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Antony Gormley - Weltkunst

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Ausgabe 76<br />

Heft 26<br />

4. Quartal 2006<br />

B 26079<br />

Eine Edition der<br />

Zeitverlag Beteiligungs<br />

GmbH & Co. KG<br />

Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong>


Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />

28 Künstlermonografien auf über 500<br />

Text- und Bild-Seiten und kostet im<br />

Jahresabonnement einschl. Sammelordner<br />

und Schuber € 148,–,<br />

im Ausland € 158,–, frei Haus.<br />

www.weltkunst.de<br />

Postanschrift für Verlag und Redaktion<br />

Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

D-80636 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

Telefax 0 89/12 69 90-11<br />

Bankkonto: Commerzbank Stuttgart<br />

Konto-Nr. 525 55 34, BLZ 600 400 71<br />

›Künstler‹ erscheint in der<br />

Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Geschäftsführer<br />

Thomas Brackvogel, Dr. Rainer Esser<br />

Verlagsleiter<br />

Boris Alexander Kühnle<br />

Gründungsherausgeber<br />

Dr. Detlef Bluemler/Prof. Lothar Romain †<br />

Redaktion<br />

Hans-Joachim Müller<br />

Dokumentation<br />

Andreas Gröner<br />

Ständiger Redaktionsbeirat<br />

Dr. Eduard Beaucamp, Frankfurt/Main<br />

Dr. Christoph Brockhaus, Duisburg<br />

Prof. Dr. Johannes Cladders, Krefeld<br />

Prof. Rolf-Gunter Dienst, Baden-Baden<br />

Prof. Dr. Helmut Friedel, München<br />

Rainer Haarmann, Neuwittenbek/Kiel<br />

Prof. Dr. Wulf Herzogenrath, Bremen<br />

Prof. Klaus Honnef, Bonn<br />

Prof. Dr. Georg Jappe, Köln/Hamburg<br />

Prof. Dr. Jens Chr. Jensen, Hamburg<br />

Dr. Petra Kipphoff, Hamburg<br />

Dr. Ralph Köhnen, Bochum<br />

Prof. Kasper König, Köln<br />

Dr. Jochen Poetter, Köln<br />

Prof. Dr. Wieland Schmied, A-Vorchdorf<br />

Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, Köln<br />

Prof. Dr. Uwe M. Schneede, Hamburg<br />

Dr. Pamela C. Scorzin, I-Mailand<br />

Dr. Dierk Stemmler, Mönchengladbach<br />

Prof. Dr. Karin Stempel, Kassel<br />

Prof. Dr. Eduard Trier, Bonn<br />

Dr. Rolf Wedewer, Leverkusen<br />

Dr. Christoph Zuschlag, Heidelberg/Berlin<br />

Prof. Dr. Armin Zweite, Düsseldorf<br />

Grafik<br />

Michael Müller<br />

Abonnement und Leserservice<br />

Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

Postfach 19 09 18<br />

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›Künstler‹ ist auch<br />

über den Buchhandel erhältlich<br />

Prepress<br />

Franzis print & media GmbH, München<br />

Druck<br />

Aumüller Druck KG, Regensburg<br />

Die Publikation und alle in ihr<br />

enthaltenen Beiträge und Abbildungen<br />

sind urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung, die nicht ausdrücklich vom<br />

Urheberrechtsgesetz zugelassen ist,<br />

bedarf der vorherigen Zustimmung des<br />

Verlages. Dies gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Bearbeitungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

die Einspeicherung und Verarbeitung<br />

in elektronischen Systemen.<br />

© Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />

München 2006<br />

Cover<br />

Critical Mass II, 1995<br />

Gusseisen, 60 lebensgrosse Teile<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/<br />

White Cube<br />

ISSN 0934-1730<br />

»Meine Arbeiten liegen an dem Punkt zwischen<br />

Ursprung und Werden. Zwischen Tod und Leben<br />

gibt es ein Moment der Stasis und der Stille,<br />

eine Zeit zum Nachdenken. Die Bildhauerei kann<br />

diese Zeit nutzen.«<br />

A. G. , o.J.<br />

Foto: Pete Moss/courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube


Dörte Zbikowski<br />

über <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong><br />

Wenn <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong> in Bezug zu Henry Moore oder Edvard<br />

Munch gesetzt wird2, so sagt dies nicht nur etwas über die Bedeutung<br />

des britischen Bildhauers im nationalen wie internationalen<br />

Kontext aus, sondern ist auch inhaltlich zu werten. <strong>Gormley</strong>s<br />

zentrales Thema ist der menschliche Körper, in dem sich<br />

Befindlichkeiten ausdrücken, noch ehe sie ins Bewusstsein vordringen.<br />

Mit Moore teilt er neben der Nähe von Natur und Figur<br />

das Interesse am Wechselspiel zwischen innerer und äußerer<br />

Form. <strong>Gormley</strong> setzt all dies als eine dynamische Beziehung<br />

von Raum innerhalb und außerhalb des Körpers um. Mit Munch<br />

verbindet ihn die psychologische Durchdringung von Mensch<br />

und Raum. Hier wie dort liegt der Schwerpunkt auf einer Erfassung<br />

von Empfindungen, die nicht durch erzählerische Mittel<br />

darstellbar sind. Entsprechend versteht er den menschlichen<br />

Körper als Gefühlsträger, im Gegensatz zu Objekten, die von<br />

Wissen und Denkvorgängen zeugen. Ausgehend von sich<br />

selbst, also seinem eigenen Körper und seinen eigenen Erfahrungen<br />

und Gefühlen, will er Skulpturen schaffen, die etwas<br />

über das Leben an sich erzählen. »Für mich«, so <strong>Gormley</strong>, »ist<br />

die beste Kunst diejenige, die einen beharrlich dazu bringt, sich<br />

von ihr abzuwenden und die Existenz mit Fähigkeiten zu betrachten,<br />

über die man vorher nicht verfügte.«3<br />

Bekannt geworden ist <strong>Gormley</strong> Anfang der 1980er Jahre mit<br />

seinen lebensgroßen Bleifiguren, die ebenso vertraut wie befremdlich<br />

wirken. Stehend, sitzend, liegend, kauernd, kniend,<br />

schreitend verkörpern sie menschliche Haltungen. Sie scheinen<br />

im Akt des Handelns innezuhalten oder ruhend über ihr Dasein<br />

zu reflektieren. <strong>Gormley</strong> sucht innere Befindlichkeiten darzustellen,<br />

worauf auch die Titel hinweisen. Hockende nennt er zum<br />

Beispiel ›Box (Behältnis)‹ (1983) und ›Night (Nacht)‹ (1983), einen<br />

Liegenden mit hochgestreckten Armen ›Reach (Ausstrecken/Erfassen)‹<br />

(1983/84), einen mit leicht angehobenen Armen ›Rise<br />

(Aufstehen)‹ (1983-85). Stehende sind zumeist in Bewegung erfasst,<br />

so etwa ›Address (Hinwenden/Mitteilung)‹ (1984), der<br />

leicht vorgebeugt in die Knie geht, oder ›Moment (Augenblick)‹<br />

(1985), eine Figur auf Zehenspitzen. Daneben gibt es Figuren<br />

mit überproportionierten Gliedern, so ›Field (Bereich)‹ (1984/85)<br />

mit raumgreifend ausgestreckten Armen in dreifacher Länge<br />

oder ›Tree (Baum)‹, eine stehende Figur mit einem Hals in doppelter<br />

Körperlänge, der den Kopf raumerfahrend emporhebt.<br />

Andere Arbeiten wie ›Land, Sea and Air II (Land, Meer und Luft<br />

II)‹ (1982) bestehen aus drei Figuren in unterschiedlichen Posen,<br />

wobei die drei Grundhaltungen Stehen, Knien, Kauern die drei<br />

Elemente verkörpern. Ähnlich zeigen die drei Skulpturen von<br />

›Three Places (Drei Orte, Stellungen)‹ (1983) einen Handlungsablauf.<br />

Zuweilen erzählt <strong>Gormley</strong> Geschichten, indem er Figuren mit<br />

Accessoires kombiniert. In ›Home (Haus/Zuhause)‹ (1984) liegt<br />

Mit körperlichen Mitteln von<br />

geistigen Zuständen sprechen1<br />

die Figur mit seitlich ausgestreckten Armen auf dem Rücken,<br />

nimmt also eine durchaus offene, entspannte Haltung ein, aber<br />

ihr Kopf steckt in einem kleinen Terrakotta-Haus, das gerade<br />

mal so groß ist, dass er hineinpasst. Das Haus, Sinnbild der Geborgenheit,<br />

wird hier zum Ausdruck einer klaustrophobischen<br />

Erfahrung. Das Gefühl der Angst, verstanden als Existenz- oder<br />

Lebensangst, vermittelt sich auch in anderen Figuren (›Box‹,<br />

1983; ›Untitled‹, 1983/84), wozu ihre grundsätzliche Isoliertheit,<br />

ihre Abkapselung vom Umraum entschieden beiträgt. Die Ummantelung<br />

aus Blei ist eine Hülle, die die Figur nicht nur erstarren<br />

lässt, sondern auch vor äußeren Einflüssen verschließt.<br />

Über sein Konzept sagt <strong>Gormley</strong>, es sei der »Versuch, eine<br />

Skulptur von innen heraus, unter Verwendung meines Körpers<br />

als Instrument und Material zu schaffen.«4 Allen Figuren liegt<br />

sein eigener Körper zugrunde. Er formt Teil für Teil in Gips ab,<br />

verstärkt sie mit Glasfaser und fügt sie zusammen. Durch dieses<br />

»Skelett« kann die Haltung der Figur präzise bestimmt werden.<br />

Mit getriebenen und aneinandergelöteten Bleiplatten umhüllt<br />

er sie sodann. Dieser Prozess bleibt in den Lötnähten<br />

sichtbar. Sie sind zugleich Hinweis auf die Zeitlichkeit und die<br />

Möglichkeit leichter Verschiebungen von körperlicher Haltung<br />

und Ausdrucksweise. Die Umhüllung ist eine glatte Haut in der<br />

eintönigen Anti-Farbe Grau. In der fertigen Skulptur umschließt<br />

der Bleimantel, worauf auch die Materialangaben der Skulpturen<br />

explizit verweisen, Luft. Diese ist gleichwohl als Lebensessenz<br />

zu verstehen. Zuweilen kann sie durch Löcher in Mund,<br />

Nase, Ohr oder Augen zirkulieren – oder als aufwärtsstrebende<br />

Energie entweichen – und verweist einmal mehr auf ein Innen<br />

und Außen (z.B. ›Land, Sea and Air II‹, 1982).<br />

Blei gilt seit der Antike als zauberkräftiges Metall, in den Religionen<br />

erscheint es als Wandlungssubstanz, und in der Alchemie<br />

kommt ihm die Bedeutung einer materia prima zu. In der Kunst<br />

wurde Blei seit den 1960er Jahren vielfach verwendet (Jannis Kounellis,<br />

Joseph Beuys), doch erst <strong>Gormley</strong> hat es zu seinem wesentlichen<br />

Material gemacht. »Ich verwende Blei aus folgenden<br />

Gründen: es isoliert und ist leicht zu bearbeiten, obwohl es ein<br />

sehr dichtes Metall ist. Es hat die Fähigkeit, eine einmal angenommene<br />

Form zu behalten und ist für das Auge und radioaktive<br />

Strahlen undurchdringlich.«5 Das Material schmiegt sich der Körperform<br />

an, nimmt ihr aber auch ihre Individualität. Auf Feingliederungen<br />

wie Gesichtszüge, Finger oder Zehen kann <strong>Gormley</strong><br />

verzichten, da die Pose den Ausdruck bestimmt und ohnehin keine<br />

Assoziationen an bestimmte Personen heraufbeschworen<br />

werden sollen. Ablenkende Details werden geglättet, es sei denn,<br />

es kommt dem Künstler gerade auf das herausfordernde Herausstrecken<br />

der Zunge an wie in der späteren Arbeit ›Address (Hinwenden/Mitteilung)‹<br />

von 1984. Grundsätzlich aber wird die Figur<br />

verallgemeinert, anonymisiert, und erhält – nicht zuletzt auch<br />

3


1<br />

2<br />

4


3 4<br />

5<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

1 Room, 1980<br />

Socken, Schuhe, Unterhose, Hose, Hemd,<br />

Pullover, Weste, Jacke, Holz<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

2 Bed, 1980-81<br />

Brot, Wachs<br />

28 x 220 x 168 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

3 Natural Selection, 1981<br />

Werkzeuge aus Blei, Früchte, Waffen, Gemüse,<br />

verschiedene Gegenstände<br />

Länge ca. 10 m<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

4 Three Bodies, 1981<br />

Blei, Fiberglas, Erde<br />

Felsen (96 x 60 x 54 cm), Kürbis (18 x 193 x 60 cm),<br />

Hai (18 x 193 x 60 cm)<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

5 Learning to Think, 1991<br />

Blei, Fiberglas, Luft<br />

5 Figuren: je 173 x 56 x 31 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

5


über die lastende Schwere des Materials – eine geheimnisvoll<br />

melancholische Aura. Frei von Bindungen an Zeit, Ort und kulturell-gesellschaftliche<br />

Maßgaben – sie zeigt sich stets nackt und<br />

bloß – verbindet sich der Ausdruck des Essentiellen mit dem des<br />

Unnahbaren, der des meditativ Sinnenden mit dem der leblosen<br />

Hülle. <strong>Gormley</strong>s Figuren zeigen nicht das Selbst des Künstlers,<br />

sondern das Negativ einer körperlichen Präsenz und seiner Befindlichkeiten.<br />

Und, das ihnen immanente Prinzip des Dualistischen<br />

weiterführend, lassen sie sich als Zustand zwischen Materie<br />

und Geist (Teilhard de Chardin) begreifen.<br />

Reflexionen über das Leben<br />

Vorangegangen waren Arbeiten, für die <strong>Gormley</strong> Gegenstände<br />

mit Blei überformte. So sind in den drei Teilen von ›Fruits of the<br />

Earth (Früchte der Erde)‹ (1978/79) eine Pistole, eine Flasche<br />

und eine Machete eingeschlossen. Dies ist äußerlich durchaus<br />

noch nachvollziehbar, auch wenn sich ihre Formen unter den<br />

vielen Bleischichten anzugleichen beginnen. Doch dass die Flasche<br />

Wein enthält und der Revolver geladen ist, lässt sich nicht<br />

erahnen, ist aber für die Interpretation der Arbeit wesentlich. Sie<br />

kann entweder als Metapher für das Überleben im Dschungel<br />

der Kunst gelesen werden oder, wenn man die Formen als<br />

Früchte wahrnimmt, die von den Gefahren der Zivilisation in<br />

ihrem Inneren bedroht werden, unter dem großen Thema der<br />

Beziehung zwischen Kultur und Natur.<br />

Dass die drei gleichen Bleikörper von ›Land, Sea and Air I<br />

(Land, Meer und Luft I)‹, (1977-79; Abb. 16) die drei Elemente<br />

Erde/Stein, Wasser und Luft – Grundlage des Schöpfungsstoffes<br />

Lehm – in sich bergen, muss der Betrachter dem Künstler<br />

glauben. Der Stein hat die eiförmige Gestalt auch der anderen<br />

beiden Bleikörper bestimmt. Für <strong>Gormley</strong> ist dies eine logische<br />

Schlussfolgerung, da Wasser und Luft seine Erscheinung geprägt<br />

haben. Luft gehört fortan auch zum Material der Bleifiguren.<br />

In ›Three Bodies (Drei Körper)‹, (1981; Abb. 4) sind mit Hai,<br />

Felsen und Kürbis Zeichen für die Lebensformen Tier, Mineral<br />

und Pflanze gesetzt, doch das Innere dieser Umhüllungen ist<br />

mit Erde gefüllt, einer Substanz also, die alle drei als eine Art<br />

Urmaterie verbindet. Ist das Gemeinsame wesentlicher als das,<br />

was sie unterscheidet? <strong>Gormley</strong> konfrontiert uns mit der Polarität<br />

zwischen dem wesenhaften Inneren und dem formgebenden,<br />

gleichsam oberflächlichen Äußeren und regt so zum Nachdenken<br />

über die Beziehung von Natur und Kultur an. Der<br />

Bleimantel kann einerseits als Zeichen für die Beherrschung der<br />

Natur verstanden werden, denn durch ihn wird ungeformte Erde<br />

– in ›Land, Sea and Air‹ sind es Wasser und Luft‹ – einem formgebenden<br />

Willen unterworfen. Er kann andererseits aber auch<br />

als Schutz vor negativen Einwirkungen wie Strahlung verstanden<br />

werden. Bewahrung der Lebenssubstanzen ist ein Anliegen<br />

des ökologisch denkenden <strong>Gormley</strong>.<br />

6<br />

Seinen eigenen Körper setzte er erstmals 1980 bei der Arbeit<br />

›Bed (Bett)‹ ein. In einem achtundzwanzig Zentimeter hohen,<br />

wachsbeschichteten Podest aus Toastbrotscheiben sind die Negativformen<br />

seines Körpers zu sehen, die Vorderseite liegt parallel<br />

neben der Rückseite. ›Bed‹ entstand jedoch nicht als Körperabdruck,<br />

sondern in mühsamem Gestaltungsprozess: <strong>Gormley</strong><br />

hat die Formen aus dem Brot herausgegessen. Dahinter verbirgt<br />

sich ein vielschichtiges Konzept. Der Körper ist auf Nahrung angewiesen,<br />

er ist fähig, aus der Materie herauszuwachsen und von<br />

der physischen in eine geistige Präsenz zu wachsen. Die christliche<br />

Vorstellung »Dieses Brot ist mein Leib« ist wörtlich genommen.<br />

Doch <strong>Gormley</strong>s Spur von Leben, Nahrung und Wachstum<br />

impliziert auch eine Spur von Vergänglichkeit, die die Skulptur<br />

einmal mehr an Grabmalskunst gemahnen lässt. Das hier geläufige<br />

Hochrelief überträgt er in die Negativform des Tiefreliefs. Bei<br />

<strong>Gormley</strong> ist das Grabmal einem schnellen Verfall ausgeliefert.<br />

Kann sich der Geist nur so vom Körper befreien?<br />

Auch für ›Room (Raum)‹ (1978; Abb. 1) ging <strong>Gormley</strong> von sich<br />

selbst aus, auch hier wird Zerstörung zur Neuschöpfung. Er zerteilte<br />

das, was er anhatte – Socken, Hose, Shirt, Pullover,<br />

Hemd, Jacke, Schuhe – in schmale Streifen, knotete diese aneinander<br />

und spannte die Schnur so um die vier im Raum aufgestellten<br />

Pfosten, dass eine zaunartige Begrenzung entstand.<br />

Aufgelöst und nicht mehr als seine Kleidung erkennbar, bleibt<br />

der Künstler an diesem markierten Ort dennoch präsent.<br />

Um 1980 gestaltete <strong>Gormley</strong> häufig mit vorgefundenen Materialien,<br />

beginnend 1978 mit ›Breadline (Brotlinie)‹. Der Verfall des<br />

Brotes, dessen Vergänglichkeit dem gefestigten Zustand der<br />

Bleiumhüllungen spannungsvoll zur Seite steht, ist Teil seines<br />

Konzeptes. Während er hier auf Künstler wie Dieter Roth referiert,<br />

kommen bei Arbeiten wie ›Flat Tree (Flacher Baum)‹ (1978)<br />

Richard Long und Carl Andre in den Sinn: ein Baumstamm ist in<br />

dünne Scheiben zerlegt und spiralförmig auf dem Boden ausgelegt<br />

– der Baum wird zu einer »Skulptur als Platz« (Andre). Mit<br />

der Blei-Arbeit ›Seed IV (Samen)‹ (1989/93) wiederum bezieht<br />

sich der kunsthistorisch bewanderte <strong>Gormley</strong> auf die Haufen<br />

Rainer Ruthenbecks.<br />

Körper und Geist<br />

All diese Arbeiten sind entweder von der Erfahrung des eigenen<br />

Körpers geprägt, wobei die Beziehung von Körper und Geist im<br />

Vordergrund steht, oder zielen auf ein Ordnen der umgebenden<br />

Natur. Sie sind von einem Kunstverständnis geleitet, das den<br />

Herstellungsprozess in Analogie zum Naturprozess miteinbezieht.<br />

Body- und Land-Art finden einen Widerhall.<br />

Das Abnehmen der eigenen Körperformen mit gipsgetränkter<br />

Gaze erinnert ferner an die altägyptische Mumifizierung, die aus<br />

dem Bedürfnis heraus entwickelt wurde, den Körper als Sitz des<br />

Geistes zu erhalten. Einmal mehr kommt die Dualität von Körper


und Geist in <strong>Gormley</strong>s Arbeiten zum Tragen. Und nicht nur, weil<br />

der langwierige Vorgang der Gipsformung einen ruhigen Körper<br />

erfordert, ist diesem Vorgang etwas Meditatives zu eigen. Das<br />

Verbergen und Wieder-in-Erscheinung-Treten des Körpers, das<br />

Zurücklassen einer leeren, gleichwohl aber luft- und vielleicht<br />

geistgefüllten Hülle steht dabei in Analogie zur Schaffung neuer<br />

Bewusstseinszustände. Hier macht sich <strong>Gormley</strong>s eingehende<br />

Auseinandersetzung mit dem Buddhismus bemerkbar, den er<br />

unmittelbar studierte, als er, noch bevor er künstlerisch tätig<br />

wurde, drei Jahre in Indien lebte. Die Vipassana-Meditation, mit<br />

der er sich besonders eingehend befasste, versteht den Körper<br />

als Kanal der Bewusstwerdung von Wahrnehmungen und Gefühlen.<br />

Dabei verdrängt die Konzentration auf eine Wahrnehmung<br />

im gegenwärtigen Augenblick die kulturell gefestigte Einbettung<br />

in ein größeres Ganzes. Allmählich entwickelt der<br />

Meditierende eine zeitlose Beziehung zu seinem Körper als dem<br />

Ort des Geschehens, Gefühle der Dematerialisierung stellen sich<br />

ein. Das Verlangen des Geistes, den Körper zu transzendieren,<br />

gibt den Körper folglich dem Verfall preis – oder läßt ihn wie bei<br />

<strong>Gormley</strong> als leere Hülle zurück.<br />

Grundsätzlich gilt es, den Kreislauf der Existenzen zu durchbrechen,<br />

indem man ihn sich unablässig bewusst macht. Dies beginnt<br />

mit der Betrachtung des Körpers, wie er steht, wie er geht,<br />

wie er liegt, wie er sitzt, wie er zusammengesetzt ist, wie er entsteht<br />

und wie er schließlich zerfällt. Dann folgt die Betrachtung<br />

der Gefühle, der freudigen, der schmerzlichen, der körperlichen<br />

und der seelischen, dann die der Gesinnung, bis sich die Betrachtung<br />

letztlich in transzendentaler Stille verflüchtigt. Die körperliche<br />

Erfahrung ist auch bei <strong>Gormley</strong> Ausgangspunkt für die<br />

Wahrnehmung geistiger Werte: Sie löst Gefühle aus. So verweist<br />

er mit seinen Figuren auf die Dualität von zeitlich gebundenem<br />

Körper und freiem Geist. Figuren <strong>Gormley</strong>s, die mit angewinkelten,<br />

armumschlungenen Beinen auf dem Boden hocken und den<br />

Kopf gesenkt halten, vermitteln jene Versenkung in sich selbst<br />

vielleicht am unmittelbarsten (z.B. ›Box [Behältnis]‹, 1983; ›Night<br />

[Nacht]‹, 1983), aber auch die vollkommen nach innen gerichtete<br />

Aufmerksamkeit eines stramm Stehenden (›Learning to<br />

See‹,1993) oder der gesenkte Kopf eines Stehenden mit eng an<br />

den Körper gelegten Armen (z.B. ›Peer [Beobachten]‹, 1983/84)<br />

sind nicht weniger eindringliche Bilder der Meditation.<br />

So wie sich die verschiedenen Typen der Buddhafigur lediglich<br />

in der Handhaltung unterscheiden, so ist auch <strong>Gormley</strong> an einer<br />

äußerlichen Uniformität seiner Figuren interessiert. Zwar liegt allen<br />

sein eigener Körper zugrunde und alle haben eine gleiche<br />

Bleiumhüllung, aber dennoch behauptet eine jede ihren eigenen<br />

Charakter. Sie sprechen ähnlich wie die Buddhafiguren durch<br />

ihren stillen, reglosen Körper. Dies ist möglich, weil es Bilder<br />

geistig-meditativer Konzentration sind. Sie sind auf sich selbst<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

bezogen. Und auch wenn die Figuren keinen Kontakt zur Umwelt<br />

oder zum Betrachter aufnehmen, behaupten sie den Raum,<br />

der sie umgibt, durch ihre Stille. Diese ist zugleich eine Aufforderung,<br />

»besetzt zu werden«. Nach <strong>Gormley</strong>s Worten, so führt<br />

Sandy Nairne aus, sind sie »erst dann vollständig, wenn sie bewohnt<br />

werden wie ein Haus, nur daß die Bewohner in diesem<br />

Falle aus Ideen und Gedanken bestehen.«6 Der Betrachter soll<br />

gleichsam in sie eindringen. Er ist aufgefordert, sich in die Empfindungen<br />

einzufühlen, die der Künstler bei der Schaffung seines<br />

Werkes hatte. Er soll sich mit den Figuren identifizieren.<br />

Die Bleifiguren, deren Gesten auf Raumerfassung verweisen, die<br />

eine mit überlängtem Hals (›Tree [Baum]‹, 1984), eine andere mit<br />

überlangen Armen (›Field [Bereich]‹, 1984/85) leiten eine neue<br />

Werkgruppe ein. Sie gehen auf Zeichnungen zurück. Sie besitzen,<br />

so <strong>Gormley</strong>, »eine körperliche Glaubhaftigkeit, zusammen<br />

mit Erinnerungen an oder Reflexionen über bestimmte vorhandene<br />

Gefühle. Um das Leben im Inneren zu konkretisieren, kann<br />

man sich nicht in klassischen Proportionen bewegen.«7 Gefühle<br />

und Erfahrungen werden Bild. Gerade weil die Proportionen<br />

übersteigert sind, erreicht <strong>Gormley</strong> eine Eindringlichkeit, so als<br />

könne man es nicht deutlicher sagen. Der äußerlich entfremdete<br />

Körper wird zum Hilfsmittel, er ist einmal mehr Hülle und Träger<br />

von geistig inneren Werten.<br />

›Mind (Idee/Bewußtseinszustand)‹ (1984) ist ein formloses, wolkenartiges<br />

Bleigebilde, das an der Decke hängt. Das Schwere<br />

steigt gleichsam zum höchsten Punkt auf, die Skulptur hat keine<br />

Gestalt. Regeln werden umgekehrt, wie es nur in Traumwelten<br />

möglich ist, die Phantasie wird herausgefordert. Ist es ein Riesenhirn?<br />

Dann wäre der Geist hier statt im Körper im Raum gefangen.<br />

Auch Figuren entstehen nun, die an den Wänden oder<br />

an der Decke hängen, in diese gleichsam hineindringen (z.B.<br />

›Learning to think [Denken lernen]‹, 1991; Abb. 5), diese besetzen<br />

(z.B. ›Pore‹, 1988) oder so horizontal über dem Boden<br />

schweben (z.B. ›Edge‹, 1985). Schwerelosigkeit, aber auch das<br />

Raum-Zeit-Gefüge sind aufgehoben, alles ist möglich.<br />

Arbeiten in Terrakotta<br />

1984 begann <strong>Gormley</strong>, auch in Terrakotta zu arbeiten. Zunächst<br />

fügte er Bleifiguren Tonobjekte als Accessoires hinzu. Dies verleiht<br />

den Arbeiten etwas sehr Erzählerisches. Der Kopf eines<br />

Liegenden steckt in einem kleinen Terrakottahaus (›Home<br />

[Haus/Zuhause]‹, 1984), eine Terrakottafigur hockt, als sei sie<br />

diesem entsprungen, auf dem Kopf eines Bleimannes, vor dem<br />

sich ein Schatten aus Blei erstreckt (›The Beginning, the Middle,<br />

the End‹, 1983/84), eine liegende Bleifigur wird mit einigen Dutzend<br />

etwa zwanzig Zentimeter kleinen Terrakottafiguren konfrontiert,<br />

die an ihm vorbeimarschieren oder als deren Form gewordenes<br />

Bewusstsein aus ihm entspringen (›Man asleep<br />

[Schlafender Mensch]‹, 1985), Bleitieren wie Schildkröte und<br />

7


6 7<br />

8<br />

8<br />

6 Body, 1991/93<br />

Gusseisen, Luft<br />

229 x 259 x 219 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

7 Fruit, 1991/93<br />

Gusseisen, Luft<br />

104 x 125 x 120 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

8 Earth, 1991/93<br />

Gusseisen, Luft<br />

260 x 230 x 290 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

9 Field for the British Isles, 1993<br />

Terracotta, ca. 40.000 verschieden grosse Teile<br />

Arts Council of England<br />

10 Allotment II, 1996<br />

Stahlbeton, 300 lebensgrosse Teile, die von den Maßen der<br />

Einwohner von Malmö im Alter von 1,5 und 90 Jahren genommen<br />

wurden<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube


9<br />

10<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

9


Krokodil sind kleine Terrakottahäuser zugeordnet (›Under the<br />

Sun [Unter der Sonne]‹, 1983-85). Es sind dies unwirkliche Situationen,<br />

vielleicht »Träume«8, auf alle Fälle aber erneut Metaphern<br />

für Befindlichkeiten.<br />

<strong>Gormley</strong> schätzt Terrakotta als Gegenpol zum Material Blei. Die<br />

Wärme der Erde steht der Kälte des Metalls, das Handgeformte<br />

einer Formung mit technischem Hilfsmittel gegenüber, wobei<br />

aber nicht vergessen werden darf, dass die Bleifiguren als vermittelte<br />

Abgüsse von Mensch, Tier und Natur ohnehin diese<br />

Dualität in sich tragen. Die Terrakotta-Arbeiten implizieren einen<br />

Verweis auf elementare und organische Prozesse der Veränderung,<br />

des Zerfalls und der Erneuerung. »Ich mag Terrakotta«, so<br />

<strong>Gormley</strong>, »weil es Schlamm ist. Mir scheint, daß es für einen<br />

Bildhauer eine saubere Arbeit ist, wenn er versucht, Erde zu einem<br />

Gefühlsträger zu machen.«9 <strong>Gormley</strong> bezieht sich auf Terrakotta<br />

als der Urmaterie, die seit jeher das ursprünglichste aller<br />

schöpferischen Materialien ist. In ›Work (Werk/Arbeiten)‹ (1984)<br />

reflektiert er die Rolle des autonomen Künstlers: Eine stehende<br />

Bleifigur hält in den Händen seiner seitlich ausgestreckten Arme<br />

jeweils einen Klumpen Lehm, Symbol für den Stoff, aus dem<br />

Skulpturen geformt werden. In seiner starren Haltung aber präsentiert<br />

er sie so, als warte er auf die göttliche Eingebung. Woher<br />

kommen Kraft und Inspiration zur Schöpfung?<br />

In Terrakotta lässt sich ferner die »Zerbrechlichkeit unserer<br />

Welt« (<strong>Gormley</strong>) und die Position des Menschen zwischen<br />

Machtanspruch und Ausgeliefertheit ausdrücken. ›Field (Feld)‹,<br />

1991 erstmals ausgestellt in der Salvatore Ala Gallery in New<br />

York10, umfasst 42000 kleine Terrakotta-Figuren. Die 7,5 bis<br />

maximal 25 cm großen Körper nehmen den gesamten Ausstellungsraum<br />

oder je nach örtlicher Gegebenheit auch eine Raumfolge<br />

ein. Alle sind zum Eingang ausgerichtet. Lückenlos aufgestellt,<br />

verwehren sie dem Betrachter den Zutritt. Ihre Macht<br />

entfalten sie durch die Masse, in der sie auftreten, und durch<br />

den Blick, mit dem sie zu uns emporsehen. Die schwarzen Augenhöhlen,<br />

für <strong>Gormley</strong> Ausdruck des Bewußtseins, verleihen<br />

diesen rudimentären, kaum geformten Gestalten eine besondere<br />

Lebendigkeit. Man meint, Blicke stummer Erwartung und verhaltener<br />

Beschwörung wahrzunehmen. Und selbst wenn sich<br />

der Betrachter überlebensgroß fühlen mag, diesen an sich verletzlichen<br />

und hilflos gleichsam flehenden Figuren scheint er<br />

ausgeliefert. <strong>Gormley</strong> hat sie durch eine Ziegelsteinbrenner-Familie<br />

im mexikanischen Cholula nach einem vorgegebenen<br />

Schema fertigen lassen. Handgeformt ähneln sie einander, ohne<br />

jemals identisch zu sein. Unterschiede in Höhe, Breite und in<br />

den Augenlöchern, aber auch in der Oberflächenfärbung, die je<br />

nachdem, wie nah die Figur im Brennofen am Feuer gelegen ist,<br />

variiert, verleihen ihnen eine gewisse Individualität. Dies hebt eine<br />

jede aus der Masse hervor, in der sie gleichwohl untergeht,<br />

10<br />

zumal nur die Figuren in den vordersten Reihen wirklich betrachtet<br />

werden können. Es ist, als ob die Menschheit selbst in<br />

ihrer Unerfassbarkeit – und auch in ihrer Unvollkommenheit –<br />

vor uns aufgebaut wäre.<br />

Dicht an dicht und klein am Boden, verkörpern sie geradezu<br />

was es heißt, die Erde zu formen. 1997 in der Kunsthalle zu Kiel<br />

gezeigt (›European Field‹), war die Arbeit einer Installation zur<br />

Seite gestellt, bei der der Boden mehrerer Räume ebenfalls auf<br />

23 cm Höhe vollständig bedeckt war, mit 45m2 Schlamm und<br />

15.000 Litern Seewasser (›Host [Masse/Wirt]‹, 1997). Geformte<br />

und ungeformte Erde entfalteten gleichermaßen ihre ästhetischen<br />

Qualitäten und verwiesen auf das Material, aus dem<br />

gemäß der Schöpfungsmythen der Mensch geschaffen sei und<br />

in das er nach dem Tod wieder zurückgehen wird.<br />

Zwar hatte <strong>Gormley</strong> zuvor schon Arbeiten mit vielen kleinen Figuren<br />

geschaffen (z.B. ›Man asleep‹, 1985), doch die unüberschaubare<br />

Masse der Figuren in ›Field‹ ist ebenso neu wie der<br />

Verzicht auf eine zugeordnete Bleifigur, also auf seinen eigenen<br />

Körper als Teil der Installation. Diesen Platz nimmt nun der Betrachter<br />

ein.<br />

Weitere Menschenmengen<br />

Da <strong>Gormley</strong> stets daran interessiert war, seine Arbeiten als Bestandteil<br />

des Lebens zu präsentieren, entspricht ihm das Arbeiten<br />

im öffentlichen Raum. Der Betrachter wird weitaus unmittelbarer<br />

konfrontiert, wenn er unvermittelt auf die Kunst trifft. Die<br />

zwei Meter großen, rostigen Männerfiguren aus Eisen, die er<br />

nun auftreten lässt, standen etwa 1997 in Köln sowohl in den<br />

Räumen des Kunstvereins als auch im städtischen Raum der<br />

Straße davor, einer lag auf dem Gehweg. Sie zeugen ähnlich<br />

wie die Bleifiguren von ihrem Herstellungsprozess. Die Gussstellen<br />

an Gesäss, Schultern, Brust sind nicht entfernt worden.<br />

Ebenso wie die Bleifiguren sind es formal reduzierte Skulpturen,<br />

die elementare menschliche Haltungen verkörpern. Die Gesichter<br />

sind identitätslos und von daher offen für die Projektionen<br />

des Betrachters, der als ein Gegenüber Teil von <strong>Gormley</strong>s Konzept<br />

ist. Für den Künstler ist auch hier die Motivation, dass seine<br />

Skulpturen Gefühle auslösen und anregen können.<br />

Ebenfalls 1997 hat er hundert Eisenfiguren bei Cuxhaven ins<br />

Meer gestellt (›Another Place [Ein anderer Ort]‹, 1997; Abb. 11).<br />

Im seichten Ufer bekommen sie nasse Füße, und sie wagen sich<br />

in immer tieferes Wasser, alle in der gleichen aufrechten Haltung,<br />

mit dem Gesicht zum Horizont, bis von den am weitesten entfernten<br />

Figuren nur noch der Kopf aus dem Wasser ragt. Und<br />

auch wenn die Figuren mit großem Abstand zueinander stehen,<br />

stellt sich der Eindruck ein, als gingen Massen ins Meer.<br />

In (›Critical Mass [Kritische Masse]‹, 1998; Cover) zeigt <strong>Gormley</strong><br />

eine unüberschaubare Fülle von sechzig dunklen Eisenkörpern,<br />

die in den unterschiedlichsten Posen von Kauern, Kriechen, Sit-


zen, Stehen verharren. Manche Figuren sind aufgehängt, auch<br />

kopfunter. Die erhängten oder leblos daniederliegenden Körper<br />

sind so angeordnet, dass, geleitet auch durch den Titel, Assoziationen<br />

an einen Massenmord oder eine tödliche Katastrophe aufkommen.<br />

Es ist nicht mehr das bewegte Flehen der urtümlichen<br />

Masse im Werden wie in ›Field‹, sondern das Ende von menschengleichen<br />

Figuren. <strong>Gormley</strong> zielt auf unsere Betroffenheit.<br />

Eine weitere Begegnung mit Masse inszeniert <strong>Gormley</strong> mit (›Allotment<br />

II [Bestimmung]‹, 1996; Abb. 10). Hier stehen uns Betonkuben<br />

mit kopfähnlichen Aufsätzen gegenüber. <strong>Gormley</strong>, der<br />

Architektur als Hülle für den Menschen versteht, hat auch in ›Allotment<br />

II (Bestimmung)‹ den menschlichen Körper im Sinn. Vorangegangen<br />

war 1990 ›Flesh (Fleisch)‹, eine Kreuzform aus Beton,<br />

der sein Körperabguss mit ausgestreckten Armen<br />

zugrundeliegt. Für ›Allotment II (Bestimmung)‹ hat <strong>Gormley</strong> von<br />

dreihundert Menschen die Maße genommen, um nach einem<br />

stets gleichen Schema sehr individuelle Abstraktionen zu schaffen.<br />

Die unterschiedliche Höhe der Betonklötze, in die in exakter<br />

Position die Körperöffnungen eingelassen sind, verleiht ihnen Individualität.<br />

Dicht an dicht aufgestellt, nehmen wir an der zu Stelen<br />

gewordenen Masse eine verhaltene Lebendigkeit wahr.<br />

Stumm gemahnt sie an das uniform-anonyme Leben.<br />

Das Innere<br />

Für ›Sieve (Sieb)‹ (1996/97) formte <strong>Gormley</strong> mit einem 4 mm starken<br />

Metalldraht einen Körper und umhüllte diese Form auf gleiche<br />

Weise. Man könnte meinen, <strong>Gormley</strong> habe die Linien einer Konstruktionszeichnung<br />

in eine Skulptur übertragen. Das transparente<br />

Gebilde vermittelt, an der Decke aufgehängt, eine schwebende<br />

Leichtigkeit. Der Körper tritt hinter dem Gefühl zurück.<br />

Mit der Werkgruppe der eisernen ›Insiders‹ kehrt <strong>Gormley</strong> 1998<br />

erneut zu seinem eigenen Körper als Maß seiner Skulpturen<br />

zurück. Hier interessiert ihn die Innenform, das Gerüst, das die<br />

Außenform prägt. Doch die Figuren wirken nicht skelettartig,<br />

sondern reduziert, wie abgemagert. Sie erinnern an die Figurendarstellungen<br />

afrikanischer Felsmalereien. Ein »Insider«, so<br />

<strong>Gormley</strong>, »is to the body what memory is to consciousness:<br />

a kind of residue, something that is left behind. It is a core rather<br />

than a skeleton. The idea is that the pieces carry in concentrated<br />

form the trace of the body and its passage through life. This<br />

has a direct relationship to pain.«11<br />

Mit Stäben aus Stahl, von denen er unzählige zu einer Skulptur<br />

zusammenfügt, arbeitet <strong>Gormley</strong> erstmals in der Werkgruppe<br />

›Quantum Cloud (Quantenwolke)‹ (1999-2002). Im Inneren dieser<br />

überbordenden Gebilde verdichtet sich die Stahlwolke, während<br />

die äußeren Stäbe sie zu umtanzen scheinen. Man fühlt sich an<br />

das Experiment mit dem Magneten erinnert, der Eisenspäne um<br />

sich schart. Der Magnet ist bei <strong>Gormley</strong> wiederum ein menschlicher<br />

Körper. Ausgangspunkt ist also auch für ›Quantum Cloud‹<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

die Gussform eines Menschen, nun dicht gefüllt mit den Stäben.<br />

In einem zweiten Arbeitsschritt wird die Körperform mit zahlreichen<br />

weiteren Stäben verunklärt. Der Körper hat keine klaren<br />

Grenzen mehr.<br />

Dieses Konzept setzt <strong>Gormley</strong> in der Werkgruppe (›Domain Field‹,<br />

2003; Abb. 13) fort. 287 Einwohner von Newcastle-Gateshead im<br />

Alter von zwei bis vierundachztig Jahren haben sich für diese Arbeit<br />

abformen lassen. Wir nehmen ihre Individualität wahr, auch<br />

wenn <strong>Gormley</strong> die Körper mit locker aneinandergefügten Stäben<br />

bezeichnet, ohne einen festen Umriss als Hülle zu geben. In dieser<br />

Offenheit zeigt sich der Körper in seiner Verletzbarkeit. Das<br />

energiegeladene Innere hat keinen Halt, der Körper scheint sich<br />

aufzulösen. Gefühle der Dematerialisierung hervorzurufen, ist eine<br />

Stufe der buddhistischen Meditation. Das Verlangen des Geistes,<br />

den Körper zu transzendieren, scheint Bild geworden. Der Schritt<br />

zu den atmenden Räumen ist nur allzu konsequent (›Breathing<br />

Room I [Atmender Raum]‹, 2006; Abb. 15).<br />

Die Autorin ist Kuratorin an der Kunsthalle zu Kiel.<br />

Anmerkungen<br />

1 Der Titel ist in Anlehnung an ein Zitat von <strong>Gormley</strong><br />

gewählt (<strong>Gormley</strong> im Gespräch mit Paul Kopocek,<br />

in: Aspects, 25, Winter 1983/1984).<br />

2 Henry Moore. Epoche und Echo. Englische Bildhauerei<br />

im 20. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Kunsthalle<br />

Würth, Schwäbisch Hall, 2005; Munch revisited.<br />

Edvard Munch und die heutige Kunst,<br />

hrsg. v. Rosemarie E. Pahlke, Ausst.-Kat. Museum<br />

am Ostwall, Dortmund, 2005.<br />

3 <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Gespräch mit Monika Theweleit-Kubale<br />

und Klaus Theweleit, 30. Januar<br />

1998, zit. aus: Gormely, Ausst.-Kat. Kunsthalle<br />

zu Kiel, 1999, S. 34.<br />

4 Zit. nach: <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Ausst.-Kat. Malmö<br />

Konsthall, Tate Liverpool, Irisch Museum of Modern<br />

Art, 1993/1994, S. 19-20.<br />

5 <strong>Gormley</strong>, in: Objects and Sculpture, Ausst.-Kat.<br />

Arnolfini Bristol und ICA London 1981/1982,<br />

S. 18 (zit. nach: <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Ausst.-Kat.<br />

Städtische Galerie Regensburg und Frankfurter<br />

Kunstverein 1985, S. 55.<br />

6 Sandy Nairne, Der Stoff, aus dem die Träume<br />

gemacht werden, in: <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>, Ausst.-<br />

Kat. Museen der Stadt Regensburg, Städtische<br />

Galerie, 1985, S. 57.<br />

7 <strong>Gormley</strong>, Interview durch Sandy Nairne,<br />

14.3.1985, zit. nach: Nairne, 1985, S. 59.<br />

8 Vgl. <strong>Gormley</strong>: »[...] und doch bezieht sie sich auf<br />

den Traum. «Zit. nach Nairne 1985, S. 63.<br />

9 <strong>Gormley</strong>, zit. nach Nairne 1985, S. 61.<br />

10 Anschließend: The Old City Jail, Charleston<br />

(1991), The Modern Art Museum of Fort Woth<br />

(1991), The Centro Cultural / Arte Contemporáneo,<br />

Mexico City (1992), The Museum of Contemporary<br />

Art, San Diego (1992), The Corcoran<br />

Gallery of Art, Washington (1993), The Montreal<br />

Museum of Fine Arts (1993). Vgl. <strong>Antony</strong> <strong>Gormley</strong>.<br />

Field, The Montreal Museum of Fine Arts,<br />

1993.<br />

11 Zit. nach: Anthony <strong>Gormley</strong>, Ausst.-Kat. Centro<br />

Calego de Arte Contemporánea, 2002, S. 86.<br />

11


11 Another Place, 1997<br />

Gusseisen,100 Teile<br />

189 x 53 x 29 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

12<br />

12 Drawn, 2000<br />

Gusseisen, 8 Teile<br />

je 154 x 133 x 187 cm, 630 kg schwer<br />

courtesy der Künstler und<br />

Jay Jopling/White Cube<br />

Installation im Mito Art Tower, Japan


13 Domain Field, 2003<br />

Rostfreie Stahlbarren (4.74 x 4.76 mm), 287 Teile, die von den<br />

Körperformen der Einwohner von Newcatsle-Gateshed im Alter<br />

zwischen 2,5 und 84 Jahren genommen wurden.<br />

BALTIC Centre for Contemporary Art, Gateshead<br />

14 Clearing I, 2004<br />

Aluminiumrohre (12,7 x 12,7 mm) in einer Länge von 10 km.<br />

White Cube Gallery, London<br />

15 Breathing Room I, 2006<br />

Aluminiumrohr (25 x 25 mm), Phosphor H15,<br />

Plastikzapfen (500 x 1000 x 780 cm)<br />

Ropac Galerie<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

13


»Im Moment beschäftige ich mich damit, wie es sich anfühlt, ein<br />

Mensch zu sein. Ein Bild zu finden, das meinen inneren Zuständen<br />

entspricht, ihnen nahe kommt. Mein Körper ist die direkteste<br />

Erfahrung von Materie für mich. Ich nutze diese Erfahrung<br />

zur Bequemlichkeit und zur Genauigkeit. Ich kann sie von innen<br />

wie von außen steuern. Ich möchte für die Skulptur eine Ebene<br />

der menschlichen Erfahrung zurückgewinnen, die lange Zeit verborgen<br />

war. Das hat mit ganz einfachen Dingen zu tun, etwa,<br />

wie es sich anfühlt zu schauen und etwas zu sehen, zu frieren<br />

oder Angst zu haben. Oder wie es ist, in völliger Stille zu verharren<br />

und nur darauf zu achten, wie sich die Luft um den Körper<br />

bewegt.«<br />

»Ich möchte, dass meine Arbeit das Spezielle vermeidet, so<br />

dass es von jedem eingesetzt werden kann, der sie betrachtet.«<br />

»Meine Arbeit soll ein Vehikel sein. In meinen Augen setzt Skulptur<br />

physische Mittel ein, um über das Geistige zu sprechen –<br />

Gewicht, um über Leichtigkeit zu sprechen, Licht, um auf Dunkelheit<br />

zu verweisen. Optische Mittel, um die Dinge zu erkennen,<br />

die nicht gesehen werden können.«<br />

»Dinge eignen sich, die Welt zu begreifen, weil sie in der Welt<br />

existieren. Der Körper eignet sich, Erfahrung sichtbar zu machen,<br />

weil ich in ihm existiere.«<br />

»Das Element der Zeit, die der Betrachter aufwendet, umfaßt<br />

Reflexion. Die Arbeit verkörpert einen Zustand zwischen Herkunft<br />

und Werden. Der Betrachter wird zum Teil des Werks, wird<br />

in gewisser Weise das Werk selbst – indem er in areflexivem Tun<br />

das Werk auf die Welt zurückführt.«<br />

»...Ich empfinde meine Existenz als eine Art Raumerforschung.<br />

Ich benütze meinen eigenen Körper als das erste Material, als<br />

ein Werkzeug, als ein Instrument dieser Erkundung – und als ein<br />

Subjekt. Aber ich benütze meinen Körper, weil es der einzige<br />

Körper ist, den ich belebe. Er ist das Nahste der materiellen Welt<br />

zu meinem Bewusstsein. Nicht weil er etwas Besonderes wäre,<br />

er ist einfach da, er ist das Einzige, mit dem ich aus einem Freiheitsaxiom<br />

heraus arbeiten kann, er ist der einzige Punkt der<br />

Freiheit, den wir in Wahrheit augenblicklich haben. Er ist eine Art<br />

bewusste Selbstbegrenzung dieser subjektiven Welt. Aber er ist<br />

auch ein Beispiel, ein wirklicher Ernstfall einer gemeinsamen<br />

›conditio humana‹ der Körperlichkeit. Ich glaube, dass die Art<br />

und Weise, wie in der Moderne der Körper verneint wurde, auch<br />

14<br />

ein Ausschluss der Gefühle von der Kunst war. Eine gewisse Art<br />

der Emotionalität, die Beziehungen zwischen Freude und Leid<br />

können meines Erachtens nur über den Körper ausgetragen<br />

werden. Die Moderne hat das nicht selten vergessen: Es ist ein<br />

grober Versuch, die universale formale Sprache für den Körper<br />

zu finden. Ich halte es für äußerst notwendig, wieder die Idee zu<br />

befragen: Was können wir in der Kunst mehr tun, als ein Zeuge<br />

dessen zu sein, dass wir existieren. Womit können wir anfangen?<br />

Man kann damit beginnen, dass ich, jeder von uns, das<br />

Bewusstsein hat: Ich habe einen Körper und als Künstler kann<br />

ich ein Zeuge dafür sein, es evident, sichtbar machen. Ich glaube,<br />

dass eine ganz wesentliche Dimension meines Werkes genau<br />

diese Evidenz ausmacht.«<br />

»...Ich glaube, dass in einer Zeit, wo Weltanschauungen und<br />

Ideologien kollabiert sind – man könnte sagen, sowohl religiös<br />

als auch politisch – es für mich das Wichtigste ist, irgendwie an<br />

einem Urpunkt wieder zu beginnen. An einem Punkt, wo ich mir<br />

wirklich sicher bin: Es ist die Beziehung zwischen Körper und<br />

Geist, dem Bewusstsein und den Vorgängen, die in meinem<br />

Körper passieren. Vielleicht ist das eine Sichtweise, eine Art des<br />

Fragens, die auch anderen weiterhilft. Ich hoffe, wenn ich diese<br />

Abdrücke meines Körpers oder: ›diese Gehäuse‹ mache, dass<br />

dies überspringt. Alle archäologischen Funde haben mit dieser<br />

Idee des Gehäuses zu tun: Hier war einmal ein Mensch. Man<br />

könnte auch sagen: Hier hat einer sein können. Diese Werke<br />

sind für jeden, der sie sieht, eine Art von Einladung in dem Sinn,<br />

als dieses ›jemanden sehen‹ heißen könnte: ›Ich sehe mich‹.«<br />

»...Ich sage immer, dass man mein Werk erst dann ganz versteht,<br />

wenn man davor die Augen verschließt. Es mag seltsam<br />

klingen, so etwas von einem bildenden Künstler zu hören. Aber<br />

es ist doch so, dass der Raum, den wir in Wahrheit bewohnen,<br />

hinter den Erscheinungen liegt; und das ist es, womit ich in Kontakt<br />

kommen möchte. Ich glaube, dass es dabei um einen Raum<br />

von enormer Potentialität geht, aber auch einen dunklen, abgründigen<br />

Raum. Jedenfalls ein sehr wichtiger Raum, und es ist<br />

von entscheidender Bedeutung, ihn zu kennen und zu bewohnen«<br />

»Der erste entscheidende Schnitt in meiner Arbeit erfolgte vor<br />

10 Jahren, als ich mich entschied – ich musste es aus gesundheitlichen<br />

Gründen tun –, Blei nicht mehr als Werkstoff meiner<br />

Skulpturen zu verwenden. So hatte ich – es zog mich richtig dazu<br />

– diese ›Boxes‹, diese Behältnisse zu machen, Architektur,<br />

die reduziert war auf die Begrenzungen des Körpers. Aus den


Bleikörpern, die den dunklen, den leeren Raum einschlossen,<br />

wurden positive Formen, die die Leere mit Fülle ersetzten. Ich<br />

betrachte diese aber noch immer als einen Versuch, diese Dunkelheit<br />

des Körpers zu visualisieren, fast so, als schälte man das<br />

Blei weg, oder als ob sie von der Innenseite der Bleihaut abgegossen<br />

wären.«<br />

»Von diesem Zeitpunkt an war wohl eine Bewegung in meinem<br />

Werk. Ich hatte ein besonderes, künstlerisches Interesse am<br />

Verhältnis zwischen Masse und Raum. Das sind die Skulpturen,<br />

die ihr draußen gesehen habt. Sie wiegen 700 Kilogramm, sie<br />

sind massiv. Und sie haben eine absolute Beziehung zwischen<br />

dem Raum, den sie bezeichnen, und dem Raum, den sie einnehmen,<br />

weil sie dazu irgendwie in Opposition stehen.«<br />

»Und dann passierte eine einschneidende Weiterentwicklung am<br />

Ende der 90er Jahre, als ich bei meinem bisherigen Werk ein<br />

Gefühl der Begrenzung empfand. Ich wollte von nun an über<br />

den Körper, und nicht bloß über ein Ding sprechen, ihn weder<br />

bloß als einen Ort, noch als ein Objekt charakterisieren, sondern<br />

als Prozess. Dies war der Beginn der ›Quantum Clouds‹, einer<br />

Serie von Skulpturen, die versuchen, in gewisser Weise eine<br />

Keimzelle zu definieren, das Eigentliche des Körpers als einen<br />

Ort der Transformation zeigen. Die Figur zeigt sich als skulpturale<br />

Evokation einer Welle, die den Raum des Körpers definiert,<br />

und die sich schließlich ausdehnt als ein Feld von Energie.«<br />

»Ich halte das für eine Art ›Post-Heisenbergsche Unschärferelation‹<br />

einer Aura, wie sie uns aus religiösen Bildern bekannt ist.<br />

Aber dies, so glaube ich, ist das Faktum eines historischen Trainings,<br />

einer Interpretation religiöser Ikonografie. Es ist uns mehr<br />

und mehr bewusst, dass dies alles eine sehr dunkle Angelegenheit<br />

ist. Vielleicht ist dieser Körper selbst, wie er sich zusammenkauert<br />

in einer Mischung aus Pietà und Fötus, eine Doppelsicht:<br />

Man weiß nicht, ist es eine Entfaltung eines neuen Lebens<br />

oder ein Kollabieren eines zu Ende gehenden Lebens? Es sind<br />

also viel Dichotomien oder Paradoxien in einem Bild. Schauen<br />

wir ins schwarze Loch oder schauen wir in den Urknall? Schauen<br />

wir ins Ende oder in den Anfang? Welche Perspektive sollen<br />

wir einnehmen: Ist es eine Ein- oder eine Ausweisung? Dies alles<br />

ist sehr wichtig für mich. Aber ebenso wichtig für neue<br />

Aspekte ist, wie die Betrachter den Körper rezipieren und wie<br />

sich der Körper des Betrachters mit einbeziehen lässt im Akt<br />

des Anschauens und des Seins vor dem Werk. So ist der Betrachter<br />

der ›Erfüller‹.«<br />

<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

»...Für mich ist der Vorgang, wie die Skulptur selbst wird, entsteht,<br />

ein übertragbares Moment, das dem Betrachter widerfährt.<br />

In einer gewissen Weise ist das nicht der Zusammenbruch<br />

und das Wiederzusammenfügen eines Objekts, nein, es ist vielmehr<br />

eine Art von Beachtung, mehr noch: eine Art der Konzentration.<br />

Es hat mit Konzentration von Energie mehr zu tun als jede<br />

andere Art von formalen Bezügen der Wahrnehmung.«<br />

»...Mir sind die Begrenzungen des westlichen Formenkanons<br />

bewusst, ob sie nun klassisch oder romantisch genannt werden.<br />

Die Erfahrung in einer zweijährigen Anleitung zur Meditationspraxis<br />

in Indien war für mich sehr, sehr wichtig, um mich in Zeiten<br />

der Auflösung wieder zu finden, mich der Realität wieder anzunähern<br />

und der Wahrheit, wenn man dieses Wort verwenden<br />

darf. Und ich glaube, dass die Erfahrung der transpersonalen<br />

Meditation eine große Befreiung war, um von einer schweren<br />

kulturellen und zum Großteil ikonografisch verankerten Last loszukommen.<br />

Zu erkennen, was es heißt, von Augenblick zu Augenblick<br />

zu leben, war sehr bedeutsam für mich. Die Herausforderung<br />

für die Zukunft sehe ich darin, wie es uns gelingt, mit<br />

dem Körper ein vollkommenes Gefäß für den menschlichen<br />

Geist zu werden und mit ihm in Beziehung zu treten; zu bedenken,<br />

was es heißt, das Leben im Tod oder den Tod im Leben zu<br />

sehen. Vielleicht hat das nichts zu tun mit der geoffenbarten<br />

Wahrheit. Vielleicht ist es eine Rückkehr zur alten, skeptischen<br />

Philosophie Griechenlands, die großteils verloren ging mit dem<br />

Aufstieg des Christentums. Ein ungeprüftes Leben im Sinne der<br />

sokratischen Philosophie, das ist ein Leben, das für mich nicht<br />

lebenswert ist: Diese Auffassung ist ein phantastischer Anfang.<br />

In gewisser Weise ist der Buddhismus hilfreicher, wenn es darum<br />

geht, die Wahrheit in der Suche des täglichen Lebens direkt<br />

zu erfahren. Man verwendet das eigene Leben, um es zu prüfen,<br />

von einem Augenblick zum anderen, Schritt für Schritt, in beinahe<br />

absolutem Maße. Es ist wie ein Klettern auf einen Berg. Und<br />

ich halte Ausschau nach einer Kunst, die in einem vollkommenen<br />

Sinne unreligiös ist. Sie soll dich aber unmittelbar erreichen,<br />

herausrufen: in der Herausforderung der Stille der Skulptur; sie<br />

soll das Leben, das in dir wohnt, ansprechen: als innerer Zuschauer,<br />

um es zu prüfen und es in Frage zu stellen.«<br />

Aus: »In the Body’s Darkness as a Space of Potential ... «. <strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong> im Gespräch mit Johannes Rauchenberger und Alois Kölbl,<br />

Ausstellungskatalog Graz 2003, S. 28-32.<br />

15


<strong>Antony</strong><br />

<strong>Gormley</strong><br />

16 Land, Sea and Air, I 1977-79<br />

Blei, Stein, Wasser, Luft<br />

3 Teile, je ca. 20 x 31 x 20 cm<br />

courtesy der Künstler und Jay Jopling/White Cube<br />

16

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