Bologna - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik
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Mögliche Veränderungen in der professionellen<br />
Tanzausbildung in Europa durch das »<strong>Bologna</strong>«-Abkommen<br />
Tanzausbildung als Haus<br />
Renovierung des Daches ohne<br />
Überprüfung des Fundaments<br />
Von Jenny J. Veldhuis<br />
Wenn man sich den »Vertrag von <strong>Bologna</strong>« und die sich daraus<br />
ergebenden Konsequenzen <strong>für</strong> die Tanzausbildung genauer ansieht,<br />
wird klar, dass der wichtigste Faktor der Tanzausbildung,<br />
die sogenannten Tanzfachschulen (Vocational Schools) übersehen<br />
worden ist sind. Man ist im übertragenen Sinn dabei, das<br />
Dach zu renovieren, ohne das Fundament wirklich überprüft zu<br />
haben.<br />
Die Ausbildung junger Tänzer unterscheidet sich von allen<br />
anderen Formen der Berufsausbildung, weil sie im Alter von ca.<br />
zehn Jahren beginnt und etwa sieben bis acht Jahre dauert.<br />
Das Instrument des Tänzers ist sein Körper, und inzwischen<br />
liegen mehr als 200 Jahre Erfahrung in diesem Ausbildungsbereich<br />
vor, die zeigen, dass die Ausbildung in jenen Zeitraum der<br />
Entwicklung eines heranwachsenden Menschen fallen muss, der<br />
gemeinhin als wichtigste Phase <strong>für</strong> die physische und geistige<br />
Entwicklung gilt – damit später die technischen und künstlerischen<br />
Anforderungen an eine professionelle Tänzerlaufbahn erfüllt<br />
werden können.<br />
Eine Tänzerkarriere ist kurz. Die meisten führenden Tanzcompagnien<br />
in der Europäischen Union engagieren keine Tänzerinnen<br />
über 33 und keine männlichen Tänzer über 35 Jahre, von<br />
Ausnahmen abgesehen.<br />
Kein Tänzer oder Tanzpädagoge würde sich gegen die erstrebenswerte<br />
Weiterführung der Tanzausbildung auf Hochschulniveau<br />
aussprechen. Da die bedeutenden Compagnien jedoch<br />
ungern Nachwuchs-Tänzer engagieren, die jenseits der Altersgrenze<br />
von 18 bzw. 19 Jahren sind, macht es <strong>für</strong> die Studenten<br />
keinen Sinn, nach dieser abgeschlossenen Tanzfachausbildung<br />
ihre beginnende Tänzerlaufbahn zu riskieren zu Gunsten direkt<br />
anschließender weiterführender Studien. Genauso wenig interessiert<br />
es den Leiter einer Tanzcompagnie, ob der Bewerber einen<br />
Hochschulabschluss hat oder nicht. Es ist ausschließlich die<br />
künstlerische Qualität, die bei einer Audition zählt.<br />
Doch gerade wegen der Kürze der Tanzkarriere ist es erstrebenswert,<br />
die Möglichkeit/Qualifikation <strong>für</strong> ein Studium zu haben,<br />
um eventuell später weiter studieren zu können.<br />
Doch wie konnte es dazu kommen, die Tanzfachausbildungen<br />
in Europa zu übersehen?<br />
Sicher zunächst durch die Altersgruppe, denn <strong>für</strong> die Zehn-<br />
bis 18-Jährigen kommt aus Altersgründen ein Hochschulstudium<br />
nicht in Frage. Zweitens auch aufgrund der Tatsache, dass sich<br />
die Schulen <strong>für</strong> Tanzfachausbildung historisch gesehen aus privaten<br />
Institutionen entwickelt haben.<br />
In den vergangenen 60 Jahren haben einige der zahlreichen<br />
Schulreformen in verschiedenen Staaten Europas dazu geführt,<br />
dass diese privaten Institutionen – in Konservatorien umgewandelt<br />
– interpretiert wurden oder in eine dem Theater angeschlossene<br />
Ballettschule, teilweise mit direktem Anschluss an die jeweilige<br />
Tanzcompagnie. Da nun die Altersgruppe der Zehn- bis<br />
18-Jährigen in kein typisches Ausbildungsprofil passt und die<br />
Tanzausbildung auch nicht vergleichbar ist mit irgendeiner anderen<br />
beruflichen Ausbildung, teilt man die Ausbildung in zwei<br />
Abschnitte: In die sogenannte Vorausbildung, in der Grundlagen<br />
gelegt werden, und in die eigentliche Ausbildung der Primär-<br />
und Sekundarstufe.<br />
Natürlich kann man darüber streiten, ob es sinnvoll ist, sich<br />
über einen Zeitraum von mindestens sechs Jahren darauf vorzubereiten,<br />
ein Hochschulstudium von zwei Jahren folgen zu lassen,<br />
wobei die Regelstudienzeit ohnehin vier bzw. fünf Jahre<br />
beträgt.<br />
Aber was wird aus der Vorausbildung? Hier gibt es drei Möglichkeiten.<br />
1. Falls sie an eine Schule mit allgemein bildendem Unterricht<br />
angeschlossen ist, wird sie nur von den entsprechenden Autoritäten<br />
wahrgenommen, <strong>für</strong> die Tanzausbildung ist sie unerheblich,<br />
weil eine Vorausbildung nicht anerkannt wird.<br />
2. Wenn sie in ein Konservatorium integriert ist, verfügt sie entweder<br />
über ein separates und damit geringeres Budget oder<br />
wird privat finanziert.<br />
3. Und im Falle des Anschlusses einer kompletten Tanzfachausbildung<br />
an eine Tanzcompagnie oder ein Opernhaus, wird<br />
sie auch meist von privater Hand finanziert.<br />
Mit anderen Worten: Aus diesen verständlichen Gründen wird<br />
von offizieller Seite die Tanzausbildung der Zehn- bis 18-Jährigen<br />
weder wahrgenommen noch finanziert.<br />
Die bisherige Erfahrung hat hinreichend bewiesen, dass es<br />
ohne die sieben- bzw. achtjährige Ausbildung unmöglich ist, einen<br />
professionellen Tänzer auszubilden, der den heutigen hohen<br />
technischen und künstlerischen Anforderungen genügt. Das Gleiche<br />
gilt natürlich auch <strong>für</strong> zukünftige Tanzpädagogen, auch sie<br />
brauchen solide fachliche Grundlagen vor einem eventuellen<br />
Hochschulstudium. Und erst recht betrifft das die Choreographen<br />
von Morgen, die eine beachtliche Tänzerkarriere hinter sich haben<br />
sollten, bevor sie sich dem Studium der Choreographie widmen.<br />
Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass das Europäische<br />
Parlament grundlegende Informationen erhält, die sowohl<br />
die notwendige Dauer, aber auch die besondere Struktur der<br />
Ausbildung zukünftiger Tänzer betrifft. Tanz ausschließlich als Angelegenheit<br />
von Hochschulen zu betrachten, ist irreführend und<br />
würde zu einer extrem falschen Schlussfolgerung führen, nachdem<br />
das <strong>Bologna</strong> Abkommen nach 2009 in Kraft treten soll,<br />
denn demnach würde die Ausbildung eines Tänzers vier Jahre<br />
dauern und im Alter von 18 Jahren beginnen!<br />
Im negativsten Fall führt das zu einer nicht überschaubaren<br />
großen Zahl von arbeitslosen Tänzern, denn keine Compagnie<br />
von hohem Niveau würde diese überalterten Tänzer engagieren.<br />
Es wäre daher sehr wichtig, in einer Studie zu belegen,<br />
dass die einzige Möglichkeit darin besteht, Tänzer auf hohem<br />
technischem und künstlerischem Standard auszubilden, wenn sie<br />
im Alter von etwa zehn Jahren beginnen und ihre Ausbildung<br />
mindestens sieben Jahre dauert. ■<br />
Text im Original: »Remoddeling the Roof without Investigating the<br />
Foundation», Jenny J. Veldhuis ©2003, Überarbeitung ©2005,<br />
Übersetzung aus dem Englischen: Dagmar Fischer<br />
4 Ballett Intern 4/2006