Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - AFET
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Voraussetzungen für das Funktionieren des „Verschiebebahnhofs Heimerziehung“<br />
schuf. Fast alle Biografien ehemaliger Heimkin<strong>der</strong> zeigen, dass die Drohung mit <strong>der</strong><br />
Verlegung in ein „schlimmeres“ Heim, das wirksamste Disziplinierungsmittel war, das<br />
nicht nur angedroht, son<strong>der</strong>n auch praktiziert wurde.<br />
Die hier dargestellte Praxis <strong>der</strong> „Heimunterbringung“ von Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
<strong>und</strong> beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> <strong>Fürsorgeerziehung</strong> war zu jedem Zeitpunkt <strong>der</strong> vierziger bis<br />
siebziger <strong>Jahre</strong> in <strong>der</strong> Fachöffentlichkeit bekannt <strong>und</strong> wurden immer wie<strong>der</strong> scharf<br />
kritisiert, ohne dass diese Kritik zu flächendeckenden <strong>und</strong> tiefgreifenden<br />
Verän<strong>der</strong>ungen bei den Rechtsgr<strong>und</strong>lagen, den Organisationsformen <strong>und</strong> in <strong>der</strong><br />
Erziehungspraxis <strong>der</strong> Heimerziehung geführt hätte. Ich zitiere aus einer Rede <strong>der</strong><br />
Leiterin des Münchener Jugendamts, <strong>der</strong> Oberregierungsrätin Dr. Bamberger, die sie<br />
unter dem Titel „Ist unsere Erziehungsanstalt reformbedürftig?“ auf einer Tagung<br />
„Jugend <strong>und</strong> Recht“ im August 1950 gehalten hat:<br />
„Die F.E. ist einmal schon deshalb problematisch, weil sie vom Anfang bis zum Ende<br />
vom Ermessen abhängt. Das Jugendgerichtsgesetz hat klare feste Punkte, die dem<br />
F.E.-Gesetz fehlen. Eine Bestimmung lautet: Verwahrloste <strong>und</strong> solche, die zu<br />
Verwahrlosen drohen, kommen in die F.E. Wann kann man sagen, dass dies <strong>der</strong> Fall<br />
ist? Was ist überhaupt Verwahrlosung? Der Begriff wird sehr verschieden gebraucht<br />
<strong>und</strong> ist außerordentlich dehnbar, er än<strong>der</strong>t sich von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort, je<br />
nach den Menschen, die ihn anwenden. Das tritt ganz beson<strong>der</strong>s deutlich in<br />
Erscheinung, wenn man F.E.-Akten von früher <strong>und</strong> von heute miteinan<strong>der</strong> vergleicht.<br />
Der Schwerpunkt <strong>der</strong> Verwahrlosung hat sich heute von den Eltern immer mehr auf<br />
das Kind verschoben. Die Eltern tragen natürlich heute noch genauso Schuld an <strong>der</strong><br />
Verwahrlosung ihrer Kin<strong>der</strong>, aber das Erscheinungsbild ist ein an<strong>der</strong>es geworden.<br />
Der Maßstab hat sich nach unten verschoben. In <strong>der</strong> öffentlichen Meinung haben wir<br />
zwar eine genau umrissene Vorstellung dessen, was Verwahrlosung ist, nicht aber<br />
bei denen, die berufen sind, das Verhalten zu beurteilen <strong>und</strong> die öffentliche Meinung<br />
zu bilden.<br />
Ähnlich schwankend ist eine zweite Bestimmung im F.E.-Gesetz, die festlegt, dass<br />
F.E. nur dann anzuordnen ist, wenn sie Aussicht auf Erfolg hat, das kann man aber<br />
doch erst dann sagen, wenn man wirklich alles versucht hat. Wer urteilt denn heute<br />
darüber, ob Aussicht auf Erfolg besteht o<strong>der</strong> nicht? Es sind in <strong>der</strong> Praxis die Richter,<br />
die oft genug nicht einmal Jugendrichter sind <strong>und</strong> von psychologischen <strong>und</strong><br />
pädagogischen Rücksichten oft völlig unbelastet sind (…) Eine dritte Voraussetzung<br />
für die Einweisung in F.E. ist nach dem Gesetz das Verschulden <strong>der</strong> Eltern. Es ist<br />
dies eine historisch zu verstehende Bestimmung. In <strong>der</strong> Praxis ist es aber doch ganz<br />
gleich, ob die Eltern eine Schuld trifft o<strong>der</strong> nicht, wenn das Kind zu verwahrlosen<br />
droht.<br />
Eine vierte Bestimmung sieht F.E. vor, wenn die Kosten nur aus öffentlichen Mitteln<br />
gedeckt werden können. Diese Bestimmung ist nicht nur sozial ungerecht, son<strong>der</strong>n<br />
sie hat auch Wirkungen gezeitigt, die man bei Erlass des Gesetzes nicht gesehen<br />
hat. Wenn öffentliche Kosten eintreten müssen, gibt es zwei Kostenträger: 1. die<br />
Gemeinde als örtlichen Verband <strong>und</strong> 2. <strong>der</strong> Landesfürsorgeverband als überörtliche<br />
Instanz. Durch den Versuch <strong>der</strong> Kostenabwälzung, vor allem von Seiten <strong>der</strong><br />
Gemeinde, kommt es oft vor, dass Kin<strong>der</strong> schon mit zwei <strong>Jahre</strong>n in F.E. kommen <strong>und</strong><br />
diese dann ihr Leben lang als F.-Zöglinge durch die Welt laufen (…)<br />
Auch das Verfahren <strong>der</strong> F.E. müsste geän<strong>der</strong>t werden. Vorläufige F.E. soll nach dem<br />
Gesetz angeordnet werden, wenn Gefahr im Verzug ist. Aus dieser vorläufigen kann<br />
dann eine endgültige werden. Heute spricht man meist nur eine vorläufige F.E. aus,<br />
weil das einfacher <strong>und</strong> reibungsloser geht. Die endgültige wird nur noch rein<br />
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