der Bereich der zweiten festen Phase α 2 größer(T 4 ). An dieser Temperatur kann an die G S (x)- und an das Minimum der G α 2(x)-Kurve einegemeinsame Tangente gelegt werden. Eine zweite Tangente liegt zwischen den Minima derfreien Enthalpie-Kurve der festen Phasen. Während letztere für kleiner werdende Temperaturenerhalten bleibt, verschiebt sich die erste immer mehr in Richtung der Randphase,wobei der Konzentrationsbereich, den sie überspannt, immer kleiner wird. Unterhalb desSchmelzpunktes der zweiten Komponente, wo beide freie Enthalpie-Kurven den selben Wertzeigen, G α = G S , existiert keine Schmelze mehr.Intermetallische PhasenFür den Fall, daß die freie Enthalpie-Kurven der beiden festen Phasen stark unterschiedlicheMinima aufweisen, und beide auf einer Seite in Bezug auf das Minimum der freien EnthalpieKurve der Schmelze liegen, oder gar drei feste Phasen vorliegen, es also zwei Mischungslückenim Festen gibt, kommt es zu der Bildung intermetallischer Phasen.1 T1 α 1T 1T 2T 3T 4T 5∆ GααααSSαSSS0 5 2 5 0 1 4 0 5 2 5 0 1 9 2 5 0 6 3 1 7 2 8 3A x B A x B A x B A x B A x BT0 ST 22 α 23 αS+T 3S 3α+ α 2 S+α +2S α 34 S+α 1α 1 1 T 5 S+ α 2α 42 6 S+αα 3 37 α 1 + α 2T 58 α 2 + α 3α 1 +α 2 α 2 +α 39 S+α 1 + α 2A x BAbbildung 3.22: Entwicklung eines Zustandsdiagramms mit intermetallischer Phase aus freieEnthalpie-Kurven bei verschiedenen Temperaturen. In diesem Fall besteht das Zustandsdiagrammaus zwei Eutektika.Nacheinander nehmen die Minima der G α i-Kurven kleinere Werte an, als sie die G S -Kurve aufweist. In diesem Fall treten immer für den Fall, daß für ein Minimum G S = G αgilt, die Phasen in reiner Form das erste Mal auf und für kleiner werdende Temperaturen


118 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEkommt der Koexistenzbereich mit der Schmelze hinzu. Bemerkenswert ist, daß dieser Koexistenzbereichauf beiden Seiten des Minimums existiert, da auf beide Seiten eine gemeinsameDoppeltangente an die Kurven gezeichnet werden kann. (z. B. T 2 für α 2 ). Diese Bereicheexistieren, bis ein weiteres Minimum durch die G S -Kurve stößt. Für weiterhin kleinere Temperaturentritt dann der Fall ein, daß zwei Doppeltangenten irgendwann kollinear liegen (T 4für S + α 1 + α 2 ). Der Ablauf ist dann analog zu dem bisher Betrachteten für eutektischeSysteme, mit der Besonderheit, daß in diesem Zustandsdiagramm zwei Eutektika auftreten.Je nach Lage der Minima zueinander erhält man intermetallische Phasen, die entwederdirekt aus der Schmelze oder peritektisch erstarren. Im Fall der peritektischen Erstarrungeiner intermetallischen Phase liegen zwei Minima der drei freie Enthalpie-Kurven der festenPhasen auf einer Seite des Minimums der G S -Kurve. Die dritte feste Phase hat ihr Minimumauf der gegenüberliegenden Seite. Diese Konstellation führt zu der peritektischen Bildungder Phase α 2 (s. Abb. 3.23).T 1T 2T 3T 4T 5∆ GαααSαSαSSSAxB1 4 01 9 01 7 2 5 0 1 7 2 10 3A x B A x B A x B A x BT 6Sα1 7 2 8 3A x BTS+α 1α 1+α2α 1α 2+ S α 2α 2 +α 3S+α 3α 3A x B0 ST 11 α 12 α 2T 23 α 3T 34 S+α 1T 5 S+ α 426 S+α 3T 5 7 α 1 + α 2T 6 8 α 2 + α 39 S+α 1 + α 210 S+α 2 + α 3Abbildung 3.23: Entwicklung eines Zustandsdiagramms mit intermetallischen Phasen ausfreien Enthalpie-Kurven bei verschiedenen Temperaturen. In diesem Fall besteht das Zustandsdiagrammaus einem Eutektikum und einem Peritektikum.Genauso wie bei der einfachen peritektischen Phasenbildung wird die intermetallischePhase gebildet, wenn eine Tangente gemeinsam an die beiden Minima der festen Phasen α 1und α 2 sowie an das daneben liegende Minimum der Schmelze gelegt werden kann (T 3 ). Beiweiter sinkender Temperatur wird irgendwann auch die letzte feste Phase α 3 stabil (T 4 ) undes kommt zur Bildung des zwischen Schmelze und Phase α 3 liegenden Koexistenzbereichs.In dem Moment, wo eine Tangente an die Minima α 2 und α 3 gelegt werden kann, erstarrt dieRestschmelze eutektisch (T 5 ). Bei noch tieferen Temperaturen liegen nur noch feste Phasenα 1 , α 2 und α 3 sowie die dazwischen liegenden Phasengemische vor.


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 1193.4 Reale Zustandsdiagramme und ihre Interpretation3.4.1 GrundlagenReale Zustandsdiagramme werden oft sowohl durch den Massengehalt (Gewichts-Prozent)als auch durch den Stoffmengengehalt (Atom-Prozent) dargestellt.Masse der Komponente AMassengehalt =Gesamtmasse der Legierung ;Anzahl der Atome der Komponente AStoffmengengehalt =Gesamtzahl der Atome in der Legierung ;w A = m Amx A = n An(3.51)(3.52)Umrechnung:Komponenten: A, B Stoffmenge der Komponente: n A , n B Stoffmenge derLegierung: n = n A + n B = ∑ i n i Stoffmenge der Komponente: x A = N AnAtomgewicht eines Atoms der Komponente: a A , a B Molgewicht: a A N A , a B N BMasse aller Atome A: m A = a A N A n A = a A N A x A n Gesamtmasse aller Atome:m = a A N A x A n + a B N B x B n Massengehalte der Komponente: w A = m Amw A =x A =a A x Aa A x A + a B x B + . . .w A /a Aw A /a A + w B /a B + . . .Je stärker die Atommassen der Komponenten voneinander abweichen, um so unterschiedlichersind die Skalen von Atom- und Masseprozent. Abbildung 3.24 zeigt das PhasendiagrammSn–Pb als ein Beispiel für ein typisches eutektisches Phasendiagramm. Angegebensind ausgezeichnete Temperaturen, das sind die Schmelztemperatur von (reinem) Sn (232 ◦ C),von (reinem) Pb (327 ◦ C) sowie die eutektische Temperatur (183 ◦ C). Darüberhinaus sindausgezeichnete Konzentrationen in Atomprozent angegeben, wobei in Klammern die Wertefür Gewichtsprozent angegeben sind. Diese Konzentrationen bezeichnen die maximaleLöslichkeit von Pb in (Sn) bei 1.45 at.-%Pb, die maximale Löslichkeit von Sn in (Pb) bei71 at.-%Pb sowie die eutektische Zusammensetzung bei 26 at.-%Pb. Selbstverständlich sinddie schon bekannten Phasenräume mit angegeben.Ein geeignetes Experiment zur Ermittlung des Gleichgewichtszustandes ist die thermischeAnalyse. Hierbei wird die Temperatur der Probe in Abhängigkeit von einer Referenztemperatur(i. A. gleicher Probenhalter ohne Probe) und von der Rate der Temperaturänderunggemessen. Bei jeder Phasenreaktion wird eine gewisse Reaktionswärme umgesetzt,die zusätzlich abgeführt / hinzugeführt werden muß. Hierdurch wird zum Beispiel eineAbkühlung mehr oder weniger verzögert. Es treten zwei Fälle auf:


120 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEw in %10 20 30 40 50 60 70 80 85 90 95327°T [°C]300S250 232°S+(Pb)200 S+(Sn)183°1.45(2.5) 26.1(38.1)71(81) (Pb)150 (Sn)(Sn)+(Pb)1000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %PbAbbildung 3.24: Sn–Pb-Phasendiagramm1. Phasenumwandlung bei einer Temperatur:Verzögerung der Abkühlung, bis die gesamte Reaktionswärme abgeführt ist. In diesemFall muß die Reaktionswärme von der Probe abtransportiert werden, wodurch in derRate die Referenztemperatur davonläuft. In der sogenannten Differenzthermoanalyseverursacht dieses Verhalten einen exothermen Peak.2. Phasenumwandlung in einem Temperaturintervall:(zum Beispiel bei dem Durchlaufen eines S + α-Bereiches) Während des gesamtenIntervalls erfolgt die Phasenumwandlung und verzögert die Abkühlung. DieAbkühlkurve wird flacher als die der Referenz verlaufen, sie läuft verzögert ab. InDifferenzthermoanalyse-Kurven wirkt sich dieses Verhalten in Kurven mit veränderterSteigung aus.3.4.2 Eutektische SystemeBetrachten wir die Sn–Pb Legierung mit x Pb = 50 (at.-)% bei 150 ◦ C. Bei dieser Temperaturkann Zinn maximal 1% Blei lösen und Blei kann maximal 17% Zinn lösen. Die Legierungmuß also in eine zinnreiche und eine bleireiche Phase aufspalten. Der Phasenzustandspunktder (Sn)-Phase liegt nun im (Sn)-Phasenraum bei 150 ◦ C und maximaler Pb-Löslichkeit, alsoauf der (Sn)-Phasengrenze. Analoges gilt für die (Pb)-Phase.Beim Abkühlen einer Sn − 80at.-%Pb-Legierung kommt es bei T = 310 ◦ C zunächstzum Übergang in das S + (Pb)-Zweiphasengebiet. Entsprechend der Gleichgewichtsbedingungscheidet entlang der Konoden ein (Pb)-Mischkristall mit der ZusammensetzungSn − 95at.-%Pb aus. Bei weiterer Abkühlung verschiebt sich die Konzentration der Schmelzeentlang der Liquiduslinie und die Konzentration der ausgeschiedenen (Pb)-Mischkristalleverändert sich entsprechend dem Verlauf der Soliduslinie mit sinkender Temperatur. Je niedrigerdie Temperatur ist, um so größer wird der Sn-Anteil im Mischkristall. Dies geschieht,bis bei T = 260 ◦ C keine Restschmelze mehr vorhanden ist. Der Mischkristall sei an dieserStelle homogen. Bei weiterer Abkühlung erreicht der Mischkristall T = 160 ◦ C, wo er erneut


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 121T [°C]300S250S+(Pb)200 S+(Sn)(Pb)150 (Sn)(Sn)+(Pb)1000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %PbAbbildung 3.25: Sn-Pb-Phasendiagramm: Abkühlverhalten einer Sn − 80at.-%Pb-Legierungin eine Sn-reiche und eine Pb-reiche feste Phase aufspaltet. Bei der Abkühlung von 150 ◦ C biszu 100 ◦ C ändern sich die Hebelarme der Konoden. Daher kommt es zu einer Phasenreaktionvon (Pb) → (Sn), d.h. aus der Pb-reichen Phase scheidet sich Sn ab.Beim Abkühlen einer Legierung mit einer nominellen Zusammensetzung von Sn −50at.-%Pb geschieht nun Folgendes: Es sei angemerkt, daß dieser Verlauf äquivalent fürjede Zusammensetzung ist, deren Zusammensetzung zwischen den Konzentrationen von maximalerLöslichkeit der beteiligten Komponenten ineinander ist.T [°C]300250200S+(Sn)SS+(Pb)(Pb)150 (Sn)(Sn)+(Pb)1000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %PbAbbildung 3.26: Sn–Pb-Phasendiagramm: Abkühlverhalten einer Sn − 50at.-%Pb-LegierungOberhalb der Liquiduslinie liegt die Schmelze einphasig vor. Sobald der Legierungszustandspunktunter T = 245 ◦ C fällt, wird die Schmelze instabil und es scheidet sich der (Pb)-Mischkristall aus der Schmelze aus. Mit weiter sinkender Temperatur verändern sich dieKonzentrationen von Schmelze und Mischkristall entsprechend der Vorgaben von LiquidusundSoliduslinie, wobei sich ständig (Pb) aus der Schmelze ausscheidet. Im Gegensatz zumvorherigen Beispiel einer Sn−80at.-%Pb-Legierung erreicht die Zusammensetzung des Mischkristallsnicht die nominelle Zusammensetzung der Legierung (der Verlauf der Soliduslinieschneidet nicht die x Pb = 50%-Linie) und es wird nicht die gesamte Schmelze in den (Pb)-Mischkristall umgewandelt. Bei T = 183 ◦ C hat die Schmelze ihren tiefsten Punkt im Zustandsdiagrammerreicht (x Pb = 26%), aber zu diesem Punkt besteht die Legierung noch


122 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEzu 47% aus Schmelzphase (Hebelgesetz!). Die noch in der Probe vorhandene Schmelze kannnicht weiter abgekühlt werden, sondern muß vollständig zerfallen und zwar in die (Sn)- und(Pb)-Phase. Diese Phasenreaktion endet erst mit dem vollständigen Zerfall der S-Phase.Dies ist die eutektische Reaktion, daher sagt man auch die Restschmelze erstarrt eutektisch.Nachdem diese Reaktion abgelaufen ist, sind nur noch (Sn) und (Pb) Mischkristalle vorhanden.Wieder ändern sich die Hebelarme der Konoden bei sinkender Temperatur und eskommt zu der Reaktion (Pb) → (Sn). Aus den Pb-reichen Mischkristallen scheidet sich Snaus, das sich an den Sn-reichen Mischkristallen anlagert.Jede Sn–Pb-Legierung zwischen 1.47at.-%Pb und 71at.-%Pb besitzt bei T = 183 ◦ C dreistabile Phasen: S, (Sn) und (Pb). Dieser Dreiphasenraum ist zu einer Linie entartet.Bisher wurden die Bezeichnungen (Pb) und (Sn) verwendet ohne sie zu erklären. Hierbeihandelt es sich um die Bezeichnung für einphasige (!) Mischkristalle unter Angabe ihrerHauptkomponente. Natürlich findet man in einem (Pb)-Mischkristalle Sn-Atome (sofern daszugrundeliegende Phasendiagramm das von Sn-.Pb ist ). Mischkristalle sind feste Lösungenvon Atomen. Da die feste Phase in metallischen Werkstoffen kristallin ist, bezeichnet mandiese als Mischkristalle. Entsprechend ihrer atomaren Anordnung unterscheidet man systematischzwei Arten von Mischkristallen, nämlich die interstitiellen und die substitutionellenMischkristalle. Bei interstitiellen Mischkristallen befinden sich die Legierungsatomeauf Zwischengitterplätzen des Matrixgitters, während bei Substitutionsmischkristallen dieLegierungsatome auf regulären Gitterplätzen sitzen. Interstitielle Mischkristalle sind danntypisch anzutreffen, wenn die Legierungsatome sehr viel kleinere Atomradien aufweisen alsdie Matrixatome.Abbildung 3.27: Formen der Mischkristallbildung interstitiell (links) und substitutionell(rechts)Das Gefüge einer eutektischen LegierungAnhand mehrerer Zusammensetzungen soll nun die Bildung des Gefüges beim Abkühlenvon Schmelzen eutektischer Systeme erklärt werden. Zunächst wird eine Sn − 60at.-%Pb-Legierung betrachtet.


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 123T [°C]3002501S23200 S+(Sn)S+(Pb)4 (Pb)150 (Sn)(Sn)+(Pb) 51000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %PbAbbildung 3.28: Sn–Pb-Phasendiagramm: Abkühlverhalten einer Sn − 60at.-%Pb-LegierungOberhalb von 260 ◦ C ist die Legierung flüssig. DasGefügebild zeigt einzig und alleine die Schmelzphase. ✐ 1Unterhalb von 260 ◦ C beginnt die feste (Pb)-Phaseaus der Schmelze auszuscheiden. Im Gefüge erkenntman die Schmelze und einzelne (Pb)-Mischkristalle(Primärkristalle). ✐ 2Der Anteil der Kristalle wird mit weiter absinkenderTemperatur entsprechend dem Hebelgesetz größer. ✐ 3Ist die eutektische Temperatur erreicht wird keineweitere (Pb)-Phase mehr ausgeschieden. In einer gewissenZeit erstarrt bei dieser Temperatur die restlicheSchmelze eutektisch. ✐ 4Das eutektische Gefüge umgibt die zuerst erstarrten(Pb)-Mischkristalle. Das Gefüge selbst ist einefeinkörnige/lamellare Mischung aus (Sn)- und (Pb)-Kristallen. ✐ 5Kühlt man eine Schmelze mit eutektischer Zusammensetzung ab, so liegt oberhalb der eutektischenTemperatur alleine die Schmelze vor. Bei der eutektischen Temperatur bildet sichdas eutektische Gefüge ✐ 2, welches bis zu tiefen Temperaturen bestehen bleibt (s. Abb. 3.29).Im Verhalten einer Sn−10at.-%Pb-Legierung beobachtet man einen ähnlichen Ablauf, wieer für die Sn−80at.-%Pb-Legierung beobachtet wurde. Der Unterschied liegt in der primärenAusscheidung der (Sn)-Phase. Man unterscheidet zwischen hypo- und hyper-eutektisch, jenachdem, ob die Zusammensetzung vor, oder nach der eutektischen Zusammensetzung liegt.


124 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMET [°C]300250200150S+(Sn)(Sn)S123S+(Pb)(Pb)(Sn)+(Pb)1000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %Pb✐1✐2✐3Abbildung 3.29: Sn–Pb-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerSn − 26at.-%Pb-LegierungT [°C]300 1S250S+(Pb)200 2(Pb)S+(Sn)150 3(Sn)(Sn)+(Pb)1000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %Pb✐1✐2✐3Abbildung 3.30: Sn–Pb-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerSn − 10at.-%Pb-Legierung3.4.3 KornseigerungAbbildung 3.31 zeigt den Abkühlvorgang einer Sn–Pb-Legierung mit Sn − 80at.-%Pb imZustandsdiagrammVon 310 ◦ C bis 260 ◦ C läuft der Zustandspunkt der festen (Pb)-Phase entlang der Soliduslinienach links (zu geringeren Pb-Gehalten hin) herunter. Die Phase wird daher alsoständig zinnreicher und bleiärmer. Für ein aus der Schmelze kristallisierendes (Pb)-Kornbedeutet dies, dass es ständig seinen Komponentengehalt ändern muss. Aus der Schmelzemüssen Sn-Atome in das Teilchen hinein diffundieren und Pb-Atome müssen umgekehrtaus dem Teilchen heraus. Dieser Prozess benötigt Zeit und zwar um so mehr, je länger derWeg ist (und auch je größer das Korn wird). So stellt sich der Gleichgewichtszustand in derMitte des Kornes langsamer als am Rand ein. Wird die Legierung zu schnell abgekühlt, sokann der eben beschriebene Austausch nicht vollständig stattfinden und die (Pb)-Körnersind in der Mitte bleireicher als an ihren Oberflächen. Diese Erscheinung einer Konzentrationsänderungvon Kornmitte zum Rand hin nennt man Kornseigerung. <strong>Si</strong>e tritt nur beischneller Abkühlung auf.


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 125T [°C]300S250S+(Pb)200 S+(Sn)(Pb)150 (Sn)(Sn)+(Pb)1000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %PbAbbildung 3.31: Sn–Pb-Phasendiagramm: SeigerungDie Konzentrationsverschiebung im Korn bewirkt, dass mehr Blei in dem (Pb)-Mischkristall gelöst ist, als es durch die Soliduslinie vorgegeben ist. Es wird also mehr Blei inden Kristall eingebaut, als es das Phasendiagramm zuläßt. Demzufolge ist noch Restschmelzevorhanden, obwohl bei der Temperatur von 260 ◦ C die Schmelze schon aufgebraucht seinmüsste. Der Phasenzustandspunkt der Restschmelze läuft einfach entlang der Liquiduslinieweiter nach unten (und kann unter Umständen sogar das Eutektikum erreichen).Der Zustand einer Legierung hängt aber nicht nur von den Zustandsvariablen ab, sondernauch in einem starken Maße von den Vorbedingungen, da thermodynamische Prozesseimmer in endlicher Zeit ablaufen. In besonderen Fällen reicht die Zeit nicht aus, um einenProzeß abzuschließen und die Probe ins Gleichgewicht zu überführen. Dies soll an folgendemBeispiel verdeutlicht werden: Bei T = 183 ◦ C sind in einer Sn–Pb-Legierung mit 1, 45at.-%Pbdie Pb-Atome in Sn gelöst. Kühlt man die Probe auf 100 ◦ C ab, so können praktisch keinePb-Atome mehr in (Sn) gelöst werden (≪ 0.1at.-%Pb). Die Pb-Atome ballen sich zu mikroskopischkleinen Inseln zusammen und befinden sich nicht mehr in Lösung, das heißtim Mischkristall. Dieser weist dann entsprechend der Thermodynamik eine wesentlich geringerePb-Konzentration auf, als die Probe in ihrer Gesamtheit. Diese Pb-Körner bildensich allerdings nur, wenn man die Probe langsam genug abkühlt; geschieht dies hingegenschnell, können sich die Atome nicht mehr zu Inseln zusammenballen, da ihre Beweglichkeitstark eingeschränkt ist. Die Atome bleiben an ihren Plätzen und das Gefüge, welches derMischkristall bei T = 183 ◦ C hat, wird eingefroren.Dies wirkt sich auch auf die Werkstoffeigenschaften aus. So weist eine langsam abgekühlteLegierung wesentlich höhere Festigkeitswerte auf. Die Verformung eines Metalls erfolgt durchAbgleiten von Atomebenen aufeinander. Durch das Auftreten der Inseln von Fremdatomen(= Ausscheidungen) wird dieses Abgleiten erschwert, das Material wird härter. SolcheHärtungsmechanismen werden in metallurgischen Prozessen (= Wärmebehandlung) gezieltangewandt.Das Verhalten einer Legierung, deren Zusammensetzung im einphasigen Bereich liegt,zeigt nichts Spektakuläres.Zunächst kristallisiert ein Teil der Schmelze aus, sobald die Liquidustemperatur unterschrittenist, und sobald die Solidustemperatur unterschritten ist, liegt der einphasige feste


126 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMET [°C]300S12250S+(Pb)200 S+(Sn)(Pb)150 (Sn)(Sn)+(Pb)31000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Sn x in %Pb✐1✐2✐3Abbildung 3.32: Sn–Pb-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerSn − 90at.-%Pb-LegierungZustand vor.3.4.4 Vollmischbare SystemeDas in Abbildung 3.32 gezeigte wenig spektakuläre Verhalten wiederholt sich für Systememit vollständiger Mischbarkeit, wie es in Abbildung 3.33 am System Cu–Ni gezeigt wird.T [°C]14001300S211455°✐11200 S+α11001085°3α10000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Cux in %Ni✐2✐3Abbildung 3.33: Cu–Ni-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerCu − 50at.-%Ni-Legierung3.4.5 Systeme mit MischungslückeWie bereits besprochen gibt es noch andere Formen von Zustandsdiagrammen mitvollständiger Löslichkeit der Komponenten. In Abbildung 3.34 berühren sich SolidusundLiquiduslinie in einem Punkt mittlerer Konzentration. Als Beispiel ist das Au–Ni-Phasendiagramm gezeigt.Dieses Au–Ni-Phasendiagramm ist gleichzeitig ein Beispiel für eine Mischungslücke in derfesten Phase. Unterhalb von T = 812 ◦ C sind die Komponenten nicht mehr in allen Konzen-


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 127T [°C]140013001200110010009008007006000Au1063°αS+ αS~4223α ’ +α "1453°S+α10 20 30 40 50 60 70 80 90 100x in %Ni812°14~715✐1✐2✐3✐4✐5Abbildung 3.34: Au–Ni-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerAu − 70at.-%Ni-Legierungtrationsbereichen mischbar; mit sinkender Temperatur nimmt der Bereich der Mischbarkeitimmer mehr ab und die Mischungslücke weitet sich aus.Beide Phasen werden α (also α ′ und α ′′ ) genannt, weil sie im Zustandsdiagramm zumgleichen Phasenraum gehören. Die Striche sollen ausdrücken, daß es sich trotzdem um zweiverschiedene Phasen handelt, da die jeweiligen Komponentengehalte verschieden sind. DiesePhasen bilden eine sogenannte kohärente Grenzfläche, da die Phasen praktisch keine unterschiedlichenGitterparameter haben.3.4.6 Peritektische SystemeT [°C]300025003027°192600°31S+(Os)SS+(Rh)20001965°1500(Os) (Os)+(Rh)(Rh)10000 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Osx in %RhAbbildung 3.35: Os-Rh-Phasendiagramm: Ein Beispiel für ein (rein) peritektisches System


128 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEIm Fall von peritektischen Systemen kommt es genauso zur Bildung reiner Mischkristalle(Os) oder (Rh), wie es in Abbildung 3.35 gezeigt ist. Von besonderer Bedeutung ist nun dieperitektisch gebildete Phase (Os) + (Rh). Peritektisch schmelzende Legierungen werden vorallem dann beobachtet, wenn die Schmelzpunkte der reinen Komponenten stark unterschiedlichsind.T [°C]10001063°900800S700600S+Au5004003002001000Au373°Au+Au 2BiAu Bi2S+Au 2Bi241°Au Bi+Bi 2S+Bi10 20 30 40 50 60 70 80 90 100x in %Bi81266°Abbildung 3.36: Au–Bi-PhasendiagrammDie nun folgende Beschreibung der peritektischen Phasenbildung läßt sich jedoch einfacherfür eine peritektisch schmelzende Phase durchführen, die nicht einen so ausgedehntenExistenzbereich bei der peritektischen Temperatur aufweist. Daher ist in Abbildung 3.36das Au-Bi-Phasendiagramm gezeigt. Dass sich an das Peritektikum bei 33at.-%Bi noch einEutektikum bei 81at.-%Bi anschließt, soll hier nicht weiter stören. Die Löslichkeit der Komponentenineinander ist so niedrig, daß hier die (Au)-, (Bi)- und (Au 2 Bi)-Phasen zu Strichenentartet sind.Die intermetallische Phase Au 2 Bi zerfällt bei 373 ◦ C. Die von (Au) ausgehende Liquiduslinieüberdeckt diese Phase, daher spricht man auch von peritektischer Überdeckung. DiePhase Au 2 Bi kann nicht beim Aufheizen direkt in die Schmelze übergehen, sie zerfällt in einefeste Au-Phase und eine Au-ärmere Schmelze.Der Abkühlvorgang einer Legierung mit Au−33at.-%Bi verläuft entsprechend umgekehrt.Zuerst scheidet sich (Au) aus der Schmelze aus. Bei 373 ◦ C reagiert das bereits ausgeschiedene(Au) mit der Schmelze und bildet Au 2 Bi. Erst wenn (Au) und die Schmelze vollständigverbraucht sind, ist die peritektische Reaktion abgeschlossen. Es liegt alleine Au 2 Bi vor.Im Folgenden werden die Abkühlungen zweier charakteristischer Au-Bi-Legierungen mitAu − 20at.-%Bi und Au − 40at.-%Bi besprochen. Dabei soll die peritektische Dreiphasenreaktionmit ihrem Einfluß auf das Gefüge erläutert werden.Unterhalb der Liquidustemperatur wird (Au) ausgeschieden, während der Abkühlung


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 129T [°C]1000900800700600S+Au21S✐1500✐24003002001000Au34Au 2 BiS+Au Bi 2Au+Au 2BiAu 2Bi+Bi10 20 30 40 50 60 70 80 90 100x in %S+Bi81Bi✐3✐4Abbildung 3.37: Au–Bi-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerAu − 33at.-%Bi-Legierungwächst die (Au)-Phase ständig. Bei 373 ◦ C wird die Au 2 Bi-Phase stabil. Jetzt reagieren dieRestschmelze und die (Au)-Phase miteinander und bilden Au 2 Bi. Diese neue Phase entstehtdort, wo die S- und die (Au)-Phase sich berühren, das heißt die (Au)-Kristalle werden durchdie Reaktion mit der Schmelze mit einer Au 2 Bi-Schicht überzogen (in den Gefügebilderndie graue Phase). Von diesem Überzug stammt auch der Name des Peritektikums (= dasHerumgebaute). Mit fortschreitender Reaktion wächst die Au 2 Bi-Phase auf Kosten der (Au)-Phase und der Schmelze. Erst wenn die Schmelze oder die (Au)-Phase verbraucht ist, endetdie peritektische Phasenreaktion. Im Fall der Au − 20at.-%Bi-Legierung liegt dann nur nochdie nicht umgewandelte/reagierte (Au)-Phase vor, während im Fall der Au − 33at.-%Bi-Legierung sowohl die Schmelze als auch die (Au)-Phase vollständig miteinander reagierenkonnten und die peritektische Phase Au 2 Bi gebildet haben. Läge die Zusammensetzung beiAu − 40at.-%Bi, so wäre die gesamte (Au)-Phase mit der Schmelze zu Au 2 Bi reagiert, wobeiin diesem Fall aber noch Schmelze übrig bliebe. Diese erstarrt dann eutektisch zu (Au 2 Bi)und (Bi).3.4.7 Allgemeine SystemePrinzipiell lassen sich die bisher gezeigten Abkühlverhalten auf alle anderen – auchwesentlich komplizierteren – binären Phasendiagramme übertragen. Als Beispiel ist inAbbildung 3.40 das Ag-Sn-Phasendiagramm gezeigt. Hier sind vier reine feste Phasen unddie Schmelze zu erkennen: α, β, γ, β-Sn und S. α ist der (Ag)-Mischkristall, der sich oberhalbvon 724 ◦ C aus der Schmelze herstellen läßt, vorausgesetzt die Sn-Konzentration in derSchmelze ist hinreichend klein. Der Erstarrungsverlauf entspricht in diesem Bereich dem ei-


130 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMET [°C]1000900800700600S+Au12S✐15004003002001000Au34Au 2 BiS+Au Bi 2Au+Au 2BiAu 2Bi+Bi10 20 30 40 50 60 70 80 90 100x in %S+Bi81Bi✐2✐3✐4Abbildung 3.38: Au–Bi-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerAu − 20at.-%Bi-Legierungner vollständig mischbaren Legierung – aber nur in diesem Bereich! Unterhalb von 724 ◦ Cwird die Phase β peritektisch gebildet. Dieser Verlauf ist von der Diskussion über peritektischeZustandsdiagramme, wie z. B. Au–Bi bekannt. Hierbei gilt lediglich zu beachten,daß nur über einen Ausschnitt des Phasendiagramms diskutiert wird, anstelle des gesamtenSystems. In diesem Fall wird die peritektisch gebildete Phase β im Konzentrationsbereichx Sn ≤ 52at.-% betrachtet.Bei der Diskussion und Betrachtung von Schmelz- oder Erstarrungsvorgängen ist primärder Dreiphasenraum von Bedeutung. Dieser ist durch die horizontale Linie von 13, 3at.-% ≤x Sn ≤ 21at.-% bei T = 724 ◦ C gegeben. In gleicher Weise findet man ein Peritektikumbei 24, 6at.-% ≤ x Sn ≤ 53at.-% bei T = 480 ◦ C, welches im Bereich von T = 400 ◦ C bis600 ◦ C und von 20at.-%Sn bis 60at.-%Sn betrachtet wird. Die peritektisch schmelzendenZusammensetzungen β oder γ werden jeweils von zwei Phasen gebildet, nämlich α und S imFall von β, sowie β und S im Fall von γ.Man findet einen dritten Bereich, der das Phasendiagramm charakterisiert, nämlich dasEutektikum bei 96, 5at.-%Sn und T = 221 ◦ C. Wieder betrachtet man nur einen Ausschnitt,nämlich 25at.-%Sn < x und T < 480 ◦ C, und kann den Ausschnitt auf die bekannte Struktureines eutektischen Phasendiagramms zurückführen. Auf diese Weise kann jedes beliebigeauch noch so komplizierte Phasendiagramm in Ausschnitte um die entsprechenden Dreiphasenräumezerlegt und verstanden werden.Bei der Präparation von Phasen, denen ein solches Zustandsdiagramm zu Grunde liegt,stellt sich die Angelegenheit schon komplizierter dar. Es wurde bereits erwähnt, dass die


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 131T [°C]10009008007006005004003002001000AuS+AuAu 2 Bi12344SS+Au Bi 2Au+Au 2BiAu 2Bi+Bi10 20 30 40 50 60 70 80 90 100Bix in %S+Bi81✐1✐2✐3✐4Abbildung 3.39: Au–Bi-Phasendiagramm: Abkühlverhalten und Gefügeentwicklung einerAu − 40at.-%Bi-LegierungPhasenbildung ein thermodynamischer Prozeß ist, der viel Zeit in Anspruch nehmen kann.Will man zum Beispiel eine Phase β mit einer nominellen Zusammensetzung von 17at.-%Snherstellen, verfährt man wie folgt. Man kühlt diese Zusammensetzung aus der Schmelze ab,somit erstarrt zunächst α, bis sich die Zusammensetzung der Schmelze bis zum peritektischenPunkt (x Sn = 21at.-%) verschoben hat. An dieser Stelle reagieren α und S zu β, bis αkomplett umgewandelt wurde. Dieser Vorgang kann sehr lange dauern. Kühlt man die Legierungweiter ab, bevor der Vorgang abgeschlossen ist, wird immer ein Anteil primär erstarrtenα-Mischkristalles im Gefüge zu finden sein. Da aber in diesem Fall mehr Schmelze vorhandenist, als nötig wäre, um die gesamte α-Phase umzuwandeln, wird der Prozeß schneller voranschreiten.In dem Fall, in dem direkt die peritektische Zusammensetzung x Sn = 14, 5at.-%kristallisieren soll, kann die Verweildauer extrem lang sein, da die ganze Probe in ihremVolumen homogenisiert werden muss, während in dem besprochenen Fall lediglich die Sn-Konzentration über eine gewisse Schwelle geschoben werden muss. Kühlt man die Legierungweiter ab, so scheidet sich β aus der Schmelze aus, bis die Konzentration der β-Phase einenso großen Wert angenommen hat, dass alle Schmelze umgewandelt wurde. Es liegt nun einreiner β-Mischkristall vor, der noch Konzentrationsschwankungen aufweist, die leicht durchGlühbehandlungen ausgeglichen werden können.Die Präparation der γ-Phase verläuft äquivalent. Will man hingegen eine ausscheidungsgehärteteβ + γ-Phase herstellen, benötigt man noch mehr Zeit, da man diese nicht direktaus der Schmelze herstellen kann. Zunächst wird β auskristallisiert (wie im Fall derAu − 20at.-%Bi-Legierung), das mit der Schmelze zu γ reagiert, aber im Überschuß vorliegt,


132 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEsodass noch β-Phase vorhanden bleibt, wenn die gesamte Schmelze mit β zu γ umgewandeltwurde.Jede Zusammensetzung im BereichT [°C]9008007006005004003002001000Ag960.5°αα+βS+ α724°13.314.5β24.621S+ β26.5γβ+γS+ γS480° 52γ+ ( β−Sn)221°S+( β−Sn)10 20 30 40 50 60 70 80 90 100x in %Sn232°96.5( β−Sn)Abbildung 3.40: Ag–Sn-Phasendiagramm52 < x Sn < 100at.-% erstarrt eutektischzu γ und (β − Sn). Zusammensetzungenim Bereich 26, 5 < x Sn


3.4. REALE ZUSTANDSDIAGRAMME UND IHRE INTERPRETATION 133T [°C]1600140012001000800600400δα+γαδ+γδ+ LγStahlγ+ Lα − Ferritγ − Austenitχ − Cementitδ − delta EisenL+ Fe 3 Cγ+ Fe 3 Cα+ Fe 3 CGußeisen0 0.69 2 4 6.67Few in %CAbbildung 3.41: Das Fe–C- oder auch Stahl-PhasendiagrammL• Ferrit: reines Eisen unterhalb von 911 ◦ C (bcc)• δ-Fe: bcc-Hochtemperaturphase des Eisens• Austenit: fcc-Phase des Eisens zwischen den beiden vorher genannten• Zementit: scheidet sich mit x > 4.26wt.-%C eutektisch aus der Schmelze aus (Fe 3 C)• Martensit: entsteht aus Austenit bei schneller AbkühlungEigenschaften Ferrit – Perlit – Zementit→ Festigkeit und Sprödigkeit nimmt zu→ Umform- und Zerspanbarkeit nimmt abDer Zusatz von Kohlenstoff in Eisen erweitert das γ-Feld des Austenit und schließt denExistenzbereich von α auf der Temperaturachse. Maximal 2wt.-%C lösen sich in γ, aber nur0, 02wt.-%C in α. Dies liegt an der Größe der Zwischengitterplätze, die in fcc-, beziehungsweisein bcc-Phasen, zur Verfügung stehen.Ternäre (und noch mehrkomponentigere) Eisenlegierungen mit interstitiellen C-Atomenund weiteren substitutionellen Legierungszusätzen spielen als Edelstähle eine technisch bedeutendeRolle. Die Zusätze verändern das γ-Feld in verschiedener Weise.• Die γ-Öffner (Ni, Co, Mn) ergeben austenitische, oft gut verformbare und rostfreieStähle.• Die γ-Schließer (Al, <strong>Si</strong>, Ti, Mo, V, Cr, Nb) bilden Karbide und intermetallische Phasenmit α-Eisen.


134 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEME3.5 Diffusion3.5.1 EinleitungEin Festkörper ist kein statisches System von Atomen, welche an fixen Gitterplätzen angeordnetsind, wie es die für die kristallographische Beschreibung von Materialien angenommenwurde. Vielmehr gehen die Einzelatome des Festkörpers mit ihren Nachbarn Bindungen ein(deren genaue Natur hier nicht wichtig ist), indem die elektronischen Systeme der Atomemiteinander in Wechselwirkung treten. Dieser Übergang von einem starren Gitter zu einemdynamischen System elektronischer Bindungen ist in Abbildung 3.42 schematisch durch dasErsetzen des starren Kristallgitters (Abbildung 3.42(a)) mit Federn (Abbildung 3.42(b))dargestellt.Abbildung 3.42: Übergang vom starren, kristallographisch idealen, zum dynamischenFestkörper(a) Starre Atompositionen am idealen Kristallgitter(b) Nächste Nachbarbindungen, schematisch dargestellt durch FedernAus Abbildung 3.42b wird intuitiv sofort klar, dass, sobald auch nur ein Atom durchirgendeine Störung die Ruhelage verlässt, das gesamte System in Schwingungen versetzt wird.Diese Gitterschwingungen, welche (quantisiert) als Phononen bezeichnet werden, spielen inder Festkörperphysik eine große Rolle.Wodurch kommt es zur Auslenkung der Festkörperatome aus ihren Ruhelagen? Die Antwortauf diese Frage ist einfach. Ähnlich wie beim idealen Gas, bei dem die Temperaturdurch die mittlere kinetische Energie der Gasatome gegeben ist, so ist auch die Temperaturdes Festkörpers durch die mittlere Schwingungsenergie seiner Atome um ihre Ruhelage gegeben.Je höher die Temperatur des Festkörpers ist, desto mehr Gitterschwingungen (oderPhononen) werden angeregt.Wie groß ist die Frequenz der Gitterschwingungen, ν 0 ? Im Folgenden soll diese Kenngrößekurz abgeschätzt werden, da sie eine wichtige Rolle für alle Vorgänge von Materialtransportin Festkörpern, wie sie unter dem Überbegriff Diffusion zuammengefasst werden, spielt.Im Festkörper ist ein Atom in etwa mit 2 eV = 2 · 1.602 · 10 −19 J an seinen nächstenNachbarn gebunden. Geht man von einem einfachen kubischen Gitter aus, so hat jedesAtom sechs nächste Nachbarn, seine gesamte Bindungsenergie, E B beträgt also 12 eV =


3.5. DIFFUSION 13512 · 1.602 · 10 −19 J = 1.922 · 10 −18 J. Eine gute Näherung für den Abstand der nächstenNachbarn ist ca. 3 Å = 3 · 10 −10 m. Die Masse des Atoms, m, sei mit 10 −25 kg gegeben.Das entspricht ca. 60 atomaren Masseneinheiten und damit einem typischen d-Metall wie z.B. Cu. Die potentielle Energie eines Atoms, E(x) um seine Ruhelage, x 0 , wird mit einemparabolischen Oszillatorpotential der FormE(x) = C · (x − x 0) 2(3.53)2mit der Federkonstante C angenommen. Um ein Atom um einen Gitterabstand von seinerRuhelage zu entfernen, sei es nötig, die gesamte Bindungsenergie E B aufzubringen. MitGleichung 3.53 ergibt sich mit Hilfe der Beziehung für die Kreisfrequenz ω 0 der Schwingung,√ √Cω 0 =m = 2E B(3.54)m · (x − x 0 ) 2schließlich√ν 0 = ω 02π = 12π · 2E B(3.55)m · (x − x 0 ) 2für die Phononenfrequenz ν 0 . Einsetzen der obigen Zahlenwerte liefert√ν 0 = 12π · 2 · 1.922 · 10 −18 [J]10 −25 [kg] · (3 · 10 −10 [m]) = 3.28 · 2 1012 [Hz]. (3.56)Dieses Ergebnis ist, angesichts des einfachen Modells, erstaunlich gut, da sich typischePhononenfrequenzen in der Größenordnung zwischen 10 12 und 10 13 Hz bewegen.Die vorhergehenden Betrachtungen haben gezeigt, dass ein Festkörper ein hochdynamischesSystem kondensierter Materie ist. Die permanente Bewegung der Atome kann abernicht nur um die Ruhelage erfolgen, sondern kann auch zum Materialtransport durch Diffusioninnerhalb des Kristalls beitragen. Atomistische Diffusionsmodelle sollen im FolgendenAbschnitt besprochen werden.3.5.2 Atomistische DiffusionsmechanismenDer elementarste Schritt des Materialtransportes in einem Festkörper ist die Bewegung eineseinzelnen Atoms von einem Bindungsplatz zu einem anderen. Solche Platzwechselvorgängekönnen durchaus in Reinmaterialien auftreten. Um eine solche <strong>Si</strong>tuation bildhaft darzustellen,geht man zunächst von einem idealen Material in seiner elementaren Form aus. Die einzigeVoraussetztung, die gemacht wird, ist, dass es möglich ist, einzelne Atome zu verfolgen,d. h. sie in irgendeiner Art und Weise zu markieren. Für einen idealen Festkörper völlig ohneDefekte ist allerdings ein Platzwechselvorgang von zwei Atomen schwer zu realisieren. Esmüsste dabei ein Atom so weit aus seiner Gleichgewichtslage ausgelenkt werden, dass es einenZwischengitterplatz so lange innehat, bis ein benachbartes Atom auf die so entstandene Fehlstellenachrückt und das ausgelenkte Atom schließlich den Platz des nachrückenden Atoms


136 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEeinnimmt. Ein solcher Vorgang, wie er in Abbildung 3.43(a)–(c) dargestellt ist, beinhaltet soviele kurzzeitig eingenommene Zwischenzustände (sogenannte ”transiente Zustände“), dasser de facto nicht auftritt.Abbildung 3.43: Elementarschritte zum Austausch zweier Teilchen in einem idealen, einatomigenFestkörper(a) Anfangszustand(b) Transienter Zustand(c) EndzustandEin wesentlich offensichtlicherer Platzwechselvorgang ist in Abbildung 3.44 dargestellt.Abbildung 3.44: Elementarer Diffusionsschritt in einem idealen einatomigen Festkörper miteiner Leerstelle(a) Anfangszustand(b) EndzustandHier wird davon ausgegangen, dass der Kristall zwar immer noch eine Atomsorte, aberauch Punktdefekte in Form von Fehlstellen enthält. In diesem Fall kann ein einzelnes Atomsich wesentlich leichter von seiner Gleichgewichtsposition entfernen und den Platz der Fehlstelleeinnehmen. Die Fehlstelle ist in die entgegengesetzte Richtung gewandert. Aus demqualitativen Vergleich der in Abbildung 3.43 und 3.44 dargestellten Elementarschritte kannman eine sehr wichtige Tatsache ableiten: Materialtransport durch Diffusion wird in einem


3.5. DIFFUSION 137Festkörper immer in Regionen stattfinden, die reich an Defekten sind. In defektarmen Bereichenwird hingegen kaum diffusiver Materialtransport auftreten. Defektreiche Regionen einesFestkörpers sind z.B. Korngrenzen jeder Art, Grenzflächen zwischen verschiedenen Materialienoder auch Festkörperoberflächen.Wie läuft ein einzelner Diffusionssprung im Detail ab? Betrachtet man den Anfangszustandeines Festkörpers vor dem Diffusionssprung wie er z.B. in Abbildung 3.44(a) gegebenist, so kann diesem Anfangszustand eine Gesamtenergie des Systems zugeordnet werden. Dieseerrechnet sich aus den Wechselwirkungsenergien aller im System vorhandenen Teilchen.In der Festkörperphysik muss zur Berechnung der Gesamtenergie ”nur“ das elektronischeSystem berücksichtigt werden, was allerdings mathematisch aufwendig genug ist (Lösungder Schrödingergleichung für ein Vielteilchensystem).Stabil ist ein Zustand dann, wenn leichte Auslenkungen der einzelnen Atome in einebeliebige Richtung immer eine Erhöhung der Gesamtenergie zur Folge haben. Gleichzeitigist allerdings aus Abbildung 3.44 auch klar ersichtlich, dass die Gesamtenergien der in 3.44(a)und Abbildung 3.44(b) dargestellten Zustände gleich sein müssen (wenn man davon ausgeht,dass sich der Festkörper in alle Richtungen unendlich weit ausdehnt). Verschiebt man nunein Atom ”mit Gewalt“ entlang eines bestimmten Pfades, so ergibt sich die in Abbildung3.45 dargestellte <strong>Si</strong>tuation.Abbildung 3.45: Gesamtenergie E des Systems aus Abbildung 3.44 bei Verschiebung einesAtomes entlang entlang des mit x bezeichneten Pfeiles(a) Positionen entlang des Pfades(b) Energie entlang des PfadesBei der Bewegung des markierten Einzelatomes entlang des Pfeiles (dieser entsprichtder x-Achse in Abbildung 3.45) durchquert das System, ausgehend von Punkt A, sukzessiveZustände mit immer größer werdender Gesamtenergie E. In Punkt B nimmt E ein Maximuman. Ab dann sinkt E wieder, bis es in Punkt C den gleichen Wert annimmt wie in Punkt A.Die in 3.45(b) skizzierte energetische <strong>Si</strong>tuation ist eine sehr generelle: benachbarte Minima inder Gesamtenergie eines Systemes sind durch eine Potentialbarriere einer bestimmten Höhegetrennt. Die Höhe der Potentialbarriere wird Aktivierungsenergie genannt. Allgemein istdie <strong>Si</strong>tuation in Abbildung 3.46 dargestellt.Aus Abbildung 3.46 ist ersichtlich, dass die Absolutwerte der Gesamtenergie der benachbartenstabilen Zustände, E A und E C nicht notwendigerweise gleich sind und daher die


138 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.46: Allgemeine energetische <strong>Si</strong>tuation für ein beliebiges System zweier benachbarterstabiler Zustände A und C. Die Energien E A und E C müssen nicht gleich sein.zu überwindende Aktivierungsenergie für den Übergang A → C, E AC , nicht gleich ist derAktivierungsenergie für C → A, E CA (Abbildung 3.46).Wodurch können die Festkörperatome so weit aus ihrem lokalen Gleichgewichtszuständenausgelenkt werden, dass sie die Aktivierungsbarrieren überwinden können? Diese Energiestammt aus dem thermischen Reservoir des Festkörpers. Generell wird sich dabei folgende<strong>Si</strong>tuation ergeben: Die Festkörperatome werden lange Zeit erratisch um ihre stabilen Ruhelagenschwingen, bis eine zufällige Überlagerung von Gitterschwingungen ein Atom so weitvon seiner ursprünglichen Gleichgewichtsposition auslenkt, dass es eine neue Gleichgewichtspositioneinnehmen kann.Aus dieser qualitativen Betrachtung ergibt sich folgende Frage: Wie oft in der Zeiteinheitkommt ein solches Diffusionsereignis vor. Die Anzahl der Diffusionsereignisse pro Zeiteinheitwird als Diffusionsrate, ν Diff , bezeichnet. Im vorher beschriebenen Modell wird sie nur vonzwei Größen beeinflusst: der Temperatur des Festkörpers, T , und der Aktivierungsenergie,E A . Geht man davon aus, dass die Taktfrequenz“, mit der die Atome um ihre Ruhelagen”schwingen der in Gleichung 3.56 abgeschätzten Phononenfrequenz ν 0 entspricht, so ergibtsichν Diff = ν 0 · e − E Ak B ·T(3.57)mit Hilfe der Boltzmann’schen Wahrscheinlichkeitstheorie, da es sich um einen thermischaktivierten Prozess handelt. Aus Gleichung 3.57 erkennt man sofort die exponentielleAbhängigkeit von ν Diff von E A bzw. von T . Um ein Gefühl für den Einfluss von Tauf ν Diff zu bekommen soll folgende kurze Abschätzung durchgeführt werden; es gelteE A = 1 eV = 1.602 · 10 −19 J, k B = 1.30 · 10 −23 J/K und ν 0 = 10 13 Hz:T = 300 K (=27 ◦ C) ⇒ ν Diff = 1.5 · 10 −4 HzT = 1000 K (=727 ◦ C) ⇒ ν Diff = 9 · 10 7 HzDas bedeutet, dass eine Temperaturänderung von nicht einmal einer Größenordnungdie Diffusionsfrequenz um 11 (!) Größenordnungen verschiebt. Es ist daher nicht verwunderlich,dass Temperaturbehandlungen zu den effizientesten Methoden gehören, um gezieltMaterialtransport in Festkörpern auszulösen.


3.5. DIFFUSION 139Wie erfolgt der Materialtransport im Detail? Gleichung 3.57 trifft zwar eine Aussage überdie Häufigkeit, nicht aber über die Richtung der aufeinanderfolgenden Diffusionssprünge.Geht man davon aus, dass diese nicht miteinander korreliert sind, d. h. dass die Richtungdes nachfolgenden Sprunges nicht von der des vorhergehenden Sprunges abhängt, so ist es fürein kubisches Gitter einfach, den nach N Diffusionssprüngen im Mittel zurückgelegten Weg〈l〉 zu berechnen. In Abbildung 3.47 ist die <strong>Si</strong>tuation für ein zweidimensionales quadratischesGitter von möglichen Gleichgewichtspositionen, welche das diffundierende Atom einnehmenkann, dargestellt.Abbildung 3.47: Unkorrelierte Abfolge von Diffusionsbewegungen in einem 2-dimensionalenGitter. Punkte entsprechen atomaren Gleichgewichtspositionen.a . . . Gitterkonstantel . . . effektiver zurückgelegter WegDie Erweiterung auf ein kubisches Gitter ist einfach, daher soll die folgende Rechnungauch für den dreidimensionalen Fall durchgeführt werden. Bezeichnet man die Gitterkonstantedes kubischen Gitters mit a, so kann sich das diffundierende Teilchen in x-, y- undz-Richtung beim i-ten Diffusionsschritt jeweils um ∆x i = ∆y i = ∆z i = ±a bewegen. NachN Diffusionsschritten ist der gesamte zurückgelegte Weg des Teilchens N · a, wirklich vonseinem Ausgangspunkt hat es sich aber nur die Strecke l wegbewegt (Abbildung 3.47). DieFrage ist nun, wie groß der Mittelwert von l, im folgenden mit 〈l〉 bezeichnet, nach N Diffusionssprüngenist. Für ein bestimmtes l gilt:und, daraus folgendl 2 =(Nxl 2 =(Nx) 2∑∆x i +i=1)∑ ∑N x∆x i · ∆x j +i=1j=1( Ny( Ny)2∑∆y i +i=1N∑y)∑∆y i · ∆y j +i=1j=1(Nz) 2∑∆z i (3.58)i=1(Nz)∑ ∑N z∆z i · ∆z ji=1j=1(3.59)Dabei sind N x , N y und N z die jeweiligen Sprungzahlen in x-, y- und z-Richtung. DieBildung des Mittelwertes über ein Ensemble von l 2 liefert bei korrekter Berechnung der


140 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEQuadrate in Gleichung 3.59 mit ∆x i = ∆y i = ∆z i = ±a〈l2 〉 =〈Nx∑i=1∆x 2 i〉+〈 Ny∑i=1∆y 2 i〉+〈Nz= (N x + N y + N z ) · a 2 = N · a 2 .∑i=1∆z 2 i〉= (3.60)Die gemischten Glieder verschwinden bei der Mittelwertbildung, da bei einer unkorreliertenBewegung genauso viele Schritte in positive wie in negative Richtungen durchgeführt werden.Näherungsweise gilt für ein großes Ensemble von l die Beziehung 〈l 2 〉 ∼ = 〈l〉 2 und mangelangt schließlich zu folgender Abhängigkeit des effektiv zurückgelegten Weges 〈l〉 von derAnzahl der Diffusionssprünge, N:〈l〉 = √ N · a. (3.61)Die Beziehung 〈l 2 〉 = N · a 2 kann auch folgendermaßen interpretiert werden: In Gleichung3.57 wurde die Sprungfrequenz eines Atoms, d. h. die Anzahl der Diffusionssprünge proSekunde gegeben. Es gilt〈l2 〉 in1s = ν 0 · a 2 · e − E Ak B ·T. (3.62)Für unser aus Gleichung 3.57 abgeleitetes Rechenbeispiel (E A = 1 eV = 1.602 · 10 19 J,k B = 1.38 · 10 −23 J/K, ν 0 = 10 13 Hz, a = 3 · 10 −10 m) bedeutet Gleichung 3.61, dass einTeilchen bei Raumtemperatur de facto ortsfest bleibt, während es bei 1000 K in einer Sekundeeine Strecke von ca. 3µm zurücklegt, wie man durch Einsetzen der gegebenen Zahlenwertein Gleichungen 3.61 und 3.62 leicht verifizieren kann.Gleichung 3.62 ist weiters die Definition des Diffusionskoeffizienten D für ein einzelnesTeilchen.D = ν 0 · a 2 · e − E Ak B ·T[m 2 · s −1 ]. (3.63)Für die Berechnung der Strecke, welche das Teilchen in einer Zeit τ zurücklegt, gilt beiKombination der Gleichungen 3.60, 3.61, 3.62 und 3.63 die sogenannte Einstein-Beziehung,l = √ D · τ. (3.64)Der Diffusionskoeffizient ist jene zentrale Größe, welche die Beziehung zwischen makroskopischenDiffusionsmodellen und mikroskopischen Diffusionsmechanismen herstellt, wie imnächsten Abschnitt gezeigt werden soll.3.5.3 Diffusion in kontinuierlichen SystemenDie makroskopische Diffusionstheorie, deren Grundgleichung die Diffusionsgleichung ist, beschreibtden Ausgleich von Konzentrationsgradienten in vollständig mischbaren Materialkombinationen.<strong>Si</strong>e kann auch auch auf Systeme angewendet werden, in denen die einzelnenKomponenten chemische Verbindungen bilden, allerdings sind dann die aus dem Phasendiagrammdes Mischsystemes folgenden energetischen Gegebenheiten zu beachten. Im Falledes im vorhergehenden Abschnitt besprochenen Prozesses des Materialtransportes durch den


3.5. DIFFUSION 141Austausch von Fehlstellen mit Atomen ist weiters zu sagen, dass zur vollständigen Beschreibungdieses Vorganges eigentlich zwei Diffusionsgleichungen, jene für den Strom der Atomeund jene für den Strom der Fehlstellen, angegeben werden müssten. Da die beiden Strömejedoch gleich groß (wenn auch entgegengesetzt) sind, muss nur eine Gleichung betrachtetwerden. Dies gilt generell für alle Diffusionsmechanismen, welche auf Teilchenaustausch basieren.Die zentrale Annahme zur Herleitung der linearen Diffusionsgleichung ist, dass einräumlicher Konzentrationsgradient einen Materialstrom hervorruft, welcher direkt proportionalund entgegengesetzt zu diesem Gradienten ist. Dies ist das sogenannte erste Fick’scheDiffusionsgesetz,J = −D ∂c(3.65)∂xin einer Dimension bzw.J = −D · ∇c (3.66)für das dreidimensionale Problem. D ist der Diffusionskoeffizient, das negative Vorzeichenstellt sicher, dass der Konzentrationsgradient ausgeglichen und nicht verstärkt wird. Zur Herleitungder zeitabhängigen Diffusionsgleichung, welche auch manchmal als zweites Fick’schesGesetz bezeichnet wird, ist es nötig, die Reaktion des Diffusionsflusses auf eine zeitlicheÄnderung der Konzentration zu berechnen. Dies geschieht mittels der Kontinuitätsgleichung,welche die Änderung der Konzentration in einem Volumen mit den Flüssen, welche durchdie Grenzflächen des Volumens treten, korreliert. Die <strong>Si</strong>tuation ist für das eindimensionaleProblem für ein Volumen V der linearen Ausdehnung dx in Abbildung 3.48 dargestellt.Abbildung 3.48: Schematische Darstellung der Verhältnisse zur Ableitung von Gleichung 3.67Für einen kontinuierlichen Materialtransport ohne Akkumulationen muss gelten, dassjede zeitliche Änderung der Konzentration c im Volumen gleich dem Fluss durch die dasVolumen begrenzenden Einheitsflächen, P und P ′ , sein muss. Für die in Abbildung 3.48dargestellten Flussrichtungen bewirkt ein grösserer Fluss durch P ′ eine Verringerung derKonzentration und umgekehrt, sodass gilt:∂c∂t = −∂J ∂x(3.67)


142 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEME. Die Kombination mit den Gleichungen 3.65 bzw. 3.66 ergibt schlussendlich die Diffusionsgleichung∂c∂t = D · ∂2 c(3.68)∂x 2im eindimensionalen Fall bzw.∂c∂t= D · ∆c (3.69)für den dreidimensionalen Fall (∆ ist hier der Laplace-Operator, ∆ = ∂2 + ∂2 + ∂2 in∂x 2 ∂y 2 ∂z 2kartesischen Koordinaten).Wie kann die Beziehung zwischen dem in der Kontinuumstheorie eingeführten empirischenDiffusionskoeffizienten D (Gleichungen 3.65 und 3.69 bzw. deren dreidimensionale Varianten)und dem aus atomistischen Überlegungen abgeleiteten Ausdruck in Gleichung 3.63hergestellt werden? Diese Frage reduziert sich darauf, ob der in Gleichung 3.64 hergeleiteteZusammenhang zwischen dem Diffusionskoeffizienten und der in einer Zeit τ von einem Teilchenzurückgelegten Wegstrecke aus der Diffusionsgleichung abgeleitet werden kann. Dazugeht man von folgender Modellvorstellung aus: Im eindimensionalen Fall kann ein Teilchen,welches sich zu τ = 0 an der Position x 0 = 0 befindet, als δ-förmiges Konzentrationsprofilc(x, t) dargestellt werden:c(x, t = 0) = Q · δ(x − x 0 ) = Q · δ(x). (3.70)Eine Lösung der Diffusionsgleichung, welche diese Anfangsbedingung erfüllt, ist[ ]Q −x2c(x, t) =2 · √πDt · exp , (3.71)4Dtda man einerseits zeigen kann, dass[ ] []∂c(x, t)= D · ∂2 c(x, t) −x2Qx 2= exp ·∂t∂x 2 4Dt 8 √ πD 3/2 t − Q5/2 2 √ πDt 3/2(3.72)sowie andrerseits dass für auch für t → 0 gilt∫ ∞−∞c(x, t) · dx = Q, (3.73)was bedeutet, dass die Materialmenge Q (welche in unserem Fall immer dem Volumen deseinzelnen Teilchens entspricht), der Fläche unter der Konzentrationskurve entspricht und fürt = 0 im Punkt x = 0 konzentriert ist. Die aus Gleichung 3.72 resultierende Kurvenschar istein Satz von Gauß’schen Glockenkurven, deren Halbwertsbreite von t abhängt, wie Abbildung3.49 zeigt.Im Falle eines einzelnen Teilchens kann die Konzentrationsverteilung c(x, t) (ähnlich wiein der Quantenmechanik) als die Wahrscheinlichkeit interpretiert werden, zum Zeitpunkt t


3.5. DIFFUSION 143Abbildung 3.49: Graphische Darstellung der in Gleichung 3.71 gegebenen Funktion c(x, t)das Teilchen in einem Ortsintervall x + dx vorzufinden. Bezeichnet man diese Wahrscheinlichkeitmit p(x, t), so gilt[ ]Q2·√πDt · exp −x 2· dx4Dtp(x, t)dx =∞∫−∞wobei das Integral im Nenner sicherstellt, dass∫ ∞−∞Q2·√πDt · exp [ −x 24Dt] , (3.74)p(x, t) · dx = 1, (3.75)d. h., dass die Wahrscheinlichkeit, das Partikel irgendwo im ganzen Raum zu finden, gleicheins ist. Zur Berechnung des mittleren Abstandsquadrates, wie es in Gleichung 3.60 für dieunkorrelierte Zufallsbewegung auf einem quadratischen Gitter durchgeführt wurde, bildetman〈 〉 ∫ ∞∆x2= x 2 · p(x, t) · dx (3.76)−∞sowie den Bezie-und erhält aus Gleichungen 3.74 und 3.76 mit der Substitution ξ 2 = x2∞∫hungen exp(−ξ 2 ) · dξ = √ ∞∫π und ξ 2 · exp(−ξ 2 ) · dξ = √ π/2−∞−∞4Dt〈∆x2 〉 = 2Dt (3.77)in völliger Analogie zu Gleichung 3.64, wenn man von dem Faktor 2 absieht, um welchensich Gleichung 3.64 und Gleichung 3.77 unterscheiden. Dieser resultiert daraus, dass für die


144 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEBerechnung von 〈l 2 〉 in Gleichung 3.60 die direkte Verbindung vom Startpunkt des Teilchensbis zu seiner Position nach N Schritten im Mittel berechnet wurde, während das inGleichung 3.77 berechnete 〈∆x 2 〉 die Halbwertsbreiten der aus Gleichung 3.71 resultierendenGauß’schen Glockenkurven (Abbildung 3.49) repräsentiert.Der Diffusionskoeffizient D, welcher in der Diffusionsgleichung 3.68 bzw. 3.69 als empirischerParameter auftritt, konnte also über die Einsteinbeziehung mit mikroskopischenKenngrößen wie der Phononenfrequenz oder der Aktivierungsenergie für einen atomarenPlatzwechsel verbunden werden. Kennt man diese mikroskopischen Parameter, so lässt sichaus ihnen D berechnen und in weiterer Folge die Diffusionsgleichung für ein beliebigesanfängliches Konzentrationsprofil c(x 0 , t 0 ) lösen. Diese Kopplung von mikroskopischen Mechanismenan Kontinuumsgleichungen ist in der Materialphysik sehr häufig. Es ist nämlich,trotz extrem gestiegener Rechnerkapazitäten, immer noch unmöglich, das dynamische Verhaltenvon Systemen mit Teilchenzahlen N in der Größenordnung von N = 10 23 mittelsatomarer Modelle (Schrödingergleichung, Molekulardynamik) zu berechnen. Manchmal istes auch nicht möglich, direkt von einem atomistischen Modell zur Kontinuumsgleichungzu gelangen, sondern es müssen mehrere Zwischenmodelle aneinander gekoppelt werden,um den Brückenschlag von der atomaren Skala zum makroskopischen Materialverhalten zuermöglichen. Diese Methodik wird oft als hierarchischer Ansatz, mehrstufige <strong>Si</strong>mulation,oder, im Englischen, als ”Multilevel model“ bezeichnet.Im folgenden Abschnitt soll eine andere Kopplung zweier Modelle, nämlich der Diffusionsgleichungan die Phasendiagramme verschiedener Mehrstoffsysteme, besprochen werden.3.5.4 Diffusion und PhasendiagrammeDer einfachste Fall für das Ineinanderdiffundieren zweier Substanzen ist der eines Systems auszwei vollständig miteinander mischbaren Materialien, A und B. Analog wie bei der Herleitungder Kontinuitätsgleichung 3.67 betrachtet man zwei unendlich lange Halbvolumina, derenQuerschnitt der Einheitsfläche entspricht. Diese mögen bei x = 0 aneinanderstoßen. Zu t = 0sei Material A im linken Teilbereich konzentriert und Material B im rechten Teilbereich, wieAbbildung 3.50a schematisch zeigt.Abbildung 3.50: Schematische Darstellung eines Diffusionspaares aus den Reinmaterialien Aund B(a) experimentelle Anordnung(b) anfängliches Konzentrationsprofil


3.5. DIFFUSION 145Eine solche Anordnung wird Diffusionspaar (englisch: ”Diffusion Couple“) genannt. Abbildung3.50b zeigt die anfänglichen Konzentrationsprofile c A (x, t = 0) und c B (x, t = 0). Fürc A gelten die Anfangsbedingungenund für c B analogx < 0 : c A (x, t = 0) = 1, (3.78)x = 0 : c A (x, t = 0) = 0.5x > 0 : c A (x, t = 0) = 0sowiex < 0 : c B (x, t = 0) = 0, (3.79)x = 0 : c B (x, t = 0) = 0.5x > 0 : c B (x, t = 0) = 1.sowieUnter der Annahme, dass die Diffusionskoeffizienten in beiden Materialien gleich sind, sinddie Diffusionsströme von A → B und B → A gleich groß und entgegengesetzt. Daher ist esmöglich, sich auf ein Konzentrationsprofil zu beschränken. Im Folgenden soll daher nur c Abetrachtet werden.Die Lösung der Diffusionsgleichung unter der Anfangsbedingung 3.78 und 3.79 ergibt sichzu(wobei erfx2·√Dtc A (x, t) =( 12) [1 − erf( x2 · √Dt)die Gauss’sche Fehlerfunktion ist. Für erf(ξ) gilt:erf(ξ) =( ) ∫ ξ2√πerf(−ξ) = −erf(ξ)erf(∞) = 10)], (3.80)exp [ −η 2] dη, (3.81)Die in Gleichung 3.80 gegebene Lösung wurde aus dem Ansatz erhalten, dass sich das Verhaltenvon c A (x, t) aus der Überlagerung von Funktionen des <strong>Type</strong>s 3.71 ergibt. Dies entsprichteiner Ansammlung von Punktquellen des Materials A, welche sich im Bereich von x < 0befinden und zu t = 0 beginnen, gemäß Gleichung 3.71 zu ”zerfließen“. Mathematisch entsprichtdiese Vorgangsweise der Lösung der Diffusionsgleichung mit Hilfe der sogenanntenGreen’schen Funktion, welche durch 3.71 gegben ist.Das Verhalten von Gleichung 3.80 für verschiedene Werte von √ Dt ist in Abbildung 3.51gegeben.Aus Abbildung 3.51 ist ersichtlich, dass es nach einer hinreichend langen Zeit zu einervollständigen Durchmischung der beiden Komponenten kommt. Die Konzentrationen c A undc B haben sich im gesamten Material auf c A = c B = 0.5 eingestellt. Allerdings gilt, wie bereitserwähnt, dieser Lösungsansatz nur für vollständig mischbare Substanzen. Die <strong>Si</strong>tuation fürMaterialien, welche nur teilweise untereinander mischbar sind, wird im Folgenden behandelt.


146 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.51: Räumliches und zeitliches Verhalten des Konzentrationsprofiles c A (x, t)Ein typisches Phasendiagramm für ein teilweise mischbares Zweistoffsystem aus den MaterialienA und B ist in Abbildung 3.52(a) gegeben.B ist in A bei konstanter Temperatur T bis zu einer Gleichgewichtskonzentration c eqαβlöslich, A in B bis zu einer Gleichgewichtskonzentration c eqβα. Die A-reiche Phase wird alsα, die B-reiche Phase als β bezeichnet. Da α und β an den Grenzen des Phasendiagrammesliegen, werden sie als begrenzende Phasen“ (englisch Terminal Phases“) bezeichnet.” ”Dazwischen liegt der sogenannte Mischkristallbereich“, welcher gleichmäßig verteilte, wohl-”abgegrenzte Kristallite der Zusammensetzung c eqαβbzw. ceqβαenthält. Die Häufigkeitsverteilungdieser Kristallite stellt sich so ein, dass sich makroskopisch die Zusammensetzung der Materialkombinationergibt.Bildet man ein Diffusionspaar aus den Reinsubstanzen A und B, wie es in Abbildung3.52(b) schematisch dargestellt ist, und lässt man die beiden Substanzen bei einer TemperaturT , welche deutlich unterhalb der Schmelztemperaturen von A und B liegt (siehe Abbildung3.52(a)), ineinander diffundieren, so ergibt sich das in Abbildung 3.52(b) dargestellteKonzentrationsprofil. Als Konzentrationsvariable wurde die Konzentration der KomponenteB in A, c B , gewählt. In der Nähe der Grenzfläche stellen sich bei konstantem T sofortbzw. ceqβαein. Nach dem Verstreichen einer endlichenZeit, t 1 , dringt B immer tiefer in A ein und umgekehrt. Die Zusammensetzung innerhalbdes Eindringbereiches nähert sich immer mehr den Gleichgewichtskonzentrationen an. Nachunendlich langer Zeit bildet sich schlussendlich ein stufenförmiges Konzentrationsprofil aus.die Gleichgewichtskonzentrationen c eqαβDer Bereich des ursprünglichen Reinmateriales A weist die Zusammensetzung c eqαβauf, derdes ursprünglichen Reinmateriales B die Zusammensetzung c eqβα. Das gesamte Diffusionspaarwurde vollständig in die Phasen α und β umgesetzt. Die Grenzfläche zwischen α und βbefindet sich an der Position der ursprünglichen Grenzfläche zwischen A und B.Warum kommt es bei der Interdiffusion der beiden Substanzen nicht zur Ausbildung vonMischkristallbereichen? Nehmen wir an, dass sich in den ersten Phasen der Interdiffusionin der Nähe der Grenzfläche zwischen A und B ein Mischkristall aus den Phasen α und βbildet. Dann haben sowohl α als auch β ihre jeweiligen Gleichgewichtskonzentrationen bei


3.5. DIFFUSION 147Abbildung 3.52: Phasenbildung in einem Diffusionspaar teilweise miteinander mischbarerMaterialien A und B(a) Phasendiagramm(b) Phasenbildung im Diffusionspaar zu verschiedenen ZeitpunktenT , c eqαβbzw. ceqβα. Das bedeutet, dass im Mischkristallbereich alle Konzentrationsgradientenverschwinden und ein weiterer Materialtransport durch Diffusion aus den Reinmaterialien unterbundenwird. Es kann nur mehr Material aus dem Mischkristallbereich in den A(B)-armenBereich des Diffusionspaares abgeführt werden, da dort die einzigen Konzentrationsgradientenauftreten. Durch den unterbundenen Materialnachschub aus den Reinbereichen passiertdas so lange, bis der Mischkristallbereich verschwunden ist. Kurz gesagt ist ein Mischkristallbereichunter den gegebenen Randbedingungen der Diffusionsgleichung instabil.Die <strong>Si</strong>tuation ändert sich, wenn im Phasendiagramm eine sogenannte intermediäre Phase“(englisch: Intermediate Phase“) existiert, wie es in Abbildung 3.53(a) dargestellt ist.””Die zwischen den begrenzenden Phasen α und β bei T stabile Phase ist in Abbildung3.53(a) mit γ bezeichnet. Bei Bildung eines Diffusionspaares aus A und B bei einer konstantenTemperatur T zeigt das in Abbildung 3.53(b) dargestellte Konzentrationsprofil (wiederumfür c B ) sofort, dass innerhalb der Phase γ ein Konzentrationsgradient zwischen c eqγα undc eqγβexistiert. Es wird daher, im Gegensatz zum vorher besprochenen Fall des Mischkristallbereiches,immer ein Materialtransport über einen endlichen Bereich der γ-Phase möglich


148 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.53: Phasenbildung in einem Diffusionspaar teilweise miteinander mischbarerMaterialien A und B mit einer intermediären Phase γ(a) Phasendiagramm(b) Phasenbildung im Diffusionspaarsein. Weiters sagt das Phasendiagramm aus, dass die Existenz der γ-Phase thermodynamischgünstiger ist als die Existenz eines Mischkristalles. Bei konstantem T und konstantemDruck p ist dieses Faktum durch einen Unterschied in den chemischen Potentialen zwischenα und γ, ∆µ αγ bzw. zwischen β und γ, ∆µ βγ beschreibbar. Mikroskopisch bedeutet das, dassdie Bindungsenergie der intermediären Phase größer ist als die Summe aller Bindungsenergienim Mischkristall. Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, dass die intermediäreγ-Phase auf Kosten der begrenzenden Phasen α und β, ausgehend von der ursprünglichenGrenzfläche zwischen A und B im Diffusionspaar, zu wachsen beginnt. Die ursprünglicheGrenzfläche wird dabei vollständig verschwinden und es werden sich zwei bewegliche Grenzflächenzwischen α und γ sowie γ und β ausbilden (Abbildung 3.53(b)). Bezeichnet mandie zeitabhängige Dicke der γ-Phase mit ξ(t), so führt eine detaillierte Betrachtung derthermodynamischen Verhältnisse (welche hier nicht wiedergegeben werden soll) zu dem inAbbildung 3.54 dargestellten Verhalten.Abbildung 3.54 zeigt, dass das Wachstum der γ-Phase in zwei verschiedenen Regimenstattfindet:


3.6. ENTMISCHUNGSVORGÄNGE 149Abbildung 3.54: Zeitliches Verhalten der Dicke der γ-Phase, ξ(t)Reaktionskontrolliertes Wachstum für kleines t: Die Wachstumsrate dξ(t) ist konstant.dt<strong>Si</strong>e ist durch die Geschwindigkeit der chemischen Reaktion an den Grenzflächen zwischenα und γ bzw. γ und β bestimmt. Die γ-Phase ist noch dünn genug, sodass die Dauer desMaterialtransportes durch γ noch keine Rolle spielt. ξ(t) wächst daher linear.Diffusionskontrolliertes Wachstum für großes t: Die Wachstumsrate dξ(t) ist durch diedtGeschwindigkeit des Materialtransportes durch γ bestimmt. Da dieser durch Diffusion erfolgt,ergibt sich für ξ(t) der für diffusive Prozesse typische Verlauf von ξ(t) ∝ √ t (siehe z.B.Abbildung 3.51: Die Halbwertsbreite der Lösungsfunktionen steigt mit √ t).Die hier beschriebenen Phasenbildungsmechanismen kommen in der mikroelektronischenProzessführung z.B. bei der Herstellung von Oxid- bzw. <strong>Si</strong>lizidschichten definierter Dickedurch kontrollierte Diffusionsprozesse zum Einsatz.Die Kombination von Phasendiagrammen und Diffusionsprozessen hat gezeigt, dass derMaterialtransport durch Diffusion, welcher eigentlich zum Abbau von Konzentrationsgradientenführen sollte, durchaus zur Ausbildung von scharf abgegrenzten Regionen innerhalbeines Materiales führen kann. Wesentlich für diesen Vorgang ist der Unterschied in den Bindungsverhältnissenfür verschiedene Phasen, wie er im vorhergegangenen Abschnitt thermodynamischdurch die Differenz der chemischen Potentiale beschrieben wurde. Im Folgendensollen die Vorgänge, welche zur Phasentrennung in Mehrstoffsystemen führen, genauer betrachtetwerden.3.6 Entmischungsvorgänge3.6.1 EinleitungOft führt die Wahl der Herstellungsparameter von Mehrstoffsystemen dazu, dass das Materialanfangs nicht in seiner Gleichgewichtsform vorliegt. So ist es z.B. möglich, durch rapidesErstarren aus der Schmelze in einem Zweistoffsystem eine atomare Anordnung ”einzufrie-


150 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEren“, bei der eine Komponente völlig ungeordnet in der anderen verteilt ist, obwohl derGleichgewichtszustand ein Mischkristall aus den begrenzenden Phasen α und β wäre, wie esvorher besprochen wurde. Bei einer endlichen Temperatur wird das Material daher nicht stabilsein, sondern diffusive Transportvorgänge werden in einer endlichen Zeit zur Ausbildungdes Gleichgewichtszustandes führen.Technologisch ist die Kontrolle dieser Annäherung an den Gleichgewichtszustand sehrwichtig. So kann zum Beispiel durch eine entsprechende Temperaturbehandlung die Kristallitgrößedes Mischkristalles beeinflusst werden. Hohes T bewirkt eine rasche Kristallitbildung.Ist die gewünschte Kristallitgröße erreicht, wird T abgesenkt und der so erreichte Zustand eingefroren.Das Material ist dann zwar immer noch nicht stabil, aber einerseits wesentlich näheran seiner Gleichgewichtskonfiguration während andererseits die weitere Phasenumwandlungz.B. bei Raumtemperatur wesentlich langsamer vor sich geht. Die Phasentrennung kann überzwei Basismechanismen geschehen, welche im Folgenden besprochen werden sollen.3.6.2 NukleationWie bereits erwähnt, ist es möglich, eine unmischbare Materialkombination in einem Zustandzu präparieren, in dem die beiden Komponenten ungeordnet ineinander verteilt sind. Einesolche <strong>Si</strong>tuation ist in Form des Phasendiagrammes eines völlig unmischbaren ZweistoffsystemsA und B in Abbildung 3.55 dargestellt.Abbildung 3.55: Phasendiagramm einer völlig unmischbaren Materialkombination. Weit vomthermodynamischen Gleichgewicht präparierte Materialien werden sich in einen Mischkristallaus A- und B-Kristalliten entmischenAus Abbildung 3.55 ist ersichtlich, dass keine begrenzenden Phasen existieren. Der Mischkristallin der Region A + B des Phasendiagrammes wird im Gleichgewicht aus wohl abgegrenzten,kristallinen Bereichen der Komponente A und der Komponente B bestehen. Fürden Fall c B = 0.2, wie er in Abbildung 3.55 gewählt wurde, sind der Anfangszustand undder Endzustand des Materiales in Abbildung 3.56 dargestellt.Abbildung 3.56(a) zeigt die zufällige Verteilung der Minoritätskomponente B in der MajoritätskomponenteA. Dies entspricht einer übersättigten Lösung von B in A. Abbildung


3.6. ENTMISCHUNGSVORGÄNGE 151Abbildung 3.56: Ausscheidungsbildung in einer unmischbaren Materialkombination A (hell)und B (dunkel). A ist die Majoritätskomponente (Matrix); c B beträgt 0.2(a) Ungeordnete Verteilung der beiden Komponenten(b) Bildung einer Ausscheidung der Minoritätskomponente B3.56(b) zeigt die Bildung einer Ausscheidung von B in der Matrix A, wie sie dem oben beschriebenenGleichgewichtszustand des Systems entspricht. Die Umverteilung der einzelnenAtome von der zufälligen Mischung zur Ausscheidung wird durch die vorher beschriebenenDiffusionsmechanismen wie z. B. leerstellenunterstützte Festkörperdiffusion ermöglicht. <strong>Si</strong>ekann, je nach gewählter Temperatur, sehr rasch oder auch sehr langsam vor sich gehen. Allerdingsist die reine Ansammlung von Teilchen durch Diffusion noch nicht der vollständigeMechanismus der Ausscheidungsbildung.Für eine kugelförmige Ausscheidung mit dem Radius r, ist bei konstantem Druck p undkonstanter Temperatur T die Differenz der freien Enthalpie G zwischen einer übersättigtenLösung von n Teilchen und einer Ausscheidung, welche n Teilchen enthält, gegeben durch∆G n = 4 3 πr3 · (G V ol − G Sol ) + 4πr 2 · σ AB . (3.82)Dabei beinhaltet der erste, zum Kugelvolumen proportionale Term in Gleichung 3.82 denEnergiegewinn beim Übergang von n gelösten Teilchen zu einem n-Teilchen-Aggregat. Mikroskopischentspricht das der Absättigung chemischer Bindungen zwischen B und B imVolumen der Ausscheidung. Unter der oben getroffenen Voraussetzung einer übersättigtenLösung ist die freie Enthalpie der Lösung, G Sol , immer größer als die der Ausscheidung, G V ol ,und der erste Term ist immer negativ. Würde nur dieser Term in die Enthalpiedifferenz eingehen,so wäre die Bildung beliebig großer Ausscheidungen immer energetisch günstiger alsdie übersättigte Lösung.Allerdings ist die Bildung jeder Ausscheidung einer endlichen Größe auch mit der Ausbildungeiner Grenzfläche zwischen A und B verbunden. Die Schaffung einer Grenzfläche istimmer mit dem Aufbringen einer bestimmten Grenzflächenenergie σ AB [J/m 2 ] verbunden.Mikroskopisch entspricht dies mit dem Vorhandensein nicht abgesättigter Bindungen zwischender Ausscheidung und der Matrix. σ AB ist immer positiv. Dies entspricht dem zweiten,zur Kugeloberfläche proportionalen Term in Gleichung 3.82.Der Gesamtverlauf von ∆G n in Abhängigkeit von r ergibt sich daher zu der in Abbildung3.57 gezeigten Funktion.


152 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.57: Verlauf der freien Enthalpie für eine kugelförmige Ausscheidung. ∆G ∗ n. . . Aktivierungsbarriere, r ∗ . . . kritischer Keimradius.Aus Gleichung 3.82 ist ersichtlich, dass ∆G n ein Maximum beir ∗ = −2 · σ AB(G V ol − G Sol )(3.83)hat. r ∗ wird als kritischer Keimradius bezeichnet. Der Wert des Maximums, ∆G n (r ∗ ), ergibtsich zu∆G ∗ 16πσAB3n =3 · (G V ol − G Sol ) , (3.84)2was der Höhe der Aktivierungsbarriere zur Keimbildung entspricht. Hat die Ausscheidungeinen Radius r < r ∗ , so bewirkt eine weitere Reduktion von r durch Teilchenverlust eineVerringerung von ∆G n . Die Ausscheidung wird daher mit hoher Wahrscheinlichkeit zerfallen.Für Radien r > r ∗ bewirkt ein wachsendes r durch Hinzufügen von Teilchen allerdingsebenfalls eine Verringerung von ∆G n . Es ist daher für die Ausscheidung energetisch günstigerzu wachsen. Diese beiden <strong>Si</strong>tuationen sind schematisch in Abbildung 3.58 dargestellt.Ausscheidungen mit Radien r < r ∗ werden als unterkritisch oder instabil bezeichnet,Ausscheidungen mit Radien r > r ∗ als überkritisch oder stabil. Beobachtbar sind in derRegel nur überkritische Ausscheidungen.Die Ausscheidungsbildung über den Weg des kritischen Keimes, auch genannt kritischerNukleus, wird als Nukleation bezeichnet. <strong>Si</strong>e ist, wie die vorher besprochenen Diffusionssprünge,ein thermisch aktivierter Prozess. Die Anzahl N n der n-Teilchen-Ausscheidungen,welche sich aus einer übersättigten Lösung – die N Teilchen beinhaltet – bilden, ist daherim Gleichgewicht durch[ ] −∆GnN n = N · exp(3.85)k B Tgegeben. Für stabile Ausscheidungen (∆G n < 0) bedeutet Gleichung 3.85, dass die steigendeTemperatur zu einer Verringerung der Ausscheidungszahl führt. Die Zahl instabiler


3.6. ENTMISCHUNGSVORGÄNGE 153Abbildung 3.58: Definition des kritischen Keimes: Ausscheidungen mit r < r ∗ tendieren zumZerfall, bei Ausscheidungen mit r > r ∗ führt weiteres Wachstum zur Verringerung von ∆G nAusscheidungen (∆G n > 0) steigt laut Gleichung 3.85 mit steigender Temperatur. Dies istdadurch zu erklären, dass mit steigendem T immer mehr Diffusionsprozesse aktiviert werdenund die Teilchen der Minoritätskomponente sich öfter pro Zeiteinheit treffen können unddaher eine instabile Ausscheidung bilden. Diese kann jedoch, ebenfalls durch die erhöhteTeilchenbeweglichkeit, auch leichter wieder zerfallen, die Bildung stabiler Ausscheidungenwird also erschwert. Daher nimmt die Anzahl der stabilen Ausscheidungen im Volumen (dieAusscheidungsdichte) generell mit steigender Temperatur ab.Der soeben besprochene Prozess der Ausscheidungsbildung stellt den Fall der sogenanntenhomogenen Nukleation dar. Das System enthält keinerlei Defekte und die Ausscheidungsdichtehängt bei konstantem T nur von ∆G ∗ und von r ∗ ab. Unter diesen Idealbedingungenergeben sich allerdings extrem geringe Ausscheidungsdichten, da die Übersättigung meistnicht hoch genug ist, um hohe Werte von G V ol − G Sol zu ergeben. Laut Gleichungen 3.83und 3.84 ergeben sich dadurch hohe kritische Keimradien und hohe Aktivierungsbarrieren.Diese Kombination führt dazu, dass homogene Nukleation im Volumen kaum beobachtetwird.Die <strong>Si</strong>tuation ändert sich drastisch, sobald das Zweistoffsystem Störstellen beinhaltet,wie dies z. B. in Abbildung 3.59 dargestellt ist.Abbildung 3.59: Heterogene Nukleation einer Ausscheidung von B an einer Korngrenze zwischezwei Kristalliten der Komponente A.Abbildung 3.59 zeigt eine Korngrenze zwischen zwei Kristalliten des Materiales A, ander sich ein kugelkalottenförmiger Keim (Radius r) der Minoritätskomponente B bildet. Jenachdem, wie gut B die von der Korngrenze gebildete Grenzfläche benetzt, wird der Wert


154 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEvon ∆G ∗ n gemäß der Beziehung∆G ∗ n =16πσAB33 · (G V ol − G Sol ) · 2 − 3cosθ + cos3 θ2 8(3.86)modifiziert. Der Wert des in Abbildung 3.59 gegebenen Kontaktwinkels θ wird durch dasGleichgewicht der Grenzflächenenergien σ AA und σ AB bestimmt. Je kleiner θ ist, desto besserwird die Korngrenze benetzt und desto geringer ist laut Gleichung 3.86 die Aktivierungsenergiezur Bildung des kritischen Keimes, da 2−3cosθ+cos3 θ→ 0 für θ → 0. Der kritische Keimradius,r ∗ , wird nicht beeinflusst. Gleichung 3.86 zeigt, dass die Anwesenheit von Störungen8wie z. B. Korngrenzen, Verunreinigungen aus Spurenelementen oder auch Anhäufungen vonLeerstellen ( Bläschen“ oder englisch Voids“) zu einer signifikanten Reduktion der Aktivierungsenergiezur Bildung des kritischen Keimes und damit zu einer wesentlichen Steigerung” ”der Ausscheidungsdichte führen kann. Die Bildung von Ausscheidungen erfolgt daher bevorzugtan Störstellen. Dieser Prozess wird als heterogene Nukleation bezeichnet.Homogene und Heterogene Nukleation lassen sich anhand des Verhaltens der Ausscheidungsdichte,n Aus , mit der Zeit bei konstanter Temperatur unterscheiden. Erfolgt die Nukleationan Störstellen, so haben sich bereits nach sehr kurzer Zeit alle kritischen Keime gebildet,danach bleibt n Aus konstant. Bei homogener Nukleation bilden sich hingegen ständig neueKeime, n Aus steigt linear mit der Zeit an, so lange bis n Aus so groß ist, dass alles gelösteMaterial immer eine stabile Ausscheidung erreicht und n Aus damit ebenfalls konstant wird.Dieses Verhalten ist in Abbildung 3.60 dargestellt.Abbildung 3.60: Abhängigkeit der Ausscheidungsdichte n Aus von der Zeit für homogene undheterogene Nukleation. Beide Kurven sind auf die Sättigungsausscheidungsdichte normiert.Das Verhalten der Ausscheidungsdichte mit der Temperatur hat eine wichtige technologischeBedeutung. Geht man davon aus, dass jede Ausscheidung bei einem fixen T in etwadie gleiche Teilchenzahl n enthält, so ist n Aus im Wesentlichen durch Gleichung 3.85 gegeben.Nach hinreichend langer Zeit geht, wie vorher gezeigt, n Aus sowohl für homogene alsauch für heterogene Nukleation in einen Sättigungswert über. Trägt man diesen Wert vonn Aus in Abhängigkeit von T auf, so ergibt sich lt. Gleichung 3.84 der in Abbildung 3.61(a)dargestellte funktionale Zusammenhang.


3.6. ENTMISCHUNGSVORGÄNGE 155Abbildung 3.61: Abhängigkeit der Ausscheidungsdichte von der Temperatur lt. Gleichung3.85. Die vollen Quadrate symbolisieren (hypothetische) Messwerte für die Ausscheidungsdichte,die durchgezogenen Kurven können im Experiment durch einen Fit an die Messwertegewonnen werden.(a) Verhalten von n Aus über T(b) Verhalten von ln(n Aus ) über 1 TTrägt man ln(n Aus ) über 1 auf, so ergibt sich ein linearer Zusammenhang (AbbildungT3.61(b)). Aus der Steigung der Gerade in diesem sogenannten Arrhenius-Diagramm lässtsich ∆G ∗ n bestimmen, da ja jede beobachtbare stabile Ausscheidung aus einem kritischenKeim hervorgegangen sein muss.Für das unmischbare Zweistoffsystem A/B wird es immer (abgesehen von c = 0.5) eineMajoritäts- und eine Minoritätskomponente geben. Der Gleichgewichtszustand, welcher sichnach der Entmischung einstellt, wird also immer die Form von in einer Matrix dispergiertenAusscheidungen haben, sofern der Entmischungsprozess über Nukleation vor sich geht undkeine intermediären Phasen existieren. Ein Reinmaterial kann jedoch, wenn es im amorphenZustand hergestellt wurde, bei einer endlichen Temperatur rekristallisieren. Dabei wird dieamorphe Phase des Materials vollständig in die kristalline Phase umgesetzt. Bezeichnet manmit c Crys das Verhältnis der Teilchenzahl in der kristallinen Phase, N Crys , zur Gesamtzahlder Teilchen, N, c Crys = N Crys, so ergibt sich folgende empirische Beziehung für c NCrys:c Crys = 1 − exp [− (k ∗ · t) ν ] . (3.87)Dabei ist k ∗ eine Konstante, welche von der Geschwindigkeit der Umwandlung abhängt,während ν von den Details der Entstehung der kritischen Keime, von deren Wachstumsmechanismus(diffusionskontrolliert oder reaktionskontrolliert) sowie von deren Form abhängt.Die mathematische Beziehung in Gleichung 3.87 wid als Johnson-Mehl-Avrami Verhaltenbezeichnet und ist für verschiedene Werte von ν in Abbildung 3.62 dargestellt.<strong>Si</strong>e kann nicht nur auf Rekristallisationsprozesse, sondern z. B. auch auf chemische Reaktionen,bei denen eine homogene Mischung von Ausgangssubstanzen in ein stöchiometrischesEndprodukt umgesetzt wird, angewendet werden.Entmischung über Nukleation ist nicht der einzige Prozess der Phasentrennung. In be-


156 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.62: Johnson-Mehl-Avrami Kurven für verschiedene Werte von ν. Dass sich alleKurven in einem Punkt schneiden, beruht auf der Tatsache, dass k ∗ = 1 gewählt wurde.stimmten <strong>Si</strong>tuationen ist das System so instabil, dass es zur spontanen Phasentrennung ohneAktivierungsenergie kommt, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird.3.6.3 Spinodale EntmischungBetrachtet man die freie Enthalpie eines Zweistoffsystems, so ergibt sich oft die in Abbildung3.63(a) dargestellte <strong>Si</strong>tuation.Abbildung 3.63: Bereiche der verschiedenen Entmischungsmechanismen in Abhängigkeit vonder freien Enthalpie. Bereich I: Mischbarkeit; Bereich II: Entmischung durch Nukleation;Bereich III: spinodale Entmischung(a) Verhalten der Freien Enthalpie in Abhängigkeit von c B bei konstantem T(b) Abhängigkeit des Entmischungsmechanismus von c B und TAbbildung 3.63(a) zeigt die Variation von G mit zunehmendem c B für eine konstanteTemperatur T . Es ergeben sich 3 Bereiche:


3.6. ENTMISCHUNGSVORGÄNGE 157• Bereich I: In diesem Bereich sinkt G monoton ab, die beiden Materialien sind ineinanderlöslich.• Bereich II: G steigt monoton an, die Krümmung von B (veranschaulicht durch die eingezeichneteParabel) ist allerdings positiv. Das System neigt zwar zur Entmischung,ist aber auf Grund der positiven Krümmung stabil gegen kleine Fluktuationen. Diesist jener Bereich, in dem die vorher besprochene klassische Nukleationstheorie ihreGültigkeit hat. Entmischung tritt erst bei Überwinden einer bestimmten Aktivierungsenergieauf.• Bereich III: G steigt immer noch monoton an, die Kurve hat allerdings den Wendepunkt,d2 G= 0, überschritten, und die Krümmung von G wird negativ. In diesemdc 2 BBereich führt jede noch so geringe Konzentrationsfluktuation zur spontanen Entmischungdes Systems. Es muss keine Aktivierungsenergie überwunden werden.Dieselben Bereiche ergeben sich, in Abbildung 3.63(a) von rechts nach links gelesen, fürdie Beimengung von A zu B. Schematisch sind die verschiedenen oben besprochenen Bereichein Abhängigkeit von c B und T in Abbildung 3.63(b) dargestellt.Jene Schar von c, T -Paarungen, für die gilt d2 G< 0, wird als Spinodale bezeichnet.dc 2In diesem Parameterfeld ist, wie bereits erwähnt, das Zweikomponentensystem instabil gegeninfinitesimale Konzentrationsschwankungen und entmischt sich spontan. Naturgemäß istauch dieser Vorgang mit der Bildung von Grenzflächen zwischen den einzelnen Komponentenverbunden, die Form ( Morphologie“) der Ausscheidungen ist jedoch völlig unterschiedlich”zu jener der klassischen Nukleationstheorie, wie Abbildung 3.64 zeigt.Abbildung 3.64: Ausscheidungsmorphologien der verschiedenen EntmischungsmechanismenWährend bei der Entmischung durch Nukleation die Grenzflächen der Ausscheidungenimmer nach außen gekrümmt sind (Abbildung 3.64(a)), so zeigt sich bei spinodaler Entmi-


158 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEschung eine labyrinthartige Struktur, in der positive und negative Krümmungen der Grenzflächenmiteinander abwechseln (Abbildung 3.64(b)). Da die freie Energie einer Grenzflächeauch von deren Krümmung abhängt, ergibt sich aus Abbildung 3.64(b) zumindest qualitativ,dass der Grenzflächenbeitrag bei der spinodalen Entmischung nur eine untergeordnete Rollespielt.Der mathematische Formalismus zur detaillierten Beschreibung spinodaler Entmischungist relativ komplex und soll daher hier nicht weiter beschrieben werden. Beobachtet wird spinodaleEntmischung hauptsächlich für Polymermischungen (sogenannte ”Polymer Blends“),wo die besondere Phasenverteilung, wie sie Abbildung 3.64(b) zeigt, zu interessanten Materialeigenschaftenführt.3.7 Oberflächen und Grenzflächen3.7.1 EinleitungIn den vorhergehenden Abschnitten wurde die Bedeutung von Grenzflächen und deren Einflussauf die Phasenbildung in Mehrstoffsystemen offensichtlich. Im Sprachgebrauch existierenzwei Begriffe, nämlich ”Oberfläche“ und ”Grenzfläche“, welche im Folgenden genauerdefiniert werden sollen:• Oberfläche: Als Oberfläche bezeichnet man die Grenzfläche zwischen einem Festkörperoder einer Flüssigkeit mit der Umgebung. Der Begriff ”Umgebung“ ist hier bewusstnicht näher definiert. So kann die ”Umgebung“ z. B. Vakuum, eine saubere und trockeneAtmosphäre oder feuchtigkeits- und salzhaltige, hochkorrosive Meerluft sein.• Grenzfläche (englisch: Interface“): Als Grenzflächen werden alle Phasengrenzenzwischen Festkörper/Festkörper, Festkörper/Flüssigkeit, Festkörper/Gas,”Flüssigkeit/Flüssigkeit sowie Flüssigkeit/Gas bezeichnet. Man sieht aus dieserDefinition sofort, dass der Begriff Oberfläche“ eigentlich eine Untermenge des”Begriffes Grenzfläche“ darstellt. Daher soll im Weiteren möglichst häufig der Begriff”Grenzfläche“ verwendet werden.”In der Zeit ab etwa 1970 hat sich die Physik der Grenzflächen als wesentlicher Bestandteilder Festkörperphysik etabliert. Ein rapides Wachstum entwickelte die Grenzflächenphysikmit der Entdeckung und sukzessiven Verfeinerung von Rastersondentechniken wie dem Rasterelektronenmikroskop(SEM), Rastertunnelmikroskop (STM) und dem Rasterkraftmikroskop(AFM). Eine Verlangsamung dieses Wachstumsprozesses ist nicht abzusehen, da immerneue technologische Anwendungen von Oberflächenprozessen gefunden werden. Es istdaher nicht möglich, einen kurzen und vollständigen Überblick über alle Phänomene undAnwendungen zu geben, welche im Zusammenhang mit Grenzflächen stehen. Daher sollenim Folgenden nur die elementarsten Grundlagen sowie ausgewählte technologische Aspektevon Grenzflächenphänomenen besprochen werden.


3.7. OBERFLÄCHEN UND GRENZFLÄCHEN 1593.7.2 Grundlagen der GrenzflächenphysikEinen einfachen, anschaulichen Fall einer Grenzfläche stellt die Phasengrenze zwischen einerFlüssigkeit und einem Gas dar. Das System kann noch weiter reduziert werden, wenn anstattdes Gases Vakuum angenommen wird. In diesem Fall sind die Moleküle im Volumender Flüssigkeit in allen Raumrichtungen von benachbarten Molekülen isotrop umgeben. Imzeitlichen Mittel wirken aufgrund der Isotropie keine Kräfte auf ein einzelnes Molekül. An derOberfläche der Flüssigkeit ist die <strong>Si</strong>tuation anders, da in Richtung der Oberflächennormalekeine nächsten Nachbarn vorhanden sind. Um ein Molekül aus dem Volumen an die Oberflächezu befördern und damit die Oberfläche um einen Betrag dA zu vergrößern, muss eineEnergie vondE = σ · dA (3.88)aufgewendet werden. σ ist die sogenannte Oberflächen- oder Grenzflächenenergie, wie siebereits im Rahmen der Nukleationstheorie eingeführt wurde. Ihre Dimension ist die einerEnergie [ pro Fläche beziehungsweise einer Kraft pro Länge, ihre Einheit daher entwederJ] [m oder N] 2 m . Befindet sich die Flüssigkeit im schwerelosen Raum, so kann das Oberflächen/Volumsverhältnisminimiert werden, wodurch die Flüssigkeitstropfen kugelförmigeGestalt annehmen.Tritt ein Flüssigkeitstropfen mit einer Festkörperoberfläche in Wechselwirkung, so ergebensich die in Abbildung 3.65(a-c) gezeigten Idealsituationen.Abbildung 3.65: Benetzung einer Festkörperoberfläche mit einer Flüssigkeit. S: Festkörper;F: Flüssigkeit; U: Umgebung(a) Völlige Unbenetzbarkeit(b) Teilweise Benetzbarkeit(c) Vollständige Benetzung (Spreiten)Diese stellen die drei Grenzsituationen der Benetzbarkeit einer Festkörperoberfläche durchdie Flüssigkeit dar:• völlige Unbenetzbarkeit (Abbildung 3.65(a)): Die Flüssigkeit bildet kugelförmigeTröpfchen und perlt von der Oberfläche ab;


160 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEME• teilweise Benetzbarkeit (Abbildung 3.65(b)): Die Grenzflächenspannungen zwischenFestkörper und Umgebung, σ SU , Festkörper und Flüssigkeit, σ SF sowie Flüssigkeit undUmgebung, σ F U bilden ein Kräftegleichgewicht gemäss der Young’schen Gleichung,σ SU = σ SF + σ F U · cos θ. (3.89)Flüssigkeit und Festkörperoberfläche schließen einen definierten Kontaktwinkel θ ein,welcher kleiner oder größer als 90 ◦ sein kann. Dieser Zusammenhang kann einerseitszur Bestimmung von Festkörpergrenzflächenenergien verwendet werden, andererseitsist er die Grundlage für Phänomene wie z. B. Kapillarität, welche breite technologischeAnwendung finden.• vollständige Benetzbarkeit (Abbildung 3.65(c)): Der Kontaktwinkel tendiert gegen Null,die Flüssigkeit breitet sich vollständig über den Festkörper aus, bis sich ein monomolekularerFlüssigkeitsfilm bildet. Dieser Vorgang wird als Spreiten bezeichnet.Zur Definition der Grenzflächenenergie von Festkörpern kann folgendes einfaches Gedankenmodellverwendet werden. Man betrachtet zunächst einen homogenen Festkörper.Sodann wird der Festkörper entlang einer Fläche A in zwei Hälften geteilt. Dabei muss einebestimmte Anzahl von Atombindungen getrennt werden. Jene Energie, welche zur Trennungdieser Bindungen aufgewendet werden muss, ist die Grenzflächenenergie σ des Festkörpers.Im Gegensatz zur Grenzflächenenergie einer Flüssigkeit, welche räumlich isotrop ist, hängtjedoch die Grenzflächenenergie eines kristallinen Festkörpers von der Schnittrichtung ab, wieAbbildung 3.66(a) schematisch zeigt.Trägt man σ über dem Schnittwinkel θ auf, so ergibt sich der in Abbildung 3.66(b)dargestellte sogenannte ”Wulff-Graph“ (englisch: ”Wulff-Plot“). Im Falle eines einatomigenKristalles mit einem Symmetriezentrum kann er in zwei Dimensionen dargestellt werden undbesteht aus einer Schar von Kreisen, welche durch den Ursprung des Koordinatensystemsführen. Die äußersten Punkte dieser Figur bilden den Wulff-Graph (Abbildung 3.66(b)). WieAbbildung 3.66(b) zeigt, gibt es also Schnittebenen mit minimaler Grenzflächenenergie, welchebesonders stabil sind sowie mit maximaler Grenzflächenenergie, welche nur eine geringeStabilität aufweisen. So hat z. B. ein Kristall, welcher von Oberflächen mit geringem σ begrenztist, einen höheren Schmelzpunkt, während der Schmelzprozess bei Kristallen mit hochenergetischenGrenzflächen früher einsetzt. Dieser Prozess wird als ”Oberflächenschmelzen“bezeichnet.Durch die kristalline Struktur des Festkörpers weisen Festkörpergrenzflächen immer eineendliche Dicke auf, welche durch die Begriffe Korrugation oder Rauhigkeit beschriebenwerden kann. Selbst ideale Oberflächen mit minimalem σ weisen atomare Korrugationenauf und enthalten eine große Zahl von Defekten wie z. B. Leerstellen, Stufen oder Inselnaus Leerstellen oder adsorbierten Atomen. Auch innere Grenzflächen in Festkörpern wie z.B. Korngrenzen sind reich an Fehlstellen und weisen eine endliche Dicke auf. Grenzflächensind daher nicht als ideale Objekte mit verschwindender Ausdehnung in einer Richtung, sonderneigentlich als eigene Phasen zu betrachten. Damit muss selbst ein Reinmaterial, welchesnaturgemäß immer eine Oberfläche hat, eigentlich als Zweiphasensystem aus Festkörper


3.7. OBERFLÄCHEN UND GRENZFLÄCHEN 161Abbildung 3.66: Abhängigkeit von σ von der Schnittrichtung im Kristall(a) Gebrochene Bindungen (symbolisiert durch Kreuzchen) für ein zweidimensionales quadratischesGitter für verschiedene Schnittrichtungen.(b) Wulff-Plot für σ für einen kubischen Kristall. Man beachte, dass der Winkel θ nichtmit dem Winkel in (a) übereinstimmt. Außerdem ist der Wulff-plot in diesem Fall eigentlicheine dreidimensionale Figur.und Oberflächenphase betrachtet werden. In völliger Analogie zu den Phasendiagrammen inMehrstoffsystemen können auch für einen Festkörper mit inneren und äußeren GrenzflächenPhasendiagramme entwickelt werden. Diese geben z. B. Auskunft über die thermodynamischeStabilität oder über die chemische Reaktivität bestimmter Grenzflächentypen.Eine weitere Eigenschaft aller Arten von Festkörpergrenzflächen ist die Möglichkeit, dassdort wesentlich mehr Diffusionsprozesse aktiviert werden können als im Festkörpervolumen.Im Volumen treten de facto nur die leerstellenunterstützte Diffusion, wie sie bereits besprochenwurde, und die Diffusion von gelösten Atomen, welche sich auf Zwischengitterplätzenbefinden (z. B. C in Fe) auf. An einer Grenzfläche können hingegen eine Vielzahl konkurrierenderDiffusionsmechanismen existieren, wie einige in Abbildung 3.67 dargestellt sind.Zwar sind auch hier die diffusiven Einzelereignisse thermisch aktiviert und folgen daherden bereits besprochenen Mechanismen, allerdings liegen die Aktivierungsenergien manchmaldeutlich unter denen für Volumsdiffusion. Daher fungieren innere Grenzflächen wie z. B.Korngrenzen häufig als bevorzugte Diffusionspfade in Festkörpern. Durch die hohe Anzahlvon Fehlstellen und die Vielzahl aktivierbarer Diffusionsmechanismen geht der Materialtransportdort viel rascher vonstatten als es für Volumsdiffusion zu erwarten wäre. Der Einflussvon Grenzflächen auf Nukleationsprozesse durch die Herabsetzung der Aktivierungsenergienfür die Ausscheidungsbildung wurde bereits erwähnt.


162 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEAbbildung 3.67: Verschiedene Diffusionsmechanismen an Grenzflächen(a) Migration von adsorbierten Einzelatomen(b) Eindringen eines Adsorbates in die Oberfläche unter Verdrängung eines Oberflächenatomes.Das Oberflächenatom wird zu einem Adsorbat(c) Eindringen eines Atomes in eine Inselkante. Die Insel vergrößert sich, ihr Schwerpunktbewegt sich(d) Anlagerung eines Adsorbates an eine Insel(e) Migration eines Punktdefektes(f) Ein Atom verlässt eine Inselkante(g) Anlagerung eines Einzelatomes an eine Inselkante; das Atom befand sich vormals aufder InselWeitere Mechanismen sind möglich, aber hier nicht gezeigt.3.7.3 Technologische Bedeutung von GrenzflächenHand in Hand mit den Fortschritten in der Grenzflächenphysik, welche die Grundlagenzur Charakterisierung und reproduzierbaren Manipulation von Oberflächen lieferte, stiegauch die Anzahl der technischen Anwendungen dieser Erkenntnisse in den verschiedenstenTeilbereichen. Immer neue Anwendungen werden für Materialien gefunden, welche ein hohesVerhältnis von Oberfläche zu Volumen besitzen. Daher ist die folgende Liste nicht vollständigund kann jederzeit durch weitere Teilgebiete ergänzt werden.• Optische Anwendungen: Eine der ersten Anwendungen von modifizierten Oberflächenist die Optik. Optische Anwendungen inkludieren das Auftragen dünner metallischerSchichten auf Glas zur Herstellung von Spiegeln sowie das Aufbringen von transparentenSchichten mit Dicken in der Größenordnung der Lichtwellenlänge zur Reflexionsminderungoder -steigerung durch Interferenzeffekte. Oberflächen mit gradiertenBrechungsindizes kommen z. B. in der Lichtwellenleitertechnik zum Einsatz.• Elektronische Anwendungen: Eine große Anzahl elektronischer Effekte sind Grenzflächeneffekte.So hängt z. B. der elektrische Widerstand von der Anzahl innerer Grenzflächenin einem Leiter ab, da diese die mittlere freie Weglänge der Elektronen beeinflussen.Hochtemperatursupraleitung (HTSL) wird (unter anderem) erst durch denspeziellen Aufbau der HTSL-Keramiken möglich, welche aus einer Stapelfolge von definiertenAtomebenen bestehen. Dadurch entsteht eine quasi-zweidimensionale Struktur,durch welche die Bildung von Cooper-Paaren auch bei höheren Temperaturen möglichwird.In der Mikroelektronik sind Systeme aus dünnen Schichten und modifizierten Grenzflächennicht wegzudenken. Feldeffekttransistoren (MOS-FETs) bestehen aus einer AbfolgeMetall und Halbleiter, welche durch eine extrem dünne Oxidschicht (im Idealfall


3.7. OBERFLÄCHEN UND GRENZFLÄCHEN 163nur eine Atomlage dick) getrennt sind. Leiterbahnen in integrierten Schaltkreisen sinddünne Metallschichten. Die Grundeinheiten eines RAM-Speichers sind Kondensatorenmit dielektrischen Trennschichten, welche unter Umständen nur einige zehn Nanometerdick sind.• Materialwissenschaften: Die mechanischen Eigenschaften von Festkörpern werden zueinem großen Teil von der Anzahl der inneren Grenzflächen wie z. B. Korngrenzenbeeinflusst. Diese verhindern das Abgleiten von Versetzungen und führen daher zueiner gesteigerten Festigkeit des Materiales. Weiche Einschlüsse in einem Material,welche oft an den Korngrenzen segregiert sind, können wiederum die Rissausbreitunghemmen und dadurch die Bruchfestigkeit erhöhen.Die Benetzbarkeit der Oberfläche eines Materiales durch verschiedene Flüssigkeitenkann durch geeignete Verfahren so weit manipuliert werden, dass entweder totale Unbenetzbarkeitoder vollständige Benetzung erreicht werden kann. Vollständige Unbenetzbarkeitist das Ziel jedes Imprägnationsverfahrens (z. B. Fasern, aber auch Lackoberflächenin der Automobilindustrie), während vollständige Benetzung etwa beim Auftragenvon Klebern erwünscht ist, um einen optimal gleichmäßigen Klebstofffilm zugarantieren.• Tribologie: Werkzeugmaterialien sowie Motor- und Triebwerkskomponenten sind oftmalsextremen mechanischen und thermischen Belastungen ausgesetzt. Diese könnendurch das Aufbringen sogenannter tribologischer Schichten (Tribologie: Wissenschaftvon Reibung und Verschleiß) herabgesetzt werden. Zur Anwendung kommen hier z.B. keramische Oberflächen auf Metallwerkzeugen, welche kühlmittelfreies Bohren oderFräsen ermöglichen. Die Keramikoberfläche reduziert die Reibung des Werkzeuges soweit, dass niemals Temperaturen erreicht werden, bei denen das Werkzeugmetall einePhasenumwandlung durchmachen würde.• Katalyse: Metallische Oberflächen können die Aktivierungsenergien für verschiedenechemische Reaktionen herabsetzen bzw. die Bildung von Phasen extrem hoherchemischer Reaktivität erleichtern. Das Anwendungsgebiet von Katalysatoren reichtvon der Automobiltechnik zur chemischen Industrie. Die Wirkungsweise von katalytischenGrenzflächen wird erst heute, z. B. durch die rapide Weiterentwicklung atomarauflösender Sondentechniken, im Detail verstanden.• Medizintechnik: Poröse Materialien mit einem hohen Verhältnis von Oberfläche zuVolumen werden als implantierbare Medikamentendepots verwendet. Die Oberflächekünstlicher Hüftgelenke wird oft dahingehend modifiziert, um einen optimalen Verbunddes Implantates mit dem Oberschenkelknochen zu erreichen. Die Gelenkskugelwiederum kann mit reibungsmindernden Materialien beschichtet werden.Die breite thematische Streuung der obigen Punkte zeigt, dass sowohl im Bereich der Charakterisierungvon Grenzflächen als auch in der Anwendung von Grenzflächenphänomenenimmer noch ein großer Spielraum besteht.


164 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEME3.8 Präparationsmethoden3.8.1 EinleitungDie Vielfalt von Herstellungsmethoden für verschiedene Materialklassen ist extrem groß.Für die einzelnen Arten von Werkstoffen wie z. B. Metalle, Keramiken, Polymere und Halbleiterexistieren in jeder Kategorie einige Verfahren, welche das entsprechende Material inbestimmten, durchaus unterschiedlichen, Formen und Strukturen darstellen. Ähnlich wie imvorhergehenden Abschnitt über die Anwendungen von Grenzflächen kann daher die folgendeListe verschiedener Herstellungsverfahren nur willkürlich herausgegriffene Methoden enthaltenund ist daher in keiner Weise vollständig.3.8.2 Abscheidung aus der SchmelzeDie Herstellung von Metallen aus ihren Schmelzen gehört zu den ältesten bekannten Verfahren.Diese Methode kann zum formgebenden Guss eines Metalles, zur Herstellung vonLegierungen wie auch zur Entfernung von Verunreinigungen gebraucht werden. Seit etwa1950 kommen schmelztechnische Verfahren auch in der Polymertechnik und in der Halbleitertechnikzum Einsatz.• Konventionelles Schmelzen: Im Erz vorhandene Metalle werden durch Zufuhr thermischerEnergie in die flüssige Phase übergeführt. Die hochschmelzende Gesteinsmatrixbleibt fest und wird als Schlacke abgeführt.• Andere Schmelzverfahren: Thermische Energie kann nicht nur durch Erhitzen mittelsBrennstoffen zugeführt werden, sondern auch durch elektrische Widerstandsheizung,durch elektrische Induktion, oder durch Beschuss eines Materiales mit energiereichenElektronen. Diese Verfahren werden oft unter Vakuumbedingungen angewendet (imFalle des Elektronenstrahlschmelzens ist eine Vakuumumgebung sogar zwingende Voraussetzung)und erlauben daher die Darstellung (Herstellung) extrem reiner, oxidfreierSubstanzen.• Formgebende Verfahren: Metall- und Polymerschmelzen können durch Guss zunächstin eine Grobform gebracht werden, welche durch weitere Bearbeitungsschritte in dengebrauchsfertigen Endzustand des Bauteiles gebracht wird. Spezielle Verfahren sind z.B. der Spritzguss, welcher in einem Schritt die Herstellung von maßhaltigen Polymerbauteilenerlaubt oder die Extrusion, welche zur Herstellung von Drähten oder Profilendient.• Oberflächenspezifische Verfahren: Das Aufschmelzen von Oberflächen mittels Schweißflammen,Laser- oder Elektronenbeschuss ermöglicht die gezielte Modifikation vomMetalloberflächen. Das aufgeschmolzene Volumen ist sehr klein und erstarrt daherrasch wieder, wodurch der oberflächennahe Bereich wesentlich feinkörniger ist als dasdarunter liegende Material. Auch können verschiedene Legierungsbestandteile in einemmetastabilen Zustand wesentlich feinverteilter vorliegen. Das führt meist zu einerhöheren mechanischen Belastbarkeit der Oberfläche.


3.8. PRÄPARATIONSMETHODEN 165• Kristallzucht: Taucht man einen kalten Draht in eine Materialschmelze, so bilden sichdort Kristallite. Werden die so entstandenen Kristallite aus der Schmelze herausgezogen,so erstarrt an der Kontaktfläche Kristallit/Schmelze immer weiteres Material. Daauch an den Seitenflächen Erstarrung eintritt, wächst der Querschnitt des entstehendenKristalles immer weiter an. Um mit dieser Methode (Bridgeman oder Czochralski-Verfahren) einen Einkristall zu erzeugen, sollte mit der Schmelze in den Anfangsphasennur ein einzelner, wohl orientierter Kristallit in Berührung kommen. Dieser wird Keimkristallgenannt. Kristallwachstum aus der Schmelze wird z. B. zur Herstellung vonHalbleiterkristallen verwendet. Im Falle von <strong>Si</strong> ist es möglich, monokristalline Säulenmit Durchmessern von bis zu 30 cm herzustellen.3.8.3 Abscheidung aus der GasphaseDie Abscheidung von Materialien aus ihrer Gasphase dient meist zur Herstellung von dünnenSchichten auf einem Trägermaterial. <strong>Si</strong>e kann allerdings auch zur Trennung von FlüssigkeitsoderFeststoffgemengen durch Sublimation oder Destillation verwendet werden.• Physikalische Gasphasenabscheidung: Bei den sogenannten PVD (Physical Vapor Deposition)Verfahren werden Metalle oder Dielektrika entweder durch Zufuhr thermischerEnergie oder durch Beschuss mit energiereichen Ionen unter Vakuumbedingungenin die Gasphase übergeführt. Der so entstandene Dampf schlägt sich auf einemTrägermaterial, dem sogenannten Substrat nieder und bildet dort eine Schicht. PVD-Prozesse arbeiten unter Hochvakuum- oder Ultrahochvakuumbedingungen und erlaubendaher die Darstellung extrem reiner Materialien. <strong>Si</strong>e werden häufig in der Mikroelektronikund Optik eingesetzt.• Chemische Gasphasenabscheidung: Bei den sogenannten CVD (Chemical Vapor Deposition)Verfahren trifft eine in einem Trägergas dispergierte molekulare Verbindungeines Materiales auf eine heiße Festkörperoberfläche auf. Das Molekül zersetzt sich dort,die flüchtigen Komponenten dampfen ab, Feststoffe bilden eine Schicht. Es können mitHilfe dieses Verfahrens sowohl Metalle als auch Halbleiter oder Isolatoren abgeschiedenwerden, sofern eine molekulare Vorläufersubstanz (ein sogenannter ”Precursor“)existiert.3.8.4 Abscheidung aus der FlüssigphaseAuch bei der Abscheidung von Materialien aus Lösungen oder Schmelzen bilden sichdünne Schichten auf einem Substrat. Durch das vollständige Eintauchen des Trägers in dieFlüssigphase können komplex geformte Bauteile beschichtet werden.• Elektrochemische Abscheidung: Die elektrochemische oder galvanische Abscheidungvon Metallen aus (meist wässrigen) Lösungen ist eines der ältesten Beschichtungsverfahren.Im Prinzip werden positive Metallionen am Substrat, welches auf negativemPotential liegt, neutralisiert und bilden eine Metallschicht. Die Auswahl an Metallen,


166 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEMEwelche mit diesem Verfahren aufgebracht werden können, ist durch die Verfügbarkeitvon wasserlöslichen Metallsalzen begrenzt.• Anodische Oxidation: Das metallische Substrat wird in reines Wasser eingetaucht undliegt auf positivem Potential. Es wird von OH − -Ionen erreicht. Es bilden sich zunächstMetallhydroxide und, in der Folge, Metalloxide. Wird als Substrat Aluminium verwendet,so ist dieses Verfahren auch als ELOXAL-Verfahren (ELektrochemisch OX idiertesALuminium) bekannt.• Schmelztauchen: Das kalte Substrat wird in eine Metallschmelze getaucht und so miteiner Metallschicht überzogen. Um die Benetzbarkeit des Substrates mit der Schmelzezu steigern, wird das Substrat oft mit einem Flussmittel vorbehandelt. Wird alsSchmelze Zn gewählt, so ist dieses Verfahren als Feuerverzinken bekannt.3.8.5 Darstellung aus der festen PhaseFormbauteile können durch Verpressen und gleichzeitige oder nachfolgende Temperaturbehandlungaus Pulvern hergestellt werden. In den Anfangsphasen dieser Technologie wurdenmeist Metallpulver verwendet. Daher werden diese Verfahren oft auch als pulvermetallurgischeVerfahren bezeichnet. In letzter Zeit werden sie jedoch auch zusammen mit Keramikenoder Kohlefasern angewendet. Weiters eröffnet die Verfügbarkeit von Pulvern mit Korngrößenim nm-Bereich neue materialphysikalische Möglichkeiten, da Materialien, welche aussolchen Pulvern hergestellt wurden, einen sehr hohen Anteil an inneren Grenzflächen aufweisen.Ihre physikalischen Eigenschaften werden eher von der Grenzflächenphase als von denVolumseigenschaften des Pulvermateriales dominiert.• <strong>Si</strong>ntern: Ein Metallpulver wird bei Raumtemperatur unter hohem Druck (im Bereicheiniger MPa) zu einem Formteil, dem sogenannten “Grünling“ verpresst. Dieser wirdim Nachhinein einer Temperaturbehandlung unterzogen. Die Behandlungstemperaturliegt dabei unterhalb des Schmelzpunktes des Pulvers. Allerdings werden Diffusionsprozessean der Pulveroberfläche aktiviert, welche zu einem ”Zusammenfließen“ dereinzelnen Körner führen und damit die Porösität des Bauteiles verringern.• Unidirektionales Heißpressen: Pulver werden unter hohem Druck (einige MPa) undunter hoher Temperatur (unterhalb des Pulverschmelzpunktes) zu einem Formteil verpresst.Der Druck wird in einer Vorzugsrichtung (Stempelrichtung der Presse) aufgebracht.• Isostatisches Heißpressen: Pulver werden unter hohem Druck (einige MPa) und unterhoher Temperatur (unterhalb des Pulverschmelzpunktes) zu einem Formteil verpresst.Der Druck wird allseitig aufgebracht. Das Verfahren ist hauptsächlich unter seinerenglischen Abkürzung HIP (H ot I sostatic Pressing) bekannt.


3.8. PRÄPARATIONSMETHODEN 1673.8.6 NachbehandlungenEin wesentlicher Schritt in der Darstellung verschiedenster Materialklassen sind verschiedeneNachbehandlungen. Eine besondere Position für metallische Werkstoffe nehmen z. B. thermischeNachbehandlungsschritte ein. Diese aktivieren Diffusionsprozesse im Material, welche,wie bereits besprochen, zur teilweisen Entmischung der Legierungskomponenten oder zurRekristallisation des Gefüges führen. Bei geeigneter Temperaturwahl und Behandlungsdauerkönnen so Kristallitgrößen, Ausscheidungsgrößen und Phasenverteilungen und damit dieMaterialeigenschaften in einem hohen Ausmaß gesteuert werden.Für Kunststoffe und Polymere können, neben thermischen Nachbehandlungen, auch chemischeoder photochemische Nachbehandlungen zum Einsatz kommen, welche z. B. zumAushärten des Kunststoffes oder zur Oberflächenaktivierung zwecks besserer Verklebbarkeitdienen.Wie bereits erwähnt, ist die obige Liste von Herstellungs- und Behandlungsmethoden keinesfallsvollständig. Industrielle Verfahren wie Schmieden, Lackieren, Verformen oder Klebenwerden technologisch immer anspruchsvoller und gehen an die Grenzen verschiedenster chemischeroder mechanischer Materialeigenschaften.Weiters werden immer innovativere Verfahren zur Erzeugung exotischer Materialien wie z.B. metallischer Gläser entwickelt (Darstellung metallischer Mehrstoffsysteme aus der Schmelzeunter hohen Gravitationsgradienten in einer Zentrifuge). Auch die Kombination mehrererVerfahren zur Herstellung von Kompositwerkstoffen wird immer interessanter. In all diesenTeilbereichen sind innovative Problemlösungen unter Anwendung anspruchsvoller theoretischerund experimenteller Hilfsmittel gefragt.


168 KAPITEL 3. MEHRSTOFFSYSTEME


Kapitel 4Makroskopische Eigenschaften vonFestkörpern und Grenzflächen4.1 Metalle, Halbleiter und Isolatoren4.1.1 MetalleDie Bedeutung von Metallen im täglichen Leben ist herausragend. Ein Verständnis des physikalischenVerhaltens ist dagegen sehr oft ohne quantenmechanische Vorstellungen und Modellenicht möglich. Im Folgenden wird nun eine kurze Darstellung über wichtige auftretendePhänomene gegeben. Gleichzeitig wird auf die Vorlesungen über Festkörperphysik I und IIverwiesen, in denen viele der andiskutierten Aspekte ausführlicher besprochen werden.Eine Welt ohne Metalle ist schwer vorstellbar, da deren Gebrauch viele tausend Jahre indie Menschheitsgeschichte zurückreicht und ganze Perioden nach Metallen benannt wurden.Anwendungsbeispiele von heute reichen von Hochspannungsleitungen bis Verdrahtungen aufICs (< 30 µm), von Eisenbahnbrücken bis zu den sprichwörtlichen Pflugscharen aus hochleistungsfähigenMetallkombinationen und vieles mehr. Für letztere Gruppe von Werkstoffenist vor allem deren Belastbarkeit (mechanische Spannungen und Dehnungen) von Bedeutung.Als Beispiel sei hier eines der leistungsfähigsten Materialien – der hochlegierte Stahl MP35N– angeführt, dessen Zugfestigkeit, ausgedrückt durch den Parameter Y 2,0 ≈ 2200 N/mm 2(yield strength) etwa 10 mal so hoch ist als für einfachen Baustahl. Dieses Material bestehtaus 35 % Co, 35 % Ni, 20 % Cr und 10 % Mo, enthält aber kein Fe!Atome, die Metalle konstituieren, sind durch eine geringe Anzahl von Elektronen in deräußeren Schale charakterisiert. Die zur Abspaltung dieser Außenelektronen nötige Ionisierungsenergieist ebenfalls klein (E ion < 10 eV).Metalle ordnen sich zu einem Metallgitter aus positiv geladenen Atomrümpfen, währenddie Elektronen der äußersten Schale (= Leitungselektronen) über das ganze Gitter verteiltsind. Keines dieser Elektronen gehört mehr zu einem bestimmten Kern, diese Elektronen sindfrei beweglich, also nicht an bestimmte Energieniveaus (Orbitale) gebunden, sie befinden sichim “Leitungsband“ und bilden das “Elektronengas” (siehe auch den folgenden Abschnitt,bzw. Festköperphysik I).169


170 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAus dieser Bindungsart und diesem Gitteraufbau resultieren folgende typische Eigenschaftender Metalle:• Glanz (Spiegelglanz) Die frei beweglichen Elektronen können eingestrahlte, aufgenommeneEnergie in einem breiten Wellenlängenbereich wieder unverändert emittieren;so entstehen der Glanz und der Spiegeleffekt. Aus glatten Metalloberflächen werdendeshalb Spiegel angefertigt.• Undurchsichtigkeit Die an der Metalloberfläche stattfindende Reflexion (vgl. PhysikII) bewirkt zugleich, dass Licht das Metall nicht durchdringen kann. Metalle sehendeshalb bereits in dünnsten Schichten in der Durchsicht grau bis schwarz aus.• Gute elektrische Leitfähigkeit Die Drift der frei beweglichen Elektronen in eineRichtung begründet den makroskopischen Stromfluss.• Gute thermische Leitfähigkeit Die leicht verschiebbaren Elektronen nehmen an derWärmebewegung teil und tragen so zum Wärmetransport bei (siehe auch: Wiedemann-Franz-Gesetz).• Gute Verformbarkeit (Duktilität) Im Metallgitter befinden sich Versetzungen, diesich schon bei einer Spannung unterhalb der Trennspannung bewegen können; je nachGittertyp verformt sich also ein Metall eher, als dass es bricht.• Hoher Schmelzpunkt durch die allseitig gerichteten Bindungskräfte.Die folgende Tabelle zeigt die Schmelz- und <strong>Si</strong>edetemperaturen einiger Metalle beiNormaldruck.Element Schmelztempertur [ ◦ C] <strong>Si</strong>edetempertur [ ◦ C]Aluminium 659 2467Wolfram 3422 5555Eisen 1536 3070Magnesium 650 1120Kupfer 1083 2595Zinn 231.9 2687Blei 327.4 1751Zink 419.5 907Als hochschmelzend bezeichnet man Metalle, deren Schmelzpunkt über 2000 K bzw.über dem Schmelzpunkt von Platin (= 2045 K) liegt. Dazu gehören die EdelmetalleRuthenium, Rhodium, Osmium und Iridium und Metalle der Gruppen IVA (Zirkonium,Hafnium), VA (Vanadium, Niob, Tantal), VIA (Chrom, Molybdän, Wolfram) und VIIA(Technetium, Rhenium).


4.1. METALLE, HALBLEITER UND ISOLATOREN 171Metalle, deren Verbindungen und Legierungen werden ihrer Verwendung nach entsprechendausgewählt.• Münzen: der Einsatz von Au, Ag, <strong>Pt</strong> ist sehr teuer; Ni dagegen kann Allergie erzeugen;• bei chemischen Prozessen: <strong>Pt</strong> als Katalysator; Stabilität und Reaktivität der einzelnenMetalle ist wesentlich; Na, K, Hg und dgl. müssen damit für die meisten Anwendungenausgeschlossen werden (Korrosion).• Mechanische Eigenschaften: reine Elemente sind oftmals zu weich; Legierungen weisenaber höhere elektrische Widerstände auf.• Thermische Eigenschaften: Temperaturkoeffizienten des elektrischen Widerstandes, derthermischen Ausdehnung, etc. müssen beachtet werden; oberhalb von 1000 ◦ C kaumeinsetzbar.• Kompatibilität mit anderen Materialien: beim Schweißen, Löten, Thermospannungenund dgl.• Kompatibilität bei Produktionsprozessen: dünne Filme, Drähte, Gussteile, . . .Eine Schlüsseleigenschaft von Metallen ist deren elektrische Leitfähigkeit und die verschiedenstenAnwendungen in diesem Bereich erfordern den Einsatz verschiedenster metallischerElemente und deren Kombination.Um allen Erfordernissen bezüglich der elektrischen Leitfähigkeit zu genügen, werden inICs verschiedenste Leiter eingesetzt: polykristallines hochdotiertes <strong>Si</strong>, <strong>Si</strong>lizide, Al mit ≤1 % <strong>Si</strong> und Cu, W sowie TiN, da ein einziges Material die spezifischen Notwendigkeitennicht erfüllen könnte. Metallische Leiter, die Transistoren und andere Komponenten in ICsverbinden, müssen viele, sich vielfach widersprechende Eigenschaften aufweisen.erforderliche Eigenschaften Erfordernisse NICHT erfüllt vonsehr gute Leitfähigkeitallen außer Ag, Cuhohe eutektische Temperatur mit <strong>Si</strong>Au, Pd, Al, Mggeringe Diffusion in <strong>Si</strong>Cu, Ni, Ligeringe Oxidationsrate, stabile OxydeMg, Fe, Cu, Aghoher SchmelzpunktAl, Mg, Cuminimale Wechselwirkung mit <strong>Si</strong> Substraten <strong>Pt</strong>, Pd, Rh, V, Ni, Mo, Crminimale Wechselwirkung mit poly <strong>Si</strong> <strong>Pt</strong>, Pd, Rh, V, Ni, Mo, Crkeine Wechselwirkung mit <strong>Si</strong>O 2 Hf, Zr, Ti, Ta, Nb, V. Mg, Alchemische StabilitätFe, Co, Ni, Cu, Mg, Alleichte Strukturierbarkeit<strong>Pt</strong>, Pd, Ni, Co, AuResistenz gegen ElektromigrationAl, Cuund vieles andere . . .


172 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENDas am besten verwendbare Material ist Aluminum (mit < 1 % <strong>Si</strong> und Cu). Obwohl Alinsgesamt ziemlich unvorteilhaft ist, wird es eingesetzt, da alle anderen Stoffe noch wesentlichmehr Probleme hervorrufen. Gegenwärtig wird aber versucht, auf Cu (und Cu-Legierungen)umzustellen, insbesondere wegen der herausragenden Leitfähigkeit.Das klassische ElektronengasMetalle sind chemisch dadurch gekennzeichnet, dass sie leicht Elektronen abgeben, d.h.durch geringe Ionisationsenergie ihrer Valenzelektronen. Elektronenabgabe an OH-Gruppenbefähigt Metalle und Metalloxide zur Basenbildung. Auch die typischen physikalischen Eigenschaftender Metalle - geringer elektrischer Widerstand und hohe Wärmeleitfähigkeit,Undurchsichtigkeit, Reflexion und Glanz - beruhen auf der leichten Abtrennung der Valenzelektronen.Um handhabbare Modelle für Metalle zu entwickeln, wurden anfänglich zwei grundlegendeAnnahmen gemacht:• die Elektronen wechselwirken nicht mit den Atomrümpfen• die Elektronen wechselwirken nicht miteinanderP. Drude und H.A. Lorentz nahmen an, die Valenzelektronen im Kristallverband desMetalls gehören nicht mehr bestimmten Atomen an, sondern bewegen sich als Gas freierElektronen durch das Gitter der Rumpfionen. Dieses Bild erklärt vieles erstaunlich gut,versagt aber in anderen Punkten vollständig. Ein freies Elektron müßte nach dem Gleichverteilungssatzeine kinetische Energie (3/2)k B T haben, zur spezifischen Wärme des Metallsalso außer den 25 J/mol · K 2 des Rumpfionengitters weitere 12 J/mol · K 2 (1 Valenzelektron/Atom)beitragen. Warum das nicht der Fall ist, zeigt erst die Fermi-Statistik, die aufden quantenmechnischen Charakter der Elektronen (= Spin 1/2-Teilchen) Bezug nimmt.Die Drude-Lorentz-Theorie ist in der Lage, den elektrischen Widerstand sowie dasWiedemann-Franz Gesetz zu erklären. Die Elektronen fliegen mit einer Geschwindigkeit v,bis sie nach einer mittleren freien Weglänge l, zeitlich also nach einer Flugdauerτ = l/vdurch einen Stoß abgelenkt werden. Im elektrischen Feld E wird ein Elektron mit˙v = −eE/mentgegengesetzt zum Feld beschleunigt. Innerhalb der freien Flugdauer erhält es so einegerichtete Zusatzgeschwindigkeitv = −eEτ/m,die sich der viel größeren, aber völlig ungeordneten thermischen Geschwindigkeit überlagert.Beim Stoß wird diese Zusatzgeschwindigkeit i.A. wieder verloren, und der Prozess beginnt


4.1. METALLE, HALBLEITER UND ISOLATOREN 173von vorne. Im Mittel driftet es also mit v d = −(1/2)eEτ/m entgegen der Feldrichtung. SeineBeweglichkeit (Geschwindigkeit des Ladungstransports pro Feld) istDie Leitfähigkeit σ von n Elektronen/m 3µ = 1 eτ2 m .σ = enµ = 1 e 2 nτ2 m(4.1)hängt dann nicht mehr vom elektrischen Feld ab (Ohmsches Gesetz).Übernimmt man für die thermische Leitfähigkeit die klassische Formel eines einatomigenGases, d.h.λ = 1 2 nvlk B, (4.2)so folgt für das Verhältnis von Wärme- und elektrischer Leitfähigkeitλσ = mk Bv 2e 2= 3k2 Be 2 T (4.3)das Wiedemann-Franz-Gesetz, das empirisch gefunden wurde. Die Tatsache, dass der Quotientin Glg. 4.3 nur aus Konstanten besteht, bedeutet, dass beide Arten von Leitfähigkeitdurch den gleichen Mechanismus bewirkt werden. Ein guter elektrischer Leiter ist also auchein guter thermischer Leiter.Für die Größen von σ und λ ist entscheidend, was unter den Stößen zu verstehen ist, dieden freien Flug der Elektronen beenden. Als Stoßpartner oder Streuzentren kommen zuallererstdie Rumpfionen und andere freie Elektronen in Betracht. Das würde eine freie Weglängevon wenigen Å bedeuten, die viel zu klein ist. Warum die Rumpfelektronen, solange sie völligperiodisch angeordnet sind, und die anderen freien Elektronen nicht streuen, wird von derQuantenmechanik beantwortet. Elektronen können über ein periodisches Potential blochwellenartigohne Streuung hinweggehen. Elektronen dürfen sich auf Grund des Pauliverbotsnicht zu “nahe” kommen. Nur Störungen der Periodizität wirken als Streuzentren. SolcheStörungen beruhen auf• auf Einlagerung von Fremdatomen,• auf Abweichungen vom idealen Gitterbau: Kristallitgrenzen, Dislokationen, mechanischeVerformungen, usw.,• auf thermische Gitterschwingungen, die ebenfalls momentane Abweichungen von denidealen Abständen zwischen Gitterteilchen bedingen.Alle diese Faktoren beeinflussen die freie Flugdauer (Relaxationszeit) τ und damit die Beweglichkeitµ. Dagegen ist die Elektronenkonzentration n für Metalle praktisch temperaturunabhängig.Ein Metall leitet also umso besser, je reiner, je monokristalliner und spannungsfreierund je kälter es ist. Der Restwiderstand bei Annäherung an den absoluten Nullpunktist daher ein hervorragendes Reinheitskriterium.


174 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENWir untersuchen die Streuung von Elektronen durch geladene Teilchen im Gitter (AnzahldichteN, Ladung Ze), genauer durch Stellen im Gitter, die einen anderen Ladungszustandhaben als das normale Gitter. Diese Streuung verläuft ähnlich wie die Rutherfordsche Ablenkungvon α-Teilchen durch Kerne. Eine erhebliche Ablenkung erfolgt nur bei sehr nahemVorbeiflug am Streuzentrum, d.h. bei sehr kleinem Stoßparameter p. Man kann die Grenzezwischen Streuung und Nichtstreuung bei einem Ablenkwinkel von 90 ◦ ansetzen. Ihmentspricht ein Stoßparameter p, der gleich dem minimalen Abstand 2a ist, bis auf den dasElektron mit der Energie E bei zentralem Stoß an das Streuzentrum herankäme:p kr = 2a =Die Energie des Elektrons ist die thermische Energie, alsop kr =Ze24πɛɛ 0 E . (4.4)2Ze 212πɛɛ 0 k B T . (4.5)Der Streuquerschnitt ist A = πp 2 kr , die mittlere freie Weglänge l = 1/(NA) und damit diefreie Flugdauerτ = l v = 1 1√ (4.6)NA 3kB T/mund die Leitfähigkeitσ = 1 e 2 18π ɛ 2 ɛ 2nτ = √ 0k 3/2BT 3/2 n2 m 3 m 1/2 Z 2 e 2 N . (4.7)Die aus Glchg. 4.7 resultierende Zunahme der Leitfähigkeit mit T 3/2 ist allerdings nur seltenzu beobachten. Bei Halbleitern ist sie überdeckt durch die viel stärkere exp(−E/k B T )-Abhängigkeit der Ladungsträgerkonzentration n; bei Metallen findet man oft gerade dieumgekehrte Abhängigkeit σ ∼ T −3/2 . <strong>Si</strong>e beruht auf der Streuung der Elektronen an den Verzerrungendes Gitters durch thermische Schwingungen, d.h. durch Elektron - Phonon Stöße.Eine genaue Berechnung unter Zuhilfenahme der halbklassischen Boltzmann-Theorie führtaber zu einer T 5 -Abhängigkeit des elektrischen Widerstandes bei tiefen - und zu einer linearenTemperaturabhängigkeit bei hohen Temperaturen. Mehr Details werden in FestkörperphysikII besprochen.Das Fermi-GasKlassisch betrachtet können Elektronen einander zwar räumlich nicht beliebig nahe kommen,aber es besteht kein Grund, warum sie nicht exakt den gleichen Impuls haben sollten. Dasquantenmechanische Elektron erfüllt dagegen den gesamten Raum als Welle und hat daherdie Möglichkeit, das Verhalten anderer Elektronen mitzubeeinflussen. Die Unschärferelationzeigt, dass eine solche gegenseitige Impulsbeeinflussung tatsächlich vorliegt. Elektronen seienin einem Kristall der Kantenlänge L eingesperrt. Die größtmögliche Unschärfe in derAngabe des Ortes ist dann ungefähr ∆x = L. Dieser maximalen Ortsunschärfe ist eineminimale Impulsunschärfe ∆p = h/L zugeordnet. Dieses Impulsintervall beansprucht jedes


4.1. METALLE, HALBLEITER UND ISOLATOREN 175Elektron für sich und “läßt kein anderes hinein” (es sei denn mit entgegengesetztem Spin).Zeichnet man die möglichen Werte des Impulsvektors p für ein derart eingesperrtes Elektronauf, dann bilden sie ein Punktgitter, dessen Punkte einen Abstand h/L voneinanderhaben. Jeder Elektronenzustand nimmt also ein Volumen h 3 /L 3 im Impulsraum ein. Jedesolche Zelle h 3 /L 3 kann höchstens mit zwei Elektronen mit entgegengesetzten Spins besetztwerden. Dieses Punktgitter hat zunächst mit dem Kristallgitter nichts zu tun (auch nichtmit dem reziproken Gitter) und würde auch für einen völlig homogenen dreidimensionalenPotentialtopf gelten.Im Impulsraum mit den Koordina-Abbildung 4.1: Fermi- und Boltzmannverteilungfür verschiedene Temperaturen und verschiedenenTeilchenzahlen.zuoder mit der Teilchenzahldichte n = N/L 3 zu(1/2)Nh 3 /L 3 = 4πp 3 F /3p F = h(3N/(8πL 3 )) 1/3ten p x , p y , p z entspricht einem bestimmtenWert der kinetischen Energie E = p 2 /(2m)eine Kugelfläche vom Radius p = √ 2mE.Wenn man N Elektronen möglichst energiesparendunterbringen will, was derwirklichen Verteilung bei tiefen Temperaturenentspricht, muss man die Zustände“von innen”, d.h. von kleinen p-Werten anauffüllen. N Elektronen brauchen N/2 Zellen,d.h, ein Impulsvolumen (1/2)Nh 3 /L 3 .Dieses Volumen bildet eine Kugel; ihr Radius,der Fermi-Impuls p F , ergibt sich ausDem entspricht die Fermi-Energiep F = h( 38π n ) 1/3(4.8)E F = p2 F2m = h22m( 38π n ) 2/3(4.9)Ein Teilchengas, das sich verhält wie beschrieben, heißt entartetes oder Fermi-Gas. DieTemperatur, die gemäß k B T = E F der Fermi-Energie entspricht, heißt EntartungstemperaturT F . Bei der Temperatur T ist ein Gas entartet, wenn T ≪ T F . Für ein Metall mit n = 10 22bzw. 10 23 Elektronen/cm 3 ist E F = 1.7 bzw. 7.9 eV; T F = 19700 bzw. 91200 K.Die Anzahl der Zustände mit Energien zwischen E und E + dE entspricht dem Volumeneiner Kugelschale im p-Raum. Am einfachsten erhält man diese Anzahl, oder vielmehrräumlich-energetische Dichte durch Auflösen von Glg. 4.9 nach n und Differenzieren nach E:( ) 3/2 2m √dn = 4πE dE (4.10)h 2


176 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENBei T = 0 sind alle diese Zustände unterhalb E F besetzt; darüber keiner mehr. Bei höherenTemperaturen verschwimmt die scharfe Grenze bei E F : Der “Fermi-Eisblock” schmilzt etwasab, Elektronen wechseln von Zuständen knapp unterhalb E F in solche knapp oberhalb. DieserVorgang erfasst eine energetische Breite von etwa k B T beiderseits E F . Genauer ergibt sichdie Wahrscheinlichkeit, dass ein Zustand mit der Energie E besetzt ist alsf(E) =Abbildung 4.2: Die Fermikurve regelt denBruchteil der besetzten Zustände, unabhängigdavon, ob im betrachteten E-Bereich Zuständeliegen oder nicht.1exp[(E − E F )/(k B T )] + 1(4.11)Diese Funktion hat den Wert 1/2 bei E = E F und geht beiderseits antisymmetrisch gegen 0bzw. gegen 1. Der Abstand der Funktion von diesen asymptotischen Werten verringert sichbei einem Schritt k B T in E-Richtung jedesmal etwa um den Faktor e. Erst für k B T ≫ E Fgeht die Verteilung in die Boltzmannverteilung des nichtentarteten Gases über; vorher istsie völlig anders.Man kann für k B T ≪ E F höchstensvon einem Boltzmann-ähnlichen “Fermi-Schwanz” reden, der über dem “Fermi-Eisblock” steht, wobei die Energie von E Fan gezählt werden muss: Für E − E F ≫k B T wirdf(E) ≈ exp(− E − E )F.k B TAlle diese Aussagen gelten auch noch,wenn den Teilchen nicht wie im freienElektronengas alle Energien mit der ZustandsdichteGlg. 4.10 zur Verfügung stehen,sondern wenn einige Bereiche nichtbesetzt sind (verbotene Energiebereiche,Bändermodell).Im nichtentarteten Gas haben alle Teilcheneine mittlere Energie, die um k B Thöher ist als bei T = 0. Im Fermi Gasgilt dies nur für die Teilchen, die in einemStreifen der Breite k B T unterhalb derFermi-Energie saßen, d.h. für einen Bruchteilk B T/E F aller Teilchen (nicht ganzgenaue Angabe). Die spezifische Wärmeist demnach nicht (3/2)k B /m sondern nur(3/2)k 2 B T/(E F m). Der Beitrag der Elektronen zur spezifischen Wärme eines Metalls ist alsoeinige hundertmal kleiner als die nach Dulong-Petit erwarteten 25 J/mol · K. Damit ist auchdas lange ungelöst gewesene Problem geklärt, dass ein Metall bei üblichen Temperaturenim Wesentlichen nur die spezifische Wärme seiner Ionenrümpfe zeigt. Nur bei sehr tiefenTemperaturen können andere Beiträge wesentlich werden.


4.1. METALLE, HALBLEITER UND ISOLATOREN 177MetalloptikEine Lichtwelle kann in das dichte Elektronengas eines Metalls ebensowenig eindringen,wie eine Radiowelle in das sehr viel dünnere Elektronengas der Ionosphäre. Das Licht wirdreflektiert, das Metall zeigt selbst bei rauher Oberfläche den typisch stumpfen Glanz.Es gibt aber eine Grenzfrequenz für diese Reflexion. <strong>Si</strong>e ist gleich der Langemuir-Frequenzdes Elektronengases und abhängig von der Teilchenzahldichte n,√neω 0 =2(4.12)ɛɛ 0 mFür n = 10 28 bzw. 10 29 m −3 , erhält man ω 0 = 3.5 bzw. 11.1 eV, entsprechend λ = 340bzw. 110 nm. Für ɛ ist nur die Polarisation der Ionenrümpfe maßgegebend, denn die freienElektronen fallen ja gerade bei der Frequenz ω 0 aus. Tatsächlich werden Metalle je nach ihrerElektronenkonzentration im näheren oder ferneren UV transparent, wenigstens in dünnenSchichten (z.B. Na ab 210 nm). Gleichzeitig verlieren sie aber auch ihr hohes Reflexionsvermögen.Bei manchen Metallen liegt die Langmuir-Frequenz im <strong>Si</strong>chtbaren z.B. bei Goldim Violetten. Der Ausfall der Violettreflexion läßt Gold gelblich schimmern.Das Absorptions- und Reflexionsvermögen lässt sich durch die Dielektrizitätskonstanteɛ beschreiben und wird im letzten Teil dieser Vorlesung (vgl. Dielektrische Eigenschaften)noch genauer besprochen.Elektrischer Widerstand und WärmeleitungDie Drude-Lorentz-Theorie der elektrischen Leitfähigkeit, wie sie schon am Anfang diesesAbschnittes besprochen wurde, enthält einige “kühne” Annahmen, um die beobachtetenErgebnisse zu erklären: Die Elektronen bemerken bei ihrer Driftbewegung im elektrischenFeld die Anwesenheit der Ionenrümpfe praktisch nicht und werden nur an Störungen desregulären Gitters gestreut; ebensowenig beeinflussen sie einander in ihrer Driftbewegung.Kupfer bei Zimmertemperatur hat eine Leitfähigkeit σ = 6 × 10 7 Ω −1 cm −1 . Daraus folgtnach Glg. 4.1 eine Beweglichkeit von etwa 10 −2 m 2 /Vs und eine freie Weglänge von etwa100 Å. Bei 10 K ist die Leitfähigkeit mehr als 100 mal größer, d.h. die Leitungselektronendriften etwa 10 4 Atomabstände ohne Stoß. Bei Heliumtemperaturen ergeben sich für einigeMetalle freie Weglängen von bis zu einigen cm.Dass die Elektronen mit den idealen Ionenrümpfen praktisch keine Energie austauschen,folgt aus den Welleneigenschaften dieser Teilchen. Die anderen Leitungselektronen bildenaber selbst keinesfalls ein streng periodisches Gitter. Dass Elektron-Elektron Stöße so seltensind, beruht teilweise auf der Abschirmung ihrer Ladung und vor allem auf den Eigenschaftender Fermi Kugel.Ähnlich wie sich in einer Elektrolytlösung jede Ladung mit einer Wolke von Gegenionenumgibt, deren Abmessung die Debye-Hückel Länge d DH = √ ɛɛ 0 k B T/(e 2 n) ist, so versammeltjede positive Ladung in einem Metall einen Überschuß von Leitungselektronen um sich; jedenegative erzeugt ein partielles Elektronenvakuum. Im Ausdruck für den Radius dieser Wolkeist einfach k B T durch die Fermienergie zu ersetzen, außerdem kommt ein Faktor √ 2/3 dazu,


178 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENdenn es handelt sich um eine kugelsymmetrische Anordnung (und nicht um eine ebene, wieoben impliziert). ɛ ion berücksichtigt nur die Polarisation der Ionenrümpfe:d a =√2ɛion ɛ 0 E F3e 2 n . (4.13)Abbildung 4.3: Der spezifische Widerstandρ ist eine der Stoffeingenschaften, die dengrößten Größenordnungsbereich überspannt.Natürlich darf d a nicht viel kleiner sein alsdie Gitterkonstante, denn das würde bedeuten,dass die Elektronen fest an die Ionen gebundensind. Tatsächlich liegt der Abschirmradiuszwischen dem Bohr-Radius r 0 und demmittleren Elektronenabstand n −1/3 . Das Feldder Zentralladung reicht nur bis in etwa diesenAbstand d a , weiter außen wird es von derGegenelektronenwolke “verzehrt”. Der Stoßquerschnittzwischen zwei Leitungselektronenoder einem Leitungselektron und einem Ionreduziert sich also von dem klassischen WertA ≈ (e 2 /(4πɛ 0 )) 2 ≈ 2 · 10 5 Å 2 auf etwa 10 Å 2 .Man kann die Bildung der abschirmendenWolken auch so beschreiben: Die Leitungselektronenbilden kein ungeordnetes Gas,sondern ein angenähertes Kristallgitter. IhreDichte ist maximal in der Nähe der Ionen.<strong>Si</strong>e halten sich gegenseitig auf Abstand undbewegen sich meist nur kollektiv durch dasGitter. Solche Kollektivbewegungen der Elektronensind die Plasmaschwingungen, die zurLichtabsorption führen. Ein eingeschossenesElektron oder auch Photon regt bei der Reflexionvom Metall oder beim Durchgang durchdieses Plasmaschwingungen an, vor allem solchemit der Langmuir-Frequenz ω 0 . Das ganzeFermi-Gas “schwappt” dabei relativ zum Gitterhin und her. Diese Schwingungen sind gequantelt.Das Elektron kann nur ganzzahligeVielfache des Energiequants ω 0 an die Plasmaschwingungabgeben, und es ergibt sich eintypisches glockenförmiges Enegieverlustspektrum.Ein Plasmaschwingungsquant heißt auch Plasmon.In einem sehr reinen Metall wird auch die Wärmeleitung überwiegend durch Leitungselektronenbesorgt, bei einem weniger reinen durch Phononen, ähnlich wie im Isolator (siehe KapitelThermische Eigenschaften). Deshalb ist die Spanne der Wärmeleitfähigkeiten zwischen


4.1. METALLE, HALBLEITER UND ISOLATOREN 179Metallen, Halbleitern und Isolatoren nicht so groß wie die in der elektrischen Leitfähigkeit:Das Wiedemann-Franz Gesetz gilt nicht durchgehend. Bei tiefen Temperaturen überwiegtaber in allen Metallen der Elektronenbeitrag. Hier ergibt sich klassisch aus der Thermodynamikλ = (1/3)C el vl (4.14)Dabei ist C el der elektronische Beitrag zu spezifischen Wärme, der in Festkörperphysik Idetailliert besprochen wird. v ist die sogenannte Fermi Geschwindigkeit mit v F = √ 2E F /m,l ist die freie Weglänge, also die Strecke, die Elektronen zwischen zwei Stößen zurücklegenkönnen. Die elektrische Leitfähigkeit wurde schon definiert alsso dass wieder das Verhältnisσ = neµ = 1 ne 2 l(4.15)2 m v Fσλ = 3 e 2 E F2 2mv F kB 2 T v ≈Fe2k 2 B T (4.16)folgt. Das ist überraschend, wenn man bedenkt, wie verschieden die einzelnen Größen klassischund quantenmechnisch definiert sind.Die Begrenzung der freien Weglänge durch Elektronen und Phonon-Stöße ergibt freieWeglängen, die mit fallender Temperatur wachsen. Erst wenn l bei sehr tiefen Temperaturendurch Kristallitgrößen, Abstand von Fremdionen u.ä. bestimmt wird, dominiert dieAbhängigkeit von C el ∼ T und führt zu λ ∼ T . Unter den gleichen Umständen wird dieelektrische Leitfähigkeit temperaturunabhängig (entspricht dem Restwiderstand).EnergiebänderWir haben bis jetzt die freien Valenzelektronen in einem Metall als freie Elektronenaufgefasst, die sich ungestört durch das periodische Potential der Rumpfionen bewegen. Diesist aber eine unvollkommene Näherung, denn es verbleibt eine gewisse Wechselwirkung mitdem Ionengitter, wenigstens bei gewissen Impulsen des Elektrons. Man muss ja bedenken,dass die Bewegung eines Elektrons mit der Energie E und dem Impuls p durch eine Welle ψmit der Frequenz ω = E/, der Wellenlänge λ = h/p oder dem Ausbreitungsvektor k = p/bestimmt wird. Die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons ist |ψ| 2 (r). Wenn die ψ-Welle die Bragg Bedingung für die Reflexion an irgendwelchen Netzebenen erfüllt, ist keinefortschreitende ψ-Welle mehr möglich, sondern nur eine stehende, überlagert aus einfallendenund reflektierten Wellen. Speziell bei senkrechtem Einfall auf eine Netzebenenschar mit demAbstand d tritt das beik = nπ oder p = nπddauf.Für freie Elektronen gilt E = p 2 /(2m) bzw. E = 2 k 2 /(2m). Dieser parabolischeZusammenhang (Abb. 4.4) wird offenbar bei kritischen p- oder k-Werten durchbrochen,die Braggreflexion erlauben; dies sind die k-Vektoren, die auf einer Brillouin-Zonengrenze


180 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENenden. Hier gehen die fortschreitenden Wellen in stehende über, z.B. für k = π/d mitλ = 2d (Debye-Grenzwellenlänge). Für solche stehende Wellen gibt es zwei Hauptphasenlagen,ψ ∼ sin(πx/d) und ψ ∼ cos(πx/d). Im zweiten Fall ist |ψ| 2 am Ort der Ionen(x = 0, d, . . .) maximal, dazwischen 0, im ersten ist es umgekehrt. Es ist klar, dass die cos-Welle einer niedrigeren Gesamtenergie entspricht, weil sie die Nähe der Ionen ausnützt. Derim freien Zustand eindeutig bestimmte E-Wert zu p = π/d spaltet also in zwei Zuständemit erheblich verschiedenen Energien auf. Die E(p)-Parabel muss dort aufgeschnitten werden;das eine freie Ende wandert abwärts, das andere aufwärts. So entsteht eine Folge vonzumeist s-förmige Bögen, die die erlaubten Energiezustände bedeuten, mit dazwischenliegendenLücken, den verbotenen Zonen. Die Breite der erlaubten Energiebänder ergibt sich indiesem einfachen Bild typischerweise zu p 2 /(2m) = π 2 2 /(2md) ≈ 3 eV (bei d ≈ 3 Å). Fürdie Breite der verbotenen Zonen, d.h. der Differenz der potentiellen Energien einer sin- undcos-Welle, erwartet man die Größenordnung e 2 /(4πɛ 0 d), was ebenfalls einige eV ergibt.Abbildung 4.4: Die Wechselwirkung mit demGitter modifiziert die E(p)-Parabel des freienElektronengases.Die Energiebänderstruktur ist natürlichabhängig von der Kristallstruktur und derAusbreitungsrichtung der Elektronenwelle.Die Zonenkonstruktion von Brillouin zeigt,wo in einer gegebenen Richtung der Sprungvon einem Band zum anderen erfolgt. DieE(k)-Fläche bleibt keine Rotationsfläche.Dementsprechend sind die Impulszustände inden verschiedenen Raumrichtungen verschiedenweit aufgefüllt, nämlich dort am weitesten,wo die E(k)-Fläche am tiefsten liegt.Die Füllungsgrenze im p- bzw k-Raum, diefür das freie Elektronengas eine Fermi-Kugelwar, wird im Gitter zu einer Fermi-Fläche mitoft sehr komplizierter Topologie. Feinere Einzelheitendes elektromagnetischen und optischenVerhaltens der Metalle können auf Grund der Topologie der Fermi-Fläche und derEnergiebänder verstanden werden. Es gibt eine Anzahl experimenteller Möglichkeiten, diesezu bestimmen.Die Existenz von Energiebändern folgt auch aus einer ganz anderen Betrachtung. Wir sindvom Gas freier Elektronen ausgegangen und haben die Störung durch das periodische Rumpfgittereingebaut. Man kann auch vom anderen Grenzfall, nämlich von isolierten Metallatomenausgehen und diese allmählich aneinander rücken. Dann beginnen die Elektronen von einemAtom zum anderen zu tunneln, d.h. ihre Aufenthaltsdauer bei einem bestimmten Atomwird begrenzt, z.B. auf τ. Nach der Unschärferelation müssen sich dann die ursprünglichscharfen Energiezustände der Elektronen verbreitern um ∆E ≈ h/τ. Im Grenzfall, wenn dieElektronen, halbklassisch gesprochen, bei jedem Bohrumlauf, also 8md 2 /h ≈ 10 −15 s dasDurchtunneln gelingt, wird sicher ∆E = h 2 /(8md 2 ). Die Elektronen tieferer Schalen habeneine sehr viel kleinere Tunnelwahrscheinlichkeit und entsprechend kleinere Termverbreiterung(Abb. 4.5). Es besteht eine gewisse Entsprechung zwischen den Zuständen des freien


4.1. METALLE, HALBLEITER UND ISOLATOREN 181Abbildung 4.5: Wenn die Einzelatome einander näher kommen, überlagern sich nicht nurihre Potentiale (“Galerie von Rundbögen”), sondern die ursprünglich scharfen Elektronenzuständeverbreitern sich. Im rechten Teilbild ist rechts die Atomkette fortgesetzt zu denken,links liegt die Kristalloberfläche. Dort kann die Austrittsarbeit der Elektronen abgelesen werden.Gitterbausteins und den Energiebändern des Kristalls. <strong>Si</strong>e wird dadurch kompliziert, dassnahe benachbarte Energiezustände oft überlappende Bänder liefern, die praktisch wie eineinheitliches Band wirken. Jedes Einzelband enthält ebensoviele Elektronenzustände wie dieN Bausteine, die zum Gitter zusammengeführt sind, nämlich i.A. N Elektronenzustände.Dies folgt auch im Bild des fast freien Elektronengases: Die Zustände entsprechen den Phasenraumzellenh 3 , von denen die Fermi-Statistik ausgeht. Wenn in einer Raumrichtung N xGitterbausteine hintereinander liegen (in den anderen N y und N z so dass N = N x N y N z ),was einer Abmessung a = N x d des Kristalls entspricht, ist die Impulsbreite ∆p = π/d desganzen Bandes in N x Zustände mit dem Abstand π/a unterteilt. Damit ergibt sich auchdie folgende wichtige Tatsache: In einem voll besetzten Band ist, wie in der Fermi-Kugeldes freien Elektronegases, zu jedem Impuls auch der entgegengesetzte vertreten. Ein solchesBand erlaubt deshalb keine Bewegung des Schwerpunkts aller Elektronen, d.h. z.B. keinenStromfluss.Elektronen und LöcherRumpfgitter bieten den Elektronen ein bestimmtes Spektrum von Energiebändern an.Wie weit dieses Spektrum mit Elektronen aufgefüllt ist, hängt von der Wertigkeit der Gitterbausteineab. Chemische Verbindungen oder auch Reinelemente, deren Bausteine kovalentgebunden sind, besitzen als isolierte Moleküle einen vollständig, d.h. durch das bindendeElektron besetzten Zustand. Höher gelegene Zustände sind frei. Bei der Zusammenlagerungzum Kristall entsteht aus dem Zustand des bindenden Elektronenpaars meist ein vollbesetztesBand, über dem ganz leere Bänder liegen. Wenn die verbotene Zone dazwischen sehr breitist, entsteht ein Isolator, sonst ein Halbleiter (der Übergang ist natürlich fließend). Metallesind dadurch gekennzeichnet, dass in ihren Atomen der Ausbau einer bestimmten Elektronenschalebeginnt, oder längst nicht abgeschlossen ist. Selbst bei Erdalkali-Elementen, wodie s-Schale abgeschlossen ist, liegt die d-Schale energetisch so nahe, dass der Einbau oft


182 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENalternierend erfolgt. Beim Zusammenbau zum Gitter überlagern sich die Bänder, zu denensich diese benachbarten Schalen verbreitern. Das entstehende Band ist dann natürlich nurteilweise mit Elektronen gefüllt.Wie bewegen sich Elektronen in Energiebändern?Interessant sind die Fälle, wo das Elektron seinen Zustandändert, speziell energetisch und impulsmäßig imBand aufsteigt. Das ist natürlich nur möglich, wennweiter oben freie Zustände verfügbar sind. Fernermuss eine beschleunigende Kraft - z.B. ein elektrischesFeld - wirken. Das Elektron reagiert allerdings entsprechendseiner Lage im E(k)-Diagramm oft rechteigenartig auf eine solche Kraft. Als Geschwindigkeitdes Elektrons ist die Gruppengeschwindigkeit des ψ-Wellenpaketes anzusehen, aufgebaut aus Wellen einesengen Bereichs um den gewählten k-Wert. Die GruppengeschwindigkeitistAbbildung 4.6: Mit abnehmenderGitterkonstante d verbreitern sichElektronenzustände. Aus einem Isolatorwird bei hinreichend hohemDruck ein metallischer Leiter.v g = ∂ω/∂k = −1 ∂E/∂k.Für das freie Elektron mit E = p 2 /(2m) = 2 k 2 /(2m)folgt sofort v g = p/m, d.h. die übliche Relation. BeimKristallelektron ist die Lage komplizierter. Wir betrachtenspeziell eine Beschleunigung ˙v g und die dazunötige Kraft F . Es ist˙v g = −1 ∂ ∂E∂t ∂k = ∂ ∂E ∂k−1∂k ∂k ∂t = ∂2 E−1∂k ˙k. (4.17)2Nun ist, wie üblich, die Kraft gleich der zeitlichenÄnderung des Impulses: F = ṗ = ˙k. Es folgtalso˙v g = −2 ∂2 E∂k 2 F = 1m effF, (4.18)m eff = 2 ( ∂ 2 E∂k 2 ) −1(4.19)Die effektive Masse regelt die Reaktion des Kristallelektrons auf eine Kraft. Wenn die Bandbreite,wie oben nach der Näherung des freien Elektrons geschätzt, ∆E ≈ 2 /(8md) ist, wirdnatürlich m eff gleich der üblichen Elektronenmasse. Das ist keineswegs allgemein der Fall.Das Elektron reagiert ja nicht als Einzelteilchen auf die Kraft, sondern es muss das ganzeGitter mitbeeinflussen. Das ist sozusagen der Preis, den es zahlen muss, um bei konstantemk so ungehindert durch das Gitter fliegen zu können. Wenn es seinen Impuls ändern soll,spielt das ganze Gitter mit.


4.2. HALBLEITER 183Am unteren Bandrand ist die Krümmung ∂ 2 E/∂k 2 i.A. stärker als bei der freien Parabel.Dementsprechend ist m eff kleiner als die freie Masse m. Bei höheren Energien istim schematischen Bild, Abb. 4.4, die ursprüngliche Parabel fast erhalten geblieben, es wirdm eff ≈ m. Dann aber folgt vielfach ein Wendepunkt von E(k). Dort ist die Krümmung Null,also m eff = ∞. Ganz oben im Band schlägt m eff auf negative Werte um. Solche Elektronenbeschleunigen sich in Gegenrichtung zur wirkenden Kraft.Wenn das Band fast bis zum oberenRand gefüllt ist, spricht man von unbesetztenZuständen in diesem Band, denDefektelektronen oder Löchern. <strong>Si</strong>e verhaltensich in jeder Hinsicht entgegensetztwie das dort fehlende Elektron, das dorthingehört: die effektive Masse ändert mit∂ 2 E/∂k 2 ebenfalls ihr Vorzeichen, d.h. dieLöcher am oberen Bandrand haben wiederpositive Masse. Ein Loch, gezogen vonder positiven Kraft eE, beschleunigt sichim normalen <strong>Si</strong>nn, ein Elektron mit positivereffektiver Masse, gezogen von der negativenKraft −eE, ebenfalls. Beide lieferneinen positiven Beitrag zum Strom. Wiegroß diese Beiträge sind, hängt natürlichvon den Konzentrationen und Beweglichkeitender Elektronen und Löcher ab.4.2 HalbleiterAbbildung 4.7: Bänderschema (von links nachrechts) einen Isolator (z.B. Diamant); ein Metall(z.B. Alkali-Elemente); ein Halbmetall (z.B.Wismut)Die Informationstechnik hat heute die Energietechnik an Umfang und Bedeutung weitüberholt. <strong>Si</strong>e lebt von den Halbleitern, die in der folgenden Sektion kurz besprochen werden.4.2.1 Reine HalbleiterDie meisten Halbleiter sind binäre Verbindungen aus einem p-wertigen und einem (8 − p)-wertigen Element. Man klassifiziert sie nach den Wertigkeiten bzw. nach den Spalten desPeriodensystems, aus denen die Elemente stammen. ZnS ist ein II-VI-Halbleiter, GaAs istein III-V Halbleiter, <strong>Si</strong>C ist ein IV-IV Halbleiter; ähnlich wie <strong>Si</strong>C verhalten sich reines <strong>Si</strong> undGe. Wichtig sind außerdem Metalloxyde wie Cu 2 O, die nicht in diese Klassifikation fallen.Das Schema der Energiezustände für Elektronen in reinen Halbleitern ist sehr einfach:Ein Valenzband ist vom Leitungsband getrennt durch eine verbotene Zone der Breite E 0 . Diesbestimmt die elektrischen und optischen Eigenschaften. Leitungselektronen können thermisch(durch Phonon-Elektron Stoß) oder optisch (durch Photon-Elektron Stoß, manchmalunter Mitwirkung von Phononen) angeregt, d.h. über die verbotene Zone gehoben werden.Im Leitungsband seien n Elektronen/m 3 , im Valenzband ebenfalls so viele Löcher/m 3 . Wirschreiben die Raten von Anregung und Rekombination auf, d.h. die Anzahl gehobener bzw.


184 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENzurückgefallener Elektronen pro m 3 und s. Die Anregung, ob thermisch oder optisch, “schöpftaus dem Vollen und gießt ins Leere”. Ihre Rate hängt daher nicht von n ab! Die Rekombinationhat als bimolekulare Reaktion zwischen Elektron und Loch eine Rate proportional n 2 .Die zeitliche Änderung von n ist alsoṅ = α − βn 2 (4.20)α ist um so größer, je höher T und (bei optischer Anregung) je höher die Lichtintensität ist.Im Gleichgewicht ist ṅ = 0, alson =√ αβ . (4.21)Dabei spielt es zunächst noch keine Rolle, ob es sich um ein echtes thermisches Gleichgewichthandelt, oder nur um eine ausgeglichene Bilanz zwischen optischer Anregung und Rekombination.Im Falle einer reinen thermischen Anregung ergibt sich aus der Fermi Verteilungsofort ein Zusammenhang zwischen α und β.Bei T = 0 ist das Valenzband voll mitEnergie εE 0Leitungsbandverbotene Zone, EnergielückeValenzband- -+ElektronenFermienergie+LöcherAbbildung 4.8: Schematisches Bandmodell einesreinen Halbleiters.in beiden Bändern, dass E F genau in derZonenmitte liegt (obwohl es sich natürlichnicht kontrollieren lässt, dass dort f = 0.5ist). Da E 0 ≫ k B T ist, lassen sich dieBesetzungsverhältnisse mit Elektronen imLeitungsband und Löchern im Valenzbanddurch einen Boltzmann-Schwanz beschreiben,der seinerseits um E 0 /2 über der Fermi-Grenze liegt,(f(ɛ) = exp − E )0/2 + ɛk B TElektronen besetzt, das Leitungsband istleer, d.h. die Fermi-Energie E F liegt in derverbotenen Zone. Bei höheren Temperaturenwerden Elektronen ins Leitungsbandgehoben und die gleiche Anzahl Löcherbildet sich im Valenzband. Diese Symmetriebedeutet bei gleicher Zustandsdichte(4.22)Entsprechendes gilt für die Löcherbesetzung im Valenzband mit nach unten gezählter Energie.Wenn die Näherung quasifreier Elektronen anwendbar ist, ergibt sich aus Glg. 4.10 dieenergetische Zustandsdichte im Band( ) 3/2 2mdN = 4π ɛ 1/2 dɛ. (4.23)h 2Von diesen Zuständen ist der Bruchteil f(ɛ) besetzt, also ist die gesamte Anzahldichte derLeitungselektronenn =∫ ∞0f(ɛ)dN = N exp[−E 0 /(2k B T )] (4.24)


4.2. HALBLEITER 185mit( ) 3/2 mkB TN = 2= 3 · 10 25 m −3 bei 300 K.2π 2Im Valenzband sitzen ebenso viele Löcher. Das Produkt n 2 = N 2 exp[−E 0 /(k B T )] hängtnicht von der Lage der Fermi-Grenze ab, behält seinen Wert also auch, wenn durch Dotierungdie Löcherdichte p verschieden von der Elektronendichte n wird. Dann gilt also immer nochn · p = N 2 exp[−E 0 /(k B T )]. (4.25)Bei gegebenen Produkt np ist dieSumme der Trägerkonzentration n + pam kleinsten, wenn n = p ist. Diesist im reinen Halbleiter der Fall, kannaber auch im gestörten Halbleiter erreichtwerden, wenn die n- bzw. p-liefernden Störstellen einander kompensieren.Ein solcher verunreinigungskompensierterHalbleiter hat keine höhereLeitfähigkeit als der reine, während einseitigverunreinigte Halbleiter oft umviele Größenordnungen besser leiten.Für n = p folgtAbbildung 4.9: Direkte und indirekteBandübergänge. Der optische Übergang läuftimmer senkrecht nach oben, der thermischekann den minimalen Energieabstand wählen, daPhononen die Impulsbilanz ausgleichen können.n = N exp[−E 0 /(2k B T )] (4.26)(Arrhenius-Kurve der Eigenhalbleitung),oder durch Vergleich mit Glg.4.21α = βN 2 exp[−E 0 /(k B T )]. (4.27)Dieser Zusammenhang zwischen α und β gilt nur für die thermische Anregung. Für dieoptische Anregung mit einer Intensität I ist α ∼ I, also bei n = pn ∼ √ I. (4.28)Da die Beweglichkeit i.A. viel schwächer von T abhängt (die Beweglichkeit der Ladungsträgernimmt i.A. mit steigender Temperatur ab), bestimmen die Formeln für n und p auch dieLeitfähigkeitσ = e(nµ n + pµ p ). (4.29)Die Beweglichkeit ist meist höher als in Metallen, besonders hoch für 3-5 Verbindungen (bisetwa 10 m 2 /Vs). Begrenzend wirken bei sehr reinen Halbleitern die Stöße mit Phononen,andernfalls die Stöße mit Gitterfehlern.


186 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENDie Breite der verbotenen Zone kommt auch als Grenzfrequenz der Absorption oderAbsorptionkante ω gr = E 0 / zum Ausdruck. Kleinere Frequenzen werden nicht absorbiert(abgesehen von sehr viel kleineren, die Gitterschwingungen anregen), bei ω gr setztoft sehr steil die Absorption ein. Manchmal tritt allerdings E 0 nicht als Absorptionskantein Erscheinung. Man muss nämlich beachten, dass ein Photon der hier interessierendenFrequenz einem Elektron zwar eine erhebliche Energie, aber nur einen minimalen Impulsübergeben kann (Photon: p = h/λ = ∆E/c; Elektron: p = mv = √ 2m∆E; Phonon:p = h/λ = ∆E/c s ; c s ≪ c, ∆E ≪ mc 2 ). Daher führen optische Übergänge im E, k-Diagramm praktisch senkrecht nach oben, wenn kein Phonon beteiligt ist (vgl. Abb. 4.9).Die Ränder von Valenz- und Leitungsband liegen aber durchaus nicht immer beim gleichenk-Wert. Die optische Absorptionskante kann also einem höheren E-Wert entsprechen als dasaus der Eigenleitung folgende E 0 , denn thermische, durch Phononen vermittelte Übergängenutzen immer den minimalen energetischen Abstand aus.Wenn E 0 > 3.1 eV, ist der Halbleiter farblos und durchsichtig. Wenn dagegen dieAbsorptionskante einen Teil des sichtbaren Spektrums abschneidet, schimmert der Kristallim reflektierten Licht in der entsprechenden Farbe, im durchgehenden Licht in derKomplementärfarbe. Bei E 0 < 1.5 eV wird das ganze sichtbare Spektrum absorbiert, derKristall hat einen metallähnlichen Schimmer. Vielfach entsteht die Färbung aber nichtdurch Grundgitterabsorption, sondern durch Absorption oder Streuung an Verunreinigungen.Übergangsmetalle im an sich farblosen Al 2 O 3 (Korund) färben die verschiedenen Edelsteine(außer Diamant); kolloides Gold in Glas streut überwiegend im Roten als Rubinglas.4.2.2 Gestörte HalbleiterJede Störung des Idealgitters kann zusätzliche Energiezustände für Elektronen erzeugen, dieoft in der verbotenen Zone liegen. Solche Störungen sind• nichtstöchiometrische Zusammensetzung;• Einbau von Fremdatomen an Stelle der regulären Gitteratome (Dotierung);• unbesetzte Gitterplätze; die entsprechenden Teilchen können von vornherein fehlen(Nichtstöchiometrie) oder sie können aus Gitterplätzen abwandern (Frenkel-Fehlstellen);• Kristallitgrenzen und Grenzen des ganzen Kristalls;• Versetzungen;• unvollständige Ordnung des ganzen Gitters, das im Extremfall zum amorphen Halbleiterwird.Wir betrachten hier den Einbau eines Atoms falscher Wertigkeit auf einem regulärenGitterplatz, z.B. P oder B in ein <strong>Si</strong>-Gitter.


4.2. HALBLEITER 187Das P-Atom stellt nicht vier Elektronen zur Bindung bereit wie das <strong>Si</strong>, sondern fünf.Es paßt sich so gut es kann in das umgebende Gitter ein, sättigt also mit vier seiner Elektronendie vier Elektronen zu Paaren ab, die von <strong>Si</strong> herrühren. Auf dem kompletten undneutralen Gitterhintergrund, der sich hauptsächlich durch seine Dielektrizitätskonstante ɛvom Vakuum unterscheidet, sitzt das fünfte Elektron beim P-Atom wie das Elektron beimH-Atom. Allerdings sind die Bohr-Bahnradien in diesem wasserstoffähnlichem System um ɛvergrößert, die Termenergie um den Faktor ɛ 2 verkleinert. Statt 13.6 eV ist die Ionisierungsenergienur noch 0.1 eV oder kleiner, d.h. nicht viel größer als k B T bei Zimmertemperatur.Das Überschußelektron sitzt in einem flachen, bei P lokalisierten Term, den Donatorterm,aus dem es leicht thermisch in das Leitungsband gelangen kann, um viele Größenordnungenleichter, als eines der Bindungselektronen. Genau umgekehrt fehlt beim B ein Elektron ander vollen Bindung. Ein Loch ist wasserstoffähnlich an einen Akzeptorterm gebunden, undkann leicht ins Valenzband ionisiert werden.Bei hinreichenden Verunreinigungenmit P oder As wird also ein <strong>Si</strong>-Kristalln-leitend, durch B, Al oder Ga p-leitend. Schon sehr geringe Konzentrationengenügen, da die Eigenleitung fastum den Faktor exp[−E 0 /(2k B T )] benachteiligtist. Pro m 3 seien D Donatorenund A Akzeptoren eingebaut. dDonatoren haben noch ihre Elektronen,a Akzeptoren ihre Löcher. Im Übrigengebe es n Leitungselektronen und p Valenzlöcher,alles auf 1 m 3 bezogen. DieLadungsbilanz verlangt dannn + (A − a) = p + (D − d) (4.30)Abbildung 4.10: (a,b) Bänderschema eines Halbleitersmit Donatoren bzw. Akzeptoren.(ionisierte Donatoren bzw. Akzeptorensind positiv bzw. negativ geladen!). Damit ist nicht gesagt, dass alle D − d in den Donatorenfehlende Elektronen im Leitungsband zu finden sind. Dies ist nur der Fall, wenn keineAkzeptoren vorhanden sind. Dann gilt die zu Glg. 4.25 analoge Beziehungn = √ ND exp[−E d /(2k B T )]. (4.31)E d ist der Abstand (Donator - Leitungsbandrand). Wenn Akzeptoren da sind, hatman 3 Gleichgewichte zu beachten: Eine detaillierte Betrachtung zeigt, dass γ/α =N exp[−E d /(k B T )] und δ/ɛ = N exp[−E a /(k B T )].Anregung RekombinationValenzband - Leitungsband η = βnpDonatoren - Leitungsband γd = αn(D − d)Akzeptoren - Valenzband δa = ɛp(A − a)


188 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAbbildung 4.11: Leitungselektronenkonzentration in <strong>Si</strong> Einkristallen mit verschiedener As-Dotierung. Arrheniusplot ln n(T −1 )Es sei A ≪ D. Bei tiefen Temperaturen sind fast alle Donatoren noch besetzt: d ≈ D.Die wenigen n im Leitungsband zwingen nach Glg. 4.25 so viele Löcher ins Valenzband,dass die Akzeptoren sich fast ganz leeren müssen: a ≪ A, folglich gilt nach obiger Tabelle:p = δa/(ɛA). Wenn dann p ≪ D, was sicher zutrifft, heißt die Ladungsbilanzn + A = D − d = γD/(αn).Jetzt kommt es darauf an, ob n kleiner ist als A oder nicht. Für n ≪ A wirdfür n ≫ An = γD/(αA) = NDA −1 exp[−E d /(k B T )],n = √ γD/αwas mit Glg. 4.31 identisch ist. Der Übergang zwischen beiden Fällen erfolgt bei (beide Glg.gleichsetzen)E dT =k B ln(ND/A 2 ) .Bei noch höheren Temperaturen wird schließlich d ≪ D, denn bei n ≫ A muss D−d = neinmal den Wert D erreichen, und zwar für T = E d /k B · ln(N/D). Von dort ab lautet dieLadungsbilanz einfach n = D: Alle Donatorenelektronen sind im Leitungsband. Die Abb.4.11 zeigt Kurven dieses Typs für verschiedene As-Konzentrationen.Bandstrukturen, wie in Abb. 4.10 kommen auf vielfache Weise zu Stande und spielenauch in anderen Halbleitertypen, z.B. in photoleitenden Kristallen eine große Rolle. Wenn


4.2. HALBLEITER 189die Zustände unter dem Leitungsband nicht von vornherein mit Elektronen besetzt geliefertwerden, nennt man sie Haftstellen oder Traps. Entsprechend können Löcher nahe amValenzband liegen. Die Ladungsbilanz lautet dann mit den gleichen Beziehungen wie obenn + d = p + a.Das zeitliche Verhalten einer photoleitenden CdS-Zelle im Belichtungsmesser oder der Lumineszenzschichteiner Fernsehröhre hängt entscheidend von solchen Traps ab.Abbildung 4.12: Vereinfachtes Modell eines photoleitenden oder lumineszierenden Halbleitersmit Elektronentraps der Konzentration D, Ladungsträgerkonzentration n im Leitungsband,p im Valenzband, d in den Traps. Die angegebene Richtung der Übergänge entspricht demTransport von Elektronen.Wir betrachten ein sehr einfaches Modell, Abb. 4.12. Elektronen können durch Lichteinstrahlungmit der Rate I (m 3 s −1 ) ins Leitungsband gehoben werden. Bevor sie mit dengleichzeitig im Valenzband entstandenen Löchern rekombinieren (Rate βnp), werden sie i.A.wiederholt von solchen Traps eingefangen: Einfangrate αn(D − d), Ausheizrate γd. Bei nichtzu hohen Temperaturen sind die meisten Elektronen eingefangen (n ≪ d), bei nicht zu starkemLicht sind die Traps trotzdem nur schwach besetzt (d ≪ D). Die Ladungsbilanz heißtdann p = d. Zur Zeit t = 0 beginne man mit der Lichteinstrahlung; vorher war n = d = p = 0.Die Traps verzögern das Anklingen von n. Im Gleichgewicht (man beachte, dass es sich nichtum ein thermisches Glchgw. handelt), muss I = βnp und αnD = γd sein also,n gl =√γIαβD , d gl = p gl =√αDIβγ . (4.32)Diese Trägerkonzentration, hauptsächlich in d und p angelegt, wird bei der ErzeugungsrateI in der Zeit√τ = d I = αD(4.33)βγI


190 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENaufgebaut. n und damit der Photostrom steigen in diesem Fall nicht proportional mit derLichtintensität, die ∼ I ist, sondern nur mit √ I. Je mehr Traps da sind, desto kleiner bleibtder stationäre Photostrom und desto langsamer erreicht er sein stationäres Niveau.4.2.3 Halbleiter-ElektronikKompaktheit, Energieverbrauch, Vielseitigkeit und Frequenzbereiche sind jene Eigenschaften,die Halbleiterelektronik gegenüber Elektronenröhren wesentlich bevorzugt.Einfache p − n-Übergänge in verschiedenen Ausführungen und Kombinationen könnenfast jede physikalische Größe in fast jede andere umwandeln: Elektrische Spannung, Strom,Magnetfeld, Licht, Teilchenstrahlen, mechanische Spannung beeinflussen den n−p-Übergangso, dass eine Spannung in ihm auftritt, dass er seinen Widerstand ändert, Licht emittiert,Wärme oder Kälte, sogar mechanische Bewegung hergibt. Von den zahllosen, in den letztenJahrzehnten entwickelten Bauelementen können hier natürlich nur ganz wenige herausgegriffenund diskutiert werden.Eine Kristalldiode ist ein Halbleiterkristall, dessenAbbildung 4.13: Strom-Spannungskennlinie eines p-nÜbergangs.n 2 /n 1 = exp[eU/(k B T )]). In der Übergangschichtmuss also eine steile Stufe des rein elektrischen Potentialsvon der HöheU 0 = k BTebeide Hälften verschieden dotiert sind, so dass die einen−, die andere p-leitet. Das kann z.B. durch Einbauvon As bzw. Al in einem Ge-Kristall erreicht werden.Die n-leitende Hälfte hat viele Elektronen, wenigeLöcher, in der p-leitenden Hälfte ist es umgekehrt. Ander Grenze (“junction”) zwischen beiden besteht einstarkes n-Gefälle in der einen und ein p-Gefälle in deranderen Richtung. Elektronen diffundieren deswegenin den p-leitenden Teil und Löcher in den n-leitenden,aber nur bis sich in der entstehenden Doppelschichtein Feld aufgebaut hat, das weiteren Zustrom vonTeilchen verhindert. In diesem Zustand kompensiertder Leitungsstrom (getrieben durch das aufgebauteelektrische Feld) im Doppelschichtfeld den Diffusionsstromim Konzentrationsgefälle, d.h. das elektrochemischePotential U − k B T (1/e) ln n für Elektronen,bzw. U + k B T (1/e) ln p für Löcher ist überall gleich(leicht zu erhalten aus Besetzungswahrscheinlichkeitln n 2= k BTn 1 eln p 1p 2(4.34)liegen. 1 und 2 beziehen sich auf die beiden Hälften des Kristalls.Ein von außen angelegtes Feld verschiebt das Verhältnis zwischen Feldstromdichte j F eldund Diffusionsstromdichte j Diff , die im feldfreien Gleichgewicht beide den Wert j 0 haben.Praktisch fällt die äußere Spannung U allein an der Übergangsschicht ab, denn deren Wi-


4.2. HALBLEITER 191derstand ist sehr viel höher als für den n- oder den p-leitenden Teil. Die Potentialstufeerhöht oder erniedrigt sich also einfach um U. Für die Ladungsträger, die als Feldstromgegen diese Stufe anlaufen, senkt bzw. steigert sich die Wahrscheinlichkeit hinaufzukommenum den Faktor exp[±eU/(k B T )], und zwar für n und p im gleichen <strong>Si</strong>nn. Somit wirdj F eld = j 0 exp[±eU/(k B T )]. Die Konzentrationsverteilung und damit der Diffusionsstromändern sich dagegen kaum: j Diff = j 0 . Damit fließt ein GesamtstromAbbildung 4.14: SchematischeDarstellung der Funktionsweiseeines p − n Übergangs.j = j F eld − j 0 = j 0 (exp[eU/(k B T )] − 1), (4.35)wenn das Feld von der p- zur n-Seite zeigt (Flussrichtung)undj = j 0 (exp[−eU/(k B T )] − 1) (4.36)in umgekehrter Richtung (Sperrrichtung). Diese Gleichrichterkennlinieist höchst unsymmetrisch. In Sperrrichtungfließt praktisch immer j 0 (Größenordnung 1 mAcm −2 ), unabhängig von U; schon bei U = 1 V inFlussrichtung wäre j um den Faktor 10 17 größer.Man kann die Vorgänge in der Diode auch nach Abb.4.14 unter der Berücksichtigung der Gitterionen deuten,die als Raumladung übrig bleiben, wenn “ihre” Ladungsträgerabgesaugt werden. In der p−n-Grenzschichtentsteht durch Trägerrekombination eine Randschicht,die hauptsächlich ortsfeste Ladungen enthält und undpraktisch keinen Ladungstransport zuläßt, wodurch derWeiterbildung der Schicht bereits bei etwa 10 −7 m eineGrenze gesetzt wird. Legt man an die p − n-Diode eineSpannung an, derart, dass die verbliebenen beweglichenLadungen noch weiter von der Grenzfläche abgezogenwerden [Abb. 4.14(c)], so verbreitert sich die schlechtleitende Mittelschicht, d.h. der Widerstand wird größer;polt man die Spannung um [Abb. 4.14(d)], so schrumpftdie Schicht, d.h. der Widerstand wird geringer.Kristalldioden stellt man je nach Verwendungszweckdurch verschiedene Methoden (Eindiffundierung der Dotierung,Aufwachsen, Ätztechniken, Legierungstechniken)und in verschiedenen Formen der n- und p-Bereicheher (Spitzen- und Flächendioden, p-i-n-Dioden mitdickeren eigenleitenden Übergangsschichten, Schottky-,Gunn-, Zener-, Esaki-Dioden) mit besonderen Kennlinienformen, die z.T. auf einem Tunnelnder Träger durch die sehr dünne Grenzschicht beruhen. Eine Flächendiode, derenÜbergangsschicht so nahe an der Oberfläche liegt, dass möglichst viel eingestrahltes Licht in


192 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENihr absorbiert wird, ist die Photodiode (Sonnenzelle). Die vom Licht erzeugten p − n-Paarewerden vom kräftigen Feld in der Potentialstufe getrennt und vereinigen sich, falls die Belägeder n- und der p-leitenden Schicht durch einen Draht verbunden sind, lieber “hintenherum”,da der Widerstand der Schicht, des Drahtes und selbst eines Verbrauchers kleiner ist alsin der Übergangsschicht. Das ist die einfachste z.B. für Satelliten oder aber auch für den“Hausgebrauch” auf <strong>Si</strong>- oder Ge-Basis benutzte Sonnenzelle. Gründe für die nur geringenWirkungsgrade (10 %) sind offensichtlich: Rekombinationsverluste sind unvermeidlich; beizu dünner Grenzschicht wird zu wenig absorbiert, bei zu dicker reicht das Feld nicht zurTrennung aus.Etwa das Umgekehrte spielt sich bei der Elektrolumineszenz-Diode, LED, ab: Ein angelegtesFeld treibt die Elektronen und Löcher, die teilweise an den Elektroden injiziert wordensind, aufeinander zu, bis sie in der junction unter Lichtemission rekombinieren.Beim Transistor (erfunden 1947, Nobelpreis 1956, Bardeen, Brattain, Shockley), schiebtman eine sehr dünne n-leitende Schicht in einem p-leitenden Kristall oder umgekehrt, schaltetalso 2 p − n-junctions, entgegengesetzt gepolt, hintereinander (p − n − p, bzw. n − p − n-Transistor). Auf jede der drei Schichten wird ein Kontakt aufgebracht (Emitter-, Basis-,Kollektorkontakt).Die Funktionsweise des Transistors wird anhand von p-n-p Schichten beschrieben (vgl.Abb. 4.15):Abbildung 4.15: Zur Funktionsweisedes pnp-TransistorsDer Übergang p 1 − n sei in Durchlassrichtunggepolt, d.h. an der Elektrode E liegt gegenüberB eine positive Spannung, so dass einStrom vom Emitter E zur Basis B fließt, der imp 1 -Teil überwiegend durch Löcher und im n-Teilüberwiegend durch Elektronen getragen wird. Derzweite n−p 2 -Übergang sei in Sperrrichtung gepolt,d.h. an K liegt eine negative Spannung gegenüberB.Die Löcher können im n-Teil mit Elektronen rekombinieren,was zum Basisstrom beiträgt. Wenndie n-Schicht genügend dünn ist, kann ein Teil derLöcher durch die n-Schicht diffundieren und in denp 2 -Teil gelangen. Hier werden sie durch die negative Spannung an K beschleunigt, rekombinierenan der Elektrode K (Kollektor) mit den von der Spannungsquelle zugeführten Elektronen,die den Kollektorstrom I K bilden. Die Stärke des Kollektorstromes hängt ab vomEmitterstrom und von der Basisspannung, weil diese den Anteil des Emitterstomes bestimmt,der auf die Basis fließt und daher dem Kollektorstrom fehlt. Ändert man bei fester Kollektor-Basis-Spannung U KB den Emitterstrom I E , so ändert sich der Kollektorstrom entsprechend.Diese sogenannte Basisschaltung (vgl. Abb. 4.16), bei der die Basis der gemeinsame Anschlusspunktfür von Eingangs- und Ausgangskreis ist, kann als Spannungsverstärker genutztwerden.Da der erste p-n-Übergang in Durchlassrichtung gepolt ist, wird der EingangswiderstandR e zwischen Emitter und Basis klein, während der Ausgangswiderstand R a zwischen Kol-


4.2. HALBLEITER 193Abbildung 4.16: Basisschaltung des Transistorslektor und Basis wegen des in Sperrrichtung gepolten n − p 2 Übergangs groß ist.Wird am Eingang eine Spannung U e gelegt, so fließt ein Emitterstrom I E = U e /R e , wobeiR e der Eingangswiderstand zwischen Emitter und Basis ist.Die Ausgangsspannung, die am Ausgangswiderstand R a abfällt, ist dannU a = R a I K = R a βI E = β R aR eU e , (4.37)wobei β der Bruchteil des Emitterstromes ist, der den Kollektor erreicht.Abb. 4.17 stellt die 3 Grundschaltungen von Transistoren dar.Abbildung 4.17: Grundschaltungen von Transistoren.In der Tunneldiode sind n- und p-Bereich sehr hoch dotiert, so dass die Randschicht sehrdünn wird (10 nm). Ihre Dicke hängt ja als Debye-Hückel-Länge von n ab wie d ∼ 1/ √ n.Elektronen können bei Durchlasspolung durch diese dünne Schicht tunneln, was zu einemnegativen differentiellen Widerstand führt. Der Strom fällt mit steigender Spannung.Der Halbleiterlaser erzeugt Rekombinationslicht injizierter Ladungsträger in einem p−n-Übergang ähnlich wie bei der Photodiode. Die Träger, speziell die Elektronen dicht überihrem Bandrand, müssen durch einen Sprung der Bandkante E, die Photonen durch einenSprung der Brechzahl n sowie an den Austrittsflächen durch halbdurchlässige Spiegel eingesperrtwerden, damit die Laserbedingung (erzwungene Emission > Absorption + Photonenverlust)erfüllbar wird. Der einfachste Spiegel ist die glatte Spaltfläche des Kristalls: Dergroße Brechzahlsprung bedingt hohe Reflexion. Den E- und n-Sprung in die andere Richtungerreicht man, indem man z.B. eine dünne (< 1 µm) aktive Region aus GaAs in zwei


194 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAl x Ga 1−x As-Schichten einschließt. Al erzeugt eine breitere verbotene Zone, ähnlich, wie dievon C breiter ist als die von <strong>Si</strong> oder Ge. Dafür hat reines GaAs die höhere Brechzahl undwirkt als optischer Wellenleiter. Ein solcher Laser emittiert bei 0.9 µm. Zum Anschluß anGlasfaserkabel eignen sich 1.3 oder 1.5 µm besser; diese erzeugt man mit InP-Laser. Fasernaus Quarzglas, die durch Brechzahlgradienten (n innen größer) zu Wellenleitern werden,können <strong>Si</strong>gnale, die mit einigen GHz moduliert, mit Absorptionsverlusten von weniger als1 dB/km übertragen.4.3 Mechanische Eigenschaften4.3.1 EinleitungDie mechanischen Eigenschaften eines Festkörpers werden im Wesentlichen von der Art undStärke der interatomaren Bindungen bestimmt. Allerdings spielt auch die kristallographischeStruktur, die Art und Verteilung von Defekten, Verunreinigungen und dispergierten Phasen,sowie die Dichte der inneren Grenzflächen eine große Rolle. Eine Sonderstellung bei denmechanischen Eigenschaften nehmen die sogenannten Elastomere ein, bei denen die elastischenEigenschaften nicht primär von den interatomaren Bindungsstärken, sondern von derMolekularstruktur abhängen.Die Kontrolle und gezielte Manipulation der mechanischen Eigenschaften von Werkstoffenstellt einen wichtigen Aspekt der modernen Materialwissenschaft dar. Durch gezielteEinflussnahme auf die Mikrostruktur von Materialien gelingt es, Eigenschaften wie Verschleißfestigkeit,Temperaturbeständigkeit, Verformbarkeit und Bearbeitbarkeit über weiteBereiche zu variieren sowie für verschiedene Anwendungsprofile zu optimieren.4.3.2 Elastische GrundgrößenGreift an einem Körper eine Kraft an, so wird dieser durch Verformung auf diese Kraftreagieren. Ist die Verformung reversibel, kehrt der Körper also nach dem Beenden der Kraftaufbringungzu seiner ursprünglichen Gestalt zurück, so spricht man von elastischer Verformung.Eine Idealgeometrie zu einem Verformungsexperiment ist der sogenannte Zugversuch,wie er idealisiert in Abbildung 4.18 dargestellt ist.In einen würfelförmigen Prüfkörper wird normal auf die Grund- und Deckfläche eine KraftF eingeleitet. Abbildung 4.18(a) zeigt die <strong>Si</strong>tuation vor der Krafteinleitung. Der Prüfkörperweist in allen Dimensionen die ursprüngliche Länge L 0 auf. Nach dem Einleiten der Prüfkräfte(Abbildung 4.18(b)) hat sich die Länge parallel zur Kraftrichtung auf L p = L 0 + ∆L p undder lineare Querschnitt auf L q = L 0 + ∆L q geändert. ∆L p = L 0 − L p ist dabei positiv,während ∆L q = L 0 − L q negativ ist. Als Verformungen werden, entlang der entsprechendenRichtungen, die Größenɛ p = ∆L pL 0(4.38)


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 195Abbildung 4.18: Zugversuch(a) Würfelförmiger Prüfkörper vor der Krafteinleitung an Grund- und Deckfläche(b) Verformung des Prüfkörpers (Seitenansicht)sowieɛ q = ∆L q(4.39)L 0bezeichnet. Die Verformungen sind dimensionslose Größen und werden oft in % angegeben.Wie können die Verformungen und eingeleiteten Kräfte in Beziehung gesetzt werden?Zunächst soll der Fall der Dehnung des Prüfkörpers behandelt werden. Im idealen Zugversuchwird die Kraft F nicht punktförmig eingeleitet, sondern über die gesamte Angriffsflächeverteilt. Es ist daher sinnvoll, vom Begriff der Kraft zur Größe einer Spannung, also einerKraft pro Flächeneinheit, überzugehen. Für die Spannung σ giltσ = F A , (4.40)wobei A jene Fläche ist, auf die F aufgebracht wird. Der differentielle Zusammenhang zwischenSpannung und Verformung in Längsrichtung kann dann alsdσdɛ p= E (4.41)formuliert werden. Das Verhältnis E wird als Elastizitätsmodul (englisch: ”Young’s modulus“)bezeichnet. Die Dimension von E ist [Pa] bzw. [N/m 2 ] In vielen Fällen gilt die linearisierteVersion von Gleichung 4.41σɛ p= E (4.42)


196 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENbeziehungsweiseσ = E · ɛ p , (4.43)welche nichts anderes ist als das auf die Fläche normierte Gesetz für die Rückstellkraft einerlinearen Feder, F = C · x (Federkonstante C, Auslenkung x). Gleichung 4.43 wird als dassogenannte Hook’sche Gesetz bezeichnet und sagt aus, dass ein linearer Zusammenhang zwischenSpannung und Verformung besteht. Das Hook’sche Gesetz ist jedoch nicht das einzigeElastizitätsgesetz. Für spezielle Materialien kann der Zusammenhang zwischen Spannungund reversibler Verformung auch nichtlinear sein. Das Material ist dann immer noch elastisch,da es bei Wegfallen der eingeleiteten Kräfte seine ursprüngliche Form annimmt, folgtjedoch einem nichtlinearen Elastizitätsgesetz, wie es durch Gleichung 4.41 gegeben ist.Für Materialien, welche sich gemäß dem Hook’schen Gesetz verhalten, kann der Elastitzitätsmodul,ähnlich wie die Gitterschwingungsfrequenz in Abschnitt 3.5, aus dem Oszillatorpotentialeines im Festkörper gebundenen Atomes abgeschätzt werden. Nimmt manwiederum an, dass das Atom eine Bindungsenergie von E B = 12 eV im Festkörperverbandaufweist, so ergibt sich unter der Annahme, dass diese Bindungsenergie beim Auslenkendes Atoms um einen Gitterabstand (3 Å = 3 · 10 −10 m) aufgebracht werden muss, für dieFederkonstante“ C einer einzelnen Bindung”C =2E B 2 · 1.992 · 10−18= = 10.67 N/m. (4.44)(x − x 0 )2(3 · 10 −10 ) 2Nun soll der Festkörper eine Dehnung von ɛ p = 1% erfahren. Dazu muss jeder Atomabstandum ∆L p = 3 · 10 −12 m vergrössert werden. Die dazu nötige Kraft beträgt für eineBindungF = C · ∆L p = 3.2 · 10 −11 N. (4.45)Zur Bestimmung des Elastizitätsmoduls muss noch die Fläche ermittelt werden, auf die sichdiese Kraft verteilt, um die Spannung σ zu berechnen. Beträgt der Bindungsabstand derAtome 3 Å, so beträgt die von einem Atom eingenommene Fläche A = 9 Å 2 = 9 · 10 −20 m 2 .Die Spannung σ ergibt sich damit zuund der Elastizitätsmodul E ergibt sich zuσ = F A = 3.5 · 108 Pa (4.46)E = σ ɛ=3.5 · 1080.01= 3.5 · 10 10 Pa, (4.47)was in vernünftiger Übereinstimmung mit beobachteten E-Modulen liegt.Verwendet man anstatt des obigen Oszillatorpotentiales ein realistischeres Bindungspotentialvom Lennard Jones-Typ,U(r) = − A r n + B r m (4.48)


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 197wie es in Abbildung 4.19 dargestellt ist, so erhält man folgende Abschätzung für den Elastizitätsmodul,wenn man die Konstanten A und B mit dem Minimalwert, U 0 und demBindungsabstand, r 0 , parametrisiert (siehe Abbildung 4.19):E = n · mU 0. (4.49)r03Ersetzt man in Gleichung 4.49 r 3 0 durch das atomare Volumen, Ω, und U 0 durch die thermi-Abbildung 4.19: Atomares Wechselwirkungspotential vom Lennard-Jones Typ (Gleichung4.48). U 0 ist die Bindungsenergie und r 0 entspricht dem Atomabstandsche Energie, welche aufgebracht werden muss, um das Material zum Schmelzen zu bringen,k B·T m (T m ist die Schmelztemperatur des Materiales), so kann die in Gleichung 4.50 gegebeneempirische Beziehung,E ≈ 80 · k B · T mΩ(4.50)gewonnen werden. Der Faktor 80 in Gleichung 4.50 ist rein empirisch und berücksichtigt, dassman zum Schmelzen eines Werkstoffes im Allgemeinen mehr thermische Energie aufwendenmuss, als durch k B · T m gegeben ist. Diese Beziehung gilt für alle Materialien, bei denendie elastische Verformung auf einer Streckung der atomaren Bindungen beruht. Eine großeAusnahme bilden hier die Elastomere, für welche Gleichung 4.50 vollkommen unbrauchbareErgebnisse liefert. Die Gründe dafür werden später diskutiert.Als nächstes soll die Änderung der Dimension des Prüfkörpers normal auf die Prüfkräfteuntersucht werden. Diese ist durch Gleichung 4.39 gegeben. Die sogenannte Querkontraktionszahloder Poisson-Zahl ν ist durch das Verhältnis der relativen Längenänderungen, ɛ pund ɛ q , gegeben:ν = − ɛ qɛ p. (4.51)


198 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENDamit ergibt sich folgender Zusammenhang zwischen ɛ q , σ und E:ɛ q = −ν · σE . (4.52)Geht man weiters von der Annahme aus, dass beim Zugversuch keine Volumsänderung desPrüfkörpers auftritt, so liefert die Beziehung∆V = 0 = (L 0 + ∆L p ) · (L 0 + ∆L q ) 2 − L 3 0 (4.53)unter Vernachlässigung der Quadrate und Kuben kleiner Terme den Ausdruckɛ q = − 1 2 · ɛ p = −ν max · ɛ p . (4.54)Die maximale Querkontraktionszahl beträgt also 1; ein ν > 1 würde eine Volumsverringerung2 2bei Elongation des Prüfkörpers bedeuten, was unphysikalisch ist. Weiters rangieren alle Wertefür Querkontraktionszahlen in einem engen Bereich von 0.2(Diamant) < ν ≤ 0.5, da eineVerformung des Festkörpers ansonsten eine zu große Dichteänderung bedeuten würde.Naturgemäß müssen die in den Festkörper eingeleiteten Kräfte nicht immer in der inAbbildung 4.18 gegebenen Richtung wirken. Ein weiterer wichtiger Idealfall ist in Abbildung4.20 gegeben. Greifen zwei gleich große Kräfte τ · A in entgegengesetzter Richtung parallelAbbildung 4.20: Krafteingriff bei reiner Scherung(a) Würfelförmiger Prüfkörper vor der Krafteinleitung an Grund- und Deckfläche (Seitenansicht)(b) Verformung des Prüfkörpers (Seitenansicht)zu den Seitenflächen des Einheitswürfels an, wie in Abbildung 4.20 dargestellt, so ist derKörper einer reinen Scherung unterworfen. A ist der Flächeninhalt einer Seitenfläche desEinheitswürfels, τ ist die sogenannte Schubspannung. Die Scherlänge γ ist in Abbildung 4.20dargestellt und es gilt die BeziehungG = τ γ . (4.55)


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 199Der Quotient G ist der sogenannte Schubmodul (englisch: Shear Modulus“). Für isotrope”Stoffe gilt: G =E . 2(1+ν)Ein weiterer wichtiger Spezialfall ist die gleichmäßige Kraftwirkung auf den Einheitswürfelvon allen Seiten, also die Wirkung eines isostatischen Druckes. Dabei kommtes zu einer Volumsverringerung von∆V = − σ · V 0K , (4.56)wobei σ wiederum die Kraft pro Flächeneinheit, also eine Spannung, ist und K der sogenannteKompressionsmodul. Es giltK = − σ · V 0∆V . (4.57)4.3.3 Kristallstruktur und elastische EigenschaftenDie im vorigen Abschnitt betrachteten Elastizitätsmoduli stellen Spezialfälle für den allgemeinenSpannungszustand dar, unter dem ein Festkörper stehen kann. Es ist jedoch klar,dass Spannungen und Verformungen für kristalline Festkörper nicht für jede Kraftwirkungin gleicher Weise zusammenhängen, wie dies schematisch für ein einfaches zweidimensionalesSystem in Abbildung 4.21(a) und (b) gezeigt ist. Bei gleichem Betrag der Kraft F wird sichdas in Abbildung 4.21 dargestellte System unterschiedlich verformen, je nachdem in welcheRichtung F wirkt.Abbildung 4.21: Verschiedene Krafteinleitungen in ein einfaches Masse-Feder-System(a) Reiner Zug(b) Beliebig gewählte Kraftrichtung bei gleichem Kraftbetrag wie in (a)Ein allgemeiner Spannungszustand ist in Abbildung 4.22 schematisch dargestellt.In jeder Ebene des Einheitswürfels wirken eine Normalspannung σ und eine Schubspannungτ, welche in je zwei Komponenten parallel zu den jeweiligen Koordinatenachsen zerlegt


200 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAbbildung 4.22: Allgemeiner Spannungszustand mit Normalspannungen σ und Schubspannungenτ.werden kann. Es ist dabei zu beachten, dass die Spannungen keine Vektoren sind, da jadefinitionsgemäß gilt⃗F = σ ij · ⃗A. (4.58)Der sogenannte Spannungstensor σ ij ist ein Tensor zweiter Stufe und lautet in Matrixschreibweise⎛σ ij (x 1 , x 2 , x 3 ) = ⎝⎞σ 11 τ 12 τ 13τ 21 σ 22 τ 23⎠ . (4.59)τ 31 τ 32 σ 33Aus der einfachen skalaren Beziehung zwischen Spannung und Verformung, σ = E · ɛ wirdschließlich die tensorielle Beziehungσ ij = c ijkl · ɛ kl , (4.60)wobei c ijkl der allgemeine Tensor 4. Stufe der elastischen Konstanten ist. Im allgemeinstenFall hat er 81 unabhängige Komponenten, deren Anzahl jedoch durch verschiedene Gittersymmetrienund andere geometrische Zusammenhänge drastisch verringert wird. Für die 14Bravaisgitter lässt sich die Anzahl der unabhängigen elastischen Koeffizienten auf maximal21 unabhängige Koeffizienten für trikline Kristalle und minimal 2 unabhängige Koeffizientenfür kubische Kristalle (und vollständig isotrope amorphe Stoffe) reduzieren. Abschließendsei gesagt, dass die allgemeine Elastizitätstheorie zu den mathematisch anspruchsvollstenUnterkapiteln der Festkörperphysik gehört. Gleichungen mit ähnlicher Struktur wie Gleichung4.60 finden sich auch in der allgemeinen Relativitätstheorie, welche grob gesprochendie Verformung des Raums unter dem Einfluss von Massen behandelt.


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 2014.3.4 Nichtelastische EigenschaftenDer elastische Bereich ist nur ein Teilbereich von Materialien, welche mechanischen Belastungenunterworfen sind. Auch über den elastischen Bereich hinaus liefert der einachsigeZugversuch, wie er in Abbildung 4.18(b) idealisiert dargestellt ist, wichtige Aussagen. ImFolgenden soll dabei nur der Zusammenhang zwischen der Spannung, σ, und der Verformungparallel zu den im Zugversuch angreifenden Kräften, ɛ, für verschiedene Materialklassenbetrachtet werden. Da nur die Paralellverformung betrachtet wird, wurde der Index pweggelassen. Im Realfall läuft ein Zugversuch folgendermaßen ab: ein beliebiges Materialwird in die Zugmaschine eingespannt und bei definierten Umgebungsbedingungen (primärkonstanter Temperatur, T , aber wenn möglich auch bei konstanter Luftfeuchtigkeit und inkontrollierbarer Atmosphäre) mit einer konstanten Verformungsrate, dɛ gedehnt. Die gesamteDehnung, ɛ, ergibt sich damit zu ɛ = dɛ · t. Bei bekannter Einspannfläche kann über einedtdtKraftmesszelle die Normalspannung σ ermittelt werden. In der idealisierten Geometrie desZugversuches sollten alle anderen Komponenten des Spannungstensors gleich Null sein. DerZusammenhang zwischen ɛ und σ wird als Spannungs-Dehnungskurve bezeichnet.• Spröde Materialien: Die Spannungs-Dehnungskurve für spröde Materialien ist in Abbildung4.23 dargestellt. <strong>Si</strong>e zeigt ein weitgehend lineares Verhalten bis zum Bruch.Für den Elastizitätsmodul E gilt daherE = dσdɛ = σ ɛ= const. (4.61)Abbildung 4.23: Spannungs-Dehnungskurve für spröde MaterialienWeiters zeigen spröde Materialien vollständig elastisches Verhalten, d.h. die Spannungs-Dehnungskurve zeigt keine Hysterese (die ”Hinkurve“ (durchgezogener Pfeil) ist identischmit der ”Rückkurve (strichlierter Pfeil). Die Verformungsrate hat kaum einen


202 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENEinfluss auf die Kurve, ebenso die Temperatur. Tendenziell wird mit steigendem T derElastizitätsmodul etwas kleiner. Die Mikrostruktur des Materiales hat ebenso keinengroßen Einfluss, wohl aber die Oberflächenqualität des Prüfkörpers. Kratzer oder andereOberflächendefekte können zum Auftreten lokaler Spannungsspitzen und damitzum vorzeitigen Bruch des Materials führen. Die Bruchdehnung, das ist jene Dehnungɛ, bei der das Material bricht (oder reißt) ist sehr klein, meistens weit unter 1%. DieBruchspannung kann hingegen, aufgrund des hohen E-Moduls spröder Materialien,sehr hoch sein. Typische Vertreter dieser Materialklasse sind: Gläser, einige ”harte“Kunststoffe oder Polymere, viele Ionenkristalle, praktisch alle Keramiken, einige kovalentgebundene Kristalle bei niedrigen Temperaturen (z.B. Diamant und <strong>Si</strong>) und vieleintermetallische Phasen (z.B. Ti 3 Al).Ein weiterer wesentlicher Begriff ist jener der Zähigkeit“ (englisch: Toughness“). Dieserist im Wesentlichen das Gegenteil von Sprödigkeit. Um ein quantitatives Maß für” ”diese Eigenschaft zu erhalten, definiert man als Zähigkeit G C die insgesamt erforderlicheArbeit, welche man in ein Material pro Volumeneinheit einbringen muss, bis eszum Bruch kommt:G C = 1 V ·l Bruch ∫l 0F · dl (4.62)mit dem Volumen V , der Kraft F , der Länge l 0 des Prüfkörpers vor dem Beginndes Zugversuches und der Länge l Bruch beim Bruch. Mit der Querschnittsfläche A desPrüfkörpers und der Beziehung V A = A · l wird Gleichung 4.62 zuG C =l Bruch ∫l 0F · dlA · l=∫ɛ Bruch0σ · dɛ (4.63)da σ = F dlund = dɛ. Die Integrationsgrenzen sind jetzt 0 und ɛA lBruch . Damit ist dasIntegral in 4.63 die Fläche unter der Spannungs-Dehnungskurve. Es ist mit σ = E · ɛsofort auswertbar und man erhältG C = E · ɛ2 Bruch2= σ2 Bruch2 · E(4.64)Da ɛ Bruch klein ist, haben spröde Materialien eine kleine Zähigkeit. Die Brucharbeitist die Arbeit, welche gegen die Bindungskräfte verrichtet werden muss. Diese führenauch direkt zum Elastizitätsmodul E, wie bereits gezeigt wurde.• Duktile Materialien: Die Spannungs-Dehnungskurve eines duktilen Materials (z.B. einesder ”weichen“ Metalle Au, Ag, Cu oder Pb) ist in Abbildung 4.24 dargestellt.Im Gegensatz zu den spröden Materialien wird hier die Spannungs-Dehnungskurve inhohem Maße von dɛ und von T beeinflusst. Im Wesentlichen enthält sie jedoch immerdie in Abbildung 4.24 gezeigten Charakteristika: Für relativ kleinedtSpannungen


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 203Abbildung 4.24: Spannungs-Dehnungskurve für duktile Materialienerhält man elastisches Verhalten wie bei spröden Materialien. Ein schwach temperaturabhängigerE-Modul (zusammen mit einem weiteren Modul) beschreibt das Verhaltenvollständig. Beim Überschreiten einer bestimmten Spannung R P , die Fließgrenze genanntwird, bricht das Material jedoch noch nicht, sondern verformt sich plastisch. DasKennzeichen der plastischen Verformung ist, dass sich der Rückweg vom Hinweg starkunterscheidet, das heißt das Auftreten einer Hysterese in der Spannungs-Dehnungs-Kurve. Wird die Spannung wieder verringert, geht die Dehnung nicht auf Null zurück,sondern sinkt entlang einer elastischen Geraden auf einen endlichen Wert - das Materialist bleibend verformt. Die Fließgrenze hängt von allen möglichen Parametern ab: Wiedie Graphik zeigt, von der Verformungsgeschwindigkeit, aber auch von der Temperaturund insbesondere von den Feinheiten des Gefüges. Der gezeigte ”Peak“, an dessen Maximumsich R P befindet, kann mehr oder weniger ausgeprägt gefunden werden. SeineGröße und Form ist stark von der Präparation und der Vorgeschichte des Materialsabhängig. Das absolute Maximum der Kurve liefert die höchste Spannung, der dasMaterial unterworfen werden kann. Es heißt R M und wird als maximale Zugfestigkeit(englisch ”ultimate tensile strength“) bezeichnet. Sobald R M erreicht wird, kann mandie Spannung wieder etwas zurücknehmen und trotzdem größere Dehnungen erreichen.Hält man die Spannung allerdings auf R M , wird die Probe sich bis zum Bruch immerweiter verformen.Die Fläche unter der Spannungs-Dehnungskurve ist groß, was eine große Zähigkeitbedeutet. Während das Verhalten im elastischen Bereich nach wie vor direkt durch dieBindungspotentiale gegeben ist (es werden nach wie vor nur Bindungen ”langgezogen“),gilt das nicht für das Verhalten im plastischen Bereich. Die plastische Verformung istdurch das Wandern von Versetzungen, den Einbau von Defekten und durch sonstige


204 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENÄnderungen der Mikrostruktur und des Materialgefüges gegeben.Typische Materialien mit mehr oder weniger ausgeprägtem plastischem Verhalten sindalle Metalle, kovalent gebundene Kristalle (insbesondere bei höheren Temperaturen,z.B <strong>Si</strong>, Ge, GaAs), einige Ionenkristalle (insbesondere bei hoher Reinheit und hohenTemperaturen) und viele Polymere (diese folgen jedoch eigenen Gesetzmäßigkeiten,was im Folgenden gezeigt werden wird).• Elastomere: Insbesondere Polymere lassen sich vom mechanischen Verhalten her wederin die Gruppe der spröden noch in die der duktilen, plastisch verformbaren Materialieneinordnen. Vor allem die Elastomere - also Gummisorten - zeigen ein Verhalten, dassich stark von den bisher behandelten Materialgruppen unterscheidet.Ein typisches Spannungs-Dehnungsdiagramm von Gummi ist in Abbildung 4.25 dargestellt.Abbildung 4.25: Spannungs-Dehnungskurve für Elastomere wie z. B. GummiAus Abbildung 4.25 ist das gemeinsame Charakteristikum der Verformungskurven vonElastomeren ersichtlich: sie zeigen immer elastisches Verhalten; weiters treten riesigeelastische Verformungen in der Größenordnung von 100 % auf. Der (sehr kleine) E-Modul nimmt mit wachsender Temperatur etwas zu – ganz im Gegensatz zu praktischallen anderen Materialien. Unterhalb einer für die jeweilige Gummisorte charakteristischenTemperatur verliert das Elastomer sein gummiartiges Verhalten - es wird sprödeund verhält sich weitgehend wie ”normale“ spröde Materialien. Die Verformungsgeschwindigkeitist kein wesentlicher Parameter in der gesamten Verformungskurve.Wie können diese Eigenschaften erklärt werden? Eine wesentliche Erkenntnis ist, dassdie elastische Verformung nicht, wie in den vorhergehenden Fällen, durch das ”Langzie-


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 205hen“ von Bindungen erfolgt. Es wäre unmöglich die Bindungsabstände zu verdoppelnoder zu verdreifachen ohne lange vorher das Material zu zerbrechen.Der Mechanismus für die extreme Verformbarkeit von Elastomeren ist in ihrer molekularenStruktur begründet. Die Materialien bestehen aus sehr langen, kettenförmigenMolekülen (Polymeren). Im unbelasteten Zustand sind diese Moleküle weitgehend ungeordnetineinander gefaltet (Abbildung 4.26(a)). Wird das Elastomer einer Zugbelastungunterworfen, so richten sich die Polymerketten entlang der angelegten Zugkraftaus (Abbildung 4.26(b)).Abbildung 4.26: Ausrichtung der Kettenmoleküle eines Polymers unter Belastung(a) Vor der Krafteinleitung: die Moleküle sind unregelmäßig ineinander verknäult(b) Unter Krafteinwirkung: die Moleküle richten sich parallel zur Kraftrichtung ausEs werden also nicht die intramolekularen Bindungen gestreckt, sondern es müssennur die vergleichsweise geringen Wechselwirkungen zwischen einzelnen, im unbelastetenZustand nahe beieinander liegenden, Molekülbereichen überwunden werden. DasSystem geht durch die Ausrichtung in einen geordneteren Zustand über. Das bedeutet,dass die Gummielastizität ein rein entropischer Effekt ist. Die Ausrichtung der Molekülevermindert die Entropie des Systems und erhöht somit die freie Enthalpie. DasSystem reagiert auf diese Enthalpieerhöhung durch eine Rückstellkraft.Naturgemäß sind die in den vorhergehenden Punkten angesprochenen Verformungsmechanismenim Detail unter Umständen sehr komplex. Insbesondere bei der plastischen Verformungspielt die Mikrostruktur des jeweiligen Werkstoffes eine große Rolle. So ist dieZähigkeit eines Materiales z. B. indirekt proportional zu seiner Korngröße. Geringere Korngrößebedeutet höhere Zähigkeit. Dieses Verhalten ist als ”Hall-Petch-Gesetz“ bekannt undwird besonders wichtig, wenn die Korngröße des Materiales in den nm-Bereich kommt ( ”nanokristallineMaterialien“). Weiters spielt bei Mehrstoffsystemen die Phasenverteilung einewichtige Rolle. Weiche Ausscheidungen können z. B. die Ausbreitung von Rissen blockieren,indem in ihnen die an der Risspitze konzentrierte elastische Energie durch plastische Verformungabgebaut wird. Harte Partikel wiederum können die Bewegung von Versetzungenblockieren und so zur sogenannten Dispersionshärtung von Werkstoffen führen.


206 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN4.3.5 Messung mechanischer EigenschaftenZur Messung mechanischer Eigenschaften steht eine Vielzahl von Methoden zur Verfügung,welche in vielen Fällen Modifikationen des Zugversuches sind. Mit diesen können nicht nurelastische Eigenschaften, sondern auch plastische Verformbarkeit, Bruchfestigkeit oder dieHaftung (Adhäsion) verschiedener Materialien aneinander bestimmt werden. Im Folgendensollen einige dieser Methoden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) besprochen werden.• Zugversuch: Der bereits besprochene Zugversuch ist ein sehr flexibles Werkzeug zurBestimmung mechanischer Eigenschaften sowohl im Bereich der elastischen als auchder plastischen Verformung. Mit leichten Modifikationen kann er zur Bestimmung derHaftfestigkeit von Beschichtungen (Abzugstest) oder zur Bestimmung des Verhaltensvon Materialien unter Langzeitbelastung (Ermüdung, Kriechen, Fließen) angewendetwerden.• Eindringen eines Prüfkörpers: Die Umkehrung des Zugversuches ist das Eindringeneines Prüfkörpers bekannter Geometrie in ein Material. Der Prüfkörper ist dabei idealerweiseunverformbar. Als Prüfkörpermaterial wird daher oft Diamant oder Saphirverwendet. Sobald der Prüfkörper Kontakt mit der Materialoberfläche hat, wird diePrüfkraft sukzessive erhöht und der Eindringweg des Körpers aufgezeichnet. Eine solcheKraft-Eindringkurve (englisch: ”Force Distance Curve“) ist in Abbildung 4.27 gegeben.Abbildung 4.27: Kraft-Eindringkurve eines Prüfkörpers in einen FestkörperAus dem Anstieg der Kurve beim Eindringvorgang kann der E-Modul (analog zurZugprüfung) bestimmt werden, aus der bleibenden Eindringtiefe nach dem Entlastender Oberfläche die plastische Verformbarkeit des Materials, welche der Härte entspricht.Wird nur der zurückbleibende Eindruck des Prüfkörpers vermessen, so spricht man vonHärtemessung. Je nach Prüfkörpergeometrie unterscheidet man die Härtemessung nachVickers (Prüfkörper: 4-seitige Pyramide), Knoop (Prüfkörper: 3-seitige Pyramide) oderBrinell (Prüfkörper: Kugel). Die Prüfkräfte variieren von N bis hin zu nN. Geräte,welche im nN-Bereich arbeiten werden als Nanoindenter bezeichnet.


4.3. MECHANISCHE EIGENSCHAFTEN 207• Kratz- oder Ritztest: Ein dem Eindringtest verwandtes Verfahren ist das lineare Führeneiner Spitze über eine Oberfläche unter steigender Last, wie es in Abbildung 4.28dargestellt ist.Abbildung 4.28: Prinzipieller Aufbau einer Scratch-TestersMittels optischer Begutachtung der Kratzspur bzw. mittels akustischer Emission kannz. B. der Bruch des Materiales oberhalb einer kritischen Last, L c und damit seineBruchzähigkeit bestimmt werden.• Kraftspektroskopie: Das Rasterkraftmikroskop (englisch: Atomic Force Microscope,AFM ) erlaubt die ortsaufgelöste Bestimmung von mechanischen Eigenschaften mit einerlateralen Auflösung im nm-Bereich. Im Prinzip entspricht das Verfahren der Kraftspektroskopieeinem wiederholten Eindringtest mit sehr geringen Prüflasten. Die aneinem Biegebalken angebrachte Spitze eines AFM wird an eine Oberfläche angenähertund in definierten Kontakt mit der Oberfläche gebracht. Aus den in Abbildung 4.29gegebenen Teilbereichen der Kraft-Abstandskurve können die elastischen Konstantender geprüften Oberfläche, die Haftfestigkeit der Spitze an der Oberfläche und andereDaten bestimmt werden.Eine schnelle Steuerelektronik ermöglicht die Wiederholung der in Abbildung 4.29 dargestelltenVorgänge mit hoher Frequenz, wodurch, wie bereits erwähnt, ortsaufgelösteMessungen möglich sind.• Anregung von Schallwellen: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Schallwellen in kristallinenMaterialien ist eine Funktion der elastischen Konstanten. Damit kann eineMessung der Ausbreitungsgeschwindigkeit verschiedener Wellentypen in Festkörpern(Longitudinalwellen, Transversalwellen) zur Bestimmung der elastischen Konstantendienen. Dieses Verfahren ist, im Gegensatz zu den vorher erwähnten, zerstörungsfrei.


208 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAbbildung 4.29: Kraft-Abstandskurve in der Rasterkraftmikroskopie(a) Spitze in weiter Entfernung von der Oberfläche(b) Attraktive Wechselwirkung Spitze/Oberfläche- ”Snap On“(c) Eindringen der Spitze in das Material(d) Rückzug der Spitze; Spitze bleibt durch Adhäsionskräfte länger haften• Röntgenographische Spannungsmessung: Bei bekannten elastischen Konstanten lassensich mittels Röntgenbeugung aus den Verzerrungen der Elementarzelle eines kristallinenFestkörpers die Spannungen ermitteln, unter denen sich der Kristall befindet. Auchdieses Verfahren ist zerstörungsfrei, allerdings ist die Interpretation der Messergebnissemitunter sehr komplex.4.4 Thermische Eigenschaften4.4.1 Spezifische WärmeAus der Thermodynamik ist bekannt, dass die spezifische Wärme C jene Größe ist, diebestimmt, welche Wärmemenge notwendig ist, um einen Körper um eine bestimmte Temperatur∆T zu erwärmen, bzw. welche abgeführt werden muss, um eine Temperaturabsenkung∆T hervorzurufen.Fasst man einen Festkörper als System schwingungsfähiger Gitterteilchen auf, sollte jederdieser Oszillatoren im Rahmen der klassischen Physik (Gleichverteilungssatz) gleichvielkinetische wie potentielle Energie haben, und zwar für jeden dieser Anteile (3/2)k B T (entsprechendden 3 Raumrichtungen). Nimmt man ein Atom als schwingungsfähige Einheitan, dann erhält man für ein Grammatom jedes Stoffes 3N A k B T = 3RT , also die spezifischeAtomwärme 3R = 25 J/(mol·K) (Wert von Dulong-Petit). Wenn die Atome auchim Molekül unabhängig schwingen, folgt die Neumann-Kopp-Regel. Die Molwärme ist dieSumme der Atomwärmen. Für Wasser mit der molaren Wärmekapazität von 75 J/(mol·K)


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 209scheint das genau zu stimmen. Für Diamant findet man aber nur 0.5 J/(g·K) anstelle desberechneten Wertes von 2 J/(g·K). Die spezifische Wärme bleibt umso mehr hinter demDulong-Petit’schen Gesetz zurück, je tiefer die Temperatur, je leichter die Gitterteilchenund je fester das Gitter (Diamant!!! - Eis) ist. Ein erster Lösungsansatz gelang A. Einstein,der eine Quantelung der Energie eines schwingenden Gitterteilchens annahm. Im folgendenwerden nun qualitative und quantitative Konzepte besprochen, die es erlauben, die spezifischeWärme zu berechnen.Die spezifische Wärme kann für konstante Volumina V bzw. Drücke p definiert werden:C V ≡( ∂ ′ Q∂T)V=( ∂U∂T5( ) ( )∂ ′ Q ∂(U + pV )C p ≡ =∂Tp∂TDabei wird die thermodynamische Variable Enthalpiep)V=(4.65)( ) ∂H. (4.66)∂TpH = U + pV (4.67)verwendet. Üblicherweise beziehen sich diese Größen auf 1 Mol.Mit Hilfe des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik kann die Entropie definiert werden.oderS(A) ≡∫ A0d ′ Q revT(4.68)dS ≡ d′ Q rev(4.69)TFür reversible Prozesse mit dQ = T dS gibt es eine genau bestimmte Beziehung zwischenspezifischer Wärme und Entropie:( ) ( )∂Q ∂SC V ≡ = T(4.70)∂TV∂TVsowieC p ≡( ) ∂Q= T∂Tp( ) ∂S∂Tp(4.71)In der statistischen Mechanik wird die spezifische Wärme über die Zustandssumme bestimmt.Ist diese Funktion für ein bestimmtes Problem bekannt, so kann man verschiedene Größenberechnen: Die Zustandssumme Z folgt ausZ = ∑ ie −βE i, β ≡ 1k B T ; (4.72)daraus berechnet sich die Freie Energie F , die Entropie S, die Innere Energie U sowie dieWärmekapazität C V .F = −k B T ln Z (4.73)


210 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN( )( )∂F∂ ln ZS = − = k B ln Z + k B T(4.74)∂TV∂TV( ) ∂ ln ZU = F + T S = k B T 2 (4.75)∂TV( ) ( ∂U ∂ 2 (k B T ln Z)C V = = T(4.76)∂TV∂T)V2Die Differenz der spezifischen Wärme bei konstantem Druck und konstantem Volumenist korreliert mit der Kompressibilität κ und dem Koeffizienten der thermischen Ausdehnungα, d.h.,α = 1 VC p − C V = 1 κ T V α2 ; (4.77)( ) ∂V, k T = 1 ( ) ∂V. (4.78)∂TpV ∂pTFür feste Körper ist es natürlich einfacher, die Wärmekapazität bei konstantem Druckzu bestimmen; hier ist auch die Differenz C p and C V vernachlässigbar.Wie viele andere festkörperphysikalische Eigenschaften ist die gemessene Wärmekapazitätaus verschiedenen Beiträgen zusammengesetzt. Insbesondere gilt für metallische und magnetischeFestkörper:C p = C ph + C el + C mag + C nuc (4.79)wobei C ph der Gitterbeitrag, C el der elektronische -, C mag der magnetische - und C nuc derKernbeitrag ist. Im verbleibenden Teil dieses Kapitels soll nun auf den Gitterbeitrag (Gitterschwingungen)zur spezifischen Wärme näher eingegangen werden. Dieser Beitrag ist in allenFestkörpern bei hoher Temperatur essentiell und in nichtmagnetischen dielektrischen Stoffennatürlich im gesamten Bereich. Der nukleare Beitrag ist nur für Temperaturen unterhalb vonetwa 1 K von Bedeutung!Spezifische Wärme des GittersExperimentell beobachtet man für Festkörper:• Im Bereich von Zimmertemperatur beträgt die spezifische Wärme fast aller Festkörper3Nk B oder 25 J/(mol·K).• Bei tiefen Temperaturen nimmt die spezifische Wärme besonders stark ab und verhältsich in Isolatoren wie T 3 und für Metalle wie T für T → 0. Für Supraleiter gibt eseinen noch wesentlich steileren Abfall.• Bei magnetischen Festkörpern findet man in der Nähe der des magnetischen Phasenübergangeseinen sehr großen Beitrag zur Wärmekapazität. Eine Änderung desOrdnungszustandes bedeutet ja eine Änderung der Entropie und damit eine Änderungder spezifischen Wärme.


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 211Um ein qualitatives und quantitatives Verständnis der Wärmekapazität des Gitters zuerhalten, müssen einige Begriffe, Vorstellungen und Modelle aus der Quantenmechanik bzw.Festkörperphysik adaptiert werden.Wir betrachten ein System identischer harmonischer Oszillatoren im thermischen Gleichgewicht.Der Quotient aus der Zahl der angeregten Oszillatoren im angeregten Zustand mitder Quantenzahl n + 1 und der Zahl der angeregten Oszillatoren im Zustand n lautet:N n+1 /N n = e −ω/β β ≡ k B T. (4.80)Also beträgt die Zahl der Oszillatoren im Zustand n, bezogen auf die Gesamtzahl der OszillatorenN∑ n exp(−nω/β)∞s=0 N = ∑ ∞s s=0 exp(−sω/β) (4.81)Aus Glg. 4.81 ergibt sich für die mittlere Besetzungszahl 〈n〉 eines Oszillators (d.h. dieOszillatoren sind im Mittel bis zur Quantenzahl n angeregt):〈n〉 =∑∑ s s exp(−sω/β)s exp(−sω/β) (4.82)Die Summe im Nenner hat die Form (Summe einer geometrischen Reihe)∑sx s = 11 − x(4.83)mit x = exp(−βω). Der Zähler hat die Form∑ssx s = x ddx∑x s =Man kann Glg. 4.82 zur Planckschen Verteilungsfunktion umformen:sx(1 − x) 2 . (4.84)〈n〉 =x1 − x = 1exp(ω/β) − 1(4.85)Für kleine Argumente im Exponenten, kann exp(a) in eine Taylorreihe entwickelt werden.Es gilt: exp(a) ≈ 1 + x + . . . ..... Damit erhält man unmittelbar〈n〉 ≈ k B T/ω (4.86)Ist Glg. 4.86 erfüllt, bezeichnet man die Besetzung der Niveaus als klassisch, da dann jederOszillator die Energie 〈n〉ω ≈ k B T besitzt (gültig bis etwa ω/k B T ≈ 1). Bei tiefenTemperaturen ist ω/k B T ≫ 1 und damit wird Glchg. 4.85 zu〈n〉 ≈ exp(−ω/β). (4.87)


212 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENDas Einstein Modell - N ungekoppelte Oszillatoren Die mittlere Energie eines Oszillatorsder Frequenz ω beträgt 〈n〉ω. N Oszillatoren der Frequenz ω besitzen die EnergieE = N〈n〉ω =Die spezifische Wärme beträgt damit( ) ( ∂EωC V = = Nk B∂Tβnormierte spezifische WärmeIhr Verlauf ist in Abb. 4.30 dargestellt.1.00.80.60.40.20.00.0 0.5 1.0 1.5 2.0T/Θ E ; T/Θ DVEinstein Modell, Θ E = 200 KDebye Modell, Θ D = 200 KAbbildung 4.30: Temperaturabhängigkeitder spezifischen Wärme im Einstein - undDebye Modell; Θ E = 200 K, Θ D = 200 K.Nωexp(ω/β) − 1(4.88)) 2exp(ω/β)[exp(ω/β) − 1] 2 (4.89)Dies ist das Ergebnis des Beitrags von NOszillatoren derselben Resonanzfrequenz zurspezifischen Wärme in Festkörpern. Wird Ndurch 3N ersetzt, da jedes Atom drei Freiheitsgradebesitzt, ergibt sich für Glchg. 4.89im Grenzwert hoher Temperaturen 3Nk B , alsoder aus der Dulong-Petitschen Regel bekannteWert.Bei tiefen Temperturen fällt das Einsteinmodellmit C V ∝ exp(−ω/β) ab, experimentelljedoch findet man zumeist einVerhalten wie C V ∝ T 3 . Dies liegt darinbegründet, dass elastische Wellen einesFestkörpers nicht alle dieselbe Frequenz aufweisen.Diese Überlegung wird im sogenanntenDebye Modell in Rechnung gestellt.Das Debye Modell - N gekoppelte Oszillatoren Wir haben gesehen, dass die Energieeines harmonischen Oszillators der Frequenz ω durch die Planck’s Formel gegeben ist.U(ω, T ) =ωexp ωk B T − 1 (4.90)Nimmt man an, dass g(ω) die Anzahl der Moden pro Einheitsvolumen zwischen ω und ω+dω(= Zustandsdichte) ist, dann ist die Gesamtenergie des SystemsmitU =∫ ∞0∫ ∞0ωg(ω)(4.91)exp ωk B− 1dωTg(ω)dω = 3N. (4.92)P. Debye hat angenommen, dass der Festkörper als System gekoppelter harmonischer Oszillatorenbeschrieben werden werden kann. Die Gitterschwingungen sind dann Schallwellen,im Teilchenbild also akustische Phononen.


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 213(a)(b)k →(c)(d)Abbildung 4.31: (a) Elastische Kette aus N + 1 Atomen und N = 10. Die Endatome werdenfestgehalten; der Wellenvektor muss dementsprechend gewählt werden. (b) Die Punktebedeuten nicht Atome sondern die erlaubten Werte von k. (c) N Teilchen im Kreis. Diegeometrischen Randbedingungen führen zu u N+s = u s . (d) Erlaubte Werte der Wellenzahlk für periodische Randbedingungen.k →Die Dispersionsrelation zwischen Frequenz und Wellenvektor ist linear und wird durchdie Schallgeschwindigkeit bestimmt.ω = v s · q. (4.93)Um eine Vorstellung über die Dichte g(ω) (Anzahl) der Phononen in einem Frequenzintervallω+∆ω zu erhalten, nimmt man an, dass die Oberflächen konstanter Frequenzen sphärisch imq-Raum sind (= reziproker Raum). Die Anzahl der Moden kleiner als eine Grenzfrequenz ω Dist damit proportional zum Volumen dieser Kugel. Ein möglicher und erlaubter Wellenvektorbesitzt das Volumen 8π 3 /V .Um diese Relation zu verstehen, geht man von einer 1-dimensionalen Kette mit der LängeL und N +1 Teilchen aus, die den Abstand a voneinander haben. Wir nehmen weiters an, dassdie Teilchen s = 0 und s = N festgehalten werden (Abbildung 4.31). Jede Eigenschwingungdieser Anordnung ist eine stehende Welleu s = u(0) exp[−iω k t] sin ska (4.94)


214 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENω k ist mit k über die Dispersionsrelation verknüpft; weiters ist k durch die Randbedingungenfür feste Enden festgelegt:Die Lösung für k = π/L lautet dann:k = π L , 2π L , 3π L(N − 1)π, . . . ,Lu s ∝ sin(sπa/L)<strong>Si</strong>e verschwindet, wie verlangt, für s = 0 und s = N. Die Lösung für k = Nπ/L = k max istdannu s = sin sπ.Abbildung 4.32: k Raum mit denmöglichen Schwingungsmoden einesKristallwürfels der Kante Lund der Gitterkonstante d. DieAnzahl der Moden zwischen kund k + dk ist proportional zuk 2 dk.Dabei stehen alle Atome still, da sin sπ an den Ortender Atome verschwindet. Es gibt also nur N − 1 erlaubte,unabhängige Werte von k, d.h, genau so vieleWerte wie Teilchen. Jeder erlaubte Wert von k gehörtzu einer Lösung von Glchg. 4.94. Bei einem eindimensionalenGitter der Gitterkonstante a fällt jeweils eineEigenschwingung in das Intervall ∆k = π/L.Eine weitere Methode beruht darauf, dass man dasMedium als unbegrenzt ansieht, aber die Lösungensich nach einer großen Länge L identisch wiederholen;u(sa) = u(sa + L) (periodische Randbedingungen). DieLösungen sind dann laufende Wellen u s (0) exp[i(ska −ω k t] mit den erlaubten k - Wertenk = 0, ± 2π L , ±4π L , . . . ± NπL .Diese Methode ergibt dieselbe Anzahl von Zuständenwie in der vorherigen Methode (einen pro Atom), aber essind nun positive als auch negative Werte von k erlaubt;das Intervall zwischen benachbarten k-Werten beträgtnun ∆k = 2π/L.Beschränkt man sich nur auf positive Werte von k folgt wieder L/π. ÄhnlicheÜberlegungen gelten für den 2 und 3-dimensionalen Fall.Für einen Würfel mit der Kantenlänge L ist k durch folgende Bedingungen bestimmt:Daraus folgtexp i(k x x + k y y + k z z) ≡ exp i[k x (x + L) + k y (y + L) + k z (z + L)] (4.95)k x , k y , k z = 0, ±2π/L, ±4π/L, . . . Nπ/LIm k Raum nimmt dann jeder erlaubte Wert von k ein Volumen von (2π/L) 3 ein; andersausgedrückt: pro Volumeneinheit im k-Raum gibt es für jede Polarisationsrichtung und fürjeden Zweig( ) 3 L= V(4.96)2π 8π 3


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 215erlaubte Werte von k. Das Volumen der Probe ist V = L 3 . Die diskreten Werte der erlaubtenk Vektoren ist keine Konsequenz der Quantenmechanik, sondern folgt ”klassisch“ aus denRandbedingungen des Problems (z.B., Würfel mit beschränkter Seitenlänge).Mit diesen Überlegungen kann nun die Gesamtzahl der Schwingungen, sowie die Zustandsdichteberechnet werden. Alle möglichen Schwingungszustände (Moden) finden alsoim reziproken Raum innerhalb einer Kugel Platz.4π3 q3 = 4π 3ω 3v 3 s( ) 3 2π= N ⇒ N = V ω3L 6π 2 vs3g(ω) = dNdω = V ω22π 2 v 3 s(4.97)(4.98)Ein alternativer Weg führt zum gleichen Ergebnis (vgl. Abb. 4.32):Das Volumen einer Kugelschicht mit Radius q und Dicke dq ist V ∗ = 4πq 2 dq (man erhält diesesErgebnis, indem man Terme der Ordnung dq 2 und dq 3 vernachlässigt). Die Anzahl der Moden (=Zustände) innerhalb dieses Volumens folgt aus [4π(ω 2 /v 3 s) dω][V/(8π 3 )]. Da 8π 3 /V das Volumenpro q Vektor ist, ist V/(8π 3 ) deren Dichte. Es gilt somitg(ω) =V ω 22π 2 vs3 dωDebye nahm an, dass Gitterschwingungen eine obere Grenzfrequenz ω D besitzen und dassdarüber keine weiteren Moden angeregt werden können, d.h.,• g(ω) = 0 ∀ ω > ω DDamit wird nun die innere Energie∫ ωDU = 3 dω V ω20 2π 2 vs3= 3V 2π 2 v 3 s∫ ωDMit x = ω/k B T und x D = ω D /k B T = Θ D /T folgt0()ωexp ω − 1 =k B T()ω 3exp ω − 1 dω (4.99)k B T( ) 3 ∫ TxDx 3U = 9Nk B TdxΘ D exp(x) − 1 . (4.100)Für hohe oder tiefe Temperaturen kann das Debye Integral in eine Reihe entwickeltwerden und man erhält0• für T ≫ Θ D :U = 3Nk B T (4.101)


216 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN• Für T ≪ Θ D :U = 3 5 π4 Nk BT 4Θ 3 D(4.102)= dU/dT folgt unmittelbar der Phono-Aus der Definition der spezifischen Wärme C Vnenbeitrag im Debye Modell:• für T ≫ Θ DC v = 3Nk B (4.103)• für T ≪ Θ DC v = 125 π4 Nk B( TΘ D) 3. (4.104)Die Temperaturabhängigkeit für gesamten Temperaturbereich folgt dann ausC v = 9Nk B( TΘ D) 3J 4 (T/Θ D ), (4.105)vergleiche auch Abb. 4.30. J n (T/θ) stellt das so genannte Debye Integral dar (definiert in dendiv. Formelsammlungen). Abbildung 4.33 zeigt Wärmekapazitätsmessungen am ternären intermetallischenSystem La 2 Pd 2 In in einem Temperaturbereich von 4 bis ca. 100 K. Die durchgezogeneLinie entspricht einer Modellkalkulation im Rahmen des Debye Modells, Glchg.4.105. Die ausgezeichnete Übereinstimmung zwischen gemessenen und gerechneten Wertenzeigt die Leistungsfähigkeit dieses Modells, obwohl hier nur ein einziger Parameter, Θ D angepasstwerden kann. Eine Debyetemperatur Θ D = 172 K zeigt, dass diese intermetallische1.5θ D = 172 KC p /T [J/mol K 2 ]1.20.90.60.3La 2 Pd 2 In0.00 10 20 30 40 50 60 70 80 90T [K]Abbildung 4.33: Temperaturabhängigkeit des Phononenbeitrags C ph zur spezifischen Wärmevon La 2 Pd 2 In dargestellt als C ph /T vs. T . Die durchgezogene Linie stellt einen Fit der Datenmit Hilfe des Debye Modells dar und Θ D = 172 K.


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 217120(a)3(b)1002LuNi 2B 2CC ph /T [mJ/gat.K 2 ]80604020LuNi 2 B 2 CYNiBCLa 3 Ni 2 B 2 N 3-δg(ω) x 10 -3103210321YNiBCLa 3Ni 2B 2N 300 50 100 150 200 250 300T [K]00 200 400 600 800 100012001400ω [Κ]Abbildung 4.34: (a): Temperaturabhängigkeit des Phononenbeitrags zur spezifischen Wärmevon LuNi 2 B 2 C, YNiBC und La 3 Ni 3 B 2 N 3−δ dargestellt als C ph /T vs. T . (b): Energieabhängigkeitder Phononenzustandsdichte für die in (a) dargestellten intermetallischen Verbindungen.Verbindung kein besonders starres Gitter aufweist und das Schwingungsspektrum sehr einfachzu sein scheint.Eine Serie von Boriden, vgl. Abb. 4.34 (a), ist dagegen nur mit einem wesentlich komplexerenSpektrum von Phononen beschreibbar [Abb. 4.34 (b)], die neben dem Debye Spektrumnoch zusätzliche Schwingungsmoden - auch oberhalb der Debyetemperatur - enthält. Einedetaillierte Diskussion der tatsächlichen Phononenzustandsdichte erfordert aber umfangreicheStudien mittels inelastischer Neutronenstreuung. Auftretende hochfrequente Moden (=Zustandsdichte bei hohen Temperaturen) ergeben sich aus dem Beitrag der leichten ElementeB und C.Im Folgenden soll anhand des so genannten magnetokalorischen Effekts die Nützlichkeitder Eigenschaft der Wärmekapazität kurz besprochen werden:Wenn ein Material mit Hilfe eines Magnetfeldes magnetisiert wird, dann verändert sichdie Entropie S m , die mit den magnetischen Freiheitsgraden assoziert wird, da sich beiverändernden Magnetfeldern der Ordnungszustand verändert. Unter adiabatischen Bedingungenmuss ∆S m durch eine gleich große, aber entgegengesetzte Veränderung der Entropiedes Gitters kompensiert werden. Das hat eine Veränderung der Temperatur des Materials zurFolge. Die Temperaturänderung ∆T ad wird üblicherweise als der magnetokalorische Effektbezeichnet.Dieser Effekt ist zu den magnetischen Eigenschaften des Materials über die thermodyna-


218 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENmischen Maxwellrelationen korreliert, d.h.,( ) ∂S=∂BT( ) ∂M∂TM(4.106)Für Magnetisierun gsmessungen bei diskreten Temperaturintervallen kann ∆S aus∆S m (T, B) = ∑ M i+1 (T i+1 , B) − M i (T i , B)T i+1 − T i∆B (4.107)berechnet werden. Dabei sind M i+1 (T i+1 , B) und M i (T i , B) die Werte der Magnetisierungin einem Magnetfeld B und bei Temperaturen T i+1 und T i . Die magnetische Entropie kannnatürlich auch von einer feldabhängigen Messung der spezifischen Wärme durch Integrationerhalten werden.∫ TC(T ′ , B) − C(T ′ , 0)∆S m (T, B) =dT ′ , (4.108)T ′0C(T, B) und C(T, 0) sind die Werte der Wärmekapazität im Feld B und im Feld 0. Wertefür ∆S m aus Glchg. 4.107 und 4.108 sind (auch experimentell) gleichwertig.Die adiabatische Temperaturänderung kann numerisch aus den experimentell ermitteltenWerten der Magnetisierung und der spezifischen Wärme ermittelt werden:∫ B∆T ad (T, B) = −0TC(T, B ′ )( ) ∂MdB ′ (4.109)∂TGlchg. 4.109 zeigt, dass der magnetokalorische Effekt groß ist, wenn ∂M/∂T groß undC(T, B) bei der gleichen Tempertur klein ist. Da ∂M/∂T | B am magnetischen Phasenüberganggroß ist, wird in der Nähe der Ordnungstemperatur der größte magnetokalorischeEffekt erwartet.Um Kühlung im Bereich von Raumtemperatur zu bewerkstelligen, braucht man alsoSubstanzen mit magnetischen Phasenübergängen in der Nähe der Raumtemperatur.4.4.2 Thermische LeitfähigkeitMaterialien in fester, flüssiger als auch gasförmiger Gestalt, besitzen die Eigenschaft, Wärmevon ihrem warmen zum kalten Ende zu transportieren. Träger dieses Wärmeflusses sind Elektronen,Gitterschwingungen oder auch sogenannte Quasiteilchen, die sich z.B. auf langreichweitigemagnetische Ordnung zurückführen lassen (=Magnonen). In einem realen Festkörperkönnen alle diese Mechanismen gemeinsam zum gesamten Effekt beitragen. Dabei werdensich aber diese individuellen Flüsse gegenseitig stören und so den Gesamtfluss verringern.Einen Wärmefluss wird solange aufrecht erhalten, solange ein Temperaturgradient längs einerProbe anliegt (z.B. durch einen Heizer an einem Ende der Probe).In der Technik und auch im Haushalt wird die Eigenschaft der thermischen Leitfähigkeitvielfach ausgenützt. Dabei kommen sowohl Materialien mit hoher thermischer Leitfähigkeitzum Einsatz (z.B. um Wärme von einem elektronischen Bauteil abzutransportieren) als


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 219auch solche, die eine sehr geringe thermische Leitfähigkeit aufweisen (z.B. damit Griffe amKochgeschirr nicht übermäßig warm werden).Es ist einsichtig, dass in Metallen sowohl Elektronen als auch Gitterschwingungen (=Phononen)gemeinsam den Wärmetransport durch den Festkörper bewirken. In Isolatoren dagegen,sind die Phononen die wesentlichen Träger der Wärme. Trotzdem können Isolatoren,insbesondere bei sehr tiefen Temperaturen, extrem gute Wärmeleiter sein und Metalle vielfachübertreffen. Das kann darin liegen, dass Phononen nicht noch zusätzlich am Elektronensystemgestreut werden. Gute elektrische Leiter (z.B. Kupfer) sind auch gute Wärmeleiter.Diese phänomenologische Beobachtung wird durch das sogenannte Wiedemann Franz Gesetzauch theoretisch untermauert und lässt sich darauf zurückführen, dass die gleichen Ladungsträgersowohl elektrischen Strom als auch Wärme transportieren.Die thermische Leitfähigkeit wird definiert durchQ = λ dT(4.110)dxwobei λ der Koeffizient der thermischen Leitfähigkeit und Q der Wärmefluss sind (Energie,die pro Zeiteinheit durch eine Flächeneinheit hindurch tritt); dT/dx gibt den Temperaturgradientenlängs der Probe an (Temperaturänderung pro Längeneinheit).Dabei diffundiert die Energie durch den Festkörper und unterliegt statistischen Streuprozessen.Eine Wärmetransport ohne Streuprozesse würde nur mehr vom Temperaturunterschied∆T zwischen den Endflächen des Körpers abhängig sein, unabhängig von dessenLänge.Aus der kinetischen Gastheorie ist bekannt, dassλ = 1 Cvl (4.111)3ist. Hierbei ist C die Wärmekapazität, v die mittlere Geschwindigkeit und l die mittlere freieWeglänge zwischen Teilchenstößen.Es wird nun versucht, diese Gleichung aus der elementaren kinetischen Theorie abzuleiten.Der Teilchenfluss in x - Richtung sei 1n〈|v 2 z|〉, mit n . . . Molekülkonzentration. ImGleichgewicht existiert ein Fluss gleicher Größe in die entgegengesetzte Richtung. 〈. . .〉 bezeichnetden Mittelwert. Bewegt sich ein Teilchen aus dem Gebiet T + ∆T in ein Gebiet mitder Ortstemperatur T , so gibt es dabei die Energie c∆T ab. c ist die Wärmekapazität einesTeilchens. Zwischen den Endpunkten einer freien Weglänge des Teilchens ist ∆T durch∆T = dTdx l = dTdx v xτ (4.112)gegeben. Hierbei ist τ die mittlere Zeit zwischen zwei Zusammenstößen. Der resultierendeEnergiefluss (aus beiden Flussrichtungen) ist daherQ = n〈vz〉cτ 2 dTdx = 1 3 n〈v2 〉cτ dTdxIst wie bei Phononen v konstant, so folgt(4.113)Q = 1 3 CvldT dxl ≡ vτ und C ≡ nc. Durch Vergleich findet man λ = 1Cvl.3(4.114)


220 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN(a)(b)(c)(d)Abbildung 4.35: (a) Fluss von Gasmolekülen durch eine lange offene Röhre. Elastische Stößeändern Impuls und Energiefluss des Gases nicht. (b) Bei Wärmeleitfähigkeit eines Gasesist kein Massefluss erlaubt. Stoßpaare mit überdurchschnittlicher Geschwindigkeit wandernnach rechts, mit unterdurchschnittlicher Geschwindigkeit nach links. Das resultierende Konzentrationsgefällesorgt für einen Gesamtenergietransport vom warmen zum kalten Ende (c)Fließen Phononen (aus der Phononenquelle) nach rechts und treten nur N-Prozesse auf, soändert sich der Impuls der Phononen nicht und ein Fluss von Phononen wird aufrechterhalten.(d) In U-Prozessen ändert sich der Phononenimpuls bei jedem Stoß.


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 221Wärmewiderstand des GittersDie mittlere freie Weglänge l von Phononen wird hauptsächlich durch 2 Prozesse bestimmt:die Streuung an Kristallfehlern und die Streuung an anderen Phononen. Wären die Kräftezwischen Atomen rein harmonisch, so gäbe es keinen Mechanismus, der zu Stößen zwischenverschiedenen Phononen führt, und ihre freie Weglänge wäre nur durch die Begrenzungendes Kristalls und durch Gitterfehler eingeschränkt. Bei anharmonischen Gitterwechselwirkungenbesteht dagegen eine Kopplung zwischen Phononen, die ihre mittlere freie Weglängebegrenzt. Die Phononen sind dann nicht mehr genaue Normalschwingungen des Systems.Der Einfluss der anharmonischen Kopplung führt dazu, dass bei hohen Temperaturendie mittlere freie Weglänge l proportional zu 1/T ist. Dies erklärt sich aus der Anzahl derPhononen, die bei hohen Temperaturen proportional zu T ist. l eines Phonons ist umgekehrtproportional zur Zahl der Phononen, mit denen es zusammenstoßen kann, d.h., l ∝ 1/TDamit überhaupt eine Wärmeleitfähigkeit auftritt, muss ein Mechanismus vorhandensein, der die Verteilung der Phononen lokal ins thermische Gleichgewicht bringt. Bei derWärmeleitung muss also nicht nur die mittlere freie Weglänge begrenzt werden, es muss auchein Mechanismus gegeben sein, durch den eine echte Gleichgewichtsverteilung der Phononenzustande kommt.Phononenzusammenstöße mit einem stationären Gitterfehler oder einer Kristallbegrenzungergeben kein thermisches Gleichgewicht, da sich dabei die Energie der einzelnen Phononennicht ändert: die Frequenz ω 2 des gestreuten Phonons ist gleich der Frequenz ω 1 deseinfallenden Phonons.Bemerkenswert ist, dass auch DreiphononenstößeK 1 + K 2 = K 3 (4.115)zu keinem thermischen Gleichgewicht führen. Der Gesamtimpuls des Phononengases ändertsich nämlich bei solchen Stößen nicht. Eine Phononen-Gleichgewichtsverteilung mit TemperaturT kann durch einen Kristall mit einer Driftgeschwindigkeit wandern, die nicht vonDreiphononen-Stößen, Glg. 4.115 gestört wird. In solchen Stößen bleibt nämlich der PhononenimpulsJ = ∑ Kn ⃗K (4.116)Kerhalten. n ⃗K ist dabei die Anzahl der Phononen mit dem Wellenvektor K. Bei einer VerteilungJ ≠ 0 können Stöße (Glchg. 4.115) zu keinem vollständigen thermischen Gleichgewichtführen, da sie J unverändert lassen. Setzen wir eine Verteilung heißer Phononen in einemStab mit J ≠ 0 in Bewegung, so wird diese Verteilung mit unverändertem J durch den Stabwandern. In solchen Fällen tritt also kein Wärmewiderstand auf.Diese Überlegung gilt auch sinngemäß für Stöße zwischen Gasmolekülen in einer geradenRöhre mit reibungsfreien Wänden.UmklappprozessePeierls zeigte, dass die für die Wärmeleitfähigkeit wichtigen Dreiphononenstöße von der


222 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN(a)(b)(c)Abbildung 4.36: (a) Normal und (b) Umklappprozesse in einem zweidimensionalen quadratischenGitter. Das Quadrat in der Abbildung stellt die erste Brillouinzone im k Raum dar.Die Vektoren k mit Pfeilspitzen im Mittelpunkt der Zone stellen absorbierte Phononen dar;die vom Mittelpunkt wegweisende Pfeile repräsentieren Phononen, die beim Stoß erzeugtwerden. Der reziproke Gittervektor hat die Länge 2π/a, mit a als Gitterkonstante. Bei allenProzessen gilt Energieerhaltung, ω 1 + ω 2 = ω 3 . (c) Mittelpunkt des reziproken Gitterseines linearen Kristalls der Gitterkonstante a. Ein Phonon mit K 1 stößt mit einem PhononK 2 . K 1 + K 2 liegt außerhalb der ersten Brillouin Zone. Der resultierende Vektor ist abergleichwertig mit K 2 . K 1 + K 2 + G. Im dargestellten Prozess ist G = 2π/a.FormK 1 + K 2 = K 3 + G (4.117)sind; G ist dabei ein reziproker Gittervektor und kann in allen Impulserhaltungssätzen auftreten.Reziproke Gittervektoren sind in gitterperiodischen Strukturen immer möglich, imKontinuum dagegen ist G = 0.Prozesse, bei denen G ≠ 0 ist, nennt man Umklappprozesse, U - Prozesse. Dies bezeichnetden Umstand, dass bei einem Stoß zweier Phononen mit negativen K x sich durch das“Umklappen” nach dem Stoß ein Phonon mit positiven K x ergeben kann. Stöße, bei denenG = 0 ist, nennt man Normalprozesse, N - Prozesse.Bei hohen Temperaturen (T > Θ D ) sind alle Phononen angeregt, da k B T > ω max ist.Ein wesentlicher Teil aller Phononenstöße sind dann Umklappprozesse und daher von einergroßen Impulsänderung beim Stoß begleitet. Man erwartet, dass der Wärmewiderstand des


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 223(a)(b)Abbildung 4.37: (a): Spezifischer Wärmewiderstand eines Kaliumchlorideinkristalls. Unterhalbvon 5 K ist der Wärmewiderstand eine Funktion der Kristalldicke. (b):Wärmeleitfähigkeit eines hochreinen NaF-KristallsGitters bei hohen Temperaturen proportional zu T sein wird, d.h. die Wärmeleitfähigkeitfällt mit 1/T ab.Die Energie der Phononen K 1 und K 2 , die für einen Umklappprozess geeignet seinsollen, liegt in der Größenordnung von k B Θ D /2, da jedes der beiden Phononen 1 und 2Wellenzahlen in der Größenordnung von G/2 haben muss, damit der Stoß, Glchg. 4.117,überhaupt möglich wird. Haben dagegen beide Phononen kleine Wellenzahlen K und damitauch geringe Energien, so kann sich bei einem Stoß dieser beiden kein Phonon mit einerWellenzahl der Größenordnung (1/2)G ergeben. Beim Umklappprozess gilt ja der Energiesatzgenau so wie beim N-Prozess. Bei tiefer Temperatur ist die Anzahl der geeigneten Phononenmit der nötigen Energie k B Θ D /2 gemäß Boltzmann Verteilung ungefähr durch exp[−ω D /2T )]bestimmt. Diese Abschätzung stimmt gut mit experimentellen Beobachtungen überein. InGlchg. 4.111 ist die mittlere freie Weglänge durch Umklappprozesse bestimmt.KristallfehlerAuch Geometrieeffekte können bei der Begrenzung der mittleren freien Weglänge eine wichtigeRolle spielen. Dazu zählt die Streuung an Kristallgrenzen, an chemischen Verunreinigungen,Gitterfehlern, etc.Wird bei tiefen Temperaturen die mittlere freie Weglänge l mit der Dicke eines Versuchskörpersvergleichbar, dann wird auch der Wert von l durch die Dicke beschränktund die Wärmeleitfähigkeit wird eine Funktion der Abmessung des Versuchskörpers.Abb. 4.37, links, zeigt die Messergebnisse für Kaliumchloridkristalle. Der scharfe Abfallder Wärmeleitfähigkeit reiner Kristalle bei tiefen Temperaturen wird durch deren geringeAbmessungen verursacht. Bei tiefen Temperaturen kann der Umklappprozess dieWärmeleitfähigkeit nicht mehr einschränken, und der Einfluss der Kristallgröße dominiert(vgl. auch Abb. 4.37, rechts). Es ist dann zu erwarten, dass die mittlere freie Weglänge der


224 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENPhononen konstant und ungefähr gleich dem Durchmesser D des Kristalls wird, d.h.,λ ≈ CvD (4.118)Die einzige temperaturabhängige Größe in auf der rechten Seite von Glchg. 4.118 ist C, diebei tiefen Temperaturen mit T 3 abfällt. Man erwartet daher, dass die Wärmeleitfähigkeitbei tiefen Temperaturen wie T 3 verläuft. Der Einfluss der Kristallgröße wird immer dannspürbar, wenn die mittlere freie Weglänge der Phononen mit dem Durchmesser des Probekörpersvergleichbar wird.(a)(b)Abbildung 4.38: (a): Einfluß von Isotopen auf die Wärmeleitfähigkeit von Ge. (b): Temperaturabhängigkeitder thermischen Leitfähigkeit verschiedener Gläser und Kristalle.In sonst idealen Kristallen verursacht das Auftreten von Isotopen oft beträchtliche Phononenstreuung,da der statistische Einbau der Isotope die Periodizität des Gitters für eineelastische Welle empfindlich stört (vgl. Abb. 4.38). Diese Aussage lässt sich auch auf punktartigeGitterfehler, wie Fremdatome oder Leerstellen verallgemeinern. Dies führt natürlichauch zu Störungen der idealen Gitterperiodizität und damit zu Streuung der Phononen.In Gläsern und amorphen Substanzen ist die Wärmeleitfähigkeit signifikant reduziert(Abb. 4.38, rechts). Dies liegt daran, dass die Gitterperiodizität verloren geht und somitdie Phononen beinahe an jedem Atom im Festkörper, die ja unregelmäßig angeordnetsind, gestreut werden. Praktisch führt das dazu, das die so genannte minimale thermischeLeitfähigkeit erreicht wird. Dies ist eine theoretische untere Grenze für diese Größen.


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 225Reale Materialien, insbesondere Metalle, sind dadurch gekennzeichnet, dass nicht nurPhononen (d.h. quantisierte Gitterschwingungen) zum Wärmetransport beitragen, sondernauch Elektronen, oder Quasiteilchen, die z.B. aus magnetischer Ordnung resultieren (sogenannte Magnonen, das sind quantisierte Spinwellen).Für nichtmagnetische Materialien gilt demnach:λ = λ e + λ ph (4.119)wobei λ e der elektronische Beitrag zum gesamten gemessenen Effekt ist und λ ph den Gitterbeitragrepräsentiert. Dabei kann, abhängig vom untersuchten Material, entweder der eineoder der andere Beitrag dominieren, oder beide Beiträge sind von gleicher Größenordnung.Um nun λ e und λ ph von λ zu separieren, wird das so genannte Wiedemann Franz Gesetzλ e = L eTρ≈ L 0Tρ(4.120)angewandt, wobei ρ der elektrische Widerstand und L 0 die so genannte Lorenzzahl, L 0 =2.45 × 10 −8 WΩ/K 2 ist. Dabei geht man von der Überlegung aus, dass Elektronen nicht nurelektrische Ladung, sondern auch Wärme transportieren. Die Quantenmechanik bestätigt dieÄquivalenz beider Größen, so dass es die Kenntnis des elektrischen Widerstandes erlaubt,den elektronischen Beitrag zu λ zu berechnen und damit λ ph bestimmt werden kann:λ ph = λ − L 0Tρ(4.121)Misst man also die gesamte thermische Leitfähigkeit und den elektrischen Widerstand eineridentischen Probe, so kann man den Gitterbeitrag zur thermischen Leitfähigkeit fast allerMaterialien einfach bestimmen. Im folgenden Teil dieses Kapitels werden nun einige analytischeAusdrücke für die die thermische Leitfähigkeit des Gitters angegeben und gezeigt, wiedie gesamte thermische Leitfähigkeit einer intermetallischen Verbindung analysiert werdenkann. Das Material, das untersucht wird, zählt zur Familie der gefüllten Skutterudite undstellt ein neuartiges Material zur Verwendung in thermoelektrischen Applikationen dar.Eine Analyse des Gitterbeitrages zur thermischen Leitfähigkeit basiert auf der sogenanntenDebye Näherung.∫ θD /Tλ ph = CT 3 τ c x 4 exp(x)2dx (4.122)[exp(x) − 1]0wobei x = ω/k B T mit der Phononenfrequenz ω. θ D ist die Debye Temperatur und τ c istdie gesamte Relaxationszeit, die die mittlere freie Weglänge der Phononen bestimmt. Diesegesamte Relaxationszeit setzt sich aus den Teilbeträgen gemäßτ −1c= τ −1B+ τ −1D+ τ −1U+ τ −1e (4.123)zusammen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Streuprozesse, die diese Relaxationszeitbestimmen, voneinander unabhängig sind. Die einzelnen Terme τ B , τ D , τ U , τ e


226 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN25Nd 0.2Fe 4Sb 1220math. Anpassung[W/mK]1510 ph tot5 e min00 50 100 150 200 250 300T [K]Abbildung 4.39: Temperaturabhängigkeit der gesamten thermischen Leitfähigkeit vonNd 0.2 Fe 4 Sb 12 , sowie der Gitter- bzw. der elektronische Anteil. Die durchgezogene Linie stellteinen Fit an die Daten dar.beziehen sich dabei auf Streuung der Phononen an Korngrenzen, an Fehlstellen, Umklappprozessenund an Leitungselektronen. Rechnungen basierend auf verschiedenen festkörperphysikalischenModellen, die hier nicht explizit besprochen werden, führen zu folgendenFrequenz und Temperaturabhängigkeiten:τ −1B = B τ −1D = Dω4 τ −1U = Uω2 T exp(−θ D /3T ) τ −1e = Eω (4.124)Dabei kann man sehen, dass eine Frequenzabhängigkeit durch die Eigenschaft der thermischenLeitfähigkeit in eine Temperaturabhängigkeit transferiert wird.Abbildung 4.39 zeigt die gesamte thermische Leitfähigkeit, den Gitter und den Elektronenanteil,sowie einen Fit, bei dem Glchg. 4.122 an die experimentellen Daten angepasstwird. Dabei treten als Fitparameter die Vorfaktoren aus Glchg. 4.124 auf, die damit bestimmtwerden können. Wie aus Abb. 4.39 ersichtlich ist, ist die Gitterleitfähigkeit diesesMaterials für höhere Temperaturen nahe am theoretischen Limit. Gefüllte Skutterudite sindalso hervorragend für thermoelektrische Einsätze geeignet.4.4.3 Thermische AusdehnungAllgemeinDie räumlichen Maße der meisten Substanzen nehmen zu, wenn sie unter konstantem Druckerwärmt werden. Es gibt aber auch Körper, die sich bei Erhöhung der Temperatur kontrahieren,wie z.B. einige tetrahedrisch gebundene Kristalle bei tiefer Temperatur, β Quarz


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 227bei hoher Temperatur und auch Wasser unter 4 ◦ C. Andere Stoffe können bei Erwärmungverzerrt werden (anisotrope thermische Ausdehnung). Thermische Ausdehnung kann alsopositiv oder negativ sein.Die Eigenschaft einer temperaturabhängigen Länge kann für hochempfindliche Messanlagen,aber auch für größere Bauwerke wie Brücken oder Eisenbahnschienen von großer Wichtigkeitsein, da Temperaturschwankungen zu beachtlichen Längenänderungen führen. AlsBeispiel sei hier die Dejustierung von Spiegelteleskopen und anderen Messgeräten erwähnt,die im Weltraum stationiert sind und somit großen Temperaturänderungen unterliegen.Ein Maß für die Größe der thermischen Ausdehnung istβ = 1 ( ) ∂VV ∂Twobei V das Volumen bei einer bestimmten Temperatur T darstellt. Im Falle eines idealenGases ist das Volumen bei konstatem Druck proportional zur mittleren Bewegungsenergieder Teilchen, V ∝ 1/2mv 2 = 3/2k B T , so dass der Wert von β proportional zu 1/T ist. BeiRaumtemperatur und atmosphärischen Druck ist β ≈ 3400 × 10 −6 K −1 . Wegen der kurzreichweitigenstrukturellen Ordnung in Flüssigkeiten ist das thermophysikalische Verhaltenwesentlich komplexer und β wird üblicherweise in Form eines Polynoms repräsentiert, d.h.,β fl = a + bT + cT 2In Festkörpern kann die thermische Ausdehnung für verschiedene Raumrichtungen verschiedensein. Man definiert daher einen linearen thermischen Ausdehnungskoeffizieten fürdie Richtung iα i = 1 ( ) ∂LiL i ∂TpDie Summe der drei orthogonal linearen Koeffizienten eines Kristalls gleicht dann demVolumenkoeffizienten β = α 1 + α 2 + α 3 .NaCl Fe (bbc) <strong>Si</strong>O 2 (hex.) In Teflon U <strong>Si</strong>O 2 (Glas)200 K 35.3 10.1 4.9 39.5 85 22 -0.13300 K 39.7 11.8 7.4 52.9 > 500 23 +0.41400 K 43.0 13.2 8.8 77.3 150 24 0.55Tabelle 4.1: Koeffizient der linearen thermischen Ausdehnung verschiedener Festkörper beiverschiedenen Temperaturen. Alle Ausdehnungswerte mal 10 −6 !Thermische Energie sorgt für eine Bewegung der Atome um ihre Gleichgewichtspositionen.Die potentielle Energie hängt in der einfachsten Näherung (harmonische Näherung) nurvom Quadrat der interatomaren Auslenkung ab. Dies würde bedingen, dass es keine thermischeAusdehnung gibt, oder dass sich Gitterschwingungen nicht gegenseitig beeinflussen.Eine einzelne Welle wäre weder gedämpft noch würde sie sich zeitlich ändern.p


228 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENEine Erklärung der thermischen Ausdehnung basiert auf der Asymmetrie der Bindungspotentialezwischen den Atomen, die bedingt, dass deren mittlere Abstand zunimmt, wennsie längs der Verbindungslinie schwingen. Dieses Modell ist zwar nur für zweiatomige Molekülegültig, wenn auch die Rotationsschwingungen berücksichtigt werden. Aber obwohldieses Modell nur in groben Zügen anwendbar ist und vielfach auch zu völlig falschen Ergebnissenfür feste Körper führt (es erklärt z.B. keine negative thermische Ausdehnung),so liefert es doch die wesentlichsten Grundlagen zum Verständis der thermischen Ausdehnung.Es erklärt insbesondere, dass die Schwingungen der Atome durch AnharmonizitätenAnlass zur thermischen Ausdehnung geben. Der Nachteil dieses Modells liegt darin, dassnur longitudinale Gitterschwingungen (entlang der Verbindungslinie zwischen 2 Atomen) inBetracht gezogen werden. In Festkörpern gibt es aber auch Relativbewegungen der Atometransversal zu diesen Richtungen. Dies führt zu einem weiteren anharmonischen Prozess, derAtome gegeneinander bewegt und damit den mittleren Abstand zwischen Atomen verkürzt.Diese zwei Mechanismen haben entgegengesetzte Wirkung, und die thermische Ausdehnungkann positiv oder negativ sein, je nachdem welcher dieser Effekte überwiegt. Der zweiteProzess, obwohl er immer auftritt, hat nur in bestimmten Stoffen wesentliche Auswirkungen.Insbesondere trifft das für offene Strukturen zu, wenn Relativbewegungen auftreten, diesignifikante Komponenten entlang der Richtung der Bindungen besitzen.Beiträge die nicht von Gitterschwingungenherrühren, können spektakuläreErgebnisse liefern, insbesondere bei tiefenTemperaturen (Schwingungsanteilesind hier gering). Grundsätzlich istjeder Beitrag zur freien Energie einesSystems (z.B. elektronisch, magnetisch,etc.) abhängig von Dehnungenund Deformationen und beeinflusst daherdie thermische Ausdehnung. Diesekann sehr präzise gemessen werden (mitHilfe einer Kapazitätsmessung zweierAbbildung 4.40: Temperaturabhängigkeit des Volumenausdehnungskoeffizientenβ verschiedener dazu, viele Eigenschaften von Materia-paralleler Platten) und dient daher auchFestkörperlien zu untersuchen.Die thermische Ausdehnung von Festkörpern ist i.A. sehr komplex, kann aber durch diesogenannte Grüneisengleichungβ = ΓC pV B s(4.125)vereinfacht dargestellt werden. Γ ist der Grüneisenparameter, C p ist die Wärmekapazitätbei konstantem Druck und B S ist der Bulk modulus. Da Γ/(V B S ) in einfachen Systemenbeinahe konstant ist über einen großen Temperaturbereich, hat β ungefähr dieselbe Temperaturabhängigkeitwie C p . Für tiefe Temperaturen gilt β → 0 für (T → 0), während beihohen Temperaturen β leicht ansteigt. Es ist bekannt, dass sich viele Metalle von 0 K biszur Schmelztemperatur etwa 7% ausdehnen. Das bedeutet auch, dass Festkörper mit einem


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 229geringen Schmelzpunkt einen sehr großen Ausdehnungskoeffizieten β besitzen.Im Fall von Metallen und T < 20 K kann die Wärmekapazität durchC p = a el T + a gitt T 3ausgedrückt werden, wobei die Terme den Elektronen- und Gitterbeitrag ausdrücken. Überdie Grüneisenbeziehung kann die thermische Ausdehnung in einer ähnlichen Art angegebenwerden. Es gilt:β = 1V B s(Γel α el T + Γ gitt α gitt T 3) (4.126)Berechnung der thermischen Ausdehnung einfacher FestkörperIm Folgenden wird anhand eines üblichen Gitterpotentials ein Weg zur Berechnung derthermischen Ausdehnung skizziert.Ausgangspunkt ist ein asymmetrischer Potentialtopf, z.B. der eines Kr-Kristalls. Ein be-Abbildung 4.41: Schematisches Bindungspotential eines Kr-Kristallsliebig herausgegriffenes Atom schwingt zwischen den eingezeichneten Extrempositionen hinund her; bei höheren Temperaturen kann es höher den Potentialtopf hinauf laufen. In einemasymmetrischen Potentialtopf, Abb. 4.41, wird das Atom länger rechts von der Mitte alslinks von der Mitte sein; der mittlere Atomabstand als Funktion der Schwingungsamplitudewird auf der eingezeichneten Mittellinie liegen. Die mittlere Lage ist etwas rechts von r 0 , derKristall dehnt sich.Für den linearen thermischen Ausdehnungskoeffizienten (hier in einer etwas abgewandeltenForm) giltα = l(T ) − l 0l 0 Tmit der thermischen Dehnung ɛ therm ; die Dimension von α ist K −1 .= ɛ thermT , (4.127)


230 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENWenn man die Amplitude der Schwingung und die beiden Extremalpositionen berechnenwill (Abb. 4.41), muss folgende Gleichung gelöst werden:U = (3/2)k B T = − A + B . (4.128)rex n rexmDabei wird ein typisches asymmetrisches Bindungspotential U Bindg = –(A/r n ) + (B/r m ) angenommen,wobei m und n Parameter für das entsprechende Potential sind. Dieses Potentialsorgt für einen bestimmten Gleichgewichtsabstand r 0 der einzelnen Atome und damit auchfür eine bestimmte Dichte. Das negative Vorzeichen definiert die Anziehung zwischen denTeilchen und das positive für Abstoßung. Für r → ∞ wird U → 0. U(r 0 ) = E 0 ist dann dieGitterenergie. Für den Gleichgewichtsabstand verschwindet auch die Kraft U ′ .Die Energie an einer der markierten Extremalpositionen r ex ist gleich der mittleren thermischenEnergie (1/2) k B T pro Freiheitsgrad; also (3/2)k B T für die drei Freiheitsgrade derSchwingungen in den drei Koordinatenrichtungen. Für m, n > 4 gibt es keine analytischeLösung der Gleichung. In einer Näherungslösung vereinfacht man Glchg. 4.128 mit Hilfeeiner Potenzreihenentwicklung (Taylor Reihe) um das Minimum, d.h. für r = r 0 und erhält:U = U 0 + (1/2)U ′′0 x 2 + (1/6)U ′′′0 x 3 + . . . , (4.129)mit U ′′0 = d 2 U/ dr 2 . . . zweite Ableitung nach r. <strong>Si</strong>e ist ein Maß für den Elastizitätsmodul.U ′′′0 . . . ist die dritte Ableitung nach r.Die Reihenentwicklung verschiebt den Nullpunkt auf das Potentialminimum, oder, inanderen Worten, wir haben x = r–r 0 . Die erste Ableitung ist im Potentialminimum Null.Höhere Ableitungen als die dritte vernachlässigt man. Die dritte Ableitung ist aber essentiell:<strong>Si</strong>e enthält die Asymmetrie des Potentials, die ja erst für die thermische Ausdehnung sorgt.Die erste Ableitung ergibtDie zweite AbleitungdUdr = U ′ = nAr –(n+1) –mBr –(m+1)U ′′ = A(−n − 1)nr −n−2 − B(−m − 1)mr −m−2Sucht man U ′′ im Potentialminimum, d.h., r = r 0 und berücksichtigt, dass U ′ (r 0 ) = 0, sofolgtU ′′ (r 0 ) = U 0nmr 2 0Die dritte Ableitung ist demgemäßU ′′′ = A(−n − 2)(−n − 1)nr −n−3 − B(−m − 2)(−m − 1)mr −m−3Oder, wieder für r = r 0 ,U ′′′ (r 0 ) = –U 0nm(n + m + 3)r 3 0


4.4. THERMISCHE EIGENSCHAFTEN 231Damit ergibt sich für die Näherungsformel des Bindungspotentials in der Nähe des Potentialminimums()U(x) = U 0 1 + nmx2 nm(n + m + 3)x3− (4.130)2r02 6r03Für die Amplitude eines Atoms, das in diesem Potential schwingt, betrachtet man den Wertder Funktion bei der Energie U 0 + (3/2)k B T . Man hat also eine implizite Gleichung für die(jeweils halbe) Amplitude x( nmx2(3/2)k B T = –2r 2 0)nm(n + m + 3)x36r03(4.131)Glchg. 4.131 ist eine Gleichung dritten Grades für die Extremwerte von x für eine gegebenethermische Energie; diese Gleichung kann im Prinzip gelöst werden.y=ax 2 -bx 3yAusgehend von den beiden relevanteny=ax 2 x-Werten – als eine kleine Korrektur derWerte ±x(T ) – die sich aus einem parabelförmigesPotential ergeben würden (die-x+ξ x+ξdann natürlich keine thermische Ausdehnung-x xenthalten) folgt:( ) nmx2(3/2)k B T =2r 2 0y=-bx 3Die Lösungen der quadratischen Gleichungkann man sofort angeben; für die Amplitudenach links und rechts giltxx 1,2 = ±( ) 3kB T r02 1/2 ( ) 1/2 3kB T== ±xnmU ′′ 0 .Ansatz zur Lösung der kubischen Geichung:Amplitude nach links = −x 0 + ξ, Am-Abbildung 4.42: Potentialplitude nach rechts = +x 0 + ξ. Was das genau bedeutet, ist aus Abb. 4.42 zu entnehmen.Einsetzen in die Gleichung dritten Grades und Ausmultiplizieren gibt eine Bestimmungsgleichungdritten Grades für ξ; und ξ ist natürlich genau die Abweichung von der Gleichgewichtsposition:ξ = r–r 0 = ɛ therm r 0Damit ist das Problem innerhalb der mathematischen Näherung mittels einer Taylor-Entwicklung exakt gelöst. Um nun die Gleichung dritten Grades zu lösen, kann man jetztberücksichtigen, dass die thermische Ausdehnung generell ein kleiner Effekt ist, und dasheißt, dass sowohl ξ klein ist gegenüber x 0 , als auch das |U ′′′ | klein ist gegenüber |U ′′ |.Man vernachlässigt also die mindest quadratisch kleinen“ Terme, also alle ξ 2 , ξ 3 und”alle Produkte zwischen ξ und U ′′′ . Damit folgt(3/2)k B T = (1/2)U 0 ′′ (x 0 + ξ) 2 + (1/6)U 0 ′′′ (x 0 + ξ) 3 = (1/2)U 0′′(x20 + x 0 ξ ) ( )+ (1/6)U 0′′′ x30


232 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENSetzt man den Wert für x 2 0 ein, heben sich die beiden ersten Terme auf; ein x 0 kürzt sichheraus, und es bleibt0 = ξU 0 ′′ + 3k BT U 0′′′Damit ergibt sich für ξ:Einsetzen obiger Werte ergibt für α:und als EndformelDaraus folgt unmittelbar6U ′′ξ = – k BT U 0′′′2(U ′′ ) 2α = ɛ thermT= ξr 0 Tα = – k BT U 0′′′2(U ′′ ) 2 r 0 T = −–U 0[nm(n + m + 3)/r0]k 3 B T. (4.132)2r 0 T [U 0 (nm/r0)] 2 2α = (n + m + 3)k B2nmU 0(4.133)Man sieht, dass α umgekehrt proportional zur Bindungsenergie U 0 ist. Es ist bekannt, dassAbbildung 4.43: Schmelztemperatur als Funktion der thermischen Ausdehnung für elementareMetalleder Schmelzpunkt T m ungefähr proportional zu U 0 ist - in der einfachsten Näherung setztman U 0 = k B T m . Eingesetzt in die Formel für α ergibt sich dann ein direkter Zusammenhangzwischen dem Schmelzpunkt und dem thermischen Ausdehnungskoeffizienten:α =(n + m + 3)2nmT m= const. 1T m


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 233Diese Beziehung kann leicht überprüft werden. Für praktisch alle Metalle ergibt sich einehervorragende Übereinstimmung - die Werte liegen fast alle sehr gut auf der erwartetenHyperbel, bei einem Schmelzpunktintervall von mehr als 3000 K!Invar Der Begriff Invar wurde 1897 von Ch. E. Guillaume eingeführt. Er untersuchte diethermische Ausdehung von (fcc)-FeNi-Legierungen im Konzentrationsbereich Fe65Ni35 undfand, dass der Ausdehnungskoeffizient im Bereich der Raumtemperatur Null ist. Dieser Effektrührt daher, dass neben der üblichen Volumsreduktion mit fallender Temperatur einweiter Effekt auftritt, der die normale Ausdehnung kompensiert. Tritt ferromagnetischesVerhalten unterhalb einer charakteristischen Temperatur T C auf, so erfährt die Substanz eineVolumenaufweitung (positiver Magnetovolumen-Effekt = Volumenmagnetostriktion). DerAusdehnungskoeffizient von Invar verschwindet dadurch bis etwa 450 K fast vollständig!Alle neueren Invar-Legierungen enthalten Eisen, Kobalt (beide ferromagnetisch) oderMangan (antiferromagnetisch). Invar machte als Ersatz für das teure Platin-Iridium beiUr-Metern“ Karriere, als Material für Unruhefedern in Chronometern - überall da, wo”eine geringe thermische Ausdehnung gefragt war. Invar ist in der Technik von heute weitverbreitet, zum Beispiel auch in Schattenmasken“ von TV-Bildröhren. Guillaume erhielt”1920 für seine Entdeckung den Nobelpreis.4.5 Magnetische EigenschaftenMagnetwerkstoffe sind ein wichtiger Bestandteil der heutigen Informationsgesellschaft undkommen im täglichen Leben in zahlreichen Anwendungen vor, wie zum Beispiel in Computerfestplatten,Motoren, Sensoren, etc. . . Der Vorteil der magnetischen Informationsspeicherungliegt in dem kleinen Speichervolumen pro Bit. Zum Vergleich, in einem menschlichen Gehirnsind etwa 10 Gbytes gespeichert, was in der Größenordnung moderner Computerfestplattenliegt.Die Gesamtheit der elektrischen und magnetischen Erscheinungen eines Festkörpers lässtsich auf der Grundlage einer Feldtheorie, den Maxwellschen Gleichungen beschreiben. Dieseelektrischen und magnetischen Felder werden durch die elektrischen Ladungen und durch diemagnetischen Momente der Elementarteilchen erzeugt. Magnetische Felder werden aber auchvon Leitungs- und Konvektionsstromen, d. h. gegenüber dem Bezugssystem bewegten elektrischenLadungsträgern, und dem Verschiebungsstrom hervorgerufen. Zur Berücksichtigungder Eigenschaften eines Mediums werden in der Maxwellschen Theorie Materialkonstanteneingeführt. <strong>Si</strong>e haben die Bedeutung von makroskopischen Mittelwerten der betreffendenEigenschaften über die atomistische Struktur der Substanzen und werden• teilweise mit Hilfe der Quantentheorie berechnet sowie• aus dem Experiment bestimmt.Das vollständige System der Maxwellschen Gleichungen gibt die Verknüpfung elektrischer


234 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENund magnetischer Felder wieder.∇ · D(r, t) = ρ (r, t)∇ × E(r, t) = − ∂B(r,t)∂t∇ · B(r, t) = 0∇ × H(r, t) = s(r, t) + ∂D(r,t)∂t− − − − − − − − − − − − −−D = ε · E B = µ · H s = σE(4.134)Die magnetischen Eigenschaften eines Festkörpers lassen sich auf magnetische Momente undihren Wechselwirkungen zurückführen. Unterschiedliche Formen der Wechselwirkung führenzu den verschiedenen Arten der magnetischen Erscheinungen. Der fundamentale Bausteinder magnetischen Eigenschaften ist der magnetische Dipol und das damit verbundene magnetischeMoment.4.5.1 Magnetisches MomentIm klassischen Elektromagnetismus führt ein geschlossener Kreisstrom zu dem magnetischenMoment µ [Abb. 4.44(a)]:µ = i . A [ Am 2] (4.135)wobei i der Kreisstrom und A der Vektor der eingeschlossenen Fläche ist.Die magnetischen Eigenschaften von Festkörpern werden bestimmt durch:• das resultierende Moment aller Elektronen, die durch die in der Substanz befindlichenAtome gegeben sind,• die Wechselwirkung dieser magnetischen Momente und• das magnetische Moment des Atomkernes und seiner Wechselwirkung mit der Elektronenhülle.Obwohl der zuletzt angeführte Anteil für eine Reihe von physikalischen Messverfahren(magnetische Kernresonanz u. a.) entscheidend ist, kann er als Beitrag zu der Polarisationbei den magnetischen Werkstoffen vernachlässigt werden.Atomares magnetisches MomentIm Schalenmodell des Bohr-Sommerfeldschen Atommodells wird jedem Elektron des Atomsein Energiezustand zugeordnet. Er wird durch jeweils vier Quantenzahlen gekennzeichnet (n,l, l z und s z ). Nach dem Pauli-Prinzip kann jeder Zustand maximal nur mit einem Elektronbesetzt werden. Steigt die Ordnungszahl und damit die Anzahl der Elektronen je Atom an, sokommt es zu der Ausbildung von abgeschlossenen Elektronenschalen. Dabei werden, beginnendmit dem Element Kalium, neue, äußere Schalen angelegt, bevor die anderen (nunmehrinneren) voll aufgefüllt sind. Jedem Elektron für sich kann man ein magnetisches Moment


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 235Abbildung 4.44: Magnetisches Moment hervorgerufen durch a) Kreisstrom, b) Eigendrehimpulsund c) Bahndrehimpuls eines Elektrons.zuschreiben. Diese einzelnen Momente werden dann nach dem Vektormodell zu einem resultierendenMoment zusammengesetzt.Das magnetische Moment eines Elektrons mit den Quantenzahlen l und s setzt sich auseinem Bahn- und Spinmoment zusammen [Abb. 4.44(b,c)], die sich zufür das Bahnmoment, bzw.m l = µ 0e2m e√l (l + 1) = µB√l (l + 1) (4.136)m s = µ 0em e√s (s + 1) = 2µB√s (s + 1) (4.137)für das Spinmoment ergeben.Die beiden Anteile unterscheiden sich um den Faktor 2. Diese als magnetomechanischeAnomalie bezeichnete Erscheinung ist für die Berechnung des magnetischen Gesamtmomenteswesentlich, da der resultierende mechanische Drehimpuls J nicht mehr mit der Richtungdes magnetischen Gesamtmomentes m r übereinstimmt (Abb. 4.45). Der Quotient aus demmagnetischen Gesamtmoment und dem resultierenden mechanischen Drehimpuls wird alsgyromagnetisches Verhältnis γ bezeichnet. Der Zusammenhang zwischen Bahndrehimpulsund dem magnetischen Moment eines Elektrons wurde erstmals durch den Einstein-de HaasEffekt (1915) demonstriert.µ = γ · L (4.138)γ = − e2m e(4.139)Die makroskopische Magnetisierung (magnetisches Moment pro Volumen) eines Festkörpersergibt sich dann aus:M = µ total[A/m] (4.140)V


236 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENDie magnetische Polarisation ist gegeben durch:J = µ 0 M [ T=Vs/m 2] (4.141)µ 0 = 4π [ ] V · s10 7 A · m(4.142)Die entsprechende Materialgleichung aus den Maxwellschen Gleichungen wird zu:B = µ 0 (H + M) = µ 0 H + J = µ 0 µ r H = µH (4.143)mit µ als Permeabilität und µ r als relative Permeabilität.In speziellen Fällen gibt es einen linearen Zusammenhang zwischen der MagnetisierungM und dem äußeren Feld H, wobei χ die magnetische Suszeptibiltät ist.B = µ 0 (1 + χ) H = µ 0 µ r Hµ r = (1 + χ)(4.144)JSµ lµ jLµ sµ rAbbildung 4.45: Lage des Gesamtdrehimpuls J = L + S und des daraus resultierendenmagnetischen Gesamtdrehmomentes m r = m l + m s führt eine Präzessionsbewegung um dieRichtung von j aus, so dass nur mit m j gekennzeichnete Komponente von m r gemessenwird.Nach dem Bohr-Sommerfeldschen Atommodell wird das Bahnmoment aus dem magnetischenMoment eines Kreisstromes berechnet. Für l =0 erhält man so das Bohrsche Magnetonµ B zuµ = πr 2 i = − e2m e≡ −µ B (4.145)


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 237µ B = e2m e= 9.274 · 10 −24 A · m 2 (4.146)Das resultierende magnetische Moment aller Elektronen eines Atoms hängt von der Wechselwirkungder Elektronen untereinander bzw. von der Kopplung der Bahndrehimpulse l iund Eigendrehimpulse s i ab. Damit ergibt sich nach dem Vektormodell der Atomhülle:• Bei chemischen Elementen mit Ordnungszahlen < 50 ist die Kopplung zwischen denBahn- und zwischen den Eigendrehimpulsen jeweils untereinander stärker, als die zwischendem Bahn- und Eigendrehimpuls eines Elektrons (Russell-Saunders-Kopplung).Die Drehimpulse l i und s i bilden daher jeweils für sich einen Bahn- bzw. EigendrehimpulsL = ∑ l i bzw. S = ∑ s i für das Atom oder auch Ion als Gesamtheit der beteiligtenElektronen. Diese Impulse ergeben dann den Gesamtdrehimpuls J mit J = L + S.• Elektronen in abgeschlossenen Schalen liefern keinen Beitrag zu dem magnetischenMoment.Da bei einer chemischen Bindung die Tendenz zur Auffüllung der Schalen besteht, ergebennur Elektronen der nicht abgeschlossenen inneren Schalen ein resultierendes Moment. DieAufteilung der Elektronen auf die Terme der nicht voll besetzten Schalen kann mit Hilfe derHund’schen Regeln verstanden werden.Nur Atome mit nicht aufgefüllten inneren Elektronenschalen, d.h. die Elemente• der Eisengruppe 3d Cr, Mn, Fe, Co, Ni, Cu• der Seltenen Erdmetalle 4f und 3d Ce... <strong>Yb</strong>• der Wertmetalle 4d Zr.. .Te• derAktiniden 5f U...Cmbewirken merkliche Werte der magnetischen Polarisation. Magnetische Werkstoffe mitχ ≫ 1 müssen daher obige Elemente erhalten. In einem magnetischen Festkörper kann sichjedoch das magnetische Moment je Atom ändern, weil u. a. die Bahndrehimpulse durchdas Kristallfeld reduziert bzw. gelöscht werden, so dass nur der Beitrag des Spinmomenteswirksam wird, und die Terme der isolierten Atome zu den Energiebändern des Festkörpersübergehen (Anzahl der Bohrschen Magnetonen in Metallen und Legierungen, siehe Tabelle4.2, erste Spalte; inneratomare Wechselwirkung).4.5.2 Einteilung der magnetischen EigenschaftenIn Bezug auf die magnetischen Eigenschaften können alle Substanzen zunächst grob durchdrei charakteristische Wertebereiche der Suszeptibilität unterschieden werden (Abb. 4.46):• Diamagnetismus χ < 0• Paramagnetismus χ > 0


238 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN• Ferro- bzw. Ferrimagnetismus χ ≫ 0• Antiferromagnetismus χ > 0Während man bei den dia- und paramagnetischen Substanzen eine Wechselwirkung zwischenden atomaren magnetischen Momenten vernachlässigen kann, werden die charakteristischenmagnetischen Eigenschaften beim Ferro-, Ferri- und Antiferromagnetismus geradedurch die Kopplung zwischen den einzelnen Momenten bestimmt.Abbildung 4.46: Vergleich der magnetischen Suszeptibilität eines (a) dia- (b) para - und (c)ferromagnetischen Materials.Diamagnetische SubstanzenDiese Substanzen bestehen aus Molekülen, Atomen bzw. Ionen, bei denen sich die magnetischenMomente normalerweise kompensieren. <strong>Si</strong>e besitzen also kein ständiges (permanentes)Moment. Erst mit der Einwirkung eines Magnetfeldes wird eine negative Suszeptibilitätgemessen, d. h., diese Stoffe werden aus einem inhomogenen Feld verdrängt. Anschaulichkann man den Diamagnetismus mit Hilfe des Bohr-Sommerfeldschen Atommodells verstehen.Danach werden durch das Magnetfeld Kreisströme induziert, die das Bahnmoment derElektronen beeinflussen und die gemäß der Lenzschen Regel Wirkungen hervorrufen, die derUrsache entgegenwirken (Verdrängung aus dem Feld). Typische Vertreter: Cu, Bi, H 2 OParamagnetische SubstanzenDie paramagnetischen Stoffe enthalten Bestandteile, die (jeweils für sich) ein ständiges (permanentes)magnetisches Moment aufweisen und deren Wechselwirkung untereinander (imparamagnetischen Zustand) zu vernachlässigen ist und sich daher keine resultierende permanentemagnetische Polarisation ergibt. Es kann sich dabei um Elektronen, Atome, Moleküle


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 239aber auch um makroskopische Teilchen (magnetische Flüssigkeiten) handeln. Die Temperaturabhängigkeitder Magnetisierung und der Suszeptibilität werden durch den Quotientenα = µ 0Jgµ B HkT(4.147)d. h. durch das Verhältnis der magnetostatischen Energie und der entgegenwirkenden thermischenEnergie der Teilchen bestimmt. Für die Magnetisierung erhält manM = M ∞ B J (α) (4.148)wobei J dem Gesamtdrehimpuls der Teilchen (einzelnen Momente) entspricht. Kann mandie Richtungsquantelung vernachlässigen, d. h., geht man z.B. zu makroskopischen Teilchenüber, so ist die Brillouin-Funktion B J (α) durch die Langevin-Funktion L(α) zu ersetzen.Im Bereich der Raumtemperatur und bei technisch gebräuchlichen Magnetfeldern gilt dasCurie-Gesetz:χ = M H = C T(4.149)mit C als die Curie-Konstante. Paramagnetismus nach dem Curie-Weißschen Gesetz trittbei Substanzen auf, bei denen die Wechselwirkung für T < T C , d.h. unterhalb der Curie-Temperatur, nicht mehr vernachlässigt werden kann (Übergang zum geordneten Ferri- undFerromagnetismus, Abb. 4.47):χ = M H = C(4.150)T − T CAbbildung 4.47: Geordnete magnetische Momente in einem (a) Ferro- und (b) Ferrimagneten.Das Magnetvolumen ist in unterschiedliche magnetisch geordnete Bereiche (magnetischeDomänen) unterteilt.


240 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENFerromagnetismusDie Curie-Temperatur ist dadurch gekennzeichnet, dass bei einer Abkühlung bzw.Erwärmung des Werkstoffes über diesen Wert eine magnetische Ordnung entsteht bzw. aufgelöstwird. Für ferromagnetische Stoffe ist diese Ordnung durch eine parallele Einstellungder magnetischen Momente gekennzeichnet. Es bildet sich damit allein durch Abkühlungunter die Curie-Temperatur ein resultierendes Moment, die spontane Magnetisierung bzw.spontane magnetische Polarisation aus (Abb. 4.48). In der Umgebung der Curie-Temperaturweisen auch weitere Eigenschaften, so z. B. der elektrische Widerstand, die spezifische Wärmeund der Ausdehnungskoeffizient Anomalien auf (Phasenübergang zweiter Art).Abbildung 4.48: Magnetische Polarisation (1) und reziproker Wert der Suszeptibilität (2)aufgetragen über der Temperatur; (3) Extrapolation: T c,f ferromagnetische T c,p paramagnetiscneCurie-Temperatur.Die parallele Ausrichtung der magnetischen Momente, d. h. die spontane Magnetisierung,wird phänomenologisch durch ein von Weiß eingeführtes Zusatzfeld und atomistischüber die von Heisenberg definierte Austauschwechselwirkungsenergie erklärt. Die Aufteilungdes Gesamtvolumens erfolgt in magnetische Domänen oder Weiß’sche Bezirke. Die paralleleAusrichtung aller magnetischen Momente ist im Bereich von technisch realisierbarenMagnetfeldern leicht möglich. Die reinen Metalle Fe, Ni, Co sind bei Raumtemperatur ferromagnetisch.In der Regel sind deren Legierungen untereinander auch ferromagnetisch.FerrimagnetismusTritt in Substanzen mit magnetisch nicht gleichwertigen Untergittern auf, die eine spontaneantiparallele magnetische Einstellung der magnetischen Momente aufweisen. Es gibtkeine Kompensation der Beiträge der Gitter und damit erfolgt eine spontane Polarisationunterhalb von T C . Die Ausbildung von Weiß’schen Bezirken und damit die Beeinflussungder magnetischen Momente durch Magnetfelder ist leicht möglich. Beispiele für ferrimagnetischeMaterialien sind Spinelferrite, Hexaferrite, Orthoferrite und Granate. Ferrimagnetische


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 241Materialen unterscheiden sich von ferromagnetischen durch eine unterschiedliche Temperaturabhängigkeitder spontanen Magnetisierung (Abb. 4.49).Abbildung 4.49: Vergleich der Temperaturabhängigkeit von ferromagnetischen und ferrimagnetischenMaterialien.AntiferromagnetismusAntiferromagnetismus sind Substanzen mit zwei magnetisch gleichwertigen Untergittern, wobeieine spontane antiparallele Einstellung der magnetischen Momente und somit eine Kompensationunterhalb der Neeltemperatur T N erfolgt. Typische Vertreter sind CrSb, CrAl,Metalloxide, MnO, MnO 2 , FeO, NiO, . . .SuperparamagnetismusDiese Erscheinung setzt bei ferro- bzw. ferrimagnetischen Teilchen ein, wenn der Durchmesserder Partikel einen kritischen Wert unterschreitet. Die thermische Energie ist dann größer alsdie Kristallanisotropieenergie, und die Magnetisierungsrichtung folgt der thermischen Fluktuation.Die Magnetisierungskurven zeigen keine Remanenz und keine Koerzitivfeldstärke.Die Magnetisierung als Funktion von dem äußeren Feld und der Temperatur wird genau wiebei den paramagnetischen Substanzen durch die Langevin-Funktion beschrieben.


242 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN4.5.3 Klassische Theorie des FerromagnetismusNach dem Weißschen Ansatz ist das Molekularfeld der Magnetisierung proportional. DiesesFeld beschreibt die inneratomare Wechselwirkung. Es gilt:H W eiss = N W eiss · M (4.151)N W eiss ist die so genannte Weiß’sche Konstante. Die einzelnen Momente sind dabei einemeffektiven Gesamtfeld ausgesetzt, das mit Werten von H W eiss um 10 9 A/m alle technischerzeugbaren Felder um mehrere Größenordnungen übertrifft.AustauschwechselwirkungDie spontane Orientierung der einzelnen Spins ist über die Austauschwechselwirkung erklärbar.Dieser quantenmechanische Effekt kann dazu führen, dass eine parallele bzw. antiparalleleEinstellung der magnetischen Momente benachbarter Spins energetisch günstigerist, da so ein geringerer Anteil an elektrostatischer Energie erforderlich wird.Tabelle 4.2: Sättigungspolarisation bei verschiedenen Temperaturen, Curie-Temperatur, KristallanisotropiekonstantenK 1 und Austauschenergiekonstante A für ferro- und ferrimagnetischeElemente, einige charakteristische Legierungen sowie Werkstoffe.n B (0K) J S (OK)[T]J S (300K) [T] T C[K]K 1 (300K)[k J/m 3 ]A (300K)[p J/m 3 ]Fe 2,2 2,19 2,14 1043 48 8,8-33Ni 0,608 0,656 0,608 631 5 3,4Co 1,74 1,78 1,75 1400 430 10,3FeCo2,43 2,45 -3550/50SmCo 5 1,1 990 1550 12 - 22(BaO 6 Fe 2 O 3 ) 20 0,72 0,47 730 300(NiOFe 2 O 3 ) 2,3 0,34 0,31 840 -7(MnOFe 2 O 3 ) 5 0,69 0,48 615 -4(Y 3 FeO 12 ) 5,1 0,18 564 -2,45Es gibt mehrere Ansätze zur Berechnung der Austauschenergie, wobei das Heisenberg-Modell von lokalisierten magnetischen Momenten, d. h. an feste Gitterplätze gebundenenSpins, ausgeht und in der Bändertheorie des Ferromagnetismus ein anderer Standpunkt(keine bzw. eingeschränkte Lokalisation der Elektronen) eingenommen wird. Mit den zuletztangeführten Vorstellungen lässt sich insbesondere das Auftreten von Ferromagnetismus inkristallinen amorphen Übergangsmetall-Legierungen verstehen. In dem Heisenberg-Modellerhält man die Wechselwirkungsenergie benachbarter Spins mitφ ij = −2I A · S i · S j (4.152)


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 243S i , S j sind die Spinquantenzahlen für die Atome i und j und I A ist das Austauschintegral. DasAustauschintegral hängt von dem Zustand der Elektronenhülle und dem Kernabstand ab.Durch das Vorzeichen dieser Größe wird eine parallele bzw. eine antiparallele Ausrichtungals energetisch günstiger ausgewiesen. Es ergibt sich für:• I A > 0 eine parallele Spinkopplung und• I A < 0 eine antiparallele Spinkopplung.Eine exakte Berechnung des Austauschintegrals ist schwierig. Näherungsweise sind jedochAbschätzungen möglich. So gibt die thermische Energie bei der Curie-Temperatur eine Informationüber die Größe der Austauschwechselwirkungsenergie. Die Austauschwechselwirkungkann aber auch z. B. in Oxiden durch zwischengelagerte Sauerstoffionen von einem Metallionzum anderen übertragen werden. Wesentlich ist dabei, dass sich die Wellenfunktionen derSauerstoff- und Metallionen überlappen (Abb. 4.50)Abbildung 4.50: Durch Schraffur hervorgehobene Überlappung der Wellenfunktion der 2p-Elektronen des Sauerstoffions (1) mit denen der benachbarten Fe 3+ (2) bzw. Mn 2+ - Ionen(3); Richtungen der Spins bzw. der magnetischen Momente (4); für die Stärke der Superaustauschwechselwirkungsind der Winkel α und der Abstand d wesentlich.Diese als Superaustausch bezeichnete Wechselwirkung führt zu einer antiparallelen Einstellungder magnetischen Momente benachbarter Metallionen und damit zur Ausbildungvon zwei Untergittern mit entgegengesetzt orientierten magnetischen Gesamtmomenten. InAbb. 4.51 werden die beiden Untergitter an dem Beispiel einer Gitterzelle des Spinellferritsdargestellt.Die Austauschenergie wird generell zunächst nur auf zwei in Wechselwirkung stehende,benachbarte magnetische Momente bezogen. Geht man zu einem Festkörper über, so istdie Gesamtheit der Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Diese Aufgabe kann jedoch nurunter einschränkenden Bedingungen gelöst werden. Mit der Voraussetzung, dass nur nächste


244 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAbbildung 4.51: Tetraeder- (1) und Oktaederplätze (2) eines Spinellferrits als Beispiel für eineSubstanz mit zwei magnetischen Untergittern; (3) Sauerstoffionen; Pfeile: Spinrichtungen;(4), (8): Kennzeichnung der O 2− lonen, die zu der Umgebung von Tetraeder- bzw. Oktaederplätzengehören.Nachbarn und kleine gegenseitige Verdrehungen der Spinrichtungen zugelassen werden, kanndie Austauschenergiekonstante A für einen bcc Kristall berechnet werden als:A bcc = I AS 2a(4.153)mit a als Gitterabstand und damit die Austauschenergiedichte in der Form angegeben werden:Φ , A = A · ∑ ( ) 2 ∂ αk(4.154)∂ x lwobei α j den Richtungskosinus der Magnetisierung darstellt.Kristallanisotropieenergiek,lDer Vektor der magnetischen Polarisation ist in einem Festkörper an bestimmte Richtungen(leichte Achsen) gebunden. Diese sind durch die Kristallstruktur oder andere Anisotropien,wie z.Bsp. Spannungsanisotropie, induzierte Anisotropie, Formanisotropie, etc. vorgegeben.Stimmen die Richtung der leichten Achsen und die des magnetischen Feldes nicht überein, sowird, von H= 0 ausgehend, mit ansteigendem Feld die magnetische Polarisation von der leichtenAchse in die Feldrichtung eingedreht. Dabei muss jedoch der aufmagnetisierte Werkstoffmechanisch festgehalten werden, da sonst nur eine Drehung des gesamten Körpers (wie beieiner Kompassnadel) erfolgt. Analoge Überlegungen gelten für die magnetische Polarisationim Inneren eines magnetischen Körpers, wobei andere Gegenkräfte (z.B. Austauschwechselwirkung)wirksam sind. Die Kristallanisotropieenergie entspricht der Arbeit, die für die Auslenkungaus der leichten Richtung aufzubringen ist. Als eine Ursache für die Bindung der


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 245magnetischen Polarisation an das Kristallgitter wird z. B. die Spin-Bahn-Wechselwirkungangesehen. Die Richtungsabhängigkeit der Anisotropieenergie kann durch eine Reihenentwicklungnach dem Richtungskosinus in Bezug auf eine kristallografische Hauptachse desGitters dargestellt werden. Damit erhält man z. B. für hexagonale Kristalle:Φ , K = ∑ nK n · sin 2n Θ ∼ = K 0 + K 1 · sin 2 Θ + K 2 · sin 4 Θ + ....... (4.155)mit K 1 , K 2 als die Anisotropiekonstanten und Θ als den Winkel zwischen Magnetisierungund der Achse der leichten Magnetisierung.Aus den Werten für K i ergeben sich die Vorzugsachsen bzw. Vorzugsebenen für die spontaneMagnetisierung. Es ist demnach möglich, dass die leichten Richtungen eine ganze Ebenebzw. einen Kegelmantel ausfüllen können. Neben der einachsigen Anisotropie gibt es auchnoch Materialien mit kubischer Kristallanisotropie, d.h. mit drei leichten Richtungen (Abb.4.52). Die Kristallanisotropiekonstanten hängen vielfach von der der chemische Zusammensetzungder Werkstoffe als auch von der Herstellungstechnologie der Legierungen ab.Abbildung 4.52: Vergleich der Magnetisierungskurven von Einkristallen aus Eisen, Nickelund Cobalt.Magnetomechanische Effekte, SpannungsanisotropieAls magnetomechanische Effekte werden alle die Phänomene bezeichnet, bei denen einemechanische Beanspruchung (mechanische Deformationen, aber auch z.B. Beschleunigungsvorgänge)des magnetischen Materials zu einer Magnetisierungsänderung führt bzw.eine Änderung der Magnetisierung des Werkstoffes auf die geometrischen Abmessungenzurückwirkt.Die Änderung der äußeren Form der Probenkörper kann man in eine Gestalts- (Gestaltsbzw.Längsmagnetostriktion) und eine Volumenänderung (Volumenmagnetostriktion) unterteilen.Dabei wird rechnerisch jeweils die andere Größe als konstant angesehen. Die Längsbzw.Gestaltsmagnetostriktion wird aus der relativen Längenänderung bestimmt, die beidem Übergang von einem Ausgangswert der Magnetisierung zu einem Endwert auftritt.Handelt es sich um die Bestimmung der Sättigungsmagnetostriktion, so geht man von einerthermisch entmagnetisierten Probe aus, die in die Richtung des angelegten Feldes bis


246 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENzur Sättigung (zum Eindrehen der Magnetisierung) aufmagnetisiert wird. Die Magnetostriktionist anisotrop, d.h., zur vollständigen Beschreibung sind die Messungen an Einkristallenlängs der Hauptachsen durchzuführen. Bei isotropen Polykristallen kann man dieSättigungsmagnetostriktion aus einer Bestimmung von λ // in Magnetisierungsrichtung undbei einer Magnetisierung senkrecht dazu λ ⊥ ermitteln:λ = ∆ll ( )λ s = 2 (4.156)λ// − λ3⊥Die Volumenmagnetostriktion ist in der Regel wesentlich kleiner als dieLängsmagnetostriktion (∼10 −6 ).Die Spannungsanisotropieenergiedichte Φ m ergibt sich aus der Magnetostriktion. Dominiertdiese magnetoelastische Energie, so beeinflusst sie maßgebend die Vorzugslagen für dieMagnetisierung und damit die Magnetisierungsprozesse. Die Spannungsempfindlichkeit derMagnetwerkstoffe besitzt bei der halben Sättigungspolarisation den Maximalwert. In magnetischenWerkstoffen kommt zu der elastischen Dehnung noch die durch die Magnetostriktionverursachte hinzu. Der Elastizitätsmodul ist daher eine Funktion des äußeren Magnetfeldes.Magnetisches Streufeld und FormanisotropieDas entmagnetisierende Feld H s oder das magnetische Streufeld ist proportional zu M s unddem von der Probengeometrie abhängigen Entmagnetisierungsfaktor N, gemäß:H s = −N · M s (4.157)Der geometrische Entmagnetisierungsfaktor N wird durch die äußere Form der Probe bestimmtund beträgt zum Beispiel bei einer Kugel in alle drei Richtungen 1/3. Bei einerplättchenförmigen Probe senkrecht zur Oberfläche hat dieser den Wert 1. Eine Anisotropieder äußeren geometrischen Gestalt eines magnetisierten Körpers kann über die Winkelabhängigkeitder Streufeldenergie zu einer magnetischen Vorzugsrichtung (Formanisotropie)führen. Ist die Magnetisierung in einem Volumen homogen, so ergibt sich die Streufeldenergiedichtezu:Φ , S = −1 2 · H s · J s = − 1 2 · µ 0 · H s · M s = 1 2 · µ 0 · N · M 2 s (4.158)4.5.4 Magnetisierungsprozesse, Hysteresis und DomänentheorieMagnetisierungsprozesse sind Vorgänge, die zu einer Änderung der magnetischen Polarisationin einem Werkstoff führen. <strong>Si</strong>e hängen unmittelbar von der auf das Material einwirkendenFeldstärke ab und verlaufen generell sprunghaft (Barkhausen-Rauschen). Die Änderungder magnetischen Polarisation erfolgt dabei durch z.B. Domänenwandverschiebungen undDrehungen der Richtung einheitlich magnetisierter Bereiche (Abb. 4.53). Eine Ummagnetisierungdurch “Bloch”-Wandverschiebungen setzt in der Regel eine Keimbildung voraus,die bei einer kritischen Feldstärke einsetzt und dann bei weiterer Feldstärkeerhöhung zuKeimwachstum sowie zum Auftreten von Wänden und schließlich zu deren Verschiebung


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 247führt. Die kritischen Feldstärken für Keimbildung, Keimwachstum und die Verschiebungvon Wänden werden durch die Größe der magnetischen Anisotropie, der magnetischen Polarisationsowie die Art und Verteilung der realen Mikrostruktur in dem magnetischen Körperbestimmt. Da die magnetische Polarisation und damit auch die kritischen Felder von demjeweils herrschenden Druck und der Temperatur abhängen, werden die aktuellen Magnetisierungsprozessevon diesen Zustandsgrößen mit beeinflusst. Bei der Neukurve leistet im Bereichkleiner Feldstärkewerte zunächst die Bloch-Wandverschiebung einen wesentlichen Beitrag zudem Anwachsen der magnetischen Polarisation. Mit weiter ansteigendem Feld werden dannDrehprozesse wirksam. Der Wert der Sättigungspolarisation wird erreicht, wenn alle Magnetisierungsvektorenin die Feldrichtung eingedreht sind. Die äußere Hystereseschleife wirddanach bei einer kontinuierlichen Abnahme der Feldstärke durchlaufen. Dabei nimmt diemagnetische Polarisation immer weiter ab und stellt sich endlich in die neue Feldrichtungein. Als Ummagnetisierungsvorgänge kommen dabei Bloch-Wandverschiebungen und Rotationsprozessein Frage. Neben den Ummagnetisierungsprozessen sind in Abb. 4.53 auch nochdie wichtigen Kenngrößen der Hysteresiskurve, wie Sättigungsinduktion B s , Remanenz B rund Koerzitivfeldstärke H B erkennbar.Abbildung 4.53: Magnetische Hysteresiskurve schematischa) Ummagnetisierungsprozesse. b) Kenngrößen, weich und c) hartmagnetisch.MikromagnetismusUnter dem Begriff Mikromagnetismus werden verschiedene Theorien zur Berechnung derMagnetisierungsprozesse zusammengefasst, die auch zur Zeit noch ein aktuelles Gebiet derForschung darstellen. In der ursprünglichen Formulierung von Brown wird von Näherungenausgegangen, bei denen nicht die einzelnen Spins, sondern die über ein Volumenelementgemittelte Magnetisierung betrachtet wird. Ferner wird angenommen, dass der Betrag derspontanen Magnetisierung konstant ist und nur die Richtung sich von Ort zu Ort ändert. Esgilt alsoJ (r) = J s · α (r) , ∑ α 2 i = 1 (4.159)


248 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENwobei α = α(r) in der Regel als stetige Funktion angesetzt wird. Die Magnetisierungsstrukturα = α(r) und die Feldstärke, bei der Instabilitäten auftreten, werden mit der Lösung desVariationsproblems für die freie Energie bestimmt:wobei für die Zeeman-Energie gilt:Aus der Gleichgewichtsbedingung δΦ = 0 erhält man,Φ gesamt = Φ A + Φ K + Φ H + Φ S + Φ m (4.160)Φ , H = −H · J s = −µ 0 · H · M s (4.161)J × H eff = 0 (4.162)d.h., die Magnetisierung dreht in die Richtung des effektiven Feldes ein. Es gilt:H eff = − δΦ gesamtδJ= H A + H K + H + H S + H M (4.163)Abbildung 4.54: Während des dynamischen Umschaltprozesses präzessiert der MagnetisierungsvektorM in Richtung H eff .Aus der Stabilitätsbedingung Φ → min. ergeben sich die kritischen Feldstärkewerte fürdie verschiedenen Ummagnetisierungsmoden. Der dynamische Ummagnetisierungsprozess istein Präzessionsprozess in Richtung effektives Feld und wird durch die Landau-Lifshitz Gleichungbeschrieben (Abb. 4.54):∂J∂t = − |γ|1 + α (J × H αeff) −2 J S (1 + α 2 ) [J × (J × H eff)] (4.164)α ist die phänomenologische Dämpfungskonstante.


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 249DomänenstrukturenDie magnetischen Domänen stellen Volumenbereiche dar, in denen die Richtung der magnetischenPolarisation konstant ist. <strong>Si</strong>e werden voneinander durch Übergangsschichten oderDomänenwände abgegrenzt. Domänenstrukturen bilden sich aus, da die Streufeldenergie reduziertwird, wenn sich entgegengesetzt polarisierte Bereiche ausbilden (Abb. 4.55). DieUnterteilung in Weißsche Bezirke ist nach einer thermischen Entmagnetisierung bei allenmagnetischen Werkstoffen zu beobachten. <strong>Si</strong>e bewirkt, dass nach einer Entmagnetisierungder gemessene Wert der Polarisation Null wird, obwohl eine spontane Polarisation in denWeißschen Bezirken vorhanden ist. Die Streufeldenergie wird durch die Ausbildung derDomänenstrukturen verringert; einer Unterteilung in immer feinere Bereiche sind aber wegender für den Aufbau der Domänengrenzen (Bloch-Wandenergien) in Rechnung zu stellendenEnergie Grenzen gesetzt. Die Wechselwirkung der Domänenwände während der Ummagnetisierungmit der realen Mikrostruktur beeinflusst die Hysteresiseigenschaften, wie Koerzitivfeldstärke,Remanenz und Anfangssuszeptibilität.Abbildung 4.55: Unterteilung eines ferri- oder ferromagnetischen Körpers in magnetischeDomänen oder Weiß’sche Bezirke.DomänenwändeDie magnetischen Domänen werden durch Übergangsschichten mit einer endlichen Dicke δvoneinander getrennt (Abb. 4.56). Im Falle einer Bloch-Wand geht die Magnetisierung kontinuierlichvon einer leichten Richtung des 1. Bezirkes in die Richtung von M s des zweiten(benachbarten) Bezirkes über. Die Domänengrenzen haben eine endliche Dicke. Der Wert ergibtsich aus einem Energieminimum, wobei die Austauschwechselwirkung einer Verdrehungbenachbarter Spins entgegenwirkt und damit einer Tendenz in Richtung große Wanddickeentspricht; im Gegensatz dazu wird der Energieaufwand für die Anisotropieenergie nur miteiner Abnahme der Breite der Übergangsschicht reduziert. Die Bloch-Wanddicke und dieje Flächeneinheit benötigte Energie hängen von dem Wandtyp ab. Für 180˚-Bloch-Wändeerhält man:√Aδ Bloch = πK 1Φ Bloch = 4 √ (4.165)A · K 1


250 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENNéel-Wände bilden sich in dünnen Schichten (δ . . . Schichtdicke) aus. Der Magnetisierungsvektordreht sich hier um eine Achse, die senkrecht zur Wandnormalen liegt (und nicht wiebei den Bloch-Wänden um eine Achse in Richtung der Wandnormalen).Abbildung 4.56: Magnetische Domänenwände. a) Bloch-Wand, b) Néel-Wand.Kohärente Rotation der Magnetisierung, Stoner-Wohlfahrt-ModellBei der Berechnung der Ummagnetisierungsfeldstärke werden neben der magnetostatischenEnergie nur die Form- und Kristallanisotropieenergie berücksichtigt. Es wird vorausgesetzt,dass alle magnetischen Momente im Probenvolumen parallel zueinander ausgerichtet bleiben.Nach der Sättigung eines Magnetwerkstoffes erhält man mit abnehmendem Feld zunächstreversible Drehungen, bis dann die Ummagnetisierung in einem irreversiblen Sprung erfolgt(Abb. 4.57). Der größtmögliche Wert der Koerzitivfeldstärke tritt auf, wenn Feld- und Anisotropierichtungübereinstimmen. Er wird als Anisotropiefeldstärke H A bezeichnet, und esgilt:H A = 2K 1J s(4.166)4.5.5 Einteilung der magnetischen WerkstoffeMagnetische Werkstoffe werden nach der Größe der Koerzitivfeldstärke in weich- und hartmagnetischeMaterialien eingeteilt (Abb. 4.58). Weichmagnetische Werkstoffe zeichnen sichdurch eine leichte Magnetisierbarkeit, kleine Koerzitivfeldstärke und niedrige Verluste aus.


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 251Abbildung 4.57: Hystereseschleifen nach dem Stoner-Wohlfahrt-Modell. Kurvenparameter:Winkel zwischen Feld- und Vorzugsrichtung; 1 0˚, 2 10˚, 3 45˚, 4 90˚; 5 Feld- bzw.Polarisationswerte, bei denen der irreversible Sprung einsetzt.Hartmagnetische Werkstoffe weisen hohe Werte der Koerzitivität auf. Nach den Bindungsverhältnissenund der Struktur lassen sich bei den magnetischen Werkstoffen die nachfolgendenGruppen unterscheiden:• metallische kristalline Werkstoffe• metallische amorphe Werkstoffe• oxidische Werkstoffe (Ferrite).Nach ihren Herstellungsverfahren wird neben dem auf schmelzmetallurgischem Weg undanschließender Walz- und Glühbehandlung hergestellten Bandmaterial zwischen Gussmagnetwerkstoffenund <strong>Si</strong>ntermagnetwerkstoffen sowie Pulververbundwerkstoffen differenziert.Die magnetischen Eigenschaften der Werkstoffe werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst.Die chemische Zusammensetzung und die Mikrostruktur, d.h. die geometrische undchemische Nahordnung bestimmen die primären magnetischen Eigenschaften J s und T C . DieArt und Größe der magnetischen Anisotropie sowie die Defektstruktur bestimmen bei gegebenerForm des Magnetkörpers die Domänenstruktur sowei die Magnetisierungsprozesseund damit die Größe von H c , µ, Ummagnetisierungsverluste usw. Während die magnetischeAnisotropie durch die Kristallstruktur, die chemische Nahordnung und die inneren und vonaußen aufgeprägten mechanischen Spannungen gegeben ist, wird die Defektstruktur sehr wesentlichdurch die Reinheit der Ausgangsstoffe (Rolle von Verunreinigungen usw.) und dieverschiedenen technologischen Schritte bei der Herstellung beeinflusst und kann auf diesemWege optimal eingestellt werden. Wesentliche technologische Schritte bei der Herstellungmagnetischer Werkstoffe sind:


252 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENAbbildung 4.58: Übersicht der weich- und hartmagnetischen Werkstoffe.• Bandmaterialien:Schmelzprozess, Warm- und Kaltverformung, thermische Behandlung mit undohne Magnetfeld, Glühregime (Abkühlgeschwindigkeit von der Glühtemperatur,Glühatmosphäre usw.)• Gusswerkstoffe:Schmelzprozess, Abkühlvorgang, thermische Behandlung, Magnetisieren für Dauermagnetwerkstoffe• <strong>Si</strong>nterwerkstoffe:Schmelzprozess für Ausgangslegierung bzw. Syntheseverfahren für Oxidpulver, Pulverisierung,Pressen, <strong>Si</strong>ntern, thermische Nachbehandlung, Magnetisieren bei Dauermagnetwerkstoffen• Pulververbundwerkstoffe:Herstellung der magnetischen Pulverkomponenten, Auswahl der Matrixwerkstoffe (Polymereusw.), Formgebung, Bearbeitung oder Zuschnitt.Die weichmagnetischen Materialien sind nach der magnetischenSchlusswärmebehandlung sorgfältig vor mechanischen Beanspruchungen zu schützen.Wird derartiges Material bei der Weiterverarbeitung mechanischen Spannungen ausgesetzt,so sollte am Ende eine Entspannungsglühung erfolgen. Bei starken mechanischenBeanspruchungen ist die volle Schlusswärmebehandlung zu wiederholen. Die Bauformder magnetischen Werkstoffe wird den speziellen Bedingungen der jeweiligen Anwendungangepasst. Standardformen sind:


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 253Ringbandkerne, Schnittbandkerne, Kernbleche, geklebte Blechpakete, Form- und Massivteile,Abschirmschläuche, Massekeime, dünne Schichten, Drähte.Weichmagnetische metallische WerkstoffeDie weichmagnetischen metallischen Werkstoffe basieren im Wesentlichen auf den ferromagnetischenMetallen Eisen, Cobalt sowie Nickel und ihren Legierungen (Abb. 4.59).Abbildung 4.59: Die gebräuchlichsten weichmagnetischen Werkstoffe.Hauptanwendungsrichtungen für weichmagnetische metallische Werkstoffe sind:Trafos, Generatoren, Motoren, Relais, Wandler und Übertrager, Fehlerstromschutzschalter,magnetische Bauteile in der Leistungselektronik (Schutzdrosseln, Impulsübertrager,...),Magnetköpfe für die Informationsspeicherung, mechanische Filter undVerzögerungsleitungen, Bauteile für die Ultraschallerzeugung, Temperaturkompensation.Kriterien für die Werkstoffauswahl sind neben den magnetischen Eigenschaften ”Koerzitivfeldstärke,Permeabilität, Sättigungsinduktion, Form der Hystereseschleife, Verluste,usw., auch die Be- und Verarbeitbarkeit, die mechanischen Eigenschaften, die thermischeund zeitliche Stabilität der magnetischen und anderen Eigenschaften sowie die Korrosionsbeständigkeit.Für die energieorientierte Elektrotechnik werden vorrangig weichmagnetischeEisen-<strong>Si</strong>lizium-Legierungen eingesetzt. Die Zugabe von <strong>Si</strong>lizium zu Eisen bewirkt einerseitseine Erhöhung des spezifischen elektrischen Widerstandes und ist damit ein wesentlicherFaktor zur Verringerung der Wirbelstromverluste. Mit dem <strong>Si</strong>-Gehalt nimmt andererseitsdie Sättigungspolarisation ab. Mit zunehmendem <strong>Si</strong>-Gehalt tritt eine Versprödung auf, sodass eine Verformung für Legierungen mit mehr als etwa 4 % <strong>Si</strong> nicht mehr möglich ist. Jenach ihrem Verwendungszweck unterscheidet man bei den Elektroblechen:• Dynamoblech für den Einsatz in elektrischen Maschinen und


254 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN• Transformatorenblech.Bei den Dynamoblechen werden je nach <strong>Si</strong>-Gehalt sowie Art der Verformung undWärmebehandlung beim Hersteller im Wesentlichen folgende Qualitäten unterschieden:Warmgewalztes oder kaltgewalztes, siliziertes oder unsiliziertes Blech, schlussgeglühtesoder nicht schlussgeglühtes Blech, usw. Die notwendige nachträgliche Glühbehandlung dernicht silizierten, nicht schlussgeglühten Güten zur Erzielung optimaler magnetischer Eigenschaftensoll in einer entkohlenden Atmosphäre im Bereich von etwa 800˚C bei definierterAufheiz- bzw. Abkühlgeschwindigkeit erfolgen. Die Bleche werden vorrangig im Dickenbereichvon 0,2 bis 1 mm hergestellt. Die Trafobleche unterscheiden sich von den Dynamoblechendurch eine im Prozess der Herstellung ausgebildete Kristallstruktur. Es lassen sich dreiArten von Texturen (Abb. 4.60) unterscheiden, wobei allein die Bleche mit Goss-Textur industriellim großen Maßstab gefertigt werden. Die Goss-Textur Bleche weisen eine merklicheRichtungsabhängigkeit der magnetischen Eigenschaften auf.Abbildung 4.60: Texturarten bei Elektroblechen. a) Goss-Textur, b) Würfeltextur, c)Würfelflächentextur.Weichmagnetische FerriteFerrimagnetische Werkstoffe mit kleiner Koerzitivfeldstärke, relativ hoher Anfangspermeabilitätund hoher Stabilität (Temperatur, Zeit) setzen kleine Kristallanisotropieenergie,verschwindende Werte der Magnetostriktion und der induzierten Anisotropien sowie einemöglichst hohe Curie-Temperatur voraus. Minimale Kernverluste erfordern einen hohen elektrischenWiderstand des Werkstoffes, minimale induzierte Anisotropien und bei Ferriten mitrelativ hoher Kornleitfähigkeit eine Korngrenzenisolation (Glasphasen mit hohem elektrischenWiderstand). Die stoffliche Grundlage für die weichmagnetischen Ferrite bilden dieSpinelle; für Bauelemente der Höchstfrequenztechnik werden aber auch Granate und hexagonaleFerrite mit Y- bzw. W-Struktur verwendet. Die Werkstoffe werden entsprechend demspezifischen Anwendungsfall in ihrem Eigenschaftsbild optimiert.Hauptanwendungsrichtungen für oxidische weichmagnetische Werkstoffe sind: Induktivitäten,Filterspulen und Übertrager bis l MHz für die Nachrichtentechnik und elektrischeKonsumgüter, Induktivitäten, Filterspulen und Übertrager von l MHz bis 200 MHzfür die Nachrichten- und Messtechnik, Mikrowellenbauelemente für die drahtlose Nachrichtentechnik,Leistungsübertrager für den Frequenzbereich von 10 bis 1000 kHz, Magnetköpfe


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 255und Speicherbaugruppen für die Informationstechnik, Wandlersysteme für die Ultraschallerzeugungund für die drahtgebundene Nachrichtentechnik. Die wichtigsten Materialien sindMn/Zn Ferrite und Ni/Zn Ferrite.Hartmagnetische Werkstoffe:Die hartmagnetischen metallischen Werkstoffe basieren auf Legierungen der Metalle Eisen,Kobalt und Nickel, sowie den Seltenen-Erd-Metallen. Für die Anwendung oxidischer Dauermagnetesind nur die Werkstoffe auf der Basis BaFe 12 O 19 und SrFe 12 O 19 mit hexagonalerKristallstruktur und einachsiger Kristallanisotropie von Interesse. Abb. 4.61 zeigt die historischeEntwicklung der Hartmagnetwerkstoffe an Hand der Verbesserung des Energiedichteproduktes.Abbildung 4.61: Historische Entwicklung des Energiedichteproduktes der gebräuchlichstenHartmagnete.Im Unterschied zu den weichmagnetischen Materialien sind die hartmagnetischen Materialiendadurch gekennzeichnet, dass nach Abschalten eines hinreichend großen äußerenMagnetfeldes zur Aufmagnetisierung des Magneten die wirksame magnetische Polarisationpraktisch gleich der Sättigungspolarisation ist. Erst das Anlegen eines sehr großen Gegenfeldesbewirkt eine Reduzierung der magnetischen Polarisation. Die wichtigsten magnetischenKenngrößen der hartmagnetischen Werkstoffe sind: Remanenzinduktion Br, Koerzitivfeldstärkeder magnetischen Polarisation J H c bzw. der Induktion B H c , Rechteckförmigkeitder Hystereseschleife, maximales Energieprodukt, hohe magnetische Ordnungstemperatur


256 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENT C , reversible Temperaturkoeffizienten der Remanenz und der Koerzitivfeldstärke. Hauptanwendungsrichtungenfür hartmagnetische Werkstoffe sind: Motoren, Generatoren, Lautsprecher,Mikrophone, Telefone, Hörgeräte, elektrische Zähler, Sensoren und andere Bauteileder Messtechnik, Geräte der Haushalt- und Medizintechnik, magnetische Separatoren, magnetischeKupplungen, magnetische Spannplatten und andere Bauteile im Maschinenbau,Schwebebahnen, Hebevorrichtungen.Kriterien für die Werkstoffauswahl sind neben den bereits angeführten magnetischen Eigenschaftendie Möglichkeit zur Wahl der Orientierung der magnetischen Vorzugsrichtung,die mechanischen Eigenschaften und damit seine Be- und Verarbeitbarkeit, die Korrosionsbeständigkeitsowie Verfügbarkeit und Preis. Die vorgenannten Kriterien für die Applikationvon Dauermagnetwerkstoffen gelten auch für hartmagnetische Ferrite.Abbildung 4.62: Entmagnetisierungskurven der gebräuchlichsten hartmagnetischen Werkstoffe.Je nach der Größe, Form, Toleranz und Stückzahl wird zwischen werkzeuggepressten undgeschnittenen Teilen gewählt. Entsprechend ihrer Herstellung unterscheidet man:• schmelzmetallurgisch hergestellte Magnete (Gussmagnete)• pulvermetallurgisch hergestellte Magnete (<strong>Si</strong>ntermagnete)• plastikgebundene Magnete (gespritzt oder gepresst).In jüngster Zeit werden auch neue technologische Verfahren, wie das “Injection Moulding”,das mechanische Legieren, die Schnellerstarrung aus der Schmelze, zur Herstellungvon Hartmagneten untersucht. Man unterscheidet ferner entsprechend der Ausrichtung der


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 257Vorzugsrichtung im Gefüge (ohne oder mit Textur) isotrope Magnete und anisotrope Magnete.Nach der Möglichkeit ihrer Bearbeitbarkeit spricht man von verformbaren metallischenHartmagneten (FeCoCr, MnAlC), nicht verformbaren metallischen Hartmagneten (Hartferriten,AlNiCo-Werkstoffe, SmCo-Legierungen sowie NdFeB-Werkstoffe). Eine Übersicht zuden Entmagnetisierungskurven (2. Quadrant der Hysteresiskurve) der gebräuchlichsten hartmagnetischenWerkstoffe ist im Abb. 4.62 gegeben.Materialien für die magnetische Aufzeichnung und DatenspeicherungBei den magnetomotorischen Speichermedien für die Ton-, Bild- und Datenspeicherung lassensich unterscheiden:• Partikelschichten• Metallschichten.<strong>Si</strong>e finden ihre Verwendung als Beschichtungsmaterialien für Magnetbänder in der AudioundVideotechnik, Computertechnik sowie bei Floppy-Disk und auch bei Festplatten. DieAnforderungen an das Speichermaterial ergeben sich aus der Art der Informationsspeicherungsowie der Aufzeichnungsmode. Man unterscheidet zwischen:• digitaler oder analoger Informationsspeicherung sowie• Längsaufzeichnung (“longitudinal”) (Abb. 4.63) oder Senkrechtaufzeichnung (“perpendicular”)(Abb. 4.64).• Magnetooptischer AufzeichnungAbbildung 4.63: Digitale magnetische Datenspeicherung “longitudinal recording”.Die Senkrechtaufzeichnung setzt eine magnetische Schicht mit einer magnetischen Vorzugsachsesenkrecht zur Oberfläche voraus. Die Magnetisierungsmode im Fall der Senkrechtaufzeichnungist besonders geeignet für die digitale Dichtspeicherung. Vorteilhaft sind


258 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTENhohe Werte der magnetischen Polarisation. Die Verbesserung der intensitätsmäßigen Informationsfixierungbei Längsaufzeichnung (Frequenzgang, Informationsdichte) erfordert dieBereitstellung von Materialien mit immer höheren Werten der Koerzitivfeldstärke bei kleinen,jedoch ausreichenden Werten der Magnetisierung der Schicht. Neben den unterschiedlichenAnforderungen an das Eigenschaftsbild der magnetomotorischen Speichermedien ergebensich je nach Einsatzfall auch unterschiedliche Anforderungen an solche Kenngrößenwie Abriebfestigkeit und Reißfestigkeit der Schicht. Neben den breit angewendeten klassischenMaterialien, wie modifiziertem und nicht modifiziertem γ-Fe 2 O 3 und CrO 2 (CoO-Anreicherung in der Pulveroberfläche), sind in den letzten Jahren insbesondere Ba-Ferritund das Metallschichtband in den Mittelpunkt der Weiterentwicklung von Aufzeichnungsträgemgerückt. Ba-Ferrit-Teilchen in Form von hexagonalen Plättchen weisen im Vergleichzu konventionellen Pulvern eine kleinere Teilchengröße, ein kleineres Volumen sowie eine geringerespezifische Oberfläche auf. Durch geeignete Dotierungen ist die Koerzitivfeldstärkesteuerbar.Abbildung 4.64: Digitale magnetische Datenspeicherung “perpendicular recording”.Metalldünnschichtbänder (Filme) können durch Vakuumabscheidung, elektrolytische Abscheidung,chemische Abscheidung sowie ,,Sputtern“ hergestellt werden. Im Unterschied zuden Partikelschichten lassen sich auf Grund des Wegfalls des Binders höhere Werte derSättigungsmagnetisierung erreichen. Die magnetischen Kenndaten, wie H c , Größe der magnetischenAnisotropie, Sättigungsmagnetisierung sowie die Lage der magnetischen Vorzugsrichtung,sind abhängig von der chemischen Zusammensetzung des Filmes und den technologischenBedingungen bei der Herstellung. Breit untersucht wurden CoNi-, CoNiCr-Filme sowieCoP-, Co<strong>Pt</strong>-Filme für die magnetische Längsaufzeichnung und CoCr-, CoNiCr-, CoCrM(M=Ti, Ta, W)-Filme sowie Co<strong>Pt</strong>TaBO für die Senkrechtaufzeichnung (Dichtspeicherung).Die Größe der Koerzitivfeldstärke liegt im Bereich von 30 - 90 kA/m.Ein unterschiedliches digitales Speicherverfahren erfolgt auf der Basis von magnetooptischenSpeichermaterialien. Eine Reihe von magnetischen Materialien bieten auf Grund ihrer


4.5. MAGNETISCHE EIGENSCHAFTEN 259ausgezeichneten magnetooptischen Eigenschaften Möglichkeiten für einen Einsatz in der Datenspeicherung(optische Speicher) und bei einer Reihe weiterer Baugruppen, wie Displays,Druckköpfe in optischen Druckern u.a. Das Lesen bzw. die Wiedergabe der Information erfolgtauf Basis magnetooptischer Effekte (Kerr-Effekt, Faraday-Effekt). Eine digitale Informationsspeicherungwird durch eine Folge von magnetischen Bereichen mit unterschiedlicherRichtung der Magnetisierung realisiert. Die Magnetisierungsumkehr, die dem Schreibprozessund dem Löschvorgang zu Grunde liegt, wird durch thermomagnetische Prozesse bewirkt.Hierzu wird mittels einer Lichtquelle eine lokale Aufheizung des Materials in Gegenwarteines äußeren Magnetfeldes vorgenommen. Die Datenspeicherung erfordert hierbei magnetischeSchichten mit einer magnetischen Vorzugsrichtung senkrecht zur Schichtebene. Zuden magnetooptischen Materialien gehören polykristalline Filme (MnBi, MnCuBi, <strong>Pt</strong>Co),dünne monokristalline Granat-Filme, dünne amorphe Filme (GdCo, TbFe, GdTbFe, TbDy-Fe u.a.). Ein ausreichendes <strong>Si</strong>gnal-Rausch-Verhältnis bei der optischen Wiedergabe erforderteinen hinreichend großen Faraday- bzw. Kerr Rotationswinkel. Der thermomagnetischeSchreibvorgang setzt eine ausreichende Lichtabsorption und niedrige Curie-Temperaturen(Curie-Temperatur-Schreiben) bzw. Kompensationstemperaturen bei Ferrimagneten naheder Raumtemperatur voraus (Kompensationstemperatur-Schreiben). Die Stabilität der geschriebenenInformation wird durch die Größe von H c (bis zu 2000 A/cm) nach Abkühlungder eingeschriebenen Information gegeben.


260 KAPITEL 4. MAKROSKOPISCHE EIGENSCHAFTEN


Anhang AModellbildung zur thermischenAusdehnungDer folgende Abschnitt ist für den interessierten Leser gedacht und zeigt die mannigfachenBeiträge zur thermischen Ausdehnung fester Körper. Dieser Teil ist KEIN Prüfungsstoff fürMaterialwissenschaften.Isotrope thermische Ausdehnung (Volumsausdehnung) Die Volumsausdehnung einesFestkörpers wird durch den isotropen Ausdehnungskoeffizienten β beschrieben, für welchenfolgender thermodynamischer Zusammenhang mit der freien Energie F besteht:β = ∂ ln V∂T∣ = − ∂ ln V∣P∂P∣T∂P∂T∣ = κ TV∂P∂T∣ = −κ TV∂ 2 F∂V ∂T = κ T∂S∂V∣∣T(A.1)mit1κ T= V ∂2 F∂V 2(A.2)Die Temperaturabhängigkeit der isothermen Kompressibilität κ T wird im folgenden gegenüberder Temperaturabhängigkeit von ∂S vernachlässigt. Zumindest für kleine Temperaturenist dies eine sehr gute Näherung. Wie man aus Gl. (A.1) sieht, kann β in eine Summe∂Vvon Einzelbeiträgen (Phononenbeitrag, Elektronenbeitrag, magnetische Beiträge, durch Indexr gekennzeichnet) zerlegt werden, wenn die freie Energie F (und damit auch die EntropieS) des Festkörpers als Summe der entsprechenden Beiträge geschrieben werden kann. Diesist nur dann möglich, wenn Kopplungen zwischen diesen Beiträgen (z.B. Elektron - PhononKopplung) vernachlässigbar sind.β = ∑ r∑( ) ∂Sβ r r= κ T∂VrT(A.3)Oft ist es zweckmäßig, anstelle des Ausdehnungskoeffizienten β die Volumsausdehnung ɛ Vanzugeben:261


262 ANHANG A. MODELLBILDUNG ZUR THERMISCHEN AUSDEHNUNGɛ V = V − V ∫ T0= β dT = ∑ V 0 T 0 rɛ r V(A.4)Es ist sinnvoll, für das Referenzvolumen V 0 das Volumen bei T=0 zu wählen (d.h. T 0 =0).Dann verschwinden per definitionem alle Beiträge zur thermischen Ausdehnung bei T=0.Anisotrope thermische Ausdehnung In anisotropen Festkörpern variiert nicht nur dasVolumen, sondern auch die Gestalt mit der Temperatur und die thermische Ausdehnungwird durch einen Ausdehnungstensor β ij beschrieben. Alle bisherigen Betrachtungen bleibenunter der Voraussetzung eines isotropen Spannungszustandes gültig. Der Ausdehnungstensorβ ij ist normalerweise durchβ ij = β ji = (∂ɛ ij /∂T ) σ(A.5)definiert. Dabei ist ɛ ij eine Komponente des symmetrischen Anteils des Lagrange- Verzerrungstensors.Der asymmetrische Anteil hat für die freie Energie des Festkörpers keine Bedeutung,denn dieser bedeutet nur eine Drehung.Grüneisen-ParameterDie dimensionslose Grüneisenfunktion Γ r (V, T ) ist definiert als:Γ r (T, V ) = βr Vκ T C r VC r V = T ∂Sr∂Toder β r = (κ T /V )Γ r (T, V )C r V (A.6)∣ ∣ = −T ∂2 F ∣∣∣VV∂T 2(A.7)CVr ist die spezifische Wärme des Beitrags r bei konstantem Volumen. Aus der Definitionsgleichung(A.6) und Gl. (A.3) folgt:Γ r (T, V ) = 1C r V∂S r∂ ln V∣∣T(A.8)Die Bedeutung der Definition (A.6) liegt darin, daß in vielen Fällen die GrüneisenfunktionΓ r (T, V ) näherungsweise eine Konstante ist (Grüneisenparameter). Wir wollen uns nunüberlegen, unter welchen Bedingungen diese Funktion unabhängig von Volumen und Temperaturist:Wenn man die Energien der Zustände i des Subsystems r mit Eir bezeichnet, so erhält manaus den Gleichungen (A.6)- (A.9) die Beziehungen (A.10), (A.11), (A.12).F r = −kT ln Z rZ r = ∑ ie −Er ikT(A.9)C r V = 〈Er i (E r i − 〈E r i 〉)〉kT 2(A.10)


∂S r∂VHier sind die 〈E r i 〉 definiert als:∣ = − 〈(dEr i /dV )(Ei r − 〈Ei r 〉)〉TkT 2263(A.11)Γ r (T, V ) = − V 〈(dEr i /dV )(E r i − 〈E r i 〉)〉〈E r i (Er i − 〈Er i 〉)〉 (A.12)〈E r i 〉 = (1/Z r ) ∑ iEi r e −Er ikT(A.13)Die im allgemeinen temperatur- und volumsabhängige Funktion Γ r (T, V ) ist also eine Konstante,wenn V dE rEir iunabhängig vom Zustand i ist:dVVE r idE r idV = K (A.14)Denn dann ergibt sich Gl. (A.12) zu:Γ r (T, V ) = −K(A.15)Quasiharmonische Näherung und Debye Modell für den Phononenbeitrag zurisotropen thermischen Ausdehnung Die harmonische Näherung für die Gitterschwingungeneines Kristalls macht die Beschreibung durch nicht miteinander wechselwirkendePhononen möglich. Allerdings gibt es nur in anharmonischen Modellen Gitterschwingungsbeiträgezur thermischen Ausdehnung. In einer ersten Näherung zur Berücksichtigung deranharmonischen Effekte verwendet man die quasiharmonische Theorie, welche eine Volumsabhängigkeitder Eigenfrequenzen ω j =ω j (V ) (bzw. ω j =ω j (ɛ λ ) im anisotropen Fall) annimmt.E phoni= ∑ j(n (i)j + 1/2)ω j (V ) (A.16)Die Grüneisenfunktion γ phon (T, V ) ist konstant, wenn alle Eigenfrequenzen ω j (V ) in gleicherWeise von V abhängen:Dann gilt nämlich für E phonidω j (V )dV= ω j(V )Vdie Gl. (A.14) und· const (A.17)Γ phon (T, V ) = −const(A.18)Mit Annahme (A.17) ergibt sich also aus Gl. (A.6)β phon = χ TV Γphon C phonV= K phon C phonV(A.19)


264 ANHANG A. MODELLBILDUNG ZUR THERMISCHEN AUSDEHNUNGmit einem konstanten Koeffizienten K phon .Durch die Beschreibung der Gitterschwingungen mit dem Debye Modell ergibt sich mitGl. (A.4) und Gl. (A.19):ɛ phonV= 3Γ phon κT k B T D( Θ DT )D(z) = 3 z 3 ∫ z0x 3 dxe x − 1(A.20)0.0060.0056e-54e-5α∆l/l0.0040.0030.002T [K]2e-50 T5 T0100 105 110 1150.0010.000T phas<strong>Yb</strong>Cd 6θ D = 194 Kθ D = 250 K0 50 100 150 200 250 300T [K]Abbildung A.1: Temperaturabhängigkeit der thermische Ausdehnung von <strong>Yb</strong>Cd 6 . Die durchgezogenenLinien sind ein Fit nach Glchg. A.20; der einzige frei wählbare Parameter ist Θ D .Diese Verbindung zeigt bei etwa 110 K einen Phasenübergang, bei dem sich auch die ”Steifigkeit“des Gitters wesentlich ändert. Für hohe Temperaturen erscheint <strong>Yb</strong>Cd 6 steifer.Klassischer Beitrag der Bandelektronen zur isotropen thermischen AusdehnungDa die Einteilchenenergien ɛ j der Bandelektronen auch vom Volumen des Festkörpersabhängen, ergibt sich auch daraus ein Beitrag zur thermischen Ausdehnung. Wenn die ɛ janalog zu den ω j der Phononen wieder in gleicher Weise von V abhängen, ergibt sich:β el = χ TV γel CVel = K el CVelFür den dreidim. Potentialtopf ist diese Bedingung exakt erfüllt (mit γ el =2/3):(A.21)E i = E n1 n 2 n 3= ( 2 /2m)(n 2 1 + n 2 2 + n 2 3)V −2/3(A.22)V dE iE i dV = −(2/3)(A.23)Wenn man annimmt, daß Gl. (A.21) auch für Bandelektronen gilt, so erhält man mitCVel ∝ D(E F )T den bekannten T-Beitrag zum Ausdehnungskoeffizienten β (bzw. T 2 -Beitragzu ɛ V ):ɛ elV ∝ D(E F )T 2(A.24)


265D(E F ) bezeichnet die Zustandsdichte der Bandelektronen an der Fermienergie.Die thermische Ausdehnung von Festkörpern hängt in manchen Fällen noch ab von• Bandmagnetismus• Spinfluktuationen• lokalen magnetischen Momenten.Eine detaillierte Beschreibung dieser Beiträge erfordert aber genaue Kenntnis des magnetischenVerhaltens der untersuchten Systeme.

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