De:Bug 169
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FALTYDL<br />
HARDCOURAGE<br />
[NINJA TUNE]<br />
Ein Hoch auf die Zeitverschwendung – ganz allgemein. Und im Konkreten: Klar, gerade<br />
bei Auftragsarbeiten macht es wenig Sinn, nach dem tieferen Zusammenhang von Artwork<br />
& Album zu fragen. Die Überintellektualisierung von Ästhetik kann halt auch müßig<br />
sein. Trotzdem weckt das Cover des Londoner Studios La Boca für "Hardcourage“<br />
mein Halbwissen über die fesselnde Welt der Neurologie.<br />
Ihr wisst schon, <strong>De</strong>ndriten, Synapsen, Axonhügel und Myelinscheide. Genug davon, aber die zahlreichen<br />
Verästelungen bilden Kontakte, biologisch-chemische Kommunikation, Erregungen, Reize.<br />
Passt, denn für Drew Lustman hat noch nie ein Stimulus allein ausgereicht. Seine zwei LPs auf<br />
Planet Mu haben zwar die Schubladenfetischisten einerseits und Remix-Anfragen von Mount Kimbie,<br />
Scuba und Photek andererseits auf den Plan gerufen, doch Garage, 2-Step und Dubstep sind<br />
nur einige seiner Neurotransmitter. Beim einsamen Stuhltanz würde sich der New Yorker nie auf<br />
den selben Stuhl zweimal setzen. Immer wenn man glaubt, seinen Signature Sound ausmachen<br />
zu können, kommt er mit zwei Singles auf Ninja Tune um die Ecke, die eine alte Weisheit hervorbringen:<br />
Genres sind nicht mehr als Fixpunkte, Grenzen gar, die es zu durchbrechen gilt, geht es<br />
doch um die gegenseitige Verquickung, das Atmen und Fragmentieren der Barrieren. Platt gesagt:<br />
FaltyDL ist ein Meister darin. "Stay, I‘m Changed“ (der Schlawiner) kündigt es an, seine Tracks sind<br />
zwingender geworden, (ein)dringlicher, fast dramatisch. <strong>De</strong>tailverliebtheit wäre ein Level zuviel,<br />
doch sein wundervolles Verständnis für Aufbau und Struktur nährt die Frickler-These, da brauchts<br />
auch keinen manifesten Klimax. Sicherlich lugt zeitweise seine Passion für HipHop durch, aber<br />
eben mehr als Haltung, als raue Attitüde. "Finally Some Shit/The Rain Stopped“ stößt mit trippelnden<br />
Drums eine morbide Erotik aus, die auch gerne mal einen Schlafzimmerblick auf verregnetes<br />
Brachland wirft. Will das vielleicht jemand Shy House nennen? Ich wäre dabei! <strong>De</strong>nnoch: Lustman<br />
ist weder pragmatischer Nostalgiker noch naiver Romantiker. Wenn "For Karme“ sich zunächst in<br />
der Downtempo-Bequemlichkeit suhlt, lassen Piano-Chords, epileptische HiHats (ein Faible) und<br />
traumversunkene Flächen das Unterbewusstsein vibrieren. Aber vielleicht ist das sein Geheimnis,<br />
alles nur kurz streifen: den Soul im House, die UK-Härte, 8-Bit-Andeutungen, subtil mit dem Jazz<br />
flirten und Electronica produzieren, die voller Liebe steckt – als kreativer In- und rezipierter Output.<br />
Tristesse? Nicht zum Jahresbeginn bitte. "Dance music that is frustrating to dance to“ hat FaltyDL<br />
seinen eigenen Stil einst beschrieben, mit "Hardcourage" ist das Pseudo-Dilemma (beinahe) gelöst<br />
und Lustman aufgestiegen vom Must-Watch-Guy zu einem der Großen.<br />
WEISS<br />
PROFESSOR INC<br />
PROTENSIVE APO-<br />
DICTICITY<br />
[BAD ANIMAL]<br />
www.thebadanimal.org<br />
MAP.ACHE<br />
ULFO<br />
[KANN]<br />
www.kann-records.com<br />
INDIGO<br />
CELESTIAL EP<br />
[APOLLO]<br />
www.rsrecords.com<br />
Für mich ganz klar eine der EPs des Monats. Professor Inc<br />
aka Frédéric Poix klingt so klassisch und deep in den chicagohaft<br />
pampig kickenden Sounds, so in sich verschliffen und<br />
aufgelöst, dass man eigentlich kaum glauben kann, dass<br />
diese Platte aus Frankreich kommen soll. Man träumt erst<br />
Mal zurück. Eine andere Zeit schon wieder. Eine Zeit der Geheimnisse.<br />
Ein Ort, den man nur zuordnen kann, weil man<br />
ihn mit der eigenen Phantasie einer Szene füllt, die man<br />
zwar nicht kennt, nie kennen kann, deren Zusammenhänge,<br />
Regeln, anderes Leben und deren Versprechen man aber direkt<br />
erfährt und in sich aufnimmt. Eine neue Welt der unerwarteten<br />
Klänge, Zusammenhänge, die dichter sind als<br />
die eigene Welt, ein Traum der sich in der Musik schon realisiert,<br />
weil man selbst die Szenerie und den Zusammenhalt<br />
in immer neuen Bildern, immer neuen Konstellationen<br />
für sich zusammensetzt. Zwei massiv außergewöhnliche<br />
Tracks, die die ungewöhnliche Soundästhetik manchmal fast<br />
überreizen, aber dadurch für mich nur an Klasse gewinnen,<br />
mit "-10.000 Feet" folgt ein unerwartet süßlich schiebender<br />
Dubtechnotrack. <strong>De</strong>r Safeword-Remix von "Roots" macht<br />
den Track zwar spielbarer, aber das Original bleibt doch der<br />
Killer, selbst wenn ich mich noch nicht getraut habe, das<br />
auch aufzulegen, weil es vermutlich so straight wie eine<br />
Saber rüberkommen würde. Und die haben auch immer<br />
schon Mut gekostet. Mut, den man haben muss.<br />
BLEED<br />
Endlose Schönheit. Das Cover glänzt anders, das Vinyl riecht<br />
besser, die Labels kleben fester, die Tracks tänzeln flinker.<br />
Nicht nur die Tatsache, dass Kann aus Leipzig endlich ins Album-Business<br />
einsteigt, ist eine Explosion des Twitter-Servers<br />
wert, vor allem natürlich, dass der hauseigene Smoothness-Experte<br />
Map.ache in den perfekten Startlöchern für<br />
2013 selbst Hand anlegt und sich nicht ablenken, nicht verwirren<br />
lässt, sondern vielmehr seine Tracks wie auf einer Perlenkette<br />
aufreiht und sein <strong>De</strong>bütalbum ebenso lenkt. Kein<br />
Fokus auf dem Dancefloor. Und gleichzeitig nichts anderes.<br />
Tracks, die in sich ruhen, in sich schimmern, glühen, glänzen,<br />
als wäre die ganze Welt ein Lautsprecher mit Retina-Auflösung.<br />
Map.ache lebt in seinem Sound, jeder Takt scheint<br />
direkt aus dem Leben gegriffen, trippelnd, trappelnd, die in<br />
leichtfüßigen Funk eingemummelten Hände erheben sich<br />
in Zeitlupe, feiern die introvertierte Ekstase. Bei Map.ache<br />
ist man ganz für sich und dennoch nie allein. Geschützt vom<br />
immer am Trapez Kunststücke vollführenden Bass, eingekleidet<br />
in Momente der Melodie. Preset-frei, herrlich anti-modern<br />
und doch zwingender der Zukunft verbunden als alle anderen<br />
Tracks da draußen. Hier macht kein Algorithmus den Sound,<br />
sondern die Seele, befeuert von einem tiefen Vibrieren, direkt<br />
vom Mittelpunkt der Erde, mit zeitloopiger Lichtgeschwindigkeit<br />
an die Oberfläche katapultiert, Funken sprühend, an der<br />
Sonne vorbei bis in die Unendlichkeit.<br />
THADDI<br />
Epochaler Release. Über Jahre hat Indigo auf den unterschiedlichsten<br />
Labels, auch auf seinem eigenen, Mindset, brachial<br />
auf den Punkt produzierte Slammer veröffentlicht, jetzt<br />
kommt Liam Blackburn mit seinen ersten Tracks für Apollo<br />
um die Ecke. Was man bislang nicht wusste, aber immer hätte<br />
ahnen können: Indigo ist Vorsitzender des Basic-Channel-<br />
Fanclubs in Manchester und widmet dieser Liebe zum detaillierten<br />
Rauschen vier Tracks auf dem Traditions-Label. "Sea<br />
Of Stars" beginnt noch im nachvollziehbaren Dub-Universum,<br />
ist näher dran an Jamaika als die Berliner Inspiration, verfiltert<br />
die klein gerechneten Sounds perfekt, kontrastiert sie immer<br />
wieder mit sehnsüchtigen Samples und greift erst ganz zum<br />
Schluss wirklich in das Geschehen ein. Indigo ist ein Observer.<br />
Und lenkt bei "Azha" den eingemummelten Moll-Transporter<br />
direkt an den Noise-Hub des Logistikzentrums, die HiHat<br />
krabbelt wie wild durch diese aufgewühlte See der geplanten<br />
Übersteuerung. "Sunrise" beginnt sofort mit der Auslieferung<br />
der Geheimwaffen, die im besagten Moll-Laster gerade geliefert<br />
wurden, tänzelt flirrend um den Nachhall alter Neubauten-<br />
Percussion und erklärt Jamaika die Barock-Befriedung ganz<br />
faktisch mit LFO-Triolen aus der Zukunft. Zwischendrin: immer<br />
wieder Hall und Metall. "Keerthana", die B2, bietet dann<br />
ein Best-Of der Outtakes einer besseren Welt. Voll mit blitzenden<br />
Peaks und einer strudeligen Langsamkeit, in die man sich<br />
ganz automatisch einfach fallen lassen will.<br />
THADDI<br />
<strong>169</strong>–67