GERMAN OPEN 2012 - Erste Westernreiter Union Deutschland e.V.
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26<br />
horsemanship<br />
Betsy senkt den Kopf zu ihm herunter und er, der aufgrund seiner Krankheit<br />
normalerweise jeden körperlichen Kontakt ablehnt, umarmt sie<br />
und küsst sie auf die Nase. Rupert beschreibt diesen Moment so: „Sofort<br />
strahlte Betsy eine außergewöhnliche Milde aus, die Augen wurden<br />
weich, die Lider mit den langen schwarzen Wimpern schlossen sich halb.<br />
Zwischen den beiden geschah etwas, eine ganz direkte Kommunikation,<br />
die ich als neurotypischer Mensch nie erfahren konnte“. (Rupert Issacson,<br />
The Horse Boy) Heute reitet der Junge alleine und spricht mit seinem Vater<br />
schon vollständige Sätze. Ein Weg der Heilung, den die beiden noch<br />
nicht zu Ende gegangen sind, doch die ersten Schritte haben die Eltern<br />
mit ihrem Sohn gemeinsam beschritten.<br />
Auch Pat Parelli und sein Sohn Caton beweisen, wie groß die Kraft ist, die<br />
das „Natural Horsemanship“ auch für uns Menschen hat. Caton wurde<br />
mit einer gravierenden geistigen Behinderung geboren, und die Ärzte bescheinigt<br />
ihm, nie selbstständig leben zu können. Heute reitet Caton als<br />
junger, starker Mann lächelnd in die Arena und jeder, der die Geschichte<br />
kennt, ist ergriffen; die Menge tobt.<br />
Die Mutter eines zwölfjährigen Mädchens, das sehr schüchtern ist und<br />
von mir unterrichtet wurde, erzählte mir einige Wochen später, wie sich<br />
Marie verändert hat. Früher musste sie immer für Marie voraus gehen, für<br />
sie fragen und ihr den Weg ebnen. Lachend berichtete sie nun: „Jetzt ruft<br />
mich Marie aus der Stadt an und erzählt mir, was sie noch alles erledigen<br />
muss. Und ihre Freundinnen, denen sie früher immer hinterher gelaufen<br />
ist, rufen nun ständig hier an und fragen, ob sie mit ihnen etwas unternimmt.“<br />
Anna, ein elfjähriges Mädchen, ist seit ihrer Geburt halbseitig spastisch<br />
gelähmt. Immer wenn sie angespannt ist, krampfen sich alle Muskeln ihrer<br />
rechten Körperhälfte unkontrolliert zusammen. So war das bis vor einem<br />
Jahr. Jetzt sitzt sie auf einem 1,80m großen Trakehner und galoppiert<br />
mit einem Lächeln auf dem Gesicht durch die Halle. Die gelähmte Hand<br />
putzt das Pferd, führt das Pferd und lenkt das Pferd am Zügel – vier Beine<br />
schenken zwei Beinen ein neues Leben.<br />
■ Was machen Pferde da mit uns?<br />
Ganz einfach: sie fordern uns körperlich, emotional, geistig und sozial.<br />
Sie refl ektieren jede noch so kleine Veränderung und machen sie uns bewusst.<br />
Sie machen uns stark und unabhängig, wenn wir von ihnen lernen<br />
und ihre Trainingsmethode verstehen. Dabei machen sie nichts anderes,<br />
als jedem eine Chance zu geben. Sie schenken uns damit innere Kraft und<br />
Ruhe, die heilend wirken. Und das, obwohl sie Beutetiere sind und wir<br />
ihre Jäger – vielleicht ist dies das Geheimnis des Horse Code. Sie zwingen<br />
uns, positiv zu denken, veränderungsbereit zu bleiben, authentisch<br />
zu sein und unser Inneres zu spüren. Sie belohnen sofort und unmittelbar,<br />
ohne das Vorangegangene zu bewerten. Wir machen in ihren Augen nie<br />
etwas falsch, sondern nur noch nicht alles richtig – ein kleiner, aber sehr<br />
bedeutsamer Unterschied zu unserem Denken. Pferde reagieren nur auf<br />
das und belohnen ehrlich, was wir gut machen, indem sie uns zeigen,<br />
dass es ihnen gut tut.<br />
Dieses Bewertungssystem, das nie auf Fehlern „herumreitet“ und nie in<br />
Vergleich zu anderen stellt, gibt uns die Kraft, positiv zu wachsen.<br />
■ Pferde geben uns die Flügel, die wir nicht haben<br />
Die Kraft, sich und andere durchs Leben zu führen, ist die Kraft der Gelassenheit<br />
und der Souveränität. Ein Leitpferd, das Gefahren übersieht, überbewertet<br />
oder sich davon aus dem Gleichgewicht bringen lässt, bringt<br />
alle anderen in Gefahr. Ein Leithengst, der hinter jedem Busch eine Gefahr<br />
wittert und nicht weiß, wo er hin soll, bringt die ganze Herde in Unruhe.<br />
Die anderen können nicht mehr grasen und sich um die Fohlen kümmern,<br />
alle rennen nervös hin und her. Das kostet sehr viel Energie und verhindert,<br />
dass sie Nahrung aufnehmen können. Deshalb braucht die Herde ein<br />
Leittier, das verlässlich zeigt, wann und wohin gefl üchtet werden muss,<br />
oder dass eben kein Grund zur Aufregung besteht und alle sich unbedenklich<br />
um Nahrung kümmern können.<br />
Geistige Ruhe und Gelassenheit gibt allen die Kraft, mit Urvertrauen eigene<br />
Stärken zu entwickeln. Wer in Angst lebt, entwickelt sich nicht. Daher<br />
kommt vielleicht die große Wirkung von Pferden auf uns Menschen – und<br />
gerade auf Menschen mit physischen oder psychischen Unsicherheiten.<br />
Pferde versuchen, uns die Kraft zu geben, Urvertrauen in uns selbst zu fi nden<br />
und ihnen damit Sicherheit zu schenken. Wenn wir das nicht erkennen,<br />
läuft es in eine andere Richtung – in Angst und Unsicherheit. Denn<br />
nur, wenn man das Spiel versteht, macht es Freude und hat einen positiven<br />
Nutzen. Wenn man zu verstehen beginnt, dass jedes „Infragestellen“<br />
nur ein Hinweis ist, etwas zu verändern, fühlt man sich nicht kritisiert,<br />
sondern motiviert.<br />
Vielleicht sieht man deshalb auch so oft abscheuliche Bilder von Trainern,<br />
die Meister darin sind, Pferde zu bestrafen, anstatt von ihnen zu lernen.<br />
Sie vergessen sich selbst, weil sie von falschem Ehrgeiz geleitet werden<br />
und ihre Schwächen nicht bei sich sehen wollen oder können.<br />
Das Pferd ist dein Spiegel.<br />
Es schmeichelt dir nie. Es spiegelt dein Temperament.<br />
Es spiegelt auch deine Schwankungen<br />
Ärgere dich nie über dein Pferd, denn du könntest dich<br />
ebenso über dich selbst ärgern. (Rudolph G. Binding)<br />
Buchtipps zum Thema:<br />
� Rupert Isaacson: Der Pferdejunge – Die Heilung meines Sohnes<br />
� Alfi e Kohn und Cordula Kolarik:<br />
Liebe und Eigenständigkeit: Die Kunst bedingungsloser<br />
Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung<br />
� Sylvia Greifffenhagen, Oliver N. Buck-Werner:<br />
Tiere als Therapie – Neue Wege in Erziehung und Heilung<br />
WESTERNREITER – Oktober <strong>2012</strong>