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Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - AFET

Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - AFET

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estehenden sittlichen Verwahrlosung angesehen <strong>und</strong> zwar auch dann, wenn sie<br />

noch nicht zur wirtschaftlichen Hilfsbedürftigkeit geführt hat o<strong>der</strong> von an<strong>der</strong>en<br />

Verwahrlosungserscheinungen auf körperlichem o<strong>der</strong> sittlichem Gebiet begleitet ist.<br />

Überblickt man die bisherige Entwicklung des Min<strong>der</strong>jährigen im Zusammenhang, so<br />

ergibt sich, dass ihm von <strong>der</strong> Kindheit an <strong>der</strong> rechte Arbeitswille gefehlt hat. In <strong>der</strong><br />

Volksschule ist er dadurch aufgefallen, dass er fast nie die Hausaufgaben angefertigt<br />

hat. Die Berufsschule hat er mit solcher Hartnäckigkeit versäumt, dass das<br />

jugendliche Zuchtmittel des Freizeitarrestes gegen ihn verhängt werden musste.<br />

Einer Arbeitstätigkeit ist er lediglich mit mehr o<strong>der</strong> weniger langen Unterbrechungen<br />

nachgegangen, wobei er bis in die Beschwerdeinstanz hinein die Stellen gewechselt<br />

hat. (…) Die eigenen Angaben des Min<strong>der</strong>jährigen lassen erkennen, dass er vor den<br />

Schwierigkeiten zurückscheut, die mit je<strong>der</strong> beständigen Arbeitsleistung verb<strong>und</strong>en<br />

sind, dass er noch nicht zur Pünktlichkeit <strong>und</strong> zum Ertragen körperlicher Unbilden<br />

erzogen worden ist. Ein Arbeitgeber hat dem Min<strong>der</strong>jährigen zwar, wie die von <strong>der</strong><br />

Mutter vorgelegte Bescheinigung erkennen lässt, Zuverlässigkeit <strong>und</strong> Fleiß attestiert;<br />

dem steht aber die vom Stadtjugendamt mitgeteilte <strong>und</strong> von <strong>der</strong> Mutter nicht in Rede<br />

gestellte Tatsache gegenüber, dass das Arbeitsamt schließlich eine weitere<br />

Vermittlung des Min<strong>der</strong>jährigen wegen seiner schlechten Arbeitsmoral von einer<br />

vorherigen Rücksprache mit <strong>der</strong> Mutter abhängig gemacht hat. Alles in allem bietet<br />

die Gesamtentwicklung des Min<strong>der</strong>jährigen das Bild eines unerzogenen<br />

Jugendlichen, <strong>der</strong> zwar noch nicht völlig arbeitsscheu ist, aber doch in erheblichem<br />

Grade <strong>der</strong>jenigen sittlichen Eigenschaften ermangelt, die normalerweise<br />

vorausgesetzt werden müssen, um im Berufsleben bestehen zu können. Trotz <strong>der</strong> im<br />

einzelnen Arbeitsvorgang zufriedenstellenden Leistung des Min<strong>der</strong>jährigen hat <strong>der</strong><br />

Prozess seiner Verwahrlosung bereits begonnen. (…)<br />

Da somit die Voraussetzungen zur Anordnung <strong>der</strong> FE nach § 64 JWG ohne weitere<br />

Ermittlung feststehen, musste <strong>der</strong> angefochtene Beschluss des LG aufgehoben <strong>und</strong><br />

die sofortige Beschwerde <strong>der</strong> Mutter gegen die im Ergebnis zutreffende<br />

Entscheidung des VG zurückgewiesen werden.“<br />

Dieses Urteil fand wegen seiner herausragenden Bedeutung (Auslegung des § 64<br />

JWG durch ein Oberlandesgericht) in <strong>der</strong> Fachpresse große Beachtung.<br />

Der Jurist <strong>und</strong> spätere Leiter des Landesjugendamtes Oldenburg Ferdinand<br />

Carspecken – in den fünfziger bis siebziger <strong>Jahre</strong>n einer <strong>der</strong> führenden Jugendhilfe-<br />

Fachleute <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik – gewann mit <strong>der</strong> Schrift „Warum <strong>Fürsorgeerziehung</strong>?<br />

– Eine Untersuchung über das Verschuldensprinzip“ den von <strong>der</strong> AGJJ<br />

(Arbeitsgemeinschaft für Jugendfürsorge <strong>und</strong> Jugendpflege) alljährlich<br />

ausgeschriebenen Hermine-Albers-Preis. Die AGJJ publizierte diese Arbeit als Band<br />

VI ihrer Schriftenreihe im Juventa-Verlag (München 1960). Der Autor zitiert in seiner<br />

Abhandlung eine ganze Reihe von Gerichtsentscheidungen zur Anordnung von<br />

<strong>Fürsorgeerziehung</strong>:<br />

„Die Mutter <strong>der</strong> Jugendlichen war verstorben, <strong>der</strong> Vater lebte mit einer geschiedenen<br />

Frau eheähnlich zusammen. Die Tochter lebte im väterlichen Haushalt <strong>und</strong><br />

beobachtete dies. Der Vater war ihr gegenüber gleichgültig <strong>und</strong> ließ sie tun <strong>und</strong><br />

treiben was sie wollte. Als die Jugendliche im Alter von sechzehneinhalb <strong>Jahre</strong>n<br />

wegen nächtlichen Herumtreibens auffiel <strong>und</strong> das Ansehen des Vaters zu schädigen<br />

schien, ging er mit dem Jugendamt eine FEH ein, die er aber später aus finanziellen<br />

Gründen wie<strong>der</strong> abbrach. Darauf setzte das Herumtreiben <strong>der</strong> Jugendlichen,<br />

verb<strong>und</strong>en mit wechselndem Geschlechtsverkehr, erneut wie<strong>der</strong> ein. Das<br />

Amtsgericht nahm dies zum Anlass, die vorläufige <strong>und</strong> endgütige FE zu<br />

beschließen.“<br />

Aus einem weiteren Beschluss:<br />

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