Facetten Mai 2010
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Vom Traum, arbeiten zu dürfen<br />
Im Förderbereich bietet die Kasseler Werkstatt auch schwer behinderten<br />
Menschen die Chance auf eine Beschäftigung<br />
Sein grauer Kapuzenpulli im XXL-Format<br />
dient während der Arbeit als willkommener<br />
Rückzugspunkt. Holger, 21, ist<br />
Autist – er sucht die Abgeschiedenheit. Vor<br />
vier Jahren, als Holger in den Förderbereich<br />
der Kasseler Werkstatt kam, schlich er<br />
beim Mittagessen immer in eine einsame<br />
Ecke des großen Speisesaals. Tag für Tag.<br />
Heute dagegen setzt er sich schon mal an<br />
den Nachbartisch, Holger ist zugänglicher<br />
geworden. „In den letzten Monaten hat er<br />
große Fortschritte gemacht“, sagt Bereichsleiter<br />
Thomas Pfeiffer. Dann allerdings,<br />
wenn Konzentration gefragt ist, möchte<br />
Holger nach wie vor ganz für sich alleine<br />
sein. Befestigungsknöpfe für Autofußmatten<br />
soll er verpacken, und er tut das mit<br />
der übergroßen Kapuze auf dem Kopf, so,<br />
als wäre nichts um ihn herum, als würde<br />
er ganz in seiner eigenen Welt leben.<br />
Mehr als 100 der kleinen, schwarzen<br />
Teilchen hat er schon in die durchsichtigen<br />
Plastikhüllen getan, hat jede mit<br />
einem speziellen Gerät zugeschweißt und<br />
dann die fertigen abgelegt. „Wenn Holger<br />
will“, meint Pfeiffer, „dann kann er sehr<br />
effektiv arbeiten.“ Jetzt, in diesem Moment,<br />
da will er. Sein Gesicht ist zwar verhüllt,<br />
aber die Hände verraten ihn, verra-<br />
ten Freude und Begeisterung. Sie arbeiten<br />
schnell, zielgerichtet, genau. Ein paar Minuten<br />
später dann gar nicht mehr. Ohne<br />
Vorwarnung lässt sich Holger auf den Boden<br />
fallen, er verkrampft und schreit. An<br />
Arbeit ist erst mal nicht mehr zu denken.<br />
Holger ist kein Einzelfall. Neben ihm<br />
sitzen Erkut und Hans-Hermann, Thomas<br />
und Ilona, dazu Sabine und Marius<br />
im Rollstuhl, die hier alle Verpackungsarbeiten<br />
erledigen – wenn sie können.<br />
Insgesamt 60 Behinderte im Alter von<br />
17 bis 65 Jahren werden Pfeiffer und seine<br />
Kollegen betreut. Es sind Menschen,<br />
deren Handicaps einer ständigen individuelle<br />
Betreuung auszukommen, die<br />
aber in guten Phasen trotzdem wertvolle<br />
Arbeit leisten. „Unser Bereich liegt quasi<br />
in einer Grauzone“, sagt Pfeiffer (49).<br />
Michael Brehme (damals 21 Jahre alt und Volontär<br />
einer Nachrichtenagentur) hat mit seinem Text über<br />
den Förderbereich der Kasseler Werkstatt den Bathildisheimer<br />
Journalistenpreis 2009 gewonnen, der zum<br />
dritten Mal unter dem Motto „Selbstbestimmt leben<br />
trotz Behinderung – Rehabilitation heute“ vom Rehazentrum<br />
Bathildisheim und der HNA ausgerichtet<br />
wurde. Den preisgekrönten Text drucken wir hier ab.<br />
Kasseler Werkstatt FACETTEN 15