Antony Gormley - Weltkunst
Antony Gormley - Weltkunst
Antony Gormley - Weltkunst
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Ausgabe 76<br />
Heft 26<br />
4. Quartal 2006<br />
B 26079<br />
Eine Edition der<br />
Zeitverlag Beteiligungs<br />
GmbH & Co. KG<br />
Künstler<br />
Kritisches Lexikon der<br />
Gegenwartskunst<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong>
Künstler<br />
Kritisches Lexikon der<br />
Gegenwartskunst<br />
erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />
28 Künstlermonografien auf über 500<br />
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© Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />
München 2006<br />
Cover<br />
Critical Mass II, 1995<br />
Gusseisen, 60 lebensgrosse Teile<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/<br />
White Cube<br />
ISSN 0934-1730<br />
»Meine Arbeiten liegen an dem Punkt zwischen<br />
Ursprung und Werden. Zwischen Tod und Leben<br />
gibt es ein Moment der Stasis und der Stille,<br />
eine Zeit zum Nachdenken. Die Bildhauerei kann<br />
diese Zeit nutzen.«<br />
A. G. , o.J.<br />
Foto: Pete Moss/courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube
Dörte Zbikowski<br />
über <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong><br />
Wenn <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong> in Bezug zu Henry Moore oder Edvard<br />
Munch gesetzt wird2, so sagt dies nicht nur etwas über die Bedeutung<br />
des britischen Bildhauers im nationalen wie internationalen<br />
Kontext aus, sondern ist auch inhaltlich zu werten. <strong>Gormley</strong>s<br />
zentrales Thema ist der menschliche Körper, in dem sich<br />
Befindlichkeiten ausdrücken, noch ehe sie ins Bewusstsein vordringen.<br />
Mit Moore teilt er neben der Nähe von Natur und Figur<br />
das Interesse am Wechselspiel zwischen innerer und äußerer<br />
Form. <strong>Gormley</strong> setzt all dies als eine dynamische Beziehung<br />
von Raum innerhalb und außerhalb des Körpers um. Mit Munch<br />
verbindet ihn die psychologische Durchdringung von Mensch<br />
und Raum. Hier wie dort liegt der Schwerpunkt auf einer Erfassung<br />
von Empfindungen, die nicht durch erzählerische Mittel<br />
darstellbar sind. Entsprechend versteht er den menschlichen<br />
Körper als Gefühlsträger, im Gegensatz zu Objekten, die von<br />
Wissen und Denkvorgängen zeugen. Ausgehend von sich<br />
selbst, also seinem eigenen Körper und seinen eigenen Erfahrungen<br />
und Gefühlen, will er Skulpturen schaffen, die etwas<br />
über das Leben an sich erzählen. »Für mich«, so <strong>Gormley</strong>, »ist<br />
die beste Kunst diejenige, die einen beharrlich dazu bringt, sich<br />
von ihr abzuwenden und die Existenz mit Fähigkeiten zu betrachten,<br />
über die man vorher nicht verfügte.«3<br />
Bekannt geworden ist <strong>Gormley</strong> Anfang der 1980er Jahre mit<br />
seinen lebensgroßen Bleifiguren, die ebenso vertraut wie befremdlich<br />
wirken. Stehend, sitzend, liegend, kauernd, kniend,<br />
schreitend verkörpern sie menschliche Haltungen. Sie scheinen<br />
im Akt des Handelns innezuhalten oder ruhend über ihr Dasein<br />
zu reflektieren. <strong>Gormley</strong> sucht innere Befindlichkeiten darzustellen,<br />
worauf auch die Titel hinweisen. Hockende nennt er zum<br />
Beispiel ›Box (Behältnis)‹ (1983) und ›Night (Nacht)‹ (1983), einen<br />
Liegenden mit hochgestreckten Armen ›Reach (Ausstrecken/Erfassen)‹<br />
(1983/84), einen mit leicht angehobenen Armen ›Rise<br />
(Aufstehen)‹ (1983-85). Stehende sind zumeist in Bewegung erfasst,<br />
so etwa ›Address (Hinwenden/Mitteilung)‹ (1984), der<br />
leicht vorgebeugt in die Knie geht, oder ›Moment (Augenblick)‹<br />
(1985), eine Figur auf Zehenspitzen. Daneben gibt es Figuren<br />
mit überproportionierten Gliedern, so ›Field (Bereich)‹ (1984/85)<br />
mit raumgreifend ausgestreckten Armen in dreifacher Länge<br />
oder ›Tree (Baum)‹, eine stehende Figur mit einem Hals in doppelter<br />
Körperlänge, der den Kopf raumerfahrend emporhebt.<br />
Andere Arbeiten wie ›Land, Sea and Air II (Land, Meer und Luft<br />
II)‹ (1982) bestehen aus drei Figuren in unterschiedlichen Posen,<br />
wobei die drei Grundhaltungen Stehen, Knien, Kauern die drei<br />
Elemente verkörpern. Ähnlich zeigen die drei Skulpturen von<br />
›Three Places (Drei Orte, Stellungen)‹ (1983) einen Handlungsablauf.<br />
Zuweilen erzählt <strong>Gormley</strong> Geschichten, indem er Figuren mit<br />
Accessoires kombiniert. In ›Home (Haus/Zuhause)‹ (1984) liegt<br />
Mit körperlichen Mitteln von<br />
geistigen Zuständen sprechen1<br />
die Figur mit seitlich ausgestreckten Armen auf dem Rücken,<br />
nimmt also eine durchaus offene, entspannte Haltung ein, aber<br />
ihr Kopf steckt in einem kleinen Terrakotta-Haus, das gerade<br />
mal so groß ist, dass er hineinpasst. Das Haus, Sinnbild der Geborgenheit,<br />
wird hier zum Ausdruck einer klaustrophobischen<br />
Erfahrung. Das Gefühl der Angst, verstanden als Existenz- oder<br />
Lebensangst, vermittelt sich auch in anderen Figuren (›Box‹,<br />
1983; ›Untitled‹, 1983/84), wozu ihre grundsätzliche Isoliertheit,<br />
ihre Abkapselung vom Umraum entschieden beiträgt. Die Ummantelung<br />
aus Blei ist eine Hülle, die die Figur nicht nur erstarren<br />
lässt, sondern auch vor äußeren Einflüssen verschließt.<br />
Über sein Konzept sagt <strong>Gormley</strong>, es sei der »Versuch, eine<br />
Skulptur von innen heraus, unter Verwendung meines Körpers<br />
als Instrument und Material zu schaffen.«4 Allen Figuren liegt<br />
sein eigener Körper zugrunde. Er formt Teil für Teil in Gips ab,<br />
verstärkt sie mit Glasfaser und fügt sie zusammen. Durch dieses<br />
»Skelett« kann die Haltung der Figur präzise bestimmt werden.<br />
Mit getriebenen und aneinandergelöteten Bleiplatten umhüllt<br />
er sie sodann. Dieser Prozess bleibt in den Lötnähten<br />
sichtbar. Sie sind zugleich Hinweis auf die Zeitlichkeit und die<br />
Möglichkeit leichter Verschiebungen von körperlicher Haltung<br />
und Ausdrucksweise. Die Umhüllung ist eine glatte Haut in der<br />
eintönigen Anti-Farbe Grau. In der fertigen Skulptur umschließt<br />
der Bleimantel, worauf auch die Materialangaben der Skulpturen<br />
explizit verweisen, Luft. Diese ist gleichwohl als Lebensessenz<br />
zu verstehen. Zuweilen kann sie durch Löcher in Mund,<br />
Nase, Ohr oder Augen zirkulieren – oder als aufwärtsstrebende<br />
Energie entweichen – und verweist einmal mehr auf ein Innen<br />
und Außen (z.B. ›Land, Sea and Air II‹, 1982).<br />
Blei gilt seit der Antike als zauberkräftiges Metall, in den Religionen<br />
erscheint es als Wandlungssubstanz, und in der Alchemie<br />
kommt ihm die Bedeutung einer materia prima zu. In der Kunst<br />
wurde Blei seit den 1960er Jahren vielfach verwendet (Jannis Kounellis,<br />
Joseph Beuys), doch erst <strong>Gormley</strong> hat es zu seinem wesentlichen<br />
Material gemacht. »Ich verwende Blei aus folgenden<br />
Gründen: es isoliert und ist leicht zu bearbeiten, obwohl es ein<br />
sehr dichtes Metall ist. Es hat die Fähigkeit, eine einmal angenommene<br />
Form zu behalten und ist für das Auge und radioaktive<br />
Strahlen undurchdringlich.«5 Das Material schmiegt sich der Körperform<br />
an, nimmt ihr aber auch ihre Individualität. Auf Feingliederungen<br />
wie Gesichtszüge, Finger oder Zehen kann <strong>Gormley</strong><br />
verzichten, da die Pose den Ausdruck bestimmt und ohnehin keine<br />
Assoziationen an bestimmte Personen heraufbeschworen<br />
werden sollen. Ablenkende Details werden geglättet, es sei denn,<br />
es kommt dem Künstler gerade auf das herausfordernde Herausstrecken<br />
der Zunge an wie in der späteren Arbeit ›Address (Hinwenden/Mitteilung)‹<br />
von 1984. Grundsätzlich aber wird die Figur<br />
verallgemeinert, anonymisiert, und erhält – nicht zuletzt auch<br />
3
1<br />
2<br />
4
3 4<br />
5<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
1 Room, 1980<br />
Socken, Schuhe, Unterhose, Hose, Hemd,<br />
Pullover, Weste, Jacke, Holz<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
2 Bed, 1980-81<br />
Brot, Wachs<br />
28 x 220 x 168 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
3 Natural Selection, 1981<br />
Werkzeuge aus Blei, Früchte, Waffen, Gemüse,<br />
verschiedene Gegenstände<br />
Länge ca. 10 m<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
4 Three Bodies, 1981<br />
Blei, Fiberglas, Erde<br />
Felsen (96 x 60 x 54 cm), Kürbis (18 x 193 x 60 cm),<br />
Hai (18 x 193 x 60 cm)<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
5 Learning to Think, 1991<br />
Blei, Fiberglas, Luft<br />
5 Figuren: je 173 x 56 x 31 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
5
über die lastende Schwere des Materials – eine geheimnisvoll<br />
melancholische Aura. Frei von Bindungen an Zeit, Ort und kulturell-gesellschaftliche<br />
Maßgaben – sie zeigt sich stets nackt und<br />
bloß – verbindet sich der Ausdruck des Essentiellen mit dem des<br />
Unnahbaren, der des meditativ Sinnenden mit dem der leblosen<br />
Hülle. <strong>Gormley</strong>s Figuren zeigen nicht das Selbst des Künstlers,<br />
sondern das Negativ einer körperlichen Präsenz und seiner Befindlichkeiten.<br />
Und, das ihnen immanente Prinzip des Dualistischen<br />
weiterführend, lassen sie sich als Zustand zwischen Materie<br />
und Geist (Teilhard de Chardin) begreifen.<br />
Reflexionen über das Leben<br />
Vorangegangen waren Arbeiten, für die <strong>Gormley</strong> Gegenstände<br />
mit Blei überformte. So sind in den drei Teilen von ›Fruits of the<br />
Earth (Früchte der Erde)‹ (1978/79) eine Pistole, eine Flasche<br />
und eine Machete eingeschlossen. Dies ist äußerlich durchaus<br />
noch nachvollziehbar, auch wenn sich ihre Formen unter den<br />
vielen Bleischichten anzugleichen beginnen. Doch dass die Flasche<br />
Wein enthält und der Revolver geladen ist, lässt sich nicht<br />
erahnen, ist aber für die Interpretation der Arbeit wesentlich. Sie<br />
kann entweder als Metapher für das Überleben im Dschungel<br />
der Kunst gelesen werden oder, wenn man die Formen als<br />
Früchte wahrnimmt, die von den Gefahren der Zivilisation in<br />
ihrem Inneren bedroht werden, unter dem großen Thema der<br />
Beziehung zwischen Kultur und Natur.<br />
Dass die drei gleichen Bleikörper von ›Land, Sea and Air I<br />
(Land, Meer und Luft I)‹, (1977-79; Abb. 16) die drei Elemente<br />
Erde/Stein, Wasser und Luft – Grundlage des Schöpfungsstoffes<br />
Lehm – in sich bergen, muss der Betrachter dem Künstler<br />
glauben. Der Stein hat die eiförmige Gestalt auch der anderen<br />
beiden Bleikörper bestimmt. Für <strong>Gormley</strong> ist dies eine logische<br />
Schlussfolgerung, da Wasser und Luft seine Erscheinung geprägt<br />
haben. Luft gehört fortan auch zum Material der Bleifiguren.<br />
In ›Three Bodies (Drei Körper)‹, (1981; Abb. 4) sind mit Hai,<br />
Felsen und Kürbis Zeichen für die Lebensformen Tier, Mineral<br />
und Pflanze gesetzt, doch das Innere dieser Umhüllungen ist<br />
mit Erde gefüllt, einer Substanz also, die alle drei als eine Art<br />
Urmaterie verbindet. Ist das Gemeinsame wesentlicher als das,<br />
was sie unterscheidet? <strong>Gormley</strong> konfrontiert uns mit der Polarität<br />
zwischen dem wesenhaften Inneren und dem formgebenden,<br />
gleichsam oberflächlichen Äußeren und regt so zum Nachdenken<br />
über die Beziehung von Natur und Kultur an. Der<br />
Bleimantel kann einerseits als Zeichen für die Beherrschung der<br />
Natur verstanden werden, denn durch ihn wird ungeformte Erde<br />
– in ›Land, Sea and Air‹ sind es Wasser und Luft‹ – einem formgebenden<br />
Willen unterworfen. Er kann andererseits aber auch<br />
als Schutz vor negativen Einwirkungen wie Strahlung verstanden<br />
werden. Bewahrung der Lebenssubstanzen ist ein Anliegen<br />
des ökologisch denkenden <strong>Gormley</strong>.<br />
6<br />
Seinen eigenen Körper setzte er erstmals 1980 bei der Arbeit<br />
›Bed (Bett)‹ ein. In einem achtundzwanzig Zentimeter hohen,<br />
wachsbeschichteten Podest aus Toastbrotscheiben sind die Negativformen<br />
seines Körpers zu sehen, die Vorderseite liegt parallel<br />
neben der Rückseite. ›Bed‹ entstand jedoch nicht als Körperabdruck,<br />
sondern in mühsamem Gestaltungsprozess: <strong>Gormley</strong><br />
hat die Formen aus dem Brot herausgegessen. Dahinter verbirgt<br />
sich ein vielschichtiges Konzept. Der Körper ist auf Nahrung angewiesen,<br />
er ist fähig, aus der Materie herauszuwachsen und von<br />
der physischen in eine geistige Präsenz zu wachsen. Die christliche<br />
Vorstellung »Dieses Brot ist mein Leib« ist wörtlich genommen.<br />
Doch <strong>Gormley</strong>s Spur von Leben, Nahrung und Wachstum<br />
impliziert auch eine Spur von Vergänglichkeit, die die Skulptur<br />
einmal mehr an Grabmalskunst gemahnen lässt. Das hier geläufige<br />
Hochrelief überträgt er in die Negativform des Tiefreliefs. Bei<br />
<strong>Gormley</strong> ist das Grabmal einem schnellen Verfall ausgeliefert.<br />
Kann sich der Geist nur so vom Körper befreien?<br />
Auch für ›Room (Raum)‹ (1978; Abb. 1) ging <strong>Gormley</strong> von sich<br />
selbst aus, auch hier wird Zerstörung zur Neuschöpfung. Er zerteilte<br />
das, was er anhatte – Socken, Hose, Shirt, Pullover,<br />
Hemd, Jacke, Schuhe – in schmale Streifen, knotete diese aneinander<br />
und spannte die Schnur so um die vier im Raum aufgestellten<br />
Pfosten, dass eine zaunartige Begrenzung entstand.<br />
Aufgelöst und nicht mehr als seine Kleidung erkennbar, bleibt<br />
der Künstler an diesem markierten Ort dennoch präsent.<br />
Um 1980 gestaltete <strong>Gormley</strong> häufig mit vorgefundenen Materialien,<br />
beginnend 1978 mit ›Breadline (Brotlinie)‹. Der Verfall des<br />
Brotes, dessen Vergänglichkeit dem gefestigten Zustand der<br />
Bleiumhüllungen spannungsvoll zur Seite steht, ist Teil seines<br />
Konzeptes. Während er hier auf Künstler wie Dieter Roth referiert,<br />
kommen bei Arbeiten wie ›Flat Tree (Flacher Baum)‹ (1978)<br />
Richard Long und Carl Andre in den Sinn: ein Baumstamm ist in<br />
dünne Scheiben zerlegt und spiralförmig auf dem Boden ausgelegt<br />
– der Baum wird zu einer »Skulptur als Platz« (Andre). Mit<br />
der Blei-Arbeit ›Seed IV (Samen)‹ (1989/93) wiederum bezieht<br />
sich der kunsthistorisch bewanderte <strong>Gormley</strong> auf die Haufen<br />
Rainer Ruthenbecks.<br />
Körper und Geist<br />
All diese Arbeiten sind entweder von der Erfahrung des eigenen<br />
Körpers geprägt, wobei die Beziehung von Körper und Geist im<br />
Vordergrund steht, oder zielen auf ein Ordnen der umgebenden<br />
Natur. Sie sind von einem Kunstverständnis geleitet, das den<br />
Herstellungsprozess in Analogie zum Naturprozess miteinbezieht.<br />
Body- und Land-Art finden einen Widerhall.<br />
Das Abnehmen der eigenen Körperformen mit gipsgetränkter<br />
Gaze erinnert ferner an die altägyptische Mumifizierung, die aus<br />
dem Bedürfnis heraus entwickelt wurde, den Körper als Sitz des<br />
Geistes zu erhalten. Einmal mehr kommt die Dualität von Körper
und Geist in <strong>Gormley</strong>s Arbeiten zum Tragen. Und nicht nur, weil<br />
der langwierige Vorgang der Gipsformung einen ruhigen Körper<br />
erfordert, ist diesem Vorgang etwas Meditatives zu eigen. Das<br />
Verbergen und Wieder-in-Erscheinung-Treten des Körpers, das<br />
Zurücklassen einer leeren, gleichwohl aber luft- und vielleicht<br />
geistgefüllten Hülle steht dabei in Analogie zur Schaffung neuer<br />
Bewusstseinszustände. Hier macht sich <strong>Gormley</strong>s eingehende<br />
Auseinandersetzung mit dem Buddhismus bemerkbar, den er<br />
unmittelbar studierte, als er, noch bevor er künstlerisch tätig<br />
wurde, drei Jahre in Indien lebte. Die Vipassana-Meditation, mit<br />
der er sich besonders eingehend befasste, versteht den Körper<br />
als Kanal der Bewusstwerdung von Wahrnehmungen und Gefühlen.<br />
Dabei verdrängt die Konzentration auf eine Wahrnehmung<br />
im gegenwärtigen Augenblick die kulturell gefestigte Einbettung<br />
in ein größeres Ganzes. Allmählich entwickelt der<br />
Meditierende eine zeitlose Beziehung zu seinem Körper als dem<br />
Ort des Geschehens, Gefühle der Dematerialisierung stellen sich<br />
ein. Das Verlangen des Geistes, den Körper zu transzendieren,<br />
gibt den Körper folglich dem Verfall preis – oder läßt ihn wie bei<br />
<strong>Gormley</strong> als leere Hülle zurück.<br />
Grundsätzlich gilt es, den Kreislauf der Existenzen zu durchbrechen,<br />
indem man ihn sich unablässig bewusst macht. Dies beginnt<br />
mit der Betrachtung des Körpers, wie er steht, wie er geht,<br />
wie er liegt, wie er sitzt, wie er zusammengesetzt ist, wie er entsteht<br />
und wie er schließlich zerfällt. Dann folgt die Betrachtung<br />
der Gefühle, der freudigen, der schmerzlichen, der körperlichen<br />
und der seelischen, dann die der Gesinnung, bis sich die Betrachtung<br />
letztlich in transzendentaler Stille verflüchtigt. Die körperliche<br />
Erfahrung ist auch bei <strong>Gormley</strong> Ausgangspunkt für die<br />
Wahrnehmung geistiger Werte: Sie löst Gefühle aus. So verweist<br />
er mit seinen Figuren auf die Dualität von zeitlich gebundenem<br />
Körper und freiem Geist. Figuren <strong>Gormley</strong>s, die mit angewinkelten,<br />
armumschlungenen Beinen auf dem Boden hocken und den<br />
Kopf gesenkt halten, vermitteln jene Versenkung in sich selbst<br />
vielleicht am unmittelbarsten (z.B. ›Box [Behältnis]‹, 1983; ›Night<br />
[Nacht]‹, 1983), aber auch die vollkommen nach innen gerichtete<br />
Aufmerksamkeit eines stramm Stehenden (›Learning to<br />
See‹,1993) oder der gesenkte Kopf eines Stehenden mit eng an<br />
den Körper gelegten Armen (z.B. ›Peer [Beobachten]‹, 1983/84)<br />
sind nicht weniger eindringliche Bilder der Meditation.<br />
So wie sich die verschiedenen Typen der Buddhafigur lediglich<br />
in der Handhaltung unterscheiden, so ist auch <strong>Gormley</strong> an einer<br />
äußerlichen Uniformität seiner Figuren interessiert. Zwar liegt allen<br />
sein eigener Körper zugrunde und alle haben eine gleiche<br />
Bleiumhüllung, aber dennoch behauptet eine jede ihren eigenen<br />
Charakter. Sie sprechen ähnlich wie die Buddhafiguren durch<br />
ihren stillen, reglosen Körper. Dies ist möglich, weil es Bilder<br />
geistig-meditativer Konzentration sind. Sie sind auf sich selbst<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
bezogen. Und auch wenn die Figuren keinen Kontakt zur Umwelt<br />
oder zum Betrachter aufnehmen, behaupten sie den Raum,<br />
der sie umgibt, durch ihre Stille. Diese ist zugleich eine Aufforderung,<br />
»besetzt zu werden«. Nach <strong>Gormley</strong>s Worten, so führt<br />
Sandy Nairne aus, sind sie »erst dann vollständig, wenn sie bewohnt<br />
werden wie ein Haus, nur daß die Bewohner in diesem<br />
Falle aus Ideen und Gedanken bestehen.«6 Der Betrachter soll<br />
gleichsam in sie eindringen. Er ist aufgefordert, sich in die Empfindungen<br />
einzufühlen, die der Künstler bei der Schaffung seines<br />
Werkes hatte. Er soll sich mit den Figuren identifizieren.<br />
Die Bleifiguren, deren Gesten auf Raumerfassung verweisen, die<br />
eine mit überlängtem Hals (›Tree [Baum]‹, 1984), eine andere mit<br />
überlangen Armen (›Field [Bereich]‹, 1984/85) leiten eine neue<br />
Werkgruppe ein. Sie gehen auf Zeichnungen zurück. Sie besitzen,<br />
so <strong>Gormley</strong>, »eine körperliche Glaubhaftigkeit, zusammen<br />
mit Erinnerungen an oder Reflexionen über bestimmte vorhandene<br />
Gefühle. Um das Leben im Inneren zu konkretisieren, kann<br />
man sich nicht in klassischen Proportionen bewegen.«7 Gefühle<br />
und Erfahrungen werden Bild. Gerade weil die Proportionen<br />
übersteigert sind, erreicht <strong>Gormley</strong> eine Eindringlichkeit, so als<br />
könne man es nicht deutlicher sagen. Der äußerlich entfremdete<br />
Körper wird zum Hilfsmittel, er ist einmal mehr Hülle und Träger<br />
von geistig inneren Werten.<br />
›Mind (Idee/Bewußtseinszustand)‹ (1984) ist ein formloses, wolkenartiges<br />
Bleigebilde, das an der Decke hängt. Das Schwere<br />
steigt gleichsam zum höchsten Punkt auf, die Skulptur hat keine<br />
Gestalt. Regeln werden umgekehrt, wie es nur in Traumwelten<br />
möglich ist, die Phantasie wird herausgefordert. Ist es ein Riesenhirn?<br />
Dann wäre der Geist hier statt im Körper im Raum gefangen.<br />
Auch Figuren entstehen nun, die an den Wänden oder<br />
an der Decke hängen, in diese gleichsam hineindringen (z.B.<br />
›Learning to think [Denken lernen]‹, 1991; Abb. 5), diese besetzen<br />
(z.B. ›Pore‹, 1988) oder so horizontal über dem Boden<br />
schweben (z.B. ›Edge‹, 1985). Schwerelosigkeit, aber auch das<br />
Raum-Zeit-Gefüge sind aufgehoben, alles ist möglich.<br />
Arbeiten in Terrakotta<br />
1984 begann <strong>Gormley</strong>, auch in Terrakotta zu arbeiten. Zunächst<br />
fügte er Bleifiguren Tonobjekte als Accessoires hinzu. Dies verleiht<br />
den Arbeiten etwas sehr Erzählerisches. Der Kopf eines<br />
Liegenden steckt in einem kleinen Terrakottahaus (›Home<br />
[Haus/Zuhause]‹, 1984), eine Terrakottafigur hockt, als sei sie<br />
diesem entsprungen, auf dem Kopf eines Bleimannes, vor dem<br />
sich ein Schatten aus Blei erstreckt (›The Beginning, the Middle,<br />
the End‹, 1983/84), eine liegende Bleifigur wird mit einigen Dutzend<br />
etwa zwanzig Zentimeter kleinen Terrakottafiguren konfrontiert,<br />
die an ihm vorbeimarschieren oder als deren Form gewordenes<br />
Bewusstsein aus ihm entspringen (›Man asleep<br />
[Schlafender Mensch]‹, 1985), Bleitieren wie Schildkröte und<br />
7
6 7<br />
8<br />
8<br />
6 Body, 1991/93<br />
Gusseisen, Luft<br />
229 x 259 x 219 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
7 Fruit, 1991/93<br />
Gusseisen, Luft<br />
104 x 125 x 120 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
8 Earth, 1991/93<br />
Gusseisen, Luft<br />
260 x 230 x 290 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
9 Field for the British Isles, 1993<br />
Terracotta, ca. 40.000 verschieden grosse Teile<br />
Arts Council of England<br />
10 Allotment II, 1996<br />
Stahlbeton, 300 lebensgrosse Teile, die von den Maßen der<br />
Einwohner von Malmö im Alter von 1,5 und 90 Jahren genommen<br />
wurden<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube
9<br />
10<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
9
Krokodil sind kleine Terrakottahäuser zugeordnet (›Under the<br />
Sun [Unter der Sonne]‹, 1983-85). Es sind dies unwirkliche Situationen,<br />
vielleicht »Träume«8, auf alle Fälle aber erneut Metaphern<br />
für Befindlichkeiten.<br />
<strong>Gormley</strong> schätzt Terrakotta als Gegenpol zum Material Blei. Die<br />
Wärme der Erde steht der Kälte des Metalls, das Handgeformte<br />
einer Formung mit technischem Hilfsmittel gegenüber, wobei<br />
aber nicht vergessen werden darf, dass die Bleifiguren als vermittelte<br />
Abgüsse von Mensch, Tier und Natur ohnehin diese<br />
Dualität in sich tragen. Die Terrakotta-Arbeiten implizieren einen<br />
Verweis auf elementare und organische Prozesse der Veränderung,<br />
des Zerfalls und der Erneuerung. »Ich mag Terrakotta«, so<br />
<strong>Gormley</strong>, »weil es Schlamm ist. Mir scheint, daß es für einen<br />
Bildhauer eine saubere Arbeit ist, wenn er versucht, Erde zu einem<br />
Gefühlsträger zu machen.«9 <strong>Gormley</strong> bezieht sich auf Terrakotta<br />
als der Urmaterie, die seit jeher das ursprünglichste aller<br />
schöpferischen Materialien ist. In ›Work (Werk/Arbeiten)‹ (1984)<br />
reflektiert er die Rolle des autonomen Künstlers: Eine stehende<br />
Bleifigur hält in den Händen seiner seitlich ausgestreckten Arme<br />
jeweils einen Klumpen Lehm, Symbol für den Stoff, aus dem<br />
Skulpturen geformt werden. In seiner starren Haltung aber präsentiert<br />
er sie so, als warte er auf die göttliche Eingebung. Woher<br />
kommen Kraft und Inspiration zur Schöpfung?<br />
In Terrakotta lässt sich ferner die »Zerbrechlichkeit unserer<br />
Welt« (<strong>Gormley</strong>) und die Position des Menschen zwischen<br />
Machtanspruch und Ausgeliefertheit ausdrücken. ›Field (Feld)‹,<br />
1991 erstmals ausgestellt in der Salvatore Ala Gallery in New<br />
York10, umfasst 42000 kleine Terrakotta-Figuren. Die 7,5 bis<br />
maximal 25 cm großen Körper nehmen den gesamten Ausstellungsraum<br />
oder je nach örtlicher Gegebenheit auch eine Raumfolge<br />
ein. Alle sind zum Eingang ausgerichtet. Lückenlos aufgestellt,<br />
verwehren sie dem Betrachter den Zutritt. Ihre Macht<br />
entfalten sie durch die Masse, in der sie auftreten, und durch<br />
den Blick, mit dem sie zu uns emporsehen. Die schwarzen Augenhöhlen,<br />
für <strong>Gormley</strong> Ausdruck des Bewußtseins, verleihen<br />
diesen rudimentären, kaum geformten Gestalten eine besondere<br />
Lebendigkeit. Man meint, Blicke stummer Erwartung und verhaltener<br />
Beschwörung wahrzunehmen. Und selbst wenn sich<br />
der Betrachter überlebensgroß fühlen mag, diesen an sich verletzlichen<br />
und hilflos gleichsam flehenden Figuren scheint er<br />
ausgeliefert. <strong>Gormley</strong> hat sie durch eine Ziegelsteinbrenner-Familie<br />
im mexikanischen Cholula nach einem vorgegebenen<br />
Schema fertigen lassen. Handgeformt ähneln sie einander, ohne<br />
jemals identisch zu sein. Unterschiede in Höhe, Breite und in<br />
den Augenlöchern, aber auch in der Oberflächenfärbung, die je<br />
nachdem, wie nah die Figur im Brennofen am Feuer gelegen ist,<br />
variiert, verleihen ihnen eine gewisse Individualität. Dies hebt eine<br />
jede aus der Masse hervor, in der sie gleichwohl untergeht,<br />
10<br />
zumal nur die Figuren in den vordersten Reihen wirklich betrachtet<br />
werden können. Es ist, als ob die Menschheit selbst in<br />
ihrer Unerfassbarkeit – und auch in ihrer Unvollkommenheit –<br />
vor uns aufgebaut wäre.<br />
Dicht an dicht und klein am Boden, verkörpern sie geradezu<br />
was es heißt, die Erde zu formen. 1997 in der Kunsthalle zu Kiel<br />
gezeigt (›European Field‹), war die Arbeit einer Installation zur<br />
Seite gestellt, bei der der Boden mehrerer Räume ebenfalls auf<br />
23 cm Höhe vollständig bedeckt war, mit 45m2 Schlamm und<br />
15.000 Litern Seewasser (›Host [Masse/Wirt]‹, 1997). Geformte<br />
und ungeformte Erde entfalteten gleichermaßen ihre ästhetischen<br />
Qualitäten und verwiesen auf das Material, aus dem<br />
gemäß der Schöpfungsmythen der Mensch geschaffen sei und<br />
in das er nach dem Tod wieder zurückgehen wird.<br />
Zwar hatte <strong>Gormley</strong> zuvor schon Arbeiten mit vielen kleinen Figuren<br />
geschaffen (z.B. ›Man asleep‹, 1985), doch die unüberschaubare<br />
Masse der Figuren in ›Field‹ ist ebenso neu wie der<br />
Verzicht auf eine zugeordnete Bleifigur, also auf seinen eigenen<br />
Körper als Teil der Installation. Diesen Platz nimmt nun der Betrachter<br />
ein.<br />
Weitere Menschenmengen<br />
Da <strong>Gormley</strong> stets daran interessiert war, seine Arbeiten als Bestandteil<br />
des Lebens zu präsentieren, entspricht ihm das Arbeiten<br />
im öffentlichen Raum. Der Betrachter wird weitaus unmittelbarer<br />
konfrontiert, wenn er unvermittelt auf die Kunst trifft. Die<br />
zwei Meter großen, rostigen Männerfiguren aus Eisen, die er<br />
nun auftreten lässt, standen etwa 1997 in Köln sowohl in den<br />
Räumen des Kunstvereins als auch im städtischen Raum der<br />
Straße davor, einer lag auf dem Gehweg. Sie zeugen ähnlich<br />
wie die Bleifiguren von ihrem Herstellungsprozess. Die Gussstellen<br />
an Gesäss, Schultern, Brust sind nicht entfernt worden.<br />
Ebenso wie die Bleifiguren sind es formal reduzierte Skulpturen,<br />
die elementare menschliche Haltungen verkörpern. Die Gesichter<br />
sind identitätslos und von daher offen für die Projektionen<br />
des Betrachters, der als ein Gegenüber Teil von <strong>Gormley</strong>s Konzept<br />
ist. Für den Künstler ist auch hier die Motivation, dass seine<br />
Skulpturen Gefühle auslösen und anregen können.<br />
Ebenfalls 1997 hat er hundert Eisenfiguren bei Cuxhaven ins<br />
Meer gestellt (›Another Place [Ein anderer Ort]‹, 1997; Abb. 11).<br />
Im seichten Ufer bekommen sie nasse Füße, und sie wagen sich<br />
in immer tieferes Wasser, alle in der gleichen aufrechten Haltung,<br />
mit dem Gesicht zum Horizont, bis von den am weitesten entfernten<br />
Figuren nur noch der Kopf aus dem Wasser ragt. Und<br />
auch wenn die Figuren mit großem Abstand zueinander stehen,<br />
stellt sich der Eindruck ein, als gingen Massen ins Meer.<br />
In (›Critical Mass [Kritische Masse]‹, 1998; Cover) zeigt <strong>Gormley</strong><br />
eine unüberschaubare Fülle von sechzig dunklen Eisenkörpern,<br />
die in den unterschiedlichsten Posen von Kauern, Kriechen, Sit-
zen, Stehen verharren. Manche Figuren sind aufgehängt, auch<br />
kopfunter. Die erhängten oder leblos daniederliegenden Körper<br />
sind so angeordnet, dass, geleitet auch durch den Titel, Assoziationen<br />
an einen Massenmord oder eine tödliche Katastrophe aufkommen.<br />
Es ist nicht mehr das bewegte Flehen der urtümlichen<br />
Masse im Werden wie in ›Field‹, sondern das Ende von menschengleichen<br />
Figuren. <strong>Gormley</strong> zielt auf unsere Betroffenheit.<br />
Eine weitere Begegnung mit Masse inszeniert <strong>Gormley</strong> mit (›Allotment<br />
II [Bestimmung]‹, 1996; Abb. 10). Hier stehen uns Betonkuben<br />
mit kopfähnlichen Aufsätzen gegenüber. <strong>Gormley</strong>, der<br />
Architektur als Hülle für den Menschen versteht, hat auch in ›Allotment<br />
II (Bestimmung)‹ den menschlichen Körper im Sinn. Vorangegangen<br />
war 1990 ›Flesh (Fleisch)‹, eine Kreuzform aus Beton,<br />
der sein Körperabguss mit ausgestreckten Armen<br />
zugrundeliegt. Für ›Allotment II (Bestimmung)‹ hat <strong>Gormley</strong> von<br />
dreihundert Menschen die Maße genommen, um nach einem<br />
stets gleichen Schema sehr individuelle Abstraktionen zu schaffen.<br />
Die unterschiedliche Höhe der Betonklötze, in die in exakter<br />
Position die Körperöffnungen eingelassen sind, verleiht ihnen Individualität.<br />
Dicht an dicht aufgestellt, nehmen wir an der zu Stelen<br />
gewordenen Masse eine verhaltene Lebendigkeit wahr.<br />
Stumm gemahnt sie an das uniform-anonyme Leben.<br />
Das Innere<br />
Für ›Sieve (Sieb)‹ (1996/97) formte <strong>Gormley</strong> mit einem 4 mm starken<br />
Metalldraht einen Körper und umhüllte diese Form auf gleiche<br />
Weise. Man könnte meinen, <strong>Gormley</strong> habe die Linien einer Konstruktionszeichnung<br />
in eine Skulptur übertragen. Das transparente<br />
Gebilde vermittelt, an der Decke aufgehängt, eine schwebende<br />
Leichtigkeit. Der Körper tritt hinter dem Gefühl zurück.<br />
Mit der Werkgruppe der eisernen ›Insiders‹ kehrt <strong>Gormley</strong> 1998<br />
erneut zu seinem eigenen Körper als Maß seiner Skulpturen<br />
zurück. Hier interessiert ihn die Innenform, das Gerüst, das die<br />
Außenform prägt. Doch die Figuren wirken nicht skelettartig,<br />
sondern reduziert, wie abgemagert. Sie erinnern an die Figurendarstellungen<br />
afrikanischer Felsmalereien. Ein »Insider«, so<br />
<strong>Gormley</strong>, »is to the body what memory is to consciousness:<br />
a kind of residue, something that is left behind. It is a core rather<br />
than a skeleton. The idea is that the pieces carry in concentrated<br />
form the trace of the body and its passage through life. This<br />
has a direct relationship to pain.«11<br />
Mit Stäben aus Stahl, von denen er unzählige zu einer Skulptur<br />
zusammenfügt, arbeitet <strong>Gormley</strong> erstmals in der Werkgruppe<br />
›Quantum Cloud (Quantenwolke)‹ (1999-2002). Im Inneren dieser<br />
überbordenden Gebilde verdichtet sich die Stahlwolke, während<br />
die äußeren Stäbe sie zu umtanzen scheinen. Man fühlt sich an<br />
das Experiment mit dem Magneten erinnert, der Eisenspäne um<br />
sich schart. Der Magnet ist bei <strong>Gormley</strong> wiederum ein menschlicher<br />
Körper. Ausgangspunkt ist also auch für ›Quantum Cloud‹<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
die Gussform eines Menschen, nun dicht gefüllt mit den Stäben.<br />
In einem zweiten Arbeitsschritt wird die Körperform mit zahlreichen<br />
weiteren Stäben verunklärt. Der Körper hat keine klaren<br />
Grenzen mehr.<br />
Dieses Konzept setzt <strong>Gormley</strong> in der Werkgruppe (›Domain Field‹,<br />
2003; Abb. 13) fort. 287 Einwohner von Newcastle-Gateshead im<br />
Alter von zwei bis vierundachztig Jahren haben sich für diese Arbeit<br />
abformen lassen. Wir nehmen ihre Individualität wahr, auch<br />
wenn <strong>Gormley</strong> die Körper mit locker aneinandergefügten Stäben<br />
bezeichnet, ohne einen festen Umriss als Hülle zu geben. In dieser<br />
Offenheit zeigt sich der Körper in seiner Verletzbarkeit. Das<br />
energiegeladene Innere hat keinen Halt, der Körper scheint sich<br />
aufzulösen. Gefühle der Dematerialisierung hervorzurufen, ist eine<br />
Stufe der buddhistischen Meditation. Das Verlangen des Geistes,<br />
den Körper zu transzendieren, scheint Bild geworden. Der Schritt<br />
zu den atmenden Räumen ist nur allzu konsequent (›Breathing<br />
Room I [Atmender Raum]‹, 2006; Abb. 15).<br />
Die Autorin ist Kuratorin an der Kunsthalle zu Kiel.<br />
Anmerkungen<br />
1 Der Titel ist in Anlehnung an ein Zitat von <strong>Gormley</strong><br />
gewählt (<strong>Gormley</strong> im Gespräch mit Paul Kopocek,<br />
in: Aspects, 25, Winter 1983/1984).<br />
2 Henry Moore. Epoche und Echo. Englische Bildhauerei<br />
im 20. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Kunsthalle<br />
Würth, Schwäbisch Hall, 2005; Munch revisited.<br />
Edvard Munch und die heutige Kunst,<br />
hrsg. v. Rosemarie E. Pahlke, Ausst.-Kat. Museum<br />
am Ostwall, Dortmund, 2005.<br />
3 <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Gespräch mit Monika Theweleit-Kubale<br />
und Klaus Theweleit, 30. Januar<br />
1998, zit. aus: Gormely, Ausst.-Kat. Kunsthalle<br />
zu Kiel, 1999, S. 34.<br />
4 Zit. nach: <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Ausst.-Kat. Malmö<br />
Konsthall, Tate Liverpool, Irisch Museum of Modern<br />
Art, 1993/1994, S. 19-20.<br />
5 <strong>Gormley</strong>, in: Objects and Sculpture, Ausst.-Kat.<br />
Arnolfini Bristol und ICA London 1981/1982,<br />
S. 18 (zit. nach: <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Ausst.-Kat.<br />
Städtische Galerie Regensburg und Frankfurter<br />
Kunstverein 1985, S. 55.<br />
6 Sandy Nairne, Der Stoff, aus dem die Träume<br />
gemacht werden, in: <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Ausst.-<br />
Kat. Museen der Stadt Regensburg, Städtische<br />
Galerie, 1985, S. 57.<br />
7 <strong>Gormley</strong>, Interview durch Sandy Nairne,<br />
14.3.1985, zit. nach: Nairne, 1985, S. 59.<br />
8 Vgl. <strong>Gormley</strong>: »[...] und doch bezieht sie sich auf<br />
den Traum. «Zit. nach Nairne 1985, S. 63.<br />
9 <strong>Gormley</strong>, zit. nach Nairne 1985, S. 61.<br />
10 Anschließend: The Old City Jail, Charleston<br />
(1991), The Modern Art Museum of Fort Woth<br />
(1991), The Centro Cultural / Arte Contemporáneo,<br />
Mexico City (1992), The Museum of Contemporary<br />
Art, San Diego (1992), The Corcoran<br />
Gallery of Art, Washington (1993), The Montreal<br />
Museum of Fine Arts (1993). Vgl. <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>.<br />
Field, The Montreal Museum of Fine Arts,<br />
1993.<br />
11 Zit. nach: Anthony <strong>Gormley</strong>, Ausst.-Kat. Centro<br />
Calego de Arte Contemporánea, 2002, S. 86.<br />
11
11 Another Place, 1997<br />
Gusseisen,100 Teile<br />
189 x 53 x 29 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
12<br />
12 Drawn, 2000<br />
Gusseisen, 8 Teile<br />
je 154 x 133 x 187 cm, 630 kg schwer<br />
courtesy der Künstler und<br />
Jay Jopling/White Cube<br />
Installation im Mito Art Tower, Japan
13 Domain Field, 2003<br />
Rostfreie Stahlbarren (4.74 x 4.76 mm), 287 Teile, die von den<br />
Körperformen der Einwohner von Newcatsle-Gateshed im Alter<br />
zwischen 2,5 und 84 Jahren genommen wurden.<br />
BALTIC Centre for Contemporary Art, Gateshead<br />
14 Clearing I, 2004<br />
Aluminiumrohre (12,7 x 12,7 mm) in einer Länge von 10 km.<br />
White Cube Gallery, London<br />
15 Breathing Room I, 2006<br />
Aluminiumrohr (25 x 25 mm), Phosphor H15,<br />
Plastikzapfen (500 x 1000 x 780 cm)<br />
Ropac Galerie<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
13
»Im Moment beschäftige ich mich damit, wie es sich anfühlt, ein<br />
Mensch zu sein. Ein Bild zu finden, das meinen inneren Zuständen<br />
entspricht, ihnen nahe kommt. Mein Körper ist die direkteste<br />
Erfahrung von Materie für mich. Ich nutze diese Erfahrung<br />
zur Bequemlichkeit und zur Genauigkeit. Ich kann sie von innen<br />
wie von außen steuern. Ich möchte für die Skulptur eine Ebene<br />
der menschlichen Erfahrung zurückgewinnen, die lange Zeit verborgen<br />
war. Das hat mit ganz einfachen Dingen zu tun, etwa,<br />
wie es sich anfühlt zu schauen und etwas zu sehen, zu frieren<br />
oder Angst zu haben. Oder wie es ist, in völliger Stille zu verharren<br />
und nur darauf zu achten, wie sich die Luft um den Körper<br />
bewegt.«<br />
»Ich möchte, dass meine Arbeit das Spezielle vermeidet, so<br />
dass es von jedem eingesetzt werden kann, der sie betrachtet.«<br />
»Meine Arbeit soll ein Vehikel sein. In meinen Augen setzt Skulptur<br />
physische Mittel ein, um über das Geistige zu sprechen –<br />
Gewicht, um über Leichtigkeit zu sprechen, Licht, um auf Dunkelheit<br />
zu verweisen. Optische Mittel, um die Dinge zu erkennen,<br />
die nicht gesehen werden können.«<br />
»Dinge eignen sich, die Welt zu begreifen, weil sie in der Welt<br />
existieren. Der Körper eignet sich, Erfahrung sichtbar zu machen,<br />
weil ich in ihm existiere.«<br />
»Das Element der Zeit, die der Betrachter aufwendet, umfaßt<br />
Reflexion. Die Arbeit verkörpert einen Zustand zwischen Herkunft<br />
und Werden. Der Betrachter wird zum Teil des Werks, wird<br />
in gewisser Weise das Werk selbst – indem er in areflexivem Tun<br />
das Werk auf die Welt zurückführt.«<br />
»...Ich empfinde meine Existenz als eine Art Raumerforschung.<br />
Ich benütze meinen eigenen Körper als das erste Material, als<br />
ein Werkzeug, als ein Instrument dieser Erkundung – und als ein<br />
Subjekt. Aber ich benütze meinen Körper, weil es der einzige<br />
Körper ist, den ich belebe. Er ist das Nahste der materiellen Welt<br />
zu meinem Bewusstsein. Nicht weil er etwas Besonderes wäre,<br />
er ist einfach da, er ist das Einzige, mit dem ich aus einem Freiheitsaxiom<br />
heraus arbeiten kann, er ist der einzige Punkt der<br />
Freiheit, den wir in Wahrheit augenblicklich haben. Er ist eine Art<br />
bewusste Selbstbegrenzung dieser subjektiven Welt. Aber er ist<br />
auch ein Beispiel, ein wirklicher Ernstfall einer gemeinsamen<br />
›conditio humana‹ der Körperlichkeit. Ich glaube, dass die Art<br />
und Weise, wie in der Moderne der Körper verneint wurde, auch<br />
14<br />
ein Ausschluss der Gefühle von der Kunst war. Eine gewisse Art<br />
der Emotionalität, die Beziehungen zwischen Freude und Leid<br />
können meines Erachtens nur über den Körper ausgetragen<br />
werden. Die Moderne hat das nicht selten vergessen: Es ist ein<br />
grober Versuch, die universale formale Sprache für den Körper<br />
zu finden. Ich halte es für äußerst notwendig, wieder die Idee zu<br />
befragen: Was können wir in der Kunst mehr tun, als ein Zeuge<br />
dessen zu sein, dass wir existieren. Womit können wir anfangen?<br />
Man kann damit beginnen, dass ich, jeder von uns, das<br />
Bewusstsein hat: Ich habe einen Körper und als Künstler kann<br />
ich ein Zeuge dafür sein, es evident, sichtbar machen. Ich glaube,<br />
dass eine ganz wesentliche Dimension meines Werkes genau<br />
diese Evidenz ausmacht.«<br />
»...Ich glaube, dass in einer Zeit, wo Weltanschauungen und<br />
Ideologien kollabiert sind – man könnte sagen, sowohl religiös<br />
als auch politisch – es für mich das Wichtigste ist, irgendwie an<br />
einem Urpunkt wieder zu beginnen. An einem Punkt, wo ich mir<br />
wirklich sicher bin: Es ist die Beziehung zwischen Körper und<br />
Geist, dem Bewusstsein und den Vorgängen, die in meinem<br />
Körper passieren. Vielleicht ist das eine Sichtweise, eine Art des<br />
Fragens, die auch anderen weiterhilft. Ich hoffe, wenn ich diese<br />
Abdrücke meines Körpers oder: ›diese Gehäuse‹ mache, dass<br />
dies überspringt. Alle archäologischen Funde haben mit dieser<br />
Idee des Gehäuses zu tun: Hier war einmal ein Mensch. Man<br />
könnte auch sagen: Hier hat einer sein können. Diese Werke<br />
sind für jeden, der sie sieht, eine Art von Einladung in dem Sinn,<br />
als dieses ›jemanden sehen‹ heißen könnte: ›Ich sehe mich‹.«<br />
»...Ich sage immer, dass man mein Werk erst dann ganz versteht,<br />
wenn man davor die Augen verschließt. Es mag seltsam<br />
klingen, so etwas von einem bildenden Künstler zu hören. Aber<br />
es ist doch so, dass der Raum, den wir in Wahrheit bewohnen,<br />
hinter den Erscheinungen liegt; und das ist es, womit ich in Kontakt<br />
kommen möchte. Ich glaube, dass es dabei um einen Raum<br />
von enormer Potentialität geht, aber auch einen dunklen, abgründigen<br />
Raum. Jedenfalls ein sehr wichtiger Raum, und es ist<br />
von entscheidender Bedeutung, ihn zu kennen und zu bewohnen«<br />
»Der erste entscheidende Schnitt in meiner Arbeit erfolgte vor<br />
10 Jahren, als ich mich entschied – ich musste es aus gesundheitlichen<br />
Gründen tun –, Blei nicht mehr als Werkstoff meiner<br />
Skulpturen zu verwenden. So hatte ich – es zog mich richtig dazu<br />
– diese ›Boxes‹, diese Behältnisse zu machen, Architektur,<br />
die reduziert war auf die Begrenzungen des Körpers. Aus den
Bleikörpern, die den dunklen, den leeren Raum einschlossen,<br />
wurden positive Formen, die die Leere mit Fülle ersetzten. Ich<br />
betrachte diese aber noch immer als einen Versuch, diese Dunkelheit<br />
des Körpers zu visualisieren, fast so, als schälte man das<br />
Blei weg, oder als ob sie von der Innenseite der Bleihaut abgegossen<br />
wären.«<br />
»Von diesem Zeitpunkt an war wohl eine Bewegung in meinem<br />
Werk. Ich hatte ein besonderes, künstlerisches Interesse am<br />
Verhältnis zwischen Masse und Raum. Das sind die Skulpturen,<br />
die ihr draußen gesehen habt. Sie wiegen 700 Kilogramm, sie<br />
sind massiv. Und sie haben eine absolute Beziehung zwischen<br />
dem Raum, den sie bezeichnen, und dem Raum, den sie einnehmen,<br />
weil sie dazu irgendwie in Opposition stehen.«<br />
»Und dann passierte eine einschneidende Weiterentwicklung am<br />
Ende der 90er Jahre, als ich bei meinem bisherigen Werk ein<br />
Gefühl der Begrenzung empfand. Ich wollte von nun an über<br />
den Körper, und nicht bloß über ein Ding sprechen, ihn weder<br />
bloß als einen Ort, noch als ein Objekt charakterisieren, sondern<br />
als Prozess. Dies war der Beginn der ›Quantum Clouds‹, einer<br />
Serie von Skulpturen, die versuchen, in gewisser Weise eine<br />
Keimzelle zu definieren, das Eigentliche des Körpers als einen<br />
Ort der Transformation zeigen. Die Figur zeigt sich als skulpturale<br />
Evokation einer Welle, die den Raum des Körpers definiert,<br />
und die sich schließlich ausdehnt als ein Feld von Energie.«<br />
»Ich halte das für eine Art ›Post-Heisenbergsche Unschärferelation‹<br />
einer Aura, wie sie uns aus religiösen Bildern bekannt ist.<br />
Aber dies, so glaube ich, ist das Faktum eines historischen Trainings,<br />
einer Interpretation religiöser Ikonografie. Es ist uns mehr<br />
und mehr bewusst, dass dies alles eine sehr dunkle Angelegenheit<br />
ist. Vielleicht ist dieser Körper selbst, wie er sich zusammenkauert<br />
in einer Mischung aus Pietà und Fötus, eine Doppelsicht:<br />
Man weiß nicht, ist es eine Entfaltung eines neuen Lebens<br />
oder ein Kollabieren eines zu Ende gehenden Lebens? Es sind<br />
also viel Dichotomien oder Paradoxien in einem Bild. Schauen<br />
wir ins schwarze Loch oder schauen wir in den Urknall? Schauen<br />
wir ins Ende oder in den Anfang? Welche Perspektive sollen<br />
wir einnehmen: Ist es eine Ein- oder eine Ausweisung? Dies alles<br />
ist sehr wichtig für mich. Aber ebenso wichtig für neue<br />
Aspekte ist, wie die Betrachter den Körper rezipieren und wie<br />
sich der Körper des Betrachters mit einbeziehen lässt im Akt<br />
des Anschauens und des Seins vor dem Werk. So ist der Betrachter<br />
der ›Erfüller‹.«<br />
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
»...Für mich ist der Vorgang, wie die Skulptur selbst wird, entsteht,<br />
ein übertragbares Moment, das dem Betrachter widerfährt.<br />
In einer gewissen Weise ist das nicht der Zusammenbruch<br />
und das Wiederzusammenfügen eines Objekts, nein, es ist vielmehr<br />
eine Art von Beachtung, mehr noch: eine Art der Konzentration.<br />
Es hat mit Konzentration von Energie mehr zu tun als jede<br />
andere Art von formalen Bezügen der Wahrnehmung.«<br />
»...Mir sind die Begrenzungen des westlichen Formenkanons<br />
bewusst, ob sie nun klassisch oder romantisch genannt werden.<br />
Die Erfahrung in einer zweijährigen Anleitung zur Meditationspraxis<br />
in Indien war für mich sehr, sehr wichtig, um mich in Zeiten<br />
der Auflösung wieder zu finden, mich der Realität wieder anzunähern<br />
und der Wahrheit, wenn man dieses Wort verwenden<br />
darf. Und ich glaube, dass die Erfahrung der transpersonalen<br />
Meditation eine große Befreiung war, um von einer schweren<br />
kulturellen und zum Großteil ikonografisch verankerten Last loszukommen.<br />
Zu erkennen, was es heißt, von Augenblick zu Augenblick<br />
zu leben, war sehr bedeutsam für mich. Die Herausforderung<br />
für die Zukunft sehe ich darin, wie es uns gelingt, mit<br />
dem Körper ein vollkommenes Gefäß für den menschlichen<br />
Geist zu werden und mit ihm in Beziehung zu treten; zu bedenken,<br />
was es heißt, das Leben im Tod oder den Tod im Leben zu<br />
sehen. Vielleicht hat das nichts zu tun mit der geoffenbarten<br />
Wahrheit. Vielleicht ist es eine Rückkehr zur alten, skeptischen<br />
Philosophie Griechenlands, die großteils verloren ging mit dem<br />
Aufstieg des Christentums. Ein ungeprüftes Leben im Sinne der<br />
sokratischen Philosophie, das ist ein Leben, das für mich nicht<br />
lebenswert ist: Diese Auffassung ist ein phantastischer Anfang.<br />
In gewisser Weise ist der Buddhismus hilfreicher, wenn es darum<br />
geht, die Wahrheit in der Suche des täglichen Lebens direkt<br />
zu erfahren. Man verwendet das eigene Leben, um es zu prüfen,<br />
von einem Augenblick zum anderen, Schritt für Schritt, in beinahe<br />
absolutem Maße. Es ist wie ein Klettern auf einen Berg. Und<br />
ich halte Ausschau nach einer Kunst, die in einem vollkommenen<br />
Sinne unreligiös ist. Sie soll dich aber unmittelbar erreichen,<br />
herausrufen: in der Herausforderung der Stille der Skulptur; sie<br />
soll das Leben, das in dir wohnt, ansprechen: als innerer Zuschauer,<br />
um es zu prüfen und es in Frage zu stellen.«<br />
Aus: »In the Body’s Darkness as a Space of Potential ... «. <strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong> im Gespräch mit Johannes Rauchenberger und Alois Kölbl,<br />
Ausstellungskatalog Graz 2003, S. 28-32.<br />
15
<strong>Antony</strong><br />
<strong>Gormley</strong><br />
16 Land, Sea and Air, I 1977-79<br />
Blei, Stein, Wasser, Luft<br />
3 Teile, je ca. 20 x 31 x 20 cm<br />
courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />
16