Handbuch um.welt - VNB
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Es ist schwierig zu ermitteln wie viele Kulturen es auf der Welt gibt, da die Übergänge zwischen<br />
den einzelnen Gruppen fließend sein können. Als ein einfacher Indikator wird meist die Anzahl der<br />
Sprachen genommen. Wissenschaftler gehen von ca. 6.000–6.500 verschiedenen Sprachen und somit<br />
Kulturen auf der Welt aus. Wobei Untersuchungen schon in den 1990er Jahren ergeben haben,<br />
dass alle zwei Wochen eine indigene Sprache ausstirbt, so dass am Ende des Jahrhunderts nur noch<br />
10 % der momentan gesprochenen Sprachen übrig sein könnten. 26<br />
Sprache kann man als Kulturträger begreifen. Stirbt eine Sprache aus, so stirbt auch eine Kultur.<br />
Denn damit die Überlieferung der kulturellen Gehalte gelingt, bedarf es einer regelmäßigen Wiederholung<br />
dessen, was überliefert werden soll. Beispielsweise eines bestimmten Rituals zu einer<br />
bestimmten Jahreszeit. Eine wesentliche Form der Wiederholung ist nicht nur die tatsächliche Ausübung<br />
dessen, was überliefert und weitergegeben wird, sondern auch die Fixierung in der Sprache.<br />
Sprache ist daher ein vorrangiges Medi<strong>um</strong> der Überlieferung, welches auch jede nicht sprachliche<br />
Weitergabe von Wissen begleitet. Wenn die Kinder einer Generation nicht mehr die Sprache ihrer<br />
Vorfahren sprechen (beispielsweise, weil in der Schule nur in einer Kolonialsprache unterrichtet<br />
wird, wie in vielen Ländern Afrikas) können das indigene Wissen, die Traditionen und Gebräuche<br />
nicht weitergeführt werden.<br />
Mit einer Sprache sterben also nicht nur Worte. Es sterben auch Vorstellungs<strong>welt</strong>en, Welt anschauungen,<br />
Gemeinschaftsmodelle, Lebensauffassungen, Traditionen und indigenes Wissen.<br />
Begriffsbestimmung – Indigene Völker<br />
Von den Vereinten Nationen (UN) und den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) werden Ureinwohner<br />
eines Gebietes auch als „indigene Völker“ bezeichnet. Der Begriff „indigen“ wurde 1995 von<br />
der UN-Arbeitsgruppe zu Indigenen Bevölkerungen (UNWGIP) geprägt und soll für Völker gelten,<br />
die ein bestimmtes Territori<strong>um</strong> als Erste besiedelt und genutzt haben. Meist bilden indigene Gruppen<br />
eine Minderheit und werden von der eingewanderten Mehrheitsbevölkerung diskriminiert.<br />
Wie beispielsweise die Mapuche in Chile, die mit rund 1,3 Millionen Angehörigen fast zehn Prozent<br />
der 15,8 Millionen Einwohner Chiles bilden. Die Mapuche müssen <strong>um</strong> ihr Land kämpfen, das sie<br />
Jahrhunderte lang gemeinschaftlich und nachhaltig genutzt hatten, denn ihre Entscheidungsgewalt<br />
über ihre Landnutzung wird von der nationalen Regierung aberkannt und ihr Gebiet in immer kleinere<br />
Reservate eingeteilt. Wo einst in ihren Gebieten Urwälder wuchsen, pflanzen heute Großunternehmen<br />
in Holzplantagen schnell wachsende Bä<strong>um</strong>e wie Kiefern und Eukalyptus vor allem für die<br />
Zellstoffindustrie an. Mapuche, die sich gegen den Landraub wehren, werden kriminalisiert und zu<br />
hohen Geld- und Haftstrafen verurteilt. Beispiele wie diese gibt es leider viele.<br />
Für Kulturelle Vielfalt zählt nicht die Größe und politische Einflussnahme einer Gruppe, sondern<br />
die Vielzahl an verschiedenen Sprachen und Lebensweisen. Leider verhält es sich empirisch oft so,<br />
dass kleine (indigene) Gruppen von politisch einflussreicheren vereinnahmt werden und in ihrer<br />
Einzigartigkeit verloren gehen. Statt ihrer Lebensweise nachzugehen, werden sie in Zeiten der Nationalstaaten<br />
in eine Mehrheitsbevölkerung (zwangs-)integriert. Ihr kultureller Beitrag, ihr Wissen<br />
und ihre Erzählungen gehen damit verloren. Weltweit wird derzeit von 350 bis 400 Millionen Menschen<br />
ausgegangen, die einem der ca. 5.000 indigenen Völker in 75 Staaten angehören. 27<br />
26 Zeitschrift: Entwicklungspolitik Nr. 9/ 2005; Verein zur Förderung der entwicklungspolitischen Publizistik e.V. (Hrsg.),<br />
S. 28–31.<br />
27 Gesellschaft für bedrohte Völker (2006): ‚Indigene Völker – Ausgegrenzt und Diskriminiert‘, S. 5.<br />
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