Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - AFET
Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - AFET
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ehemaligen Freistätter Zöglingen <strong>und</strong> aus einer Vielzahl von Schriftquellen geht<br />
hervor, dass Freistatt unter den Jugendlichen, die in <strong>Fürsorgeerziehung</strong> o<strong>der</strong><br />
Freiwillige Erziehungshilfe geraten waren, den Ruf einer „Endstation“ hatte. Auch in<br />
Presseberichten über Freistatt war dies schon früh ein immer wie<strong>der</strong>kehren<strong>der</strong><br />
Topos.<br />
3. Der jugendpolitische Kontext <strong>der</strong> 1950/60er <strong>Jahre</strong>. Betrachtet man die<br />
Gründe, die dazu geführt hatten, dass die Jugendlichen, die in Freistatt endeten,<br />
erstmals in ein Heim eingewiesen worden waren, so enthält dieser Katalog eine<br />
Vielzahl von – aus heutiger Sicht betrachtet – „Bagatellen“, die für sich genommen<br />
kaum eine Einweisung in die geschlossene Jugendhilfe begründen würden:<br />
„Verwahrlosung“, „Vernachlässigung“, „Schulschwänzen“, „Arbeitsbummelei“,<br />
„Ausreißen“, „schlechter Umgang“. Hier tritt die tief in Staat <strong>und</strong> Gesellschaft <strong>der</strong><br />
frühen B<strong>und</strong>esrepublik sitzende Furcht vor einer massenhaften Verwahrlosung<br />
junger Menschen deutlich zu Tage. Vor allem die <strong>1950er</strong> <strong>Jahre</strong> können, wie Ulrike<br />
Winkler ausführt, als „Jahrzehnt <strong>der</strong> Konjunktur des Jugendschutzes“ gelten.<br />
Zentrales Anliegen gesetzgeberischer Bemühungen war die Beschneidung fast<br />
sämtlicher jugendlicher Lebensräume. Orte, von denen „sittliche Gefahr“ ausging –<br />
Gaststätten, Rummelplätze o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Straßenkarneval – wurden gleichsam zu „No-<br />
Go-Areas“ erklärt. Dabei ließ das Jugendschutzgesetz von 1951 die „sittliche Gefahr“<br />
bewusst unbestimmt, so dass <strong>der</strong> Polizei eine weite Handhabe bei ihren Patrouillen<br />
eingeräumt wurde. So konnten Jugendliche leicht in die Mühlen <strong>der</strong><br />
<strong>Fürsorgeerziehung</strong> geraten – <strong>und</strong> am Ende ihrer „Heimkarriere“ in Freistatt landen.<br />
4. Der Alltag in den Erziehungshäusern. Von den Anfängen <strong>der</strong> Betheler<br />
Erziehungsarbeit um 1900 bis zum Ende <strong>der</strong> <strong>1960er</strong> <strong>Jahre</strong> bestimmten –<br />
epochenübergreifend durch vier verschiedene politische Systeme – eine fast<br />
militärische Disziplin, drakonische Strafen, demütigende Behandlung <strong>und</strong> körperliche<br />
Züchtigungen durch die Erzieher (weit über die sprichwörtliche „Ohrfeige“ hinaus) die<br />
Atmosphäre in den Häusern.<br />
Was die Anwendung körperlicher Gewalt angeht, so lässt sich eine Art „doppelter<br />
Buchführung“ nachweisen. Auf dem Papier, also auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Gesetze <strong>und</strong><br />
Verordnungen, war das Züchtigungsrecht <strong>der</strong> Erzieher eng begrenzt. In den <strong>1950er</strong><br />
<strong>Jahre</strong>n existierte jedoch zwischen Freistatt <strong>und</strong> <strong>der</strong> zuständigen Aufsichtsbehörde,<br />
dem Landesjugendamt in Hannover, ein „stillschweigendes Einverständnis“ darüber,<br />
dass im Alltag die gesetzlichen Grenzen körperlicher Züchtigung überschritten<br />
wurden. Während in den offiziellen Strafbüchern, die regelmäßig zur Kontrolle<br />
vorgelegt <strong>und</strong> abgezeichnet werden mussten, fast keine Körperstrafen eingetragen<br />
waren, gab es – mit Kenntnis <strong>der</strong> Behörde – ein internes Berichtssystem, in dem<br />
Erzieher die keineswegs seltene Anwendung körperlicher Gewalt gegen Zöglinge<br />
dem Anstaltsleiter schriftlich mitteilten, um von diesem gegen etwaige Beschwerden<br />
in Schutz genommen werden zu können. Man wird in diesem Zusammenhang nicht<br />
von Einzelfällen <strong>und</strong> Exzesstaten sprechen können.<br />
Die weite Verbreitung körperlicher Gewalt in Freistatt muss auch im Zusammenhang<br />
des repressiven Gesellschaftsklimas in <strong>der</strong> frühen B<strong>und</strong>esrepublik gesehen werden.<br />
Körperliche Züchtigung in Familie <strong>und</strong> Schule galt damals als selbstverständliches<br />
Element <strong>der</strong> Erziehung. Der Volksk<strong>und</strong>ler Walter Hävernick kam in einer mehrmals<br />
aufgelegten Studie über „Schläge als Strafe“ zu dem Ergebnis, dass zwischen 1910<br />
bis 1939 noch in 90 Prozent <strong>der</strong> Familien mit Schlägen „erzogen“ wurde, während es<br />
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