Aus unserem FachI n t e rv i e wEin Österreicher in DeutschlandProf. Dr. Martin Krismer, Innsbruck, war Kongresspräsident der 60. VSOU-Jahrestagung. Wir sprachen mitihm darüber, wie es ist, als Österreicher einen Kongress in Deutschlad zu planen, nach welchen Kriterien ersich bei der Themenauswahl leiten ließ und welche Programmpunkte er besonders gelungen fand.Das Motto Ihres Kongresses lautet Klarheit. Welcher Sachverhaltist Ihnen persönlich klarer geworden?Prof. Martin Krismer: Mir ist noch viel klarer geworden, wieBiofilme funktionieren. Mir war nicht bewusst, dass Bakterien,die sich in einen Biofilm zurückgezogen haben, nicht nachgewiesenwerden können. Nehmen wir einmal an, ein Patient hatzwei Jahre nach Implantation eines künstlichen Hüftgelenkeseinen lockeren Prothesenschaft. Auch wenn in diesem Fall eineInfektion durch intraartikuläre Punktion bakteriologisch nichtnachgewiesen werden kann, muss ich aufgrund der Lockerungdavon ausgehen, dass eine Entzündung vorliegt.Wir brauchenArztpersönlichkeiten,die sichnicht beugen undducken; die sichkeine Verträgeaufzwingen lassen,die dazu führen,dass man beider Indikationsstellungunvorsichtigwird.Warum?Bakterien können sich nicht vermehren, wenn sie keine Nährstoffefinden und sich nicht woanders ansiedeln können. Siedrosseln dann ihren Stoffwechsel und bilden einen Schleim, denBiofilm. In diesen ziehen sie sich zurück, um darin zu überdauern.Bei künstlichen Gelenken führt das dazu, dass sie sich lockern.Wenn das innerhalb der ersten zwei Jahre nach Einbaupassiert, muss der behandelnde Orthopäde davon ausgehen,dass die Prothese infiziert ist, auch wenn bei einer Punktion dieBakterien nicht auffindbar sind und die Blutwerte keine Entzündungim Körper anzeigen. Die logische Konsequenz darausist, dass er das Kunstgelenk austauschen muss. Auch hinsichtlichdes Prothesenwechsels deutet sich derzeit ein Umdenken an.In welche Richtung?Bislang ist der zweizeitige Prothesenwechsel Standard. Dasinfizierte Kunstgelenk wird entfernt, dann wird die Wundeverschlossen. Sechs bis acht Wochen behandelt man dann dieOsteomyelitis, bevor ein neues Gelenk eingesetzt wird. Wir habenintensiv diskutiert, ob man sich darauf einlassen kann, dieProthese schon nach zwei Wochen wieder einzubauen. Das isteine sehr spannende Frage. Für die Patienten ist es von großerBedeutung, ob sie vier bis fünf Wochen im Krankenhaus, danachaber wieder fit sind. Oder ob sie mit einer ausgebautenProthese sehr viel länger arbeitsunfähig oder pflegebedürftigsind.Zur PersonUniv. Prof. Dr. Martin Krismer wurde im April 1955 in Innsbruck geboren.Nach dem Besuch des humanistischen Privatgymnasiums derBenediktiner in Admont studierte er bis 1979 an der Universität InnsbruckMedizin und Philosophie, konnte aber das Philosophiestudiumwegen der beruflichen Tätigkeit in Kärnten nicht mehr abschließen.Im Jahr 1990 wurde er in Innsbruck Facharzt für Orthopädie und OrthopädischeChirurgie, und 1996 Dozent. Die Ausbildung wurdedurch zahlreiche Auslandsaufenthalte vor allem in den USA ergänzt.2001 wurde er zum Universitätsprofessor und Primararzt der Universitätsklinikfür Orthopädie in Innsbruck berufen. Prof. Krismer ist Generalsekretärder Europäischen Hüftgesellschaft (EHS, European HipSociety) und Prüfer bei der europäischen Facharztprüfung. Seine klinischenSchwerpunkte sieht er in der Endoprothetik und in der Wirbelsäulenorthopädie.Für eine Arbeit über die Funktionsweise derBandscheibe erhielt er den Volvo-Preis. Prof. Krismer hat ein Buchüber die Arbeitsweise der Bandscheibe verfasst, er hat ein Buch überminimal invasive Hüft- und Knieprothesenoperationen mit herausgegebenund mehr als 80 Originalarbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriftenveröffentlicht.254Orthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen und Nachrichten | Juni 2012
Aus unserem FachWird man über neue Prothesenmaterialiennachdenken müssen?Das tut man schon. Es wird zum Beispieldarüber nachgedacht, ob man nanobeschichteteProthesenoberflächen schafft,die sich selbst organisieren und das Bakterienwachstumhemmen.zu sagen, dass Krankheit nur eine Fragevon Eigenschaften einer Persönlichkeitist. Aus meiner Erfahrung kann ich abersagen, dass nach einer schweren Erkrankungoder Operation sich diejenigen Patientenschneller erholen, die Humor undFreude am Leben haben und ihre Lebenssituationverstehen. Sie stehen einfachGerade in der Hüftendprothetik sind wir auf einem so hohenNiveau angekommen, dass wir Innovationen nicht mehr so dringendbrauchen. Es muss uns ein wichtiges Anliegen sein, gefährlicheNeuerungen auszuschließen.Um noch einmal auf die Sicherheit zurückzukommen:Müssten die Zulassungsbedingungenfür Medizinprodukte insgesamtverschärft werden? Wäre die Sachemit den Großköpfen dann vielleicht nichtpassiert?Meiner Meinung nach brauchen wirwesentlich strengere Zulassungsbedingungen.Es wird dann zwar schwieriger,Innovationen einzuführen. Aber geradein der Hüftendprothetik sind wir auf einemso hohen Niveau angekommen, dasswir Innovationen nicht mehr so dringendbrauchen. Es muss uns ein wichtiges Anliegensein, gefährliche Neuerungen auszuschließen.Klarheit zu erreichen, ist manchmal allesandere als einfach. In Ihrem Eröffnungsvortraghaben Sie über Placebo- undPlacebo-äquivalente Therapien gesprochen.Sie sagten, dass diese Therapienoft genauso wirksam wie herkömmlicheTherapien sind. Können wir den Patientenkünftig einfach Kochsalzlösungstatt teurer Medikamente spritzen, ihnim Glauben lassen, er sei medikamentösbehandelt worden, und das Gesundheitssystemdamit enorm entlasten?Ich habe auch gesagt, dass wir den Patientenalles erklären müssen, was wirtun. Auch wenn wir eine Scheintherapieanwenden, müssen wir das erklären.Wenn wir dafür die richtigen Worte finden,werden die Patienten sie dennoch– oder gerade deswegen – akzeptieren.Der Placeboeffekt wird dadurch nichtausgeschaltet, wenn wir die richtigenWorte wählen. Dazu gibt es gute Studien.Sie sind allerdings Orthopäden und Unfallchirurgenwenig bekannt, da sie nichtin orthopädischen Journalen, sondern inanderen medizinischen oder medizinethischenZeitschriften publiziert wordensind.Wenn der Glaube ebenso oder gegebenenfallssogar besser heilen kann alsMedikamente, kann er jemanden auchdavor bewahren, überhaupt erst krankzu werden?Dazu gibt es ein theoretisches Konzept,begründet von Aaron Antonovsky, dasder Salutogenese. Menschen haben demnachEigenschaften und Ressourcen, welchevor Krankheit schützen. Ärzte habendieses Konzept im Gegensatz zu Gesundheitspolitikernnur in geringem Umfangaufgegriffen. Ich gehe nicht so weitwieder eher auf und wollen in Bewegungbleiben. Die Einstellung oder die Haltungzum Leben scheint also durchaus eine gewisseRolle zu spielen.Nach welchen Kriterien haben Sie dieThemen Ihres Kongresses zusammengestellt?Ich habe mich von meinen eigenen Interessenleiten lassen. Die Wirbelsäule istein Thema, mit dem ich mich schon langeintensiv auseinandersetze. Ich operiereviele Menschen mit Wirbelsäulenleiden,ich habe mich intensiv mit der konservativenTherapie beschäftigt. Im Rahmender Bone and Joint Decade arbeitete ichan der Richtlinie zur Behandlung desKreuzschmerzes mit. Meine Habilitationsarbeithat die Bandscheibe zum Gegenstand.Die Wirbelsäule war einfachein Thema, das kommen musste.Dann das Thema Sicherheit – das interessiertmich als Klinikleiter brennend, undich wollte andere Orthopäden und Unfallchirurgenmit Organisationsverantwortungansprechen. Außerdem wussteich, dass es Probleme mit Großköpfengibt. Da schon die Kollegen untereinanderdarüber gesprochen haben, war esnur noch eine Frage der Zeit, bis auch dieMedien anfangen würden, darüber zuberichten. Was sie ja nun ausführlich tun.Für das Thema Gelenkinfektionen habeich mich entschieden, da wir auf Ebeneder Europäischen Hüftgesellschaft, derenGeneralsekretär ich bin, festgestellt haben,dass dies eins der Themen ist, die momentanam brennendsten interessieren.In Österreich besteht eine Trennungzwischen Orthopädie und Unfallchirurgie,in Deutschland nicht mehr. Istes als Österreicher schwieriger, einendeutschen Kongress für Orthopäden undUnfallchirurgen zu organisieren?Nein, das war es nicht. Ich bin sehr oftauf deutschen Kongressen, bin in derdeutschen Szene präsent und kennedeshalb sehr viele Experten, auch Unfallchirurgen,persönlich. Außerdem warenmir meine Kongresssekretäre eine guteStütze. Einer von ihnen, Prof. Hackl, istUnfallchirurg. Über ihn hatte ich einensehr guten Zugang zu anderen Unfallchirurgen.Was war die größte Herausforderung beider Vorbereitung des Kongresses?Die gab es eigentlich nicht. Ein Kongresspräsidenthat ganz klare Aufgaben. Erstellt die Symposien zusammen, er wähltdie Abstracts aus, er muss den Kongresseröffnen, den Festabend und die Abschlussveranstaltungmoderieren. Beiden Feierlichkeiten ist es sinnvoll, etwasLokalkolorit hinzufügen, weil jeder einbisschen Abwechslung gern hat. Das wares auch schon.Wie sind Sie auf Prof. Liessmann alsFestredner gekommen?Ich habe neben dem Medizinstudiumauch Philosophie studiert, allerdingsnicht bis zum Abschluss, da ich nachmeinem Medizinstudium eine Stelle bekommenhabe, die weit weg von jederUniversität war. Ich habe mich aber immerwieder mit philosophischen Themenauseinandergesetzt. So habe ichLiessmanns Buch „Die Theorie der Unbildung“gelesen. Die Krise der BildungOrthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen und Nachrichten | Juni 2012255