146 Spielzeit der Dresdner Philharmonie
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Heimat ist überall<br />
Gedanken zu einem<br />
vielbenutzten Begriff,<br />
zwischen Idylle<br />
und Herausfor<strong>der</strong>ung.<br />
Von Simone Egger<br />
Heimat hat immer etwas Prozesshaftes. Im Laufe unseres Lebens<br />
eignen wir uns neue Heimaten an, wenn es notwendig ist.<br />
Aus beruflichen o<strong>der</strong> privaten Gründen bewegen wir uns von<br />
einer Situation in eine an<strong>der</strong>e, das kann ein Ort sein, aber auch<br />
die Familie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Freundeskreis. Je umfassen<strong>der</strong>, je radikaler,<br />
freiwillig o<strong>der</strong> erzwungen, sich <strong>der</strong> Übergang von einer Heimat<br />
in eine an<strong>der</strong>e Heimat vollzieht, desto durchdringen<strong>der</strong> erleben<br />
wir diesen Einschnitt. Eine neue Beziehung kann das Gewesene<br />
in Frage stellen und die eigene Idee von Heimat total umkrempeln.<br />
Der Bruch mit einer Partnerin o<strong>der</strong> einem Partner geht<br />
nicht selten mit dem Verlust von Heimat einher. Ein Neuanfang<br />
in einer unbekannten Stadt o<strong>der</strong> in einem fremden Land wird<br />
Strategien erfor<strong>der</strong>n, sich selbst zu verorten, Kontakte aufzubauen<br />
und mit <strong>der</strong> alten Heimat umzugehen. Wer aufgrund seiner<br />
Arbeit von Berlin nach Hongkong geht, und das ist in unserer<br />
mobilen Gesellschaft durchaus möglich, wird dort vielleicht ein<br />
Faible für Buletten o<strong>der</strong> Berliner Weiße mit Schuss entwickeln.<br />
Auch wenn sie o<strong>der</strong> er zu Hause niemals Wert darauf gelegt<br />
hat, stehen diese Dinge fern von <strong>der</strong> Heimat auf einmal für etwas<br />
Gutes. Überall auf <strong>der</strong> Welt entwickeln Menschen solche<br />
und an<strong>der</strong>e Formen des Bezugnehmens auf etwas,<br />
das ihnen wichtig erscheint. Ein zentrales Thema ist<br />
dabei immer die Zugehörigkeit, auch wenn die Art<br />
und Weise, wie mit Heimat umgegangen und was als<br />
Heimat empfunden wird, kulturell geprägt ist. Und<br />
immer hat das Verhalten etwas mit den finanziellen<br />
Mitteln zu tun, die zur Verfügung stehen. Als Banker<br />
in London kann ich jeden Freitag nach Hause<br />
zu meiner Familie in Hannover fliegen. Als Managerin<br />
bewege ich mich zwischen Rom und Zürich,<br />
sooft es mir in meiner Zeitplanung möglich ist. Als<br />
Saisonarbeiterin auf einem Feld bleiben mir Telefonate<br />
mit meiner Mutter, als Bauarbeiter auf Montage<br />
schicke ich alle zwei Wochen eine Karte. Das<br />
Geld spielt aber nicht die zentrale Rolle, obwohl es<br />
manches sicherlich einfacher macht. Die Intensität<br />
von Beziehungen hängt von den Menschen ab.<br />
Über das Netz lassen sich Kontakte ganz an<strong>der</strong>es als<br />
noch vor zwanzig Jahren halten, wenn man sich auch<br />
nicht spüren kann, mit einer Kamera kann man sich<br />
täglich sehen. Die technischen Errungenschaften <strong>der</strong><br />
letzten Zeit lassen Entfernungen inzwischen beinahe<br />
willkürlich relativieren. Die Bandbreite <strong>der</strong> Internetverbindung<br />
bildet die Basis für einen Austausch, wie<br />
er früher vielleicht auf <strong>der</strong> Bank vor dem Haus stattgefunden<br />
hat.<br />
Zugehörigkeit und Teilhabe<br />
Ein wesentlicher Unterschied im Umgang mit alten und neuen<br />
Heimaten ist aber immer die Frage, ob man den Wohnort<br />
o<strong>der</strong> den Arbeitsplatz freiwillig gewechselt hat. Der beste Job<br />
ist schließlich kaum verlockend, wenn man niemanden kennt,<br />
die Stadt nicht mag o<strong>der</strong> die Mentalität vor Ort nicht versteht.<br />
Noch schwieriger wird es, wenn man seine Heimat von heute<br />
auf morgen wegen eines Krieges o<strong>der</strong> Konfliktes verlassen musste,<br />
in Sorge lebt und immer noch die Hoffnung hat, dass sich<br />
alles klären wird. Oft sind Menschen gezwungen, ihre Heimat<br />
von jetzt auf gleich zu verlassen, das gewohnte Umfeld o<strong>der</strong> sogar<br />
den Kontinent zu wechseln. Mit nichts als ihren Klei<strong>der</strong>n<br />
kommen sie allein o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Familie in irgendeiner Welt an,<br />
in <strong>der</strong> sie versuchen müssen, ein Alltagsleben aufzubauen und<br />
eine neue Heimat zu finden. Als traumatisierte Menschen aus<br />
einem Kriegsgebiet treffen sie, wenn es Ihnen gelungen ist, zu<br />
fliehen, zum Beispiel in Deutschland auf einen schier undurchdringlichen<br />
Verwaltungsapparat. Nicht nur die Sprache ist unbekannt,<br />
auch die zahllosen Regeln, nach denen sie leben sollen,<br />
sind kompliziert und verbieten jede Form von Normalisierung.<br />
Anstatt sich zu fragen, wie ein Miteinan<strong>der</strong> aussehen kann, wird<br />
mit Ausgrenzung im Gegenteil noch Politik gemacht. Wie aber<br />
kann man sich mit dem Schutz <strong>der</strong> eigenen Heimat befassen,<br />
während man an<strong>der</strong>en ihr Recht auf Heimat gleichzeitig abspricht?<br />
In welcher Gesellschaft leben wir, wenn sich nicht alle<br />
irgendwo zugehörig fühlen dürfen? Heimat hat immer auch mit<br />
Teilhabe zu tun.<br />
„Heimat kann man als einen Populärmythos bezeichnen. Er erschöpft<br />
sich nicht in einer phantastischen Erzählung, son<strong>der</strong>n<br />
kreist um einen Kern von elementaren Bedürfnissen, ist unspektakulär,<br />
bleibt weitgehend verborgen und wird von allen geteilt.“<br />
Der Literaturwissenschaftler Bernd Hüppauf verfolgt die Entwicklung<br />
des Heimatbegriffs und denkt über die verschiedenen<br />
Bedeutungen von Heimat nach. Auf <strong>der</strong> einen Seite ist seit dem<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t eine romantische, ideale Vorstellung entstanden.<br />
Um diesen Sehnsuchtsort bemühen wir uns noch<br />
heute. Während alles immer schwerer zu begreifen<br />
ist und jedes Thema zusehends vielschichtiger wird,<br />
bietet Heimat ein vermeintlich überschaubares Repertoire<br />
an Gegenständen und Gefühlen. Auf <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Seite hat <strong>der</strong> Begriff ganz wesentlich mit<br />
Abschiednehmen, Trauer, Schmerz und Nostalgie zu<br />
tun. Schattenseiten wie Flucht und Vertreibung sind<br />
ebenfalls Teil einer Heimatdebatte. Dieser Realität<br />
muss man ins Auge blicken, um das Thema in <strong>der</strong><br />
Gegenwart denken und diskutieren zu können. Eine<br />
Heimat, die sich nur auf Kulissen und Traumwelten<br />
bezieht, ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr<br />
zeitgemäß. Das gilt genauso für die Vergangenheit.<br />
Heimat, zwischen Idylle und<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
Heimat, das heißt nicht nur Idylle. Heimat ist <strong>der</strong><br />
Förster vom Silberwald. Heimat ist aber immer<br />
auch mit Schwierigkeiten verbunden. Damit können<br />
kriegerische Auseinan<strong>der</strong>setzungen gemeint<br />
sein genauso wie ein innerer Wi<strong>der</strong>streit. Hüppauf<br />
nennt als Beispiel die Biografie eines jungen Mannes,<br />
<strong>der</strong> darüber nachdenkt, welche Sprache ihm in<br />
welchem Moment wichtig ist. Geboren in Palästina,<br />
lebt er inzwischen seit Jahrzehnten in Deutschland.<br />
Die Sprache seiner Gedichte und Essays hat sich mit<br />
<strong>der</strong> Zeit gewandelt. Nicht nur seine Heimat hat sich<br />
verän<strong>der</strong>t, auch zu seiner Identität sind im Laufe<br />
seines Lebens viele neue Facetten hinzugekommen.<br />
„Heimat, die nicht verlangt, die Augen vor den Ungeheuern<br />
in Geschichte und Gegenwart zu schließen“,<br />
meint Bernd Hüppauf, „und einen Raum öffnet,<br />
in dem Streit unverborgen ausgetragen werden<br />
kann, hat eine Zukunft. Und nur sie.“ Verschiedene<br />
Untersuchungen zeigen, dass die Wertschätzung von