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2007·2008 - Nairs

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Das neue Ausstellungsprojekt von Daniel Glaser und<br />

magdalena Kunz ist eine komplexe verbale Geografie,<br />

die sich vorwärtstastet, mit essentiellen, direkten<br />

Fragen ohne Antworten, die als zufällig gehörte Konversationsfragmente<br />

erscheinen. Aus der Unbe stimmtheit<br />

entsteht allmählich das Themenbild einer radikalen<br />

Infragestellung, welche feste Ansichten ins Wanken<br />

bringt. Jede Klarheit wird von den Künstlern relativiert<br />

und schliesslich ganz ausser Kraft gesetzt.<br />

In der Installation ,Drehbuch’ kauert ein junger mann,<br />

in Decken gehüllt, vor einem Heizkörper am Boden, sich<br />

vor der nächtlichen Kälte schützend. Die Szene ist in<br />

medias res, etwas ist bereits geschehen, die Vorgeschichte<br />

lässt sich bloss erahnen. Wo bin ich? Und wer<br />

bist du? Was soll man tun? Die Radikalität der Fragen,<br />

die sich der Junge stellt und welchen das Publikum ausgesetzt<br />

ist, beschreibt die Atmosphäre eines monologs,<br />

der tastend fortschreitet und einen Ausweg aus einer<br />

Situation der Isolierung und des zwangs sucht.<br />

Die möglichkeiten zu handeln und die Geschehnisse<br />

zu kontrollieren werden in Frage gestellt. Fragmente<br />

und Reste einer schematischen Biografie tauchen<br />

auf. Diese Situation stellt eine für die Jugend typische<br />

Ent deckungs- und Wissenslust dar, die Glaser/Kunz<br />

mit knappen und wirksamen Details aufzeigen. Die<br />

Szenerie ist von einer tiefen melancholie, verstärkt<br />

durch eine nächtliche, dämmrige Stimmung und vom<br />

Gefühl der Flüchtigkeit und Vorläufigkeit, welche den<br />

Protagonisten umhüllt. Eine sehnsuchtsvolle, abenteuerliche<br />

Stimmung, die den Atmosphären von mark<br />

Twains Romanen nahe kommt, dem Gefühl der unvermeidlichen<br />

Verwirrung und dem Schauder der frühen<br />

Jugend, welche alle Streifzüge seiner berühmtesten<br />

‚Drehbuch’, mixed media, Installationsansicht<br />

ca. 200 x 300 x 180 cm, 2007<br />

49<br />

Helden, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, im Gegenlicht<br />

durchblicken lassen.<br />

Klar ist, dass für Glaser/Kunz die Hinwendung zum<br />

Fragen als ein philosophisches Projekt verstanden<br />

werden muss, das darauf hinzielt, das Publikum zu verblüffen<br />

und zum Nachdenken zu verführen. Es handelt<br />

sich um einen konzeptuellen Vorgang, welcher der antiken<br />

Dialektik ähnelt, insbesondere der sokratischen<br />

mäeutik wo das scheinbar harmlose Fragen sich als<br />

scharfes konzeptuelles Werkzeug erweist, um das<br />

Selbstverständnis des Befragten zu desavouieren, bis<br />

die totale Leere dessen Überzeugungen als Ergebnis<br />

falscher kollektiver meinungen blossgestellt wird.<br />

Glaser/Kunz erwecken ähnliche zweifel beim Betrachter,<br />

der in ein immer engeres Gewebe von Befragungen<br />

verwickelt wird, welches tief sitzende Sicherheiten und<br />

Einsichten zerstört. Die visuelle Stärke der Installation<br />

verfolgt den zweck, den unerbittlich starken Einfluss<br />

der Fragen weiter zu verstärken und die Hörer in einen<br />

zweikampf zu verwickeln, in welchem das durch die<br />

Beharrlichkeit der Fragen aufgezwungene Unbehagen<br />

unvermeidlich ist.<br />

Wie in der antiken mäeutik das entscheidende ziel die<br />

Suche nach einem echten Bewusstsein war, stellen die<br />

beiden Künstler Fragen um Fragen, die zugleich offen<br />

und detailliert sind und somit die Spezifität der privaten<br />

Existenz eines jeden menschen berühren und anregen.<br />

Doch es werden weder Antworten noch Lösungen geboten,<br />

und genau darin liegt der zündstoff der Kunst<br />

von Daniel Glaser und magdalena Kunz.<br />

LUIGI FASSI (Auszug)

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