Der alltägliche KonfliktDie Auffassungen <strong>der</strong> deutschenArchitekten <strong>und</strong> desfranzösischen Chefplaners<strong>Pingusson</strong> klafften demnachgewaltig auseinan<strong>der</strong>. EinSchreiben <strong>der</strong> Verwaltungskommissiondes Saarlandesfür Wirtschaft <strong>und</strong> Verkehrvom 21. Juli 1947 an die Abt.Städtebau <strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>aufbau(Reconstruction et Urbanisme)erzählt viel über die Art desMit- bzw. Gegeneinan<strong>der</strong>s:„Hochverehrter Herr Directeur!Ich habe die Ehre, Ihnen inAbschrift den Bericht <strong>der</strong> StadtSaarbrücken betreffend die Unterbringungvon 100 Familien,die sich z. Zt. in Elendsunterkünftenbefinden, zu unterbreiten.Die Stadt Saarbrückenschlägt vor, diese Familienanstatt in Holzbaracken, invon ihr angegebenen, instandzusetzenden Gebäudennoch vor Eintritt des Wintersunterzubringen, wenn ihr dieangegebenen <strong>Bau</strong>stoffe sofortzugeteilt werden könnten.Die Instandsetzungen würdenauf Kosten <strong>der</strong> Gebäudeeigentümererfolgen“. 15 Dochan einem <strong>der</strong> aufgelistetenGebäude war es bereits zu<strong>Bau</strong>tätigkeiten gekommen,welche <strong>Pingusson</strong> zu einerAktennotiz für „Herrn Cartal“veranlassten: „Es ist mirbekannt geworden, dass dieWie<strong>der</strong>aufbauarbeiten desHauses Zastrostraße 2 auf demPunkt sind, in Angriffe genommenzu werden. Ich muss Siedarauf aufmerksam machen,dass, wenn diese Arbeitenohne die Genehmigungdu Gouvernement Militaireausgeführt werden, ich ... das<strong>Bau</strong>amt verantwortlich mache<strong>und</strong> mir alle Konsequenzen,die eine <strong>der</strong>artige Initiative insich birgt, vorbehalte“ 16 . DerWie<strong>der</strong>aufbau des Gebäudesstand den Neuplanungen<strong>Pingusson</strong>s entgegen.Vision eines Stadtumbausnach den Prinzipien <strong>der</strong>„Charta von Athen“<strong>Pingusson</strong>, im Innersten vonseinen Ideen eines humanenStädtebaus überzeugt, hattedie Erwartung, dass sich dieSaarbrücker Bevölkerung fürseine Vorschläge begeisternwürde. Da die Kernstadtdurch den Bombenkrieg sehrstark zerstört war, sah er sichlegitimiert, in freier Entfaltungseiner fachlichen Fähigkeiten,die mo<strong>der</strong>nen Städtebautheorienohne Rücksicht etwa aufgegebene Parzellenstruktureno<strong>der</strong> Eigentumsverhältnisseumzusetzen. Doch im Denken<strong>der</strong> Menschen war fürZukunftsvisionen kein Platz.Sie hatten an<strong>der</strong>e Sorgen.Das wichtigste war ihnen einDach über dem Kopf sowie38
das bisschen Besitz, das ihnenvielleicht geblieben war, diekleine Parzelle mit einer Ruine,vor einer eventuellen Enteignungzu retten. Sie wolltendas Häuschen, so wie es frühereinmal ausgesehen hatte,schnell wie<strong>der</strong> aufbauen. Undkeinesfalls wollten sie in eine12-stöckige „Wohnmaschine“,wie die Wohnhochhäuserdamals auch genannt wurden,ziehen, um dort zu leben.<strong>Pingusson</strong>s Irrtum war es, einStadtgebiet, wenn auch einzerstörtes, also eine Trümmerlandschaft,zu bewerten wieunbesiedeltes Terrain, wie die„grüne Wiese“, wo man frei<strong>und</strong> ohne Rücksichten hättewalten können. Was er wollte,war nicht die „Trabantenstadt“draußen, außerhalb <strong>der</strong>alten, in ihrer Struktur nochbestehenden Stadtlandschaft(etwas ähnliches hat beispielsweiseim britischen SektorDeutschlands, nämlich inHamburg mit einer sehr ähnlichenHochhausstruktur wiesie <strong>Pingusson</strong>s Plan vorsah,fast problemlos funktioniert) 17 ,son<strong>der</strong>n er wollte die Umwandlung,die völlige Überformung<strong>der</strong> vorhandenen Stadt,er wollte die „funktionelle“Stadt. Das war nach denTheorien <strong>der</strong> europäischenArchitektur-Avantgarde dieStadt, welche den Prinzipien<strong>der</strong> „Charta von Athen“folgte. Diese Resolution desKongresses CIAM IV – welcher1933 an Bord <strong>der</strong> Patris II aufdem Weg von Marseille nachAthen durchgeführt wurde– formulierte in zahlreichenThesen städtebaulicheZielsetzungen. In einer von LeCorbusier während <strong>der</strong> deutschenBesatzungszeit in Parisanonym verbreiteten Schriftwurden diese Thesen für eingrößeres Publikum erstmaligöffentlich gemacht.In <strong>der</strong> These Nr. 77 heißt es:„die Schlüssel zum Städtebauliegen in folgendenvier Funktionen: wohnen,arbeiten, sich erholen, sichbewegen (Verkehr)“ <strong>und</strong> in<strong>der</strong> These 78 heißt es weiter:„die Planungen werdendie Struktur jedes den vierSchlüsselfunktionen zugewiesenenViertels bestimmen,<strong>und</strong> sie werden <strong>der</strong>enentsprechende Lokalisierunginnerhalb des Ganzen fixieren“.18 Es ist die Geburt des„funktionellen Städtebaus“,von den meisten Architekten(etwas verkürzt) als Auffor<strong>der</strong>ungverstanden, die vier„Schlüsselfunktionen“ stadträumlichzu separieren.Exkurs 2Zum Begriff Charta von AthenDer Initiant des 1968 an <strong>der</strong> ETHZürich gegründeten „CIAM-Archiv“,Alfred Roth sah sich 1979 zu einerKlarstellung des Begriffs „Charta vonAthen“ veranlasst. Roth, selbst Mitglied<strong>der</strong> „Internationalen Kongressefür neues <strong>Bau</strong>en CIAM“, stellt esfolgen<strong>der</strong>maßen dar: Der Begriff seiim Jahre 1933 <strong>und</strong> auch später nichtexistent gewesen. Die Überschrift <strong>der</strong>Resolution des Kongresses von 1933habe „Die funktionelle Stadt – Feststellungen<strong>und</strong> Richtlinien“ gelautet.Der Begriff „Charta von Athen“ seieine typische Kreation von Le Corbusiergewesen, <strong>der</strong> die Athener Resolutionenunter diesem Titel im PariserVerlag Plon in französischer Sprache– allerdings bei Einbringung seinersehr persönlichen Auffassungen überStadtplanung – veröffentlichte. Daherweiche sie in mehreren Punkten von<strong>der</strong> Originalfassung ab. Hierzu gehöreauch <strong>der</strong> Vorwurf, die Charta for<strong>der</strong>e„eine absolute Trennung <strong>der</strong> Funktionen“.Tatsächlich habe aber keineAbsicht bestanden, diese Funktionen(Wohnen, Erholen, Arbeiten, Verkehr)beim Aufbau o<strong>der</strong> Rekonstruktion vonStädten zu trennen. (Schreiben vonRoth an die „<strong>Bau</strong>welt“) 1939