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Facetten Mai 2010

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Vom Traum, arbeiten zu dürfen<br />

Im Förderbereich bietet die Kasseler Werkstatt auch schwer behinderten<br />

Menschen die Chance auf eine Beschäftigung<br />

Sein grauer Kapuzenpulli im XXL-Format<br />

dient während der Arbeit als willkommener<br />

Rückzugspunkt. Holger, 21, ist<br />

Autist – er sucht die Abgeschiedenheit. Vor<br />

vier Jahren, als Holger in den Förderbereich<br />

der Kasseler Werkstatt kam, schlich er<br />

beim Mittagessen immer in eine einsame<br />

Ecke des großen Speisesaals. Tag für Tag.<br />

Heute dagegen setzt er sich schon mal an<br />

den Nachbartisch, Holger ist zugänglicher<br />

geworden. „In den letzten Monaten hat er<br />

große Fortschritte gemacht“, sagt Bereichsleiter<br />

Thomas Pfeiffer. Dann allerdings,<br />

wenn Konzentration gefragt ist, möchte<br />

Holger nach wie vor ganz für sich alleine<br />

sein. Befestigungsknöpfe für Autofußmatten<br />

soll er verpacken, und er tut das mit<br />

der übergroßen Kapuze auf dem Kopf, so,<br />

als wäre nichts um ihn herum, als würde<br />

er ganz in seiner eigenen Welt leben.<br />

Mehr als 100 der kleinen, schwarzen<br />

Teilchen hat er schon in die durchsichtigen<br />

Plastikhüllen getan, hat jede mit<br />

einem speziellen Gerät zugeschweißt und<br />

dann die fertigen abgelegt. „Wenn Holger<br />

will“, meint Pfeiffer, „dann kann er sehr<br />

effektiv arbeiten.“ Jetzt, in diesem Moment,<br />

da will er. Sein Gesicht ist zwar verhüllt,<br />

aber die Hände verraten ihn, verra-<br />

ten Freude und Begeisterung. Sie arbeiten<br />

schnell, zielgerichtet, genau. Ein paar Minuten<br />

später dann gar nicht mehr. Ohne<br />

Vorwarnung lässt sich Holger auf den Boden<br />

fallen, er verkrampft und schreit. An<br />

Arbeit ist erst mal nicht mehr zu denken.<br />

Holger ist kein Einzelfall. Neben ihm<br />

sitzen Erkut und Hans-Hermann, Thomas<br />

und Ilona, dazu Sabine und Marius<br />

im Rollstuhl, die hier alle Verpackungsarbeiten<br />

erledigen – wenn sie können.<br />

Insgesamt 60 Behinderte im Alter von<br />

17 bis 65 Jahren werden Pfeiffer und seine<br />

Kollegen betreut. Es sind Menschen,<br />

deren Handicaps einer ständigen individuelle<br />

Betreuung auszukommen, die<br />

aber in guten Phasen trotzdem wertvolle<br />

Arbeit leisten. „Unser Bereich liegt quasi<br />

in einer Grauzone“, sagt Pfeiffer (49).<br />

Michael Brehme (damals 21 Jahre alt und Volontär<br />

einer Nachrichtenagentur) hat mit seinem Text über<br />

den Förderbereich der Kasseler Werkstatt den Bathildisheimer<br />

Journalistenpreis 2009 gewonnen, der zum<br />

dritten Mal unter dem Motto „Selbstbestimmt leben<br />

trotz Behinderung – Rehabilitation heute“ vom Rehazentrum<br />

Bathildisheim und der HNA ausgerichtet<br />

wurde. Den preisgekrönten Text drucken wir hier ab.<br />

Kasseler Werkstatt FACETTEN 15

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