Vorschau Scheidegger & Spiess Frühjahr 2017
Die aktuellen Titel im Frühjahrs-Programm 2017 vom Verlag Scheidegger & Spiess.
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8005-016d_Neugasse 1995 /10.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8005-016b_Neugasse_155/159/163.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
108 109<br />
8004-053_Neufrankengasse_6/14.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8004-061_Schöneggstr.28.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
72 73<br />
50 51<br />
8003-079_Weststr.94.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
32<br />
8005-067_Neugasse-1335_Bronx.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8004-006_Neufrankengasse_4.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8003-066-Weststrasse46.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
33<br />
8003-112-Birmensdorferstrasse155.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8005-062-HB&Gleisfeld.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8003-078a_Weststr.84.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8004-046a_Molkenstr.5-9.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
74<br />
8004-070b_Werdstr.40/Stauffach25.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8004-108_Stauffacherstr.28.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
56 57<br />
8003-169A-Birmensdorferstr80-Bhf.Wiedikon.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8003-191A_Schimmel_Seebahnstr_FlaMa_009.jpg<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8003-169C-Birmensdorferstr80-Bhf.Wiedikon.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8055-262B-Triemlihalde_02380.jpg<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
48 49<br />
8032-129_Forchstr.150..tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
112<br />
75<br />
8004-075b_Köchlistr.10.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8003-102_Zweierstr 138.tif<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
8047-252-Stadtgaernerei_5068-sw.jpg<br />
Baujahr Nein<br />
Fotografiert Nein<br />
113<br />
Focus: Kreis 4<br />
Andrea Helblings Atelier liegt nahe bei Helvetiaplatz<br />
und Langstrasse, in einer Nebengasse, die<br />
sich freilich recht schmuck präsentiert, dezent<br />
renoviert. So richtig proletarisch sieht es hier<br />
nicht mehr aus. Ihr «Langstrassen-Dörfli», meint<br />
sie, reiche eigentlich nur bis zu den Gleisen,<br />
wo der Kreis 5 beginnt. Sie kennt die kleinen<br />
Läden und Handwerksbetriebe um die Ecke,<br />
die Bars und Beizen, viele Leute aus der Kreativwirtschaft,<br />
die hier ansässig geworden und in<br />
allen möglichen Sparten tätig sind. Die Bilder<br />
jedoch sucht sie in einem weiteren Radius: Wipkingen,<br />
Zürich-West, Oerlikon, Leutschenbach,<br />
Affoltern, Altstetten, Hardbrücke, Wiedikon,<br />
Albisriederplatz … Das sind Gegenden, die für<br />
viele erst seit ein paar Jahren mit Prime Tower,<br />
Schiffbau und der Zürcher Hochschule der Künste<br />
vertrauter geworden sind. Der Schriftsteller<br />
Hugo Loetscher hat sie seinen Lesern allerdings<br />
schon in den 1960er-Jahren nahegebracht. In<br />
seinem Roman Die Kranzflechterin zieht seine<br />
Grossmutter Anna ihren Leiterwagen mit dem<br />
Gemüse durch ebendiese Quartiere. Sie lebte vor<br />
über hundert Jahren. Ihr dürftiges Ladenlokal<br />
befand sich samt Küche und Wohnstube in einer<br />
Quergasse zur Langstrasse, wie heute Andrea<br />
Helblings Atelier.<br />
Nicht Vorzeigestadt,<br />
sondern<br />
Gebrauchsstadt<br />
Die repräsentative Zürcher Innenstadt ist in<br />
dieser Häuserserie nicht vertreten. Aus der Sicht<br />
der Fotografin weist sie allzu bekannte Konturen<br />
auf, ist gar sehr auf ihr Image bedacht, kommt<br />
sich gediegen vor, vollendet. Fertig gebaut sei<br />
diese Stadt, hiess es ja noch vor einigen Jahren.<br />
Zürich sei «hoffnungslos verbaut», schreibt<br />
Friedrich Dürrenmatt im Roman Justiz, womit<br />
er wohl auch meint, die Stadt sei lähmend festgelegt,<br />
definiert 4 . Nicht die Landmarks, nicht<br />
die symbolbehafteten Zeugen der Vergangenheit<br />
fasst Andrea Helbling also ins Auge, nicht die<br />
Vorzeigestadt, sondern die Gebrauchsstadt. Weder<br />
Rat- und Stadthaus, noch Gross- und Fraumünster<br />
treten als Protagonisten auf. Am Rand<br />
zeigt sich einmal eine Ikone der Bahnhofstrasse:<br />
das Globus-Gebäude beispielsweise, weil dessen<br />
«brutalistisches» Aussehen die Fotografin, wie sie<br />
sagt, fessle, und sie überhaupt die 1960er-Jahre<br />
ins Herz geschlossen habe; daneben auch noch<br />
das feingliedrige Griederhaus mit dem steil<br />
aufschiessenden Dach, das an die Hansearchitektur<br />
nordischer Kaufmannschaften erinnert.<br />
Auch die heute geschönte Altstadt fällt ausser<br />
Betracht. Noch im 19. Jahrhundert war sie nichts<br />
Besonderes. Als ärmliches, ganz gewöhnliches<br />
Quartier hat sie der Knabe Gottfried Keller empfunden,<br />
der da gewohnt, gespielt, gelitten hat.<br />
Selbst die landschaftliche Schönheit, die man seit<br />
Jahrhunderten an Zürich rühmt, darf bei Andrea<br />
Helbling nicht mitspielen, höchstens taucht da<br />
und dort als zarter Akzent ein Bäumchen oder<br />
Vorgärtchen auf. See, Limmat, Zürichberg und<br />
Üetliberg bleiben ausgespart.<br />
Das spricht natürlich nicht gegen das<br />
Übergangene. Gerade auch die Schreibende,<br />
die noch die graue, oft beklemmend brave Atmosphäre<br />
im Zürich der späten 1950er-Jahre<br />
erlebt hat, schätzt die Lockerheit, die Farbigkeit<br />
und – ja doch auch – Lebendigkeit der heutigen<br />
Stadtmitte. Helblings Blick aber erweitert das<br />
urbane Verständnis. Er macht die Stadt grösser,<br />
differenzierter, redlicher.<br />
Neue Blicke<br />
Es ist auch ein Generationenblick, der hier waltet.<br />
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem<br />
Schriftsteller Peter Weber. Es ging um das Buch<br />
Bahnhofsprosa, Webers surreale Hommage an<br />
den vielstimmigen Klangkörper des Zürcher<br />
Hauptbahnhofs. Man spazierte durch Albisrieden,<br />
wo der Autor wohnt. Ich bekam damals<br />
einiges mit von der mir unbekannten Schönheit<br />
des Vororts. Was mich aber doch verblüffte, war<br />
Webers Aussage, nach Möglichkeit würden er<br />
und seine Schriftsteller- und Künstlerkollegen<br />
die Innenstadt meiden.<br />
Oder ich lese Peter Stamm, der sich gern<br />
architektonischen und städtebaulichen Themen<br />
widmet; im Roman Sieben Jahre – er spielt in<br />
München und Marseille – sind sie konstitutiv.<br />
Auch Stamm favorisiert die Bauten der Gewöhnlichkeit.<br />
Jahrelang sei er zwar der Altstadt in<br />
Winterthur treu geblieben, habe sich aber stets<br />
nach Quartieren gesehnt, die man «gemeinhin<br />
als anonym» bezeichnet. Dort sei «nicht alles<br />
Denkmal», nicht jedes Loch in der Erde fördere<br />
alte Kultur zu Tage: «Es sind geschichtslose<br />
Quartiere, gebaut ohne ästhetische Absichten<br />
und vielleicht gerade deswegen ästhetisch, weil<br />
zweckmässig», so Stamm im Essay Mein Winterthur<br />
5 . In Endstation Zürich legt er eine skurril<br />
kleinteilige Betrachtung einiger Endschlaufen<br />
der Zürcher Tramlinien vor 6 . Zusammen mit<br />
ihrem architektonischen Zubehör sind sie wenig<br />
aufregend, doch gewinnt jede ihr eigenes<br />
Gesicht.<br />
Die Zuwendung zur Alltagsstadt und<br />
deren Detailansichten hat schon eine längere<br />
Tradition, sowohl in der bildenden Kunst und<br />
in der Fotografie, als auch in der Literatur. Wenn<br />
Adalbert Stifter vom alten Wien berichtet, dann<br />
bezieht er eindringlich die Masse der Vorstädte<br />
mit ein, die sich «in ungeheurem Kreise» gegen<br />
die Innenstadt heranschieben 7 . Oder man denke<br />
an die Spaziergänger und Feuilletonisten Robert<br />
Walser und Franz Hessel in Berlin. Walser fasste<br />
populäre Örtlichkeiten ins Auge, die Bierlokale<br />
«Aschinger» und «Gebirgshallen» beispielsweise.<br />
Franz Hessel war süchtig nach dem «heimlichen<br />
Berlin». Wenn er dessen übersehenen Winkeln<br />
nachspürte, nannte er das «Heimatkunde». Eine<br />
Stadt sei nicht leicht zu entdecken, «gerade wenn<br />
man in ihr zu Hause ist» 8 .<br />
Vieles in der Welt muss man von den Dichtern<br />
und Künstlern erzählt bekommen, damit<br />
man es selber wahrnimmt.<br />
Die Kamera<br />
macht fremde<br />
Dinge vertraut<br />
Andrea Helbling – aufgewachsen in traditionell<br />
bürgerlichen Quartieren – fotografierte zunächst<br />
vom Fenster ihrer ersten eigenen Wohnung<br />
aus. Diese lag nahe beim Albisriederplatz. Die<br />
Kamera mache fremde Dinge vertraut, schreibt<br />
auch Susan Sontag 9 . Fotografien würden einem<br />
helfen, einen Platz zu finden auf der Welt. Später<br />
zog Andrea Helbling in die Nachbarschaft ihres<br />
Ateliers an der Marmorgasse, zu Fuss war sie<br />
unterwegs, samt schwerer Sinar-Grossformatkamera<br />
– noch nicht digital. Allmählich<br />
schwärmte sie immer weiter aus, beschaffte sich<br />
für ihre Geräte ein Wägelchen, packte dieses ins<br />
Auto. So steuerte sie Altstetten an, Affoltern und<br />
Seebach, Höngg und Wipkingen via Europa- und<br />
Hardbrücke. Inzwischen hat sie umgestellt und<br />
ist Besitzerin einer verstellbaren Alpa mit Digitalrückteil.<br />
Auch hier lässt sich das Objektiv<br />
gegenüber der Bildebene verschieben. Nicht alle,<br />
sagt sie, könnten sich eine solche leisten, unter<br />
den Fotografen sei eine Zweiklassengesellschaft<br />
entstanden. Doch ob analog oder digital, die<br />
Fotografin zielt in diesem Zyklus auf das Unspektakuläre.<br />
Es sind Orte, wo Abertausende ihr<br />
Leben verbringen. Da zieht man meistens ohne<br />
Blick für die Umgebung seiner Wege. Nur selten<br />
schaut man noch zu den Obergeschossen und<br />
zum Himmel darüber. Gerade, wo sich unser<br />
Alltag abspielt, sehen wir am flüchtigsten hin.<br />
Wir achten nicht auf die Modellierung, die plastische<br />
Form, der gewöhnlichen Häuser. Andrea<br />
Helblings Bilder sind also auch ein Plädoyer für<br />
eine Demokratisierung des ästhetischen Blicks.<br />
Die anerzogenen Unterscheidungen zwischen<br />
«trivial» und «bedeutend» werden von ihr einer<br />
energischen Kritik unterzogen.<br />
Dabei beschönigt sie gar nichts an ihrem<br />
Viertel. Nach Mitternacht fahre sie mit dem<br />
Fahrrad oft auf Umwegen nach Hause. Denn<br />
die Langstrasse komme ihr manchmal auch<br />
unheimlich vor. Und mit dem berühmten Multikulti-Ideal<br />
sei es auch nicht gar so weit her. Sie<br />
habe zwar Nachbarn aus vielen Ländern und<br />
man grüsse sich freundlich, doch die meisten<br />
blieben unter sich.<br />
Rigoroser Stilwille<br />
In dieser Arbeit herrscht ein rigoroser Stilwille.<br />
Die Objekte werden zunächst fast obsessiv als<br />
Einzelwesen inszeniert. Ebenso hingebungsvoll<br />
wie zurückhaltend sind Charakteristika hervorgehoben:<br />
Bänder, Balkone, Fensterfronten,<br />
Brüstungen, nicht zuletzt die Baumaterialien,<br />
ob Backstein, Beton, Stahl und Glas, Sandstein<br />
ist auch diese Periode historisch, hatte doch der<br />
Häuserkampf seinen Höhepunkt in den frühen<br />
1990er-Jahren. In der letzten Zeit haben sich in<br />
Zürich die Fronten verschoben. Wo noch besetzt<br />
wird, geht es weniger um die Frage des Wohnens<br />
als um kreative Freiräume: Zum Schauplatz für<br />
einschlägige Aktionen wurden die wenigen,<br />
noch verbliebenen Industriebrachen. Widerstand<br />
kristallisierte sich im Fall von Binz- und<br />
Koch-Areal an weitaus periferer gelegenen<br />
Orten. Einen Rand wie noch vor zwanzig Jahren<br />
verkörpert Aussersihl demnach nicht mehr<br />
(selbst wenn im administrativen Sinn seine<br />
Rand-Eigenschaft mit der zweiten Eingemeindung<br />
von 1934 längst verloren gegangen war).<br />
Die Arbeit von Andrea Helbling kann in<br />
den Kontext einer Umkodierung von Zentrum<br />
und Rand gestellt werden. In ihre Bildfindung<br />
schiebt sich ein vorausgeahntes Verschwinden.<br />
Indem viele Aufnahmen eine immanent zeitliche<br />
Dimension besitzen, bewegt sich Häuser und<br />
Konglomerate in der dokumentarischen Tradition<br />
eines Charles Marville im Paris des Second<br />
Empire, der die Stadt vor den grossen Eingriffen<br />
unter Georges Eugène Haussmann festhielt. In<br />
beiden Fällen sind später verschwundene Welten<br />
akribisch festgehalten und in einer Art Unschuld<br />
zu sehen. Bei Marville handelte es sich um die<br />
Normalität von Strassenräumen, Ensembles<br />
und Objekten, die Baron Haussmanns Erneuerungswalze<br />
im Weg standen. Der Zeitraum<br />
seiner Dokumentation ist von vergleichbarer<br />
Länge wie bei Andrea Helbling, die im Gegensatz<br />
zu Marville allerdings keinen offiziellen Auftrag<br />
hatte, die bauliche Transformation ihrer Umgebung<br />
festzuhalten.<br />
Angesichts der schleichenden Zerstörung<br />
dieser Substanz geht es der Fotografin weder um<br />
Anklage, noch um das Schicksal von Bauzeugen,<br />
die der Spekulation getrotzt haben. Eher handelt<br />
es sich um eine Auseinandersetzung mit durchschnittlichen<br />
Situationen, die sind, was sie sind.<br />
Für die Fotografin, die seit langem in Aussersihl<br />
lebt, ist der Stadtteil zugleich ein Raum persönlicher<br />
Erinnerung. Daher ist es auch möglich,<br />
über ihre Arbeiten im Sinne hermetischer Bilder<br />
zu schreiben, die aus einem Prozess der kontinuierlichen<br />
Betrachtung hervorgegangen sind und<br />
die einer inneren Logik folgen. Die Bilder sind<br />
hypersubjektiv und dennoch unsentimental.<br />
Unschärfen existieren praktisch nicht, was eine<br />
hyperreale Verfremdung, zuweilen auch den<br />
Eindruck einer Einheit von Objekt und Umraum<br />
entstehen lässt. Anderseits trägt die Bildfindung<br />
zu einer Auratisierung stilisierter Alltagssituationen<br />
bei: Ein Gebäude, ein Konglomerat,<br />
ein Ausschnitt aus einem gebauten Ensemble<br />
arrangiert Andrea Helbling derart, dass selbst<br />
die zufälligsten Ensembles zu Kompositionen<br />
sublimiert werden. Dies gilt für das Geschäftshaus<br />
einer moderaten Moderne der 1950er- und<br />
1960er-Jahre ebenso wie für das Mietshaus im<br />
historischen Aussersihler Blockrandgefüge oder<br />
für die baulichen Havarien der 1980er-Jahre.<br />
Zu Objekten herausgearbeitet, gelegentlich<br />
in hartes Licht getaucht, erscheinen diese<br />
Bauten wie auf einer Petrischale als Vertreter<br />
der Gattung «Haus». Ihre bis zur Heroisierung<br />
reichende Vereinzelung steht jedoch in Gegensatz<br />
zu einer auf Wiederholung und Rationalität<br />
basierenden ökonomischen Logik, die für<br />
das Mietshaus ja massgebend war. Ihm ist die<br />
Wirkung als singuläres Objekt im Grunde genommen<br />
fremd, handelt es sich doch um einen<br />
Massenartikel der eher eine Extrusion aus der<br />
Parzelle darstellt. Zum Hofverbund gruppiert,<br />
spiegeln die Mietshäuser die Baugesetze einer<br />
Zeit, in der spekulative Bauproduktion die<br />
Nachfrage nach billigem Wohnraum in der<br />
Industriestadt befriedigte. Bis über den Ersten<br />
Weltkrieg hinaus waren die Gewerbenutzungen<br />
überlassenen Innenhöfe die Matrix für dieses<br />
«steinerne» Zürich. Von ähnlicher Kompaktheit<br />
war aber auch die anschliessende Reformarchitektur,<br />
die sich in Zürich vorerst nicht auf der<br />
Grünen Wiese abspielte: Die Genossenschaftssiedlungen<br />
der Zwischenkriegszeit schreiben<br />
sich in die Blockrandviertel ein und beteiligen<br />
sich als ein konstituierender Faktor am Weiterbau<br />
der Stadt des 19. Jahrhunderts.<br />
Die Fügungsprinzipien des Blockrands,<br />
die sich in vielen Bildern von Andrea Helbling<br />
zeigen, geben etwas über den morphogenetischen<br />
Code der Stadt preis. Als Unregelmässigkeiten<br />
in dieser Struktur erscheinen etwa die<br />
freistehenden Baumeisterhäuser des 19.Jahrhunderts<br />
– für die späteren Erneuerungswellen<br />
eine leichte Beute, weil hier die Baulinie nicht<br />
vollständig ausgenutzt wird. Indem sie die<br />
Symptome dieses Verwertungsdrucks aufzeigt,<br />
unterscheidet sich Andrea Helbling in ihrer<br />
Arbeitsweise von den Inventaren bei Bernd<br />
und Hilla Becher. Zwar zeigt das fotografische<br />
Werk in beiden Fällen ein Interesse am Seriellen<br />
und Typisierten. Doch im Gegensatz zu den<br />
verklärenden Phänotypen der Bechers treten<br />
hier Massstabsprünge und unvorhergesehene<br />
Ereignisse in Erscheinung. Andrea Helbling<br />
beschäftigen «Häuser» in ihrer Bedingtheit –<br />
dann, wenn sie als Objekte von Zusatznutzungen<br />
und baulichen Eingriffe korrumpiert worden<br />
sind. Obwohl sie die jeweilige Konstellation mit<br />
einer eigenen Aura ausstattet, führt sie Gebäude<br />
innerhalb eines urbanen Dispositivs vor. Dem<br />
Universellen stehen Störungen, Unregelmässigkeiten,<br />
Improvisationen gegenüber, was wiederum<br />
die Gestaltungskraft dieser Ereignisse ins<br />
Bild rückt. Aus solcher Bewährung resultieren<br />
architektonische Metamorphosen – ein Thema,<br />
das bereits von Kevin Lynch, Aldo Rossi und O.M<br />
Ungers in den 1950er- und 1960er-Jahren aufgegriffen<br />
wurde. Diese Theoretiker suchten nach<br />
Alternativen zu Organisationsprinzipien der<br />
Nachkriegsmoderne wie Mobilität und Wachstum,<br />
weshalb sie die Stadt als eine gewachsene<br />
Umwelt entwarfen. Die damit zusammenhängenden<br />
Gestaltlogiken, für die Alltag, Repetition,<br />
Abschleifung, Umnutzung, Erneuerung eine<br />
Art Ökologie bilden, finden wir indirekt auch in<br />
Häuser und Konglomerate vor.<br />
Pluralismus,<br />
Identität,<br />
Geschichte<br />
Häufig thematisiert Andrea Helbling die Präsenz<br />
und Kommunikation eines Objekts im Strassenraum.<br />
Sie erinnert damit an Bildsequenzen, die<br />
Ed Ruscha sowie Denise Scott Brown und Robert<br />
Venturi in Los Angeles beziehungsweise in Las<br />
Vegas während der 1960er-Jahre herstellten.<br />
Nachdem Kevin Lynch die «Ablesbarkeit» der<br />
städtischen Umwelt gefordert hatte, ging es für<br />
Venturi Scott Brown dort um «Kommunikationssequenzen».<br />
Was angesichts der sprachlos<br />
gewordenen offiziellen Idiome von International<br />
Style und Brutalismus damals radikale Forderungen<br />
waren, sollte später in der postmodernen<br />
Architektur in Erfüllung gehen. Der im Manifest<br />
The Ugly and Ordinary as Symbol and Style von<br />
Venturi Scott Brown festgehaltene Anspruch,<br />
alltägliche Dissonanzen zuzulassen, gehört<br />
inzwischen zu den Allgemeinplätzen von Architektur<br />
und Stadtplanung. In einer bildgestützten<br />
Ökonomie kommen der Architektur strategische<br />
Kommunikationsaufgaben zu – so etwa wenn es<br />
um die Darstellung von «authentischen» Ortseigenschaften<br />
geht.<br />
Pluralismus, Identität, Geschichte sind<br />
heute feste Bestandteile professionellen Stadtmarketings,<br />
das Urbanität sichert und mediatisiert.<br />
Es ist gerade möglich, die Arbeit von<br />
Andrea Helbling hin zu Fragen der Identität<br />
zu öffnen: Welches Bild von sich selbst entwirft<br />
eine Stadt, die, nach einer längeren Periode<br />
der Stagnation, nach politisch-ökonomischen<br />
Blockaden, den eigenen Erfolg zelebriert? Lange<br />
Zeit mit dem Cliché der Verkrampftheit behaftet,<br />
ist es Zürich gelungen, ein «attraktives» Image<br />
weit über die Landesgrenzen hinauszutragen.<br />
Das damit verknüpfte Versprechen von Urbanität<br />
kann jedoch weniger als Basel oder Genf an<br />
alte Traditionen anknüpfen. Zusammen mit dem<br />
Kanton figuriert die Stadt zwar unbestritten als<br />
Schwergewicht der Schweizer Wirtschaft, aber<br />
in der Erscheinung des Geschäftszentrums<br />
drückt sich ihre Hegemonie kaum aus. Die Anzeichen<br />
auf diese erfolgreiche Positionierung<br />
bleiben weiterhin überaus diskret. Von der<br />
Verdrängung von Traditionsgeschäften durch<br />
Luxuslabels abgesehen, setzt sich die monokulturelle<br />
Erstarrung von Räumen wie Paradeplatz,<br />
Bahnhofstrasse und den angrenzenden Adressen<br />
fort. So erzeugen weite Teile der Innenstadt<br />
den Eindruck, Zürich folge über Tourismus,<br />
Shopping und als Ausgehdestination dem ehrgeizigen<br />
Fremdenverkehrs-Slogan des «World<br />
Class – Swiss Made».<br />
Zusammen mit dem Anstieg von Arbeitsplätzen<br />
in der aufgeblähten Dienstleistungsbranche<br />
deckt Zürich zunehmend entgrenzte<br />
Konsumbedürfnisse ab, die in immer ausgedehnteren<br />
Fussgängerzonen erfüllt werden.<br />
Eine Veränderung zeigt allenfalls deren Bespielung,<br />
wurde doch über Jahre die Innenstadt<br />
von den Sommer-Aktionen der City-Vereinigung<br />
infantilisiert: Kühe, Löwen oder übergrosse<br />
Blumentöpfe – jeweils in Plastik ausgeführt<br />
und mit individuell gesponsorter Bemalung –<br />
möblierten die Fussgängerzonen. Heute lässt<br />
sich jedoch eine Verlagerung der Bildsprache<br />
in Richtung Hochkultur ausmachen. Von Grossbanken<br />
gesponserte und professionell kuratierte<br />
künstlerische Interventionen übernehmen im<br />
öffentlichen Raum themengebende Aufgaben.<br />
Eine versteckt pädagogische Dimension hatte<br />
etwa die 2014 durchgeführte Aktion Zürich<br />
Maritim. Zur Reflexion sollte ein am Limmatquai<br />
aufgestellter alter Hafenkran aus Rostock<br />
anstiften – ein in die musealisierte Altstadt versetztes<br />
Ready Made aus dem real existierenden<br />
Sozialismus der DDR. Der Vintage-Effekt weckte<br />
nicht nur Konnotationen an die Ferne. Nach<br />
dem Wegzug der gesamten Maschinenindustrie<br />
aus der Schweiz hatte Zürich Maritim auch<br />
den Stellenwert einer industriegeschichtlichen<br />
Reminiszenz und kommentierte die gewandelte<br />
Identität der Stadt.<br />
Umschichtungen<br />
Was Transformationsprozesse angeht, gehört<br />
Zürich ganz vorn mit zu den Städten, deren<br />
Periferie unendlich interessanter ist als seine<br />
saturierte Innenstadt. Es ist gerade der Stadtrand,<br />
wo die in den vergangenen Jahrzehnten<br />
von Andrea Helbling festgehaltenen Texturen,<br />
Atmosphären und Morphologien mit spektakulären<br />
Investitionsdynamiken konfrontiert<br />
worden sind. Diese Entwicklungsschübe haben<br />
eine Nachfrage nach anderen Bildern von<br />
Stadt erzeugt. Darin spiegelt sich ein reflexiver<br />
Konsum von Urbanität, wie er für wohlhabende<br />
postindustrielle Städte wie Zürich typisch ist.<br />
Wie beim Hafenkran kann sich solcher<br />
Konsum durch Atmosphären-Recycling auszeichnen,<br />
kann sich im Rahmen der Gentrifizierung<br />
aber auch ganze Stadtteile aneignen.<br />
Inzwischen spiegelt sich die Ausdifferenzierung<br />
touristischer Bedürfnisse darin, dass auch<br />
Abschleifen,<br />
Arrangieren,<br />
Umkodieren –<br />
Zürichs<br />
Transformation<br />
André Bideau<br />
Städte verändern sich in der Regel in Zyklen.<br />
Unterschiedliche Faktoren tragen dazu bei, dass<br />
sie verdichtet, ausgedünnt, zerstört, neu lanciert<br />
werden. In diesem Prozess werden Bilder des<br />
Urbanen gesucht, formuliert und transportiert.<br />
Vorhandenes wird dabei zu Geschichte. Was vor<br />
zwanzig Jahren alltäglich unspektakulär war,<br />
vor sich hin existierte, ist in der Zwischenzeit<br />
eine Seltenheit, besteht in vielen Fällen nicht<br />
mehr und wird gerade deshalb zum Gegenstand<br />
einer Verklärung. Solcher Wandel ruft unterschiedliche<br />
Interpretinnen und Interpreten auf<br />
den Plan. Dazu gehört auch Andrea Helbling, die<br />
während bald dreier Jahrzehnte Mietshäuser,<br />
Gewerbebauten, Tankstellen dokumentiert hat.<br />
Als Resultat dieser Sichtung der urbanen Landschaft<br />
ist die inoffizielle Chronik eines Umbaus<br />
zur postindustriellen Stadt entstanden.<br />
Seit den 1980er-Jahren hat die Entwicklung<br />
zur Dienstleistungsgesellschaft, das heisst, die<br />
Tertiärisierung Zürichs Ränder einer radikalen<br />
Verwertung ausgesetzt. Ein Entwicklungsschub<br />
hat dort grösstenteils spekulativ entstandene<br />
Bebauungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert<br />
überrollt. Während Veränderungen am Zentrum<br />
Zürichs mehrheitlich abprallten, haben Abriss,<br />
Sanierung, Ergänzung die Semantik der noch<br />
vorhandenen vorstädtischen Bebauungen verändert.<br />
Im Verlauf dieser Evolution erfuhr der<br />
urbane Raum eine Umkodierung, die sich vor<br />
allem im Stadtteil Aussersihl beschreiben lässt.<br />
Dort deckt die Arbeit Häuser und Konglomerate<br />
den Zeitraum ab, in dem dieser Prozess stattfand<br />
und an dessen Ende die Gentrifizierung steht.<br />
Wie der Name andeutet, erwies sich im 19.<br />
Jahrhundert die Lage ausserhalb, hinter der Sihl,<br />
dem zweiten Zürcher Fluss, konstituierend für<br />
den Charakter dieser Gegend. Ihre Verarmung<br />
als Industrie- und Proletariergürtel war 1893 ein<br />
Hauptgrund für die Eingemeindung, die Zürich<br />
mit einem Schlag in eine Grossstadt verwandelte.<br />
Als Andrea Helbling ihre Kamera auf Aussersihl<br />
zu richten begann, hatte der Stadtteil seine<br />
Vergangenheit als Arbeiterbezirk mehr oder<br />
weniger hinter sich. In den 1980er-Jahren hatte<br />
eine Entwicklung eingesetzt, bei der seine Liegenschaften<br />
zum zweiten Mal zum Gegenstand<br />
der Spekulation wurden. Unter diesem Druck<br />
entstanden Neubauten und Hybride, Konglomerate<br />
eben, für deren Verrenkungen Andrea<br />
Helbling eine eigene Sensibilität entwickelt hat,<br />
indem sie groteske Massstabsprünge, absurde<br />
Nachbarschaften und bodenlose Hässlichkeiten<br />
in Kompositionen überführt.<br />
Das vorausgeahnte<br />
Verschwinden<br />
Eine hypertrophe Bauspekulation war die Folie,<br />
vor der die Zürcher Hausbesetzerszene in Aussersihl<br />
ihren Kampf gegen Wohnungsnot und<br />
Stadtzerstörung begonnen hatte. Inzwischen