04.07.2016 Aufrufe

146 Spielzeit der Dresdner Philharmonie

Phil_2016_Spielplanbuch2016-17_web

Phil_2016_Spielplanbuch2016-17_web

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Heimat ist überall<br />

Gedanken zu einem<br />

vielbenutzten Begriff,<br />

zwischen Idylle<br />

und Herausfor<strong>der</strong>ung.<br />

Von Simone Egger<br />

Heimat hat immer etwas Prozesshaftes. Im Laufe unseres Lebens<br />

eignen wir uns neue Heimaten an, wenn es notwendig ist.<br />

Aus beruflichen o<strong>der</strong> privaten Gründen bewegen wir uns von<br />

einer Situation in eine an<strong>der</strong>e, das kann ein Ort sein, aber auch<br />

die Familie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Freundeskreis. Je umfassen<strong>der</strong>, je radikaler,<br />

freiwillig o<strong>der</strong> erzwungen, sich <strong>der</strong> Übergang von einer Heimat<br />

in eine an<strong>der</strong>e Heimat vollzieht, desto durchdringen<strong>der</strong> erleben<br />

wir diesen Einschnitt. Eine neue Beziehung kann das Gewesene<br />

in Frage stellen und die eigene Idee von Heimat total umkrempeln.<br />

Der Bruch mit einer Partnerin o<strong>der</strong> einem Partner geht<br />

nicht selten mit dem Verlust von Heimat einher. Ein Neuanfang<br />

in einer unbekannten Stadt o<strong>der</strong> in einem fremden Land wird<br />

Strategien erfor<strong>der</strong>n, sich selbst zu verorten, Kontakte aufzubauen<br />

und mit <strong>der</strong> alten Heimat umzugehen. Wer aufgrund seiner<br />

Arbeit von Berlin nach Hongkong geht, und das ist in unserer<br />

mobilen Gesellschaft durchaus möglich, wird dort vielleicht ein<br />

Faible für Buletten o<strong>der</strong> Berliner Weiße mit Schuss entwickeln.<br />

Auch wenn sie o<strong>der</strong> er zu Hause niemals Wert darauf gelegt<br />

hat, stehen diese Dinge fern von <strong>der</strong> Heimat auf einmal für etwas<br />

Gutes. Überall auf <strong>der</strong> Welt entwickeln Menschen solche<br />

und an<strong>der</strong>e Formen des Bezugnehmens auf etwas,<br />

das ihnen wichtig erscheint. Ein zentrales Thema ist<br />

dabei immer die Zugehörigkeit, auch wenn die Art<br />

und Weise, wie mit Heimat umgegangen und was als<br />

Heimat empfunden wird, kulturell geprägt ist. Und<br />

immer hat das Verhalten etwas mit den finanziellen<br />

Mitteln zu tun, die zur Verfügung stehen. Als Banker<br />

in London kann ich jeden Freitag nach Hause<br />

zu meiner Familie in Hannover fliegen. Als Managerin<br />

bewege ich mich zwischen Rom und Zürich,<br />

sooft es mir in meiner Zeitplanung möglich ist. Als<br />

Saisonarbeiterin auf einem Feld bleiben mir Telefonate<br />

mit meiner Mutter, als Bauarbeiter auf Montage<br />

schicke ich alle zwei Wochen eine Karte. Das<br />

Geld spielt aber nicht die zentrale Rolle, obwohl es<br />

manches sicherlich einfacher macht. Die Intensität<br />

von Beziehungen hängt von den Menschen ab.<br />

Über das Netz lassen sich Kontakte ganz an<strong>der</strong>es als<br />

noch vor zwanzig Jahren halten, wenn man sich auch<br />

nicht spüren kann, mit einer Kamera kann man sich<br />

täglich sehen. Die technischen Errungenschaften <strong>der</strong><br />

letzten Zeit lassen Entfernungen inzwischen beinahe<br />

willkürlich relativieren. Die Bandbreite <strong>der</strong> Internetverbindung<br />

bildet die Basis für einen Austausch, wie<br />

er früher vielleicht auf <strong>der</strong> Bank vor dem Haus stattgefunden<br />

hat.<br />

Zugehörigkeit und Teilhabe<br />

Ein wesentlicher Unterschied im Umgang mit alten und neuen<br />

Heimaten ist aber immer die Frage, ob man den Wohnort<br />

o<strong>der</strong> den Arbeitsplatz freiwillig gewechselt hat. Der beste Job<br />

ist schließlich kaum verlockend, wenn man niemanden kennt,<br />

die Stadt nicht mag o<strong>der</strong> die Mentalität vor Ort nicht versteht.<br />

Noch schwieriger wird es, wenn man seine Heimat von heute<br />

auf morgen wegen eines Krieges o<strong>der</strong> Konfliktes verlassen musste,<br />

in Sorge lebt und immer noch die Hoffnung hat, dass sich<br />

alles klären wird. Oft sind Menschen gezwungen, ihre Heimat<br />

von jetzt auf gleich zu verlassen, das gewohnte Umfeld o<strong>der</strong> sogar<br />

den Kontinent zu wechseln. Mit nichts als ihren Klei<strong>der</strong>n<br />

kommen sie allein o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Familie in irgendeiner Welt an,<br />

in <strong>der</strong> sie versuchen müssen, ein Alltagsleben aufzubauen und<br />

eine neue Heimat zu finden. Als traumatisierte Menschen aus<br />

einem Kriegsgebiet treffen sie, wenn es Ihnen gelungen ist, zu<br />

fliehen, zum Beispiel in Deutschland auf einen schier undurchdringlichen<br />

Verwaltungsapparat. Nicht nur die Sprache ist unbekannt,<br />

auch die zahllosen Regeln, nach denen sie leben sollen,<br />

sind kompliziert und verbieten jede Form von Normalisierung.<br />

Anstatt sich zu fragen, wie ein Miteinan<strong>der</strong> aussehen kann, wird<br />

mit Ausgrenzung im Gegenteil noch Politik gemacht. Wie aber<br />

kann man sich mit dem Schutz <strong>der</strong> eigenen Heimat befassen,<br />

während man an<strong>der</strong>en ihr Recht auf Heimat gleichzeitig abspricht?<br />

In welcher Gesellschaft leben wir, wenn sich nicht alle<br />

irgendwo zugehörig fühlen dürfen? Heimat hat immer auch mit<br />

Teilhabe zu tun.<br />

„Heimat kann man als einen Populärmythos bezeichnen. Er erschöpft<br />

sich nicht in einer phantastischen Erzählung, son<strong>der</strong>n<br />

kreist um einen Kern von elementaren Bedürfnissen, ist unspektakulär,<br />

bleibt weitgehend verborgen und wird von allen geteilt.“<br />

Der Literaturwissenschaftler Bernd Hüppauf verfolgt die Entwicklung<br />

des Heimatbegriffs und denkt über die verschiedenen<br />

Bedeutungen von Heimat nach. Auf <strong>der</strong> einen Seite ist seit dem<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t eine romantische, ideale Vorstellung entstanden.<br />

Um diesen Sehnsuchtsort bemühen wir uns noch<br />

heute. Während alles immer schwerer zu begreifen<br />

ist und jedes Thema zusehends vielschichtiger wird,<br />

bietet Heimat ein vermeintlich überschaubares Repertoire<br />

an Gegenständen und Gefühlen. Auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite hat <strong>der</strong> Begriff ganz wesentlich mit<br />

Abschiednehmen, Trauer, Schmerz und Nostalgie zu<br />

tun. Schattenseiten wie Flucht und Vertreibung sind<br />

ebenfalls Teil einer Heimatdebatte. Dieser Realität<br />

muss man ins Auge blicken, um das Thema in <strong>der</strong><br />

Gegenwart denken und diskutieren zu können. Eine<br />

Heimat, die sich nur auf Kulissen und Traumwelten<br />

bezieht, ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr<br />

zeitgemäß. Das gilt genauso für die Vergangenheit.<br />

Heimat, zwischen Idylle und<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

Heimat, das heißt nicht nur Idylle. Heimat ist <strong>der</strong><br />

Förster vom Silberwald. Heimat ist aber immer<br />

auch mit Schwierigkeiten verbunden. Damit können<br />

kriegerische Auseinan<strong>der</strong>setzungen gemeint<br />

sein genauso wie ein innerer Wi<strong>der</strong>streit. Hüppauf<br />

nennt als Beispiel die Biografie eines jungen Mannes,<br />

<strong>der</strong> darüber nachdenkt, welche Sprache ihm in<br />

welchem Moment wichtig ist. Geboren in Palästina,<br />

lebt er inzwischen seit Jahrzehnten in Deutschland.<br />

Die Sprache seiner Gedichte und Essays hat sich mit<br />

<strong>der</strong> Zeit gewandelt. Nicht nur seine Heimat hat sich<br />

verän<strong>der</strong>t, auch zu seiner Identität sind im Laufe<br />

seines Lebens viele neue Facetten hinzugekommen.<br />

„Heimat, die nicht verlangt, die Augen vor den Ungeheuern<br />

in Geschichte und Gegenwart zu schließen“,<br />

meint Bernd Hüppauf, „und einen Raum öffnet,<br />

in dem Streit unverborgen ausgetragen werden<br />

kann, hat eine Zukunft. Und nur sie.“ Verschiedene<br />

Untersuchungen zeigen, dass die Wertschätzung von

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!