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grÜn<br />

12<br />

die Würde<br />

der Pflanze<br />

Dass man sich bei der Gentechnologie in Bezug auf<br />

Mensch und Tier streitet, ist verständlich. Warum aber<br />

sollen Pflanzen geschützt werden? Genetische Veränderungen an Pflanzen sind, solange sie deren Eigenst<br />

Von Lucas Müller<br />

Frühling – überall beginnt das Grün zu<br />

spriessen und verkündet das Ende der kalten<br />

Jahreszeit. Mit dem Grün sind natürlich<br />

Pflanzen gemeint. Deren Blätter enthalten den<br />

Farbstoff Chlorophyll, der grünes Licht streut<br />

und den Pflanzen ermöglicht, Photosynthese<br />

zu betreiben, also Energie zu gewinnen und zu<br />

leben. Doch was für Lebewesen sind Pflanzen<br />

eigentlich? Gerade im Zuge der neuen Möglichkeiten<br />

der Gentechnologie, die eine Manipulation<br />

des Genoms erlauben, stellt sich die<br />

Frage, ob Eingriffe in den existenziellen Teil<br />

jedes Lebewesens moralisch gerechtfertigt<br />

sind.<br />

Im Artikel 120 der Schweizerischen Bundesverfassung<br />

über Gentechnologie im Ausserhumanbereich<br />

steht geschrieben: «Er [der Gesetzgeber]<br />

trägt dabei der Würde der Kreatur<br />

sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und<br />

Umwelt Rechnung und schützt die genetische<br />

Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.» Ist die<br />

Würde der Pflanzen nur eine juristische Spielerei<br />

oder steckt wirklich etwas dahinter? Mit<br />

dieser Frage hat sich die Eidgenössische Ethikkommission<br />

für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich<br />

(EKAH) befasst. Sie hat der<br />

Pflanze letztlich eine Würde zuerkannt, wofür<br />

sie 2008 den Ig-Nobelpreis erhalten hat.<br />

Was ist überhaupt eine Pflanze? Dieser<br />

Frage ist Jürg Stöcklin von der Universität<br />

Basel für die Ethikkommission nachgegangen.<br />

Er hat herausgefunden, dass es sehr auf die Position<br />

ankommt: Auf der einen Seite steht der<br />

Anthropozentrismus, der den Menschen zum<br />

Massstab nimmt, und auf der anderen Seite<br />

der Biozentrismus, der jedes Lebenswesen um<br />

seiner selbst Willen berücksichtigt. Aus anthropozentrischer<br />

Sicht, die also die Selbstähnlichkeit<br />

des Menschen zum Kritierium macht, lässt<br />

sich eine Überlegenheit der Tiere herleiten,<br />

denn diese haben wie der Mensch ein Nervensystem<br />

und eine körperliche Integrität.<br />

Überlegenheit der Pflanzen<br />

Der Biozentrismus, der die Erkenntnisse<br />

der modernen Biologie berücksichtigt, kann<br />

dagegen keine Inferiorität der Pflanzen gegenüber<br />

der Tierwelt feststellen. Evolutionsbiologisch<br />

haben sich Pflanzen und Tiere im<br />

Vergleich zur langen gemeinsamen Entwicklung<br />

erst in jüngerer Zeit in zwei verschiedene<br />

Reiche aufgespalten. Sie beide haben eigene<br />

Entwicklungs- und Anpassungsprozesse an<br />

die Umwelt durchlaufen, wobei die Pflanzen<br />

ebenso komplexe Wechselwirkungen mit der<br />

Umwelt eingegangen sind wie Mensch und<br />

Tier. Viele Mechanismen der pflanzlichen Reaktion<br />

auf Reize der Umgebung und der inneren<br />

Kommunikation sind ähnlich differenziert,<br />

aber eben an die festsitzende und autotrophe<br />

Lebensweise der Pflanzen angepasst.<br />

Laut Stöckli liesse sich sogar am ehesten noch<br />

eine Überlegenheit der Pflanzen postulieren,<br />

da tierisches Leben selten eine Vorraussetzung<br />

für pflanzliches ist, wogegen tierisches Leben<br />

ohne Pflanzen nicht möglich wäre.<br />

Die eidgenössische Kommission schliesst sich<br />

der modernen biozentristischen Sichtweise an.<br />

Ausserdem geht sie davon aus, dass einem Lebewesen<br />

auch geschadet werden kann, wenn<br />

es die Schädigung selbst nicht als solche erlebt.<br />

Schliesslich erhebt die Kommission die Einzelpflanze<br />

und nicht die Population beziehungsweise<br />

die Art zum Objekt der moralischen Berücksichtigung.<br />

Allerdings scheint die Kommission<br />

dem Biozentrismus nicht konsequent<br />

Rechnung zu tragen, wenn sie eine stärkere<br />

Rechtfertigung für die Nutzung von Tieren als<br />

für die Nutzung von Pflanzen verlangt. Jedoch<br />

ist für sie die Bedeutung einer Pflanzenart<br />

ebenso hoch wie die einer Tierart.<br />

Aus all diesen Überlegungen ergeben sich<br />

sieben Schlussfolgerungen für den Umgang<br />

mit Pflanzen – unter anderem, dass es moralisch<br />

verwerflich ist, Pflanzen am Wegesrand<br />

ohne vernünftigen Grund zu köpfen, oder dass<br />

niemand völlig frei und beliebig mit Pflanzen<br />

umgehen darf. Genetische Veränderungen an<br />

Pflanzen sind, solange sie ihre Eigenständigkeit<br />

nicht gefährden, allerdings zulässig.<br />

eine neue ethik<br />

Natürlich fragt man sich, ob solche Überlegungen<br />

nicht als akademisches Geschwätz<br />

abzutun sind und die Mitglieder der EKAH<br />

nichts Sinnvolleres zu tun haben, als über eine<br />

mögliche Würde der Pflanze zu diskutieren.<br />

In den letzten gut 100 Jahren hat die Wissenschaft<br />

enorme Fortschritte gemacht und viele<br />

neue Möglichkeiten eröffnet. Dagegen ist die<br />

Ethik in der Beantwortung moralischer Fragen<br />

Polykum Nr. 7/08–09 Bild: Hannes Hübner

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