Allerdings: Schön ist die Welt an vielen Orten. Also musses einen <strong>Reichtum</strong> der Schweiz geben, der noch spezifischerist als die Schönheit der Natur. Zu nennen ist hier die sprachliche,kulturelle und religiöse Vielfalt auf engstem Raum, diedas Zusammenleben zur permanenten Herausforderung, aberauch zur Bereicherung macht. Zu nennen ist ferner das Zusammenspielvon Eigenschaften, von denen kaum jede einzelneals typisch schweizerisch bezeichnet werden darf, dieaber im Paket doch so etwas wie «Swissness» ausmachen:Pünktlichkeit (nicht nur, aber auch der Züge), Genauigkeit,Verlässlichkeit, Sauberkeit, Ordnungsliebe, Diskretion, haushälterischerUmgang mit den Ressourcen, Qualitätsorientierung,Traditionsbewusstsein. Zu nennen ist auch einebemerkenswert gut ausgebaute Infrastruktur, der meist das(architektonisch) Spektakuläre abgeht, die aber funktioniertund sich mit vernünftigem Aufwand unterhalten lässt, währendim Ausland so manche Prestigeobjekte vor sich hin rosten.Die gelegentlich an Geiz gemahnende Sparsamkeit derSchweiz führt dazu, dass bei Investitionen in der Regel «dasdicke Ende», die Jahr für Jahr anfallenden Betriebskosten,mitbedacht wird, also nur gebaut wird, was unterhalten werdenkann. Das gibt dem <strong>Reichtum</strong> der Schweiz eine gesundeNachhaltigkeit.Ein lebendiger sozialer ZusammenhaltZum <strong>Reichtum</strong> der Schweiz gehört auch die soziale Kohäsion,die lange Zeit stärker war als in den umliegenden Ländern.Sie dürfte zugleich eine wesentliche Ursache dafür sein,dass man sich in der Schweiz ziemlich frei und sicher bewegenkann – ohne übertriebenen Polizeiapparat. Dass Mitgliederder Regierung ohne grosse Bewachung im Zug oder Tramreisen oder am Wochenende im Lebensmittelgeschäft «umdie Ecke» einkaufen, das erscheint vielen ausländischen Beobachternals völlig ungewöhnlich – und als wahrer <strong>Reichtum</strong>.Vieles hat zur sozialen Kohäsion beigetragen: die allgemeineWehrpflicht; das Milizsystem in weiten Teilen des politischenund gesellschaftlichen Lebens; ein Bildungssystem mit mindestenszwei Wegen nach oben, dem akademischen und demdualen der betrieblichen Ausbildung; die angesichts der Vielfaltgeradezu überlebensnotwendige Bereitschaft zum Kompromissund eine deutlich gleichmässigere Verteilung derEinkommen (vor staatlicher Umverteilung) als beispielsweisein Schweden. Leider wurde dieser «soziale <strong>Reichtum</strong>» durchdie aus den USA und Grossbritannien importierte Salärpraxismassiv beschädigt, aber völlig zerstört ist er noch nicht.Doch der grösste <strong>Reichtum</strong> der Schweiz bleibt wohldas genossenschaftliche Staatsverständnis und das darausabgeleitete politische System in all seinen Verästelungen.Der dezentrale Staatsaufbau mit Gemeindeautonomie undFöderalismus führt nicht nur zu grosser Bürgernähe undhoher Identifikation mit dem Staat. Er erlaubt auch die Suchenach den besten Lösungen im permanenten Wettbewerb derGebietskörperschaften; der Steuerwettbewerb ist dabei nurein – wenn auch wichtiger – Aspekt. Die direkte Demokratieist Ausdruck eines Staates, der von unten nach oben aufgebautist; eines Staates, in dem das Volk der einzige Souveränist; eines Staates, der im Dienste der Bürgerinnen und Bürgersteht und nicht allzu viele obrigkeitsstaatliche Allüren aufweist.Einen solchen Staat gehen die Bankkonten der Bürgerinnenund Bürger nur dann etwas an, wenn ein begründeterVerdacht auf schwere Vergehen besteht.Die ausgeprägte Mitwirkung bei allen politischen Entscheidenführt zu stärkerer Verantwortlichkeit, und sie zwingtdazu, sich laufend zu informieren. Dass diese Mitwirkung<strong>Reichtum</strong> darstellt, inneren <strong>Reichtum</strong> gewissermassen, zeigendie Ergebnisse der Glücksforschung von Bruno S.Frey undAlois Stutzer («Happiness and Economics», 2002). Die beidenForscher haben Personen untersucht, die aus Kantonenmit weniger Mitwirkungsmöglichkeiten in solche mit mehrDemokratie und Bürgernähe umgezogen sind, und sie habenAusländer ohne Mitwirkungsrechte mit Schweizern mit allenpolitischen Rechten verglichen. Die Ergebnisse sind eindeutig:je besser die Möglichkeiten der direkten Mitwirkung bei politischenEntscheidungen, desto zufriedener die Menschen.Die vermeintliche Schwäche ist die wahre StärkeParadoxerweise dürfte gerade ein Aspekt des politischenSystems, der vielen als Schwäche gilt, zu den grössten Reichtümernder Schweiz zählen. Gemeint sind Eigenschaften wieStabilität, Konstanz und Langsamkeit, die richtigerweise mitFöderalismus und direkter Demokratie in Verbindung gebrachtwerden. Die Trägheit des Systems führt zwar dazu, 20 <strong>Vontobel</strong> Porträt 2013
© Matrin Rüetschi, Keystone© Florian Kalotay, 13photoDie Landsgemeinde in Appenzell. Ein Urbild der direkten Demokratienach Schweizerart: mitreden, mitentscheiden, Verantwortung fürdas Ganze tragen.Das letzte Wort hat das Volk. Auch Gesetze, die vom Parlament in Bernerlassen werden, unterstehen über Sachabstimmungen dem Volkswillen.dass da und dort als dringend erachtete Reformen nicht inAngriff genommen werden, aber sie verhindert mindestensebenso oft, dass etwas Unnötiges oder gar Schädliches zustandekommt. Und nebenher gibt diese Trägheit dem Landeine behäbige Stabilität, etwas, was Menschen offenbar imPrivaten wie im Politischen sehr schätzen und das sie so kaumirgendwo auf der Welt in Kombination mit Rechtssicherheitund Demokratie finden.So kommt es denn nicht von ungefähr, dass die reicheSchweiz in internationalen Standort-Rankings hervorragendabschneidet, etwa im «Nation Brand Index» als Kleinstaatmit dem besten Image. Diese Spitzenergebnisse der Schweizberuhen nie auf ihrem «monetären <strong>Reichtum</strong>», sondern immerganz stark auf den vielen weichen Faktoren wie Stabilität,gute Regierungsführung, freiheitliche Rahmenbedingungen,Offenheit, das Wertesystem und die Lebensqualität. Dochwas im Privaten gilt, gilt auch im Politischen.«Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, umes zu besitzen», lässt Goethe Faust in seinem berühmtenMonolog sagen. Die Schweiz trägt zurzeit ihrem immateriellen<strong>Reichtum</strong>, den vielen weichen Faktoren, die das Landeinzigartig machen, zu wenig Sorge. Sie ist in Gefahr, sichzu vergewöhnlichen, die soziale Kohäsion, das politischeSystem, die Konstanz, die Stabilität und die Verlässlichkeitzu vernachlässigen und unter dem Motto der Anpassungan ein sich änderndes Umfeld modischen Strömungen zuopfern. Damit würde sie zugleich auch ihren materiellen<strong>Reichtum</strong>, den Wohlstand, gefährden, denn beide gehörenzusammen. Die Schweiz wäre nicht wirklich reich zunennen, wenn es ihr nur gelänge, viel Geld anzuziehen.Sie wäre aber auch kaum reich geworden ohne ihre institutionellen,kulturellen und sozialen Besonderheiten. Siemachen aus der Schweiz im doppelten Sinne ein reichesLand.