10/2014
Fritz + Fränzi
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Psychologie & Gesellschaft<br />
INTERVIEWPARTNER<br />
Gordon Neufeld ist ein kanadischer Entwicklungspsychologe,<br />
der unter anderem in seinem Buch<br />
«Unsere Kinder brauchen uns» die Gleichaltrigenorientierung<br />
der heutigen Jugend kritisiert. Seine Ansätze<br />
werden im international tätigen Neufeld-Institut mit<br />
Sitz in Vancouver gelehrt. Er ist Vater von fünf Kindern<br />
und Grossvater von derzeit fünf Enkelkindern.<br />
Mehr unter www.neufeldinstitute.com<br />
>>> Wichtig ist aber vor allem, die Beziehung zum Kind<br />
zu festigen, indem man ihm zeigt: Du bist mir wichtig,<br />
und du bist in meinem Herzen. Daran können sich Kinder<br />
festhalten, wenn sie getrennt von den Eltern sind. Nahe<br />
Verwandte sind gute Betreuungspersonen, weil ihnen<br />
natürlicherweise daran liegt, die Nähe zwischen Kind und<br />
Eltern zu erhalten. Hier gibt es keine Konkurrenz. Wenn<br />
der Betreuende nicht aus der Familie kommt, kann es<br />
helfen, selbst eine gute Beziehung zu dieser Person aufzubauen.<br />
Das zeigt dem Kind: Du bist zwar weg von mir,<br />
aber du bist bei meinen Leuten.<br />
Spätestens im Teenageralter aber orientieren sich<br />
Kinder nicht mehr nur an den Menschen, die Eltern als<br />
«meine Leute» bezeichnen, sondern an Gleichaltrigen.<br />
Das ist ein grosses Problem in unserer Gesellschaft. Wenn<br />
Jugendliche die Erwachsenen in ihrem Leben mit den<br />
Gleichaltrigen ersetzen, verändert sich der Kontext, in<br />
dem sie erzogen werden. Eltern haben<br />
keine Autorität mehr und sind nicht<br />
mehr erste Ansprechpersonen. Sie<br />
verlieren die Möglichkeit, für ihre<br />
Kinder da zu sein. Aber Gleichaltrige<br />
können einander nicht erziehen. Und<br />
diese Beziehungen sind nicht dauerhaft.<br />
Nur Familienbeziehungen sind<br />
für die Ewigkeit. Das heisst jetzt nicht,<br />
dass Familien immer funktionieren.<br />
Aber sie bringen bessere Voraussetzungen<br />
für die Ewigkeit mit.<br />
Aber ist die Orientierung an Gleichaltrigen<br />
nicht ein wichtiger Schritt in die Unabhängigkeit?<br />
Überhaupt nicht! Die Abhängigkeit wird lediglich von<br />
den Eltern auf Gleichaltrige übertragen. Das ist ein Rückwärtsschritt,<br />
weil Sicherheit verloren geht und die Kinder<br />
verletzt werden und deshalb eine Abwehrhaltung entwickeln.<br />
Jugendliche verlieren zum Beispiel ihre natürliche<br />
Neugier. Sie gehen nicht mehr zur Schule, um zu lernen,<br />
sondern um Freunde zu sehen. Der Kontakt mit Gleichaltrigen<br />
gilt der Sozialisierung – aber in welche Richtung<br />
werden wir dabei sozialisiert? Die falsche Orientierung<br />
führte zu Popkulturen wie der Musik der 1970er- und<br />
«Kultur stirbt,<br />
wenn sich<br />
Jugendliche an<br />
Freunden<br />
orientieren»<br />
1980er-Jahre. Das ist keine Kultur, die für die Ewigkeit<br />
geschaffen ist – und die Ersatzkulturen führen letztlich<br />
dazu, dass Kultur an sich stirbt. Weil sie nicht mehr von<br />
Generation zu Generation weitergegeben wird.<br />
Sind Sie also gegen Freundschaften?<br />
Nein. Auch wenn die Eltern die wichtigste Rolle im Leben<br />
eines Kindes spielen, ist Platz für Freunde da. Bei einer<br />
gesunden Beziehung wünscht sich das Kind allerdings,<br />
dass die Eltern seine Freunde mögen. Das heisst: Eltern<br />
und Freunde treten nicht in Konkurrenz zueinander.<br />
Freunde sind dann problematisch, wenn das Kind oder<br />
der Jugendliche sich an ihnen orientiert – und somit sich<br />
selbst und seine Eltern aus den Augen verliert. Gleichaltrige<br />
dürfen einfach nicht wichtiger werden als die Eltern.<br />
Jugendliche brauchen eine tief greifende Beziehung zu<br />
ihren Eltern. Dann ist auch Raum da für Meinungsverschiedenheit<br />
und Individualität.<br />
Und dieser Fokus muss sich nicht irgendwann<br />
verschieben – beispielsweise, wenn die Eltern sterben?<br />
Die Eltern sind immer da. Familienbeziehungen sind für<br />
die Ewigkeit. Deine Mutter ist deine Mutter – tot oder<br />
lebendig. Die Familie ist der Bezugsrahmen, in dem das<br />
Herz zu Hause ist. Hier kann man sein Potenzial entfalten.<br />
Ich kann mir vorstellen, dass dieser hohe Anspruch<br />
an die Familie viele Eltern überfordert. Wie baue ich eine<br />
so tief gehende Beziehung zu meinen Kindern auf?<br />
Das passiert automatisch. Wenn man die Beziehung pflegt<br />
und die Nähe nicht gegen das Kind verwendet. Also nicht<br />
mit Trennung und Isolation arbeitet im Sinne von: «Jetzt<br />
gehst du in dein Zimmer, bis du dich wieder benimmst.»<br />
Und wenn man den Kindern die Möglichkeit<br />
gibt, ihre Gefühle auszuleben.<br />
Sie sagen: Wenn mein Kind völlig<br />
frustriert zu mir kommt, soll ich ihm<br />
weder Lösungen anbieten noch<br />
beteuern, dass dies «doch nicht so<br />
schlimm» sei. Wie kann ich<br />
stattdessen reagieren?<br />
Man beginnt damit, das Gefühl anzusprechen.<br />
«Ich sehe, du bist frustriert,<br />
du bist wütend – etwas funktioniert<br />
nicht für dich.» Wenn es noch nicht möglich ist, dass das<br />
Kind seinen Ärger formulieren kann, oder wenn das nicht<br />
ausreicht, bietet man ihm an, diesen Ärger auszuleben,<br />
ohne jemanden zu verletzen.<br />
Und wie?<br />
Es braucht Raufspiele, Wettrennen, Aktivitäten, bei denen<br />
es okay ist, wild zu sein. Meine Kinder haben Matten aufgebaut<br />
und sind von einer zur anderen gesprungen. Das<br />
Monster durfte sie nicht fangen. Ich war natürlich das<br />
Monster – wie symbolisch (lacht). Sie dürfen schreien und<br />
Angst haben, und ich ärgere sie, aber es ist ein Spiel. Dass<br />
meine Kinder es immer und immer wieder spielen wollten,<br />
zeigt, wie wichtig es für ihre Emotionen war.<br />