02/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Fr. 7.50 2/Februar <strong>2017</strong><br />
Jesper Juul<br />
Kämpfen Sie für sich,<br />
nicht gegen Ihren Mann<br />
11 Tipps für Eltern<br />
So sind Ihre Kinder<br />
sicher im Internet<br />
unterwegs<br />
Burnout mit 12<br />
Erschöpft und<br />
antriebslos
Das Kinderbuch mit Gian und Giachen.<br />
Und vielen Kinderbuch-Vorteilen. Jetzt erhältlich<br />
im Buchhandel und auf graubuenden.ch/kinderbuch<br />
Exklusiver Kinderbuch-Vorteil:<br />
Gratis-Skischule und<br />
-Skipass in Arosa für Kinder<br />
bis Jahrgang 1999
Editorial<br />
Bild: Geri Born<br />
Nik Niethammer<br />
Chefredaktor<br />
«Eine Generation, die zunehmend<br />
in den besten Lebensjahren mit<br />
Burnout zu kämpfen hat, entwirft<br />
für ihre eigenen Kinder einen<br />
Lebensweg mit noch mehr Tempo,<br />
noch mehr Leistung, noch mehr<br />
‹Förderung›. Sie funktioniert<br />
Kin dergärten zu Schulen um, weil<br />
sie glaubt, Kinder, die früh Mathe<br />
lernen, seien schneller am Ziel.<br />
Moment einmal – an welchem Ziel?»<br />
Herbert Renz-Polster, deutscher Kinderarzt,<br />
Wissenschaftler und Buchautor<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
In unserer Nähe wurde kürzlich ein Wohnheim für Flüchtlinge eröffnet. Bevor<br />
die Menschen einzogen, durften unsere Kinder einen Augenschein nehmen.<br />
Wie zwei kleine Forscher stapften sie durch die enge Behausung, begutachteten<br />
die Gemeinschaftsküche und die Gemeinschaftswaschräume und die<br />
16 Quadratmeter Grundfläche, die jeder Familie zum Leben bleibt. Um<br />
schliesslich beinahe triumphierend festzustellen: «So ein Container ist ja<br />
nicht viel grösser als unser Spielzimmer.»<br />
Die Flüchtlinge sind da. Und sie sind mitten unter uns. «Wie zugewanderte<br />
Kinder und Jugendliche unsere Schulen verändern – und verbessern» lautet der<br />
Titel eines Buches, das im letzten Jahr für Aufsehen sorgte – und viele gehässige<br />
Reaktionen von Flüchtlingsgegnern auslöste. Ich habe die Autorin Katharina<br />
Blass gebeten, uns aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Einwanderung auf<br />
unser Bildungssystem hat. Und was von der Sorge zu halten ist, dass in vor<br />
Flüchtlingen überquellenden Klassen kaum mehr Deutsch<br />
gesprochen werde und die Qualität des Unterrichts leide.<br />
Wir müssen die Dinge rasch anpacken – ab Seite 38.<br />
Eine Chance für Mohamed – ab Seite 52.<br />
Ein bisschen stolz sind wir beim Schweizer ElternMagazin<br />
schon, mit Michèle Binswanger die vom Branchenmagazin<br />
«Schweizer Journalist» ausgezeichnete<br />
«Gesellschaftsjournalistin des Jahres 2016» an Bord zu<br />
haben. Binswangers Themenbreite sei gewaltig, heisst es<br />
in der Jury-Begründung. «Sie reicht von ‹Fussball: Eine<br />
Abrechnung› über ‹Schrott-Journalismus› bis zum<br />
‹Sexlamismus›. Doch ihre Thesen sind ideologisch nicht<br />
kalkulierbar. Sie ist die politisch unkorrekte Feministin<br />
des Journalismus.»<br />
Davon, dass die studierte Philosophin und zweifache<br />
Mutter immer wieder den Nerv der Zeit trifft, wortgewaltig<br />
und meinungsstark, können Sie sich auch in dieser<br />
Ausgabe überzeugen: In ihrer bisher persönlichsten Fritz+Fränzi-Kolumne<br />
schreibt die Autorin über die Schönheit der Liebe. Und die Schmerzen, die sie<br />
verursacht. Ein grossartiger Text, wie ich finde. Liebe ist seltsam – Seite 43.<br />
Nun wünsche ich Ihnen viel Lesevergnügen mit dieser Ausgabe. Ausgewählte<br />
Geschichten aus dem Heft sowie Texte, die wir nur online publizieren, finden<br />
Sie auf unserer Webseite unter www.fritzundfraenzi.ch.<br />
Herzlichst, Ihr Nik Niethammer<br />
850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>3
Inhalt<br />
Ausgabe 2 / Februar <strong>2017</strong><br />
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />
fritzundfraenzi.ch und<br />
facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Augmented Reality<br />
Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />
erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />
Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />
Erziehung & Schule<br />
38 Flüchtlinge machen Schule<br />
Überfüllte Klassenräume, sinkendes<br />
Lernniveau? Nein, junge Flüchtlinge<br />
bereichern unsere Schulen, sagt<br />
Autorin Katharina Blass.<br />
42 Schreib doch mal!<br />
Ob Einkaufszettel oder<br />
Familienkalender – der Alltag bietet<br />
viele Anlässe, das Schreiben zu üben.<br />
46 Kind, du hast (das) Recht!<br />
Was steht unseren Kindern von<br />
Gesetzes wegen zu?<br />
10<br />
Dossier: Erschöpft<br />
10 Wenn der Antrieb fehlt<br />
Viel wurde über Burnout bei Buben und<br />
Mädchen geschrieben. Aber wie geht<br />
es unseren Kindern wirklich? Experten<br />
zeichnen ein differenziertes Bild.<br />
Bild: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
26 Alles halb so schlimm …<br />
… sagt Martin Dornes, früher hatten<br />
Familien auch nicht weniger Stress.<br />
Ein Gespräch mit dem streitbaren<br />
Entwicklungspsychologen.<br />
28 Nur keine Angst!<br />
Der Lernforscher Josef Meier hat eine<br />
Methode entwickelt, die Schülern helfen<br />
soll, Druck und Nervosität abzubauen.<br />
Cover<br />
Manchmal wird<br />
schon Kindern und<br />
Jugendlichen alles<br />
zu viel: Diagnose<br />
Burnout, unser<br />
Dossier im März.<br />
Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo, Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Roshan Adihetty / 13 Photo, iStockphoto<br />
4
30<br />
52<br />
66<br />
Wann muss ein Kind zum<br />
Schulpsychologen, Ruth Etienne Klemm?<br />
Ein Programm soll jungen Migranten dabei<br />
helfen, ihre schulischen Ziele zu erreichen.<br />
Wie schützen Jugendliche ihre Daten im<br />
Internet? Ein Leitfaden.<br />
50 «Mama, mir ist langweilig!»<br />
Der Tag vieler Kinder ist heute von<br />
morgens bis abends verplant. Dabei<br />
ist das Nichtstun so wichtig.<br />
52 Eine Chance für Mohamed<br />
Im Begabtenprogramm ChagALL soll<br />
jungen Migranten der Sprung an die<br />
Mittelschule ermöglicht werden.<br />
Ernährung & Gesundheit<br />
62 Gesunde Zähne<br />
Wenn Kinderzähne bei Unfällen<br />
beschädigt werden, sollten Eltern<br />
den Zahnarzt aufsuchen.<br />
Psychologie & Gesellschaft<br />
64 Kinder vor dem Gesetz<br />
Ab wann können Kinder für ihr<br />
Handeln zur Rechenschaft gezogen<br />
werden?<br />
Digital & Medial<br />
66 Sicherheit im Netz<br />
Experte Martin Hellweg gibt Tipps<br />
zum Thema Daten und Sicherheit.<br />
70 Empfohlen ab …<br />
Bei der Altersfreigabe von Büchern,<br />
Videos und Games gibt es zum<br />
Teil erhebliche Unterschiede. Ein<br />
wichtiger Überblick.<br />
71 Mixed Media<br />
Rubriken<br />
03 Editorial<br />
06 Entdecken<br />
30 Monatsinterview<br />
Die Schulpsychologin Ruth Etienne<br />
Klemm über die Schwierigkeiten,<br />
mit denen Familien und Lehrer heute<br />
konfrontiert sind.<br />
36 Jesper Juul<br />
Zu einer destruktiven Beziehung<br />
braucht es immer zwei, sagt der<br />
Familientherapeut und rät einer Frau,<br />
aus der Opferrolle auszubrechen.<br />
43 Michèle Binswanger<br />
Unsere Kolumnistin über die Liebe.<br />
44 Fabian Grolimund<br />
Alle Eltern kennen es: Das Kind trödelt<br />
und treibt einen damit zur Weissglut.<br />
Aus der Haut fahren hilft da wenig.<br />
49 Stiftung Elternsein<br />
Ellen Ringier über die Gefahren des<br />
Populismus.<br />
58 Leserbriefe<br />
Service<br />
65 Verlosung<br />
72 Sponsoren/Impressum<br />
73 Buchtipps<br />
74 Eine Frage – drei Meinungen<br />
Eine Mutter möchte mit ihren Kindern<br />
ein Tischgebet sprechen. Der Vater<br />
ist Atheist. Sollte sie auf das religiöse<br />
Ritual verzichten?<br />
75 Abo<br />
Die nächste Ausgabe erscheint<br />
am 6. März <strong>2017</strong>.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>5
Entdecken<br />
Ich lüge, na und?<br />
Je häufiger Menschen lügen,<br />
desto weniger Skrupel empfinden<br />
sie, so die Studienergebnisse<br />
einer Forschergruppe am<br />
University College in London.<br />
Sie liessen Probanden in einem<br />
Hirnscanner hemmungslos<br />
lügen. Während die Amygdala,<br />
die Hirnregion, in der die emotionale<br />
Bewertung von Situationen<br />
stattfindet, anfangs noch<br />
bei jeder Unwahrheit aufflackerte,<br />
wurde dieses Signal<br />
mit der Zeit immer schwächer.<br />
Das schlechte Gewissen wegen<br />
des Lügens liess nach …<br />
3 FRAGEN<br />
an Alessandra Weber, Geschäftsleiterin Institut Kinderseele Schweiz<br />
«Teenager beraten Teenager»<br />
Um Eltern mit einer psychischen Krankheit sowie ihre Familien und ihr<br />
Umfeld mit Informationen und Hilfsangeboten noch besser zu erreichen,<br />
bereitet die Organisation Institut Kinderseele Schweiz iks eine Online-<br />
Plattform auf. Ein erstes Herzstück dieser Plattform sind zwölf Kurzfilme<br />
zum Thema, wie Alessandra Weber vom iks sagt.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
160 Mio. Stunden mehr opfern Mädchen zwischen<br />
5 und 14 Jahren für die Hausarbeit<br />
als Jungen. Laut dem Kinderhilfswerk Unicef verbringen<br />
Mädchen damit weltweit im Schnitt 40 %<br />
mehr Zeit damit, zu kochen, zu putzen und sich<br />
um Familienmitglieder zu kümmern.<br />
Alessandra Weber, wen möchte die Organisation mit ihrer Plattform<br />
erreichen?<br />
Die vier Hauptzielgruppen sind betroffene Eltern, deren Kinder, Menschen<br />
in ihrem Umfeld wie Freunde und Nachbarn sowie Personen, die beruflich<br />
mit Kindern psychisch belasteter Eltern zu tun haben wie etwa Lehrer.<br />
Was finden diese auf ihrer Homepage?<br />
Für ihre Gruppe speziell aufbereitete Informationen. So haben wir beispielsweise<br />
für jede Zielgruppe Kurzfilme zum Thema aufgenommen. Im Zentrum<br />
der Filme steht jeweils eine Geschichte, die auf Erfahrungsberichten von<br />
Be troffenen basiert. Die Geschichten werden in Form von Testimonials erzählt<br />
und sind von Schauspielern gespielt.<br />
Wann werden diese Filme zu sehen sein?<br />
Schon jetzt. Weitere Filme, in denen Jugendliche die sieben häufigsten<br />
psychischen Krankheiten einfach erklären, folgen im Frühling. Auch eine<br />
anonyme E-Beratung durch eine Fachperson oder einen Peer ist geplant. Dabei<br />
werden Jugendliche von jungen Menschen beraten, Eltern von anderen<br />
betroffenen Eltern.<br />
Alle Infos auf www.iks-ies.ch<br />
Ein Lachen schenken<br />
Circolina heisst ungeschminkt Silvia Rindlisbacher und war<br />
früher als Sozialarbeiterin tätig. Heute ist sie die Initiantin des<br />
Vereins Huusglön. 2008 wurde der Verein gegründet mit dem Ziel,<br />
kranke und behinderte Menschen auch ausserhalb des Spitals, an<br />
ihrem Wohnort, zu besuchen und zum Lachen zu bringen. Mit<br />
einfühlsamen Improvisationen<br />
nehmen Circolina und<br />
ihre Clownkollegen Kontakt<br />
zu ihren grossen und<br />
kleinen Zuschauern auf und<br />
zaubern so manches<br />
Lachen hervor. Ihr Engagement<br />
ist unentgeltlich.<br />
Infos auf www.huusgloen.ch<br />
Starten Sie<br />
die aktuelle<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
scannen Sie diese Seite<br />
und erleben Sie die<br />
Huusglön bei<br />
Ihrer Arbeit.<br />
Bild: iStockphoto<br />
6 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Publireportage<br />
Rubrik<br />
Snow’n’Rail: attraktive Kombi-<br />
Angebote für die ganze Familie.<br />
Geniessen Sie gemeinsam mit Ihren Liebsten unvergessliche<br />
Momente im Schnee und entdecken Sie die familienfreundlichen<br />
Angebote in den Schweizer Skigebieten. Dank den günstigen<br />
Kombi-Angeboten reisen Familien bequem mit dem Öffentlichen<br />
Verkehr in zahlreiche traumhafte Wintersportorte und profitieren<br />
von ermässigten Skipässen.<br />
Ermässigt auf die Piste<br />
mit Snow’n’Rail.<br />
Zahlreiche Schweizer Skigebiete haben<br />
sich besonders den Familien verschrieben<br />
und bieten mit familienfreundlichen Einrichtungen<br />
und Angeboten alles, was es für<br />
den perfekten Schneespass braucht.<br />
Mit den Snow’n’Rail-Kombi-Angeboten<br />
von SBB RailAway reisen Sie nicht nur<br />
bequem mit dem Öffentlichen Verkehr an,<br />
Sie sparen auch richtig viel Geld. Neben<br />
dem ermässigten 1-, 2- und 6-Tages-<br />
Skipässen und 20% Rabatt auf die Fahrt<br />
mit dem Öffentlichen Verkehr können<br />
Sie beim Kauf von Snow’n’Rail-Kombi-<br />
Angeboten ausserdem von 15% auf die Miete<br />
Ihrer Wintersportausrüstung bei «Intersport<br />
Rent» profitieren.<br />
Blatten-Belalp.<br />
Belalp – unter den Sternen.<br />
In nur 100 Minuten erreichen Sie von Bern aus<br />
die Belalp. Es erwarten Sie 68 km Abfahrten in<br />
allen Schwierigkeitsgraden. Direkt bei der<br />
Bergstation der Gondelbahn befindet sich<br />
das «Hexenland» für unsere kleinen Gäste.<br />
Das Gebiet erstreckt sich vom Hohstock auf<br />
3118 m ü. M. bis nach Blatten auf 1322 m ü. M.<br />
Neben top präparierten Pisten wartet der<br />
150 Meter lange Skitunnel Hohstock mit traumhaften<br />
Abfahrten. Er ist das Tor zum weissen<br />
Paradies für Freerider und Tiefschneefahrer<br />
und bietet auch auf präparierter Piste einen<br />
unvergesslichen Genuss. Die 7 Kilometer lange<br />
Schlittel abfahrt Belalp-Blatten ist in der Nacht<br />
wie auch am Tag immer ein Erlebnis.<br />
Braunwald.<br />
Wintererlebnis «Hoch über dem Alltag».<br />
Braunwald, das Glarner Bergdorf hoch über<br />
dem Alltag. Nach einer kurzen Anreisezeit<br />
sind Sie bereits auf 1256 m ü. M. – und es geht<br />
noch höher hinaus. Auf Skifahrer und Snowboarder<br />
warten präparierte Pisten für jedes<br />
Niveau und ein abwechslungsreicher Funpark.<br />
Die rassige Schlittel bahn sowie der gemütliche<br />
Schlittelweg sind eine optimale Schneesport<br />
Alternative. Naturfreunde geniessen das<br />
Wandererlebnis mit Blick auf das hochalpine<br />
Bergpanorama. Braunwald ist der ideale<br />
Familiensportort mit Unterkünften in jeder<br />
Preisklasse. Bis bald in Braunwald.<br />
Die Kombi-Angebote sind online, an den<br />
meisten Schweizer Bahnhöfen sowie am<br />
Billettautomat erhältlich. Beim Online-Kauf<br />
des Snow’n’Rail-Kombis können Sie den<br />
Skipass für zahlreiche Skigebiete einfach<br />
und bequem auf den SwissPass laden. Mit<br />
dem SwissPass können Sie im Skigebiet<br />
ohne Anstehen an der Kasse direkt durch<br />
die Drehkreuze und ab ins Schneesportvergnügen.<br />
Alle Informationen zu den attraktiven<br />
Snow’n’Rail-Kombi-Angeboten für über<br />
35 Wintersportgebiete finden Sie auf<br />
sbb.ch/snownrail.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>7
Entdecken<br />
Vom Fremdsein<br />
Gullivers Reisen Die Szene ist berühmt: Gulliver, im Zwergenstaat Liliput zum<br />
Riesen mutiert, wird von todesmutigen Liliputanern mit stecknadelkleinen Speeren und<br />
spinnwebdünnen Fäden an den Boden gefesselt. Gulliver, halb amüsiert, halb empört,<br />
kommt mit den Winzlingen ins Gespräch und kann sie schliesslich von seiner Friedfertigkeit<br />
überzeugen. Das Think Tank Théâtre aus Genf bringt das weltbekannte Stück des<br />
irischen Schriftstellers und Satirikers Jonathan Swift im Februar ins Schlachthaustheater<br />
Bern! Dabei spielt das Stück in einem geschlossenen, realistisch gestalteten Bühnenraum,<br />
in dem die Kinder durch Fenster einen jeweils individuellen Blick auf die märchenhafte<br />
Welt von Liliput erhaschen. Und dank Kopfhörern können die Kinder all das, was nicht<br />
existiert, plötzlich wahrnehmen – die brodelnde Atmosphäre der liliputanischen Hauptstadt<br />
wird als Kino im Kopf greifbar.<br />
Gulliver – Zimmerstück n° 2, ab acht Jahren (auf Deutsch), www.schlachthaus.ch<br />
«Wann hast du dich<br />
zuletzt fremd gefühlt?»,<br />
fragen namhafte Autoren<br />
wie Franz Hohler,<br />
Felicitas Pommerening<br />
und Patrick Tschan in<br />
der Kurzgeschichten-<br />
Sammlung «Fremdsein». Aufhänger dieser<br />
Sammlung sind die Flüchtlingsströme, die<br />
Nord- und Mitteleuropa erreicht haben.<br />
Und natürlich wird in diesen Geschichten<br />
von der Flucht erzählt – aber nicht nur.<br />
«Wir entfremden uns in Beziehungen und<br />
Familien voneinander. Wir fühlen uns<br />
fremd, wenn sich das Umfeld verändert.<br />
Aber wir können uns auch fremd fühlen,<br />
wenn wir selbst es sind, die sich verändern<br />
– und dann nicht mehr in das Gewohnte<br />
hineinpassen», schreibt die Herausgeberin<br />
und Journalistin Bianca Fritz im Vorwort.<br />
Ein bewegendes Buch über ein Gefühl, das<br />
uns alle verbindet: Fremdsein. Der Erlös<br />
geht an World Vision Schweiz und Terre<br />
des hommes Schweiz, die ihn bei Hilfsprojekten<br />
für Flüchtlingskinder rund um<br />
Syrien und auf der Balkanroute einsetzen.<br />
«Fremdsein», epubli, 2016, ab Fr. 9.90,<br />
auch als E-Book erhältlich<br />
Alle Informationen auf www.fremdsein.net<br />
«Für jeden Franken, den man in eine<br />
psychotherapeutische Behandlung<br />
investiert, kann man im Sozialsystem<br />
zwei bis drei Franken sparen.»<br />
Yvik Adler in der NZZ über das heutige Delegationsmodell. Dieses<br />
besagt, dass psychologische Psychotherapeuten – also Menschen mit<br />
einem Studium in Psychologie, nicht in Medizin – bei einem Arzt<br />
oder Psychiater angestellt sein müssen, damit die Grundversicherung<br />
für die Behandlung aufkommt.<br />
Yvik Adler ist Co-Präsidentin<br />
der Föderation der Schweizer<br />
Psychologen (FSP).<br />
Für kleine und grosse Forscher<br />
Was machen eigentlich Patumbah-Forscher? Sie<br />
sammeln, entdecken, fotografieren und zeichnen<br />
ihre Entdeckungen zu wechselnden Themen rund<br />
um die Baukultur. Wann sie das machen? Immer<br />
am ersten Mittwoch des Monats, wenn die Villa<br />
Patumbah ihre Ateliers für Kinder ab sechs Jahren<br />
öffnet. Bei jedem Besuch füllen die jungen Forscher<br />
ein Tagebuch und erhalten zum Schluss ein<br />
Entdeckerdiplom. Das Angebot ist offen, eine<br />
Anmeldung nicht nötig. Jeden zweiten Sonntag<br />
des Monats dürfen auch die Eltern mit ins Atelier ...<br />
www.heimatschutzzentrum.ch<br />
Bilder: ZVG<br />
8 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
schenken sie lebensfreude<br />
für kinder mit einer krankheit, behinderung<br />
oder schweren verletzung.<br />
Die Stiftung Kinderhilfe Sternschnuppe<br />
erfüllt Herzenswünsche<br />
und lässt Träume wahr werden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
www.sternschnuppe.ch<br />
postkonto 80-20400-1<br />
Februar <strong>2017</strong>9<br />
Diese Anzeige ist für die Stiftung Kinderhilfe Sternschnuppe kostenlos.
Wenn alles<br />
zu viel wird<br />
Immer häufiger klagen bereits Zwölfjährige über Erschöpfung und<br />
Antriebslosigkeit. Wer ist schuld? Die Leistungsgesellschaft mit<br />
ihrem Schlachtruf: höher, schneller, weiter? Die Schule? Die Eltern,<br />
die ihren Kindern alles abverlangen? Oder setzen sich Kinder heute<br />
selber zu sehr unter Druck? Eine Spurensuche.<br />
Text: Virginia Nolan Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
10 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>11
Dossier<br />
Die Bilder zu diesem Dossier stammen vom<br />
Zürcher Fotografen Daniel Auf der Mauer.<br />
Der 38-Jährige fotografiert regelmässig<br />
Reportagen und Porträts für internationale<br />
Publikationen wie «The New York Times» und<br />
«Der Spiegel». Alle im Dossier abgebildeten<br />
Jugendlichen haben der Veröffentlichung<br />
von Text und Bildern zugestimmt.<br />
Nachwuchs sei nicht gestresst, sondern<br />
verweichlicht, sagen die anderen.<br />
Wie geht es Kindern im Zeitalter<br />
von Effizienzsteigerung und<br />
Gewinnmaximierung, von Flexibilisierung<br />
und Globalisierung? Wir<br />
fragen Kinder und Jugendliche. Und<br />
haken bei denen nach, die sie täglich<br />
begleiten; bei Eltern, Jugendarbeitern,<br />
Lehrpersonen, Therapeuten,<br />
Sozialforschern und beim Krisencoach.<br />
Es gibt ein Sprichwort, das<br />
besagt, nichts sei so ge <br />
recht verteilt wie der<br />
Verstand: Jeder glaube,<br />
er habe genug davon.<br />
Mit dem Stress verhält es sich ähnlich.<br />
Gerade als Eltern sind wir der<br />
Meinung, wir kämen damit nicht zu<br />
kurz. Und doch sagt dies allein<br />
wenig darüber aus, wie hoch unsere<br />
Belastung tatsächlich ist. Ein Zu <br />
stand, den wir als Volkskrankheit<br />
bezeichnen, verlangt nach einer kritischeren<br />
Auseinandersetzung. Im<br />
Idealfall sieht diese vermutlich so<br />
aus, dass wir nicht blindlings einstimmen<br />
ins Klagelied über die Leistungsgesellschaft,<br />
aber gleichzeitig<br />
unsere Augen öffnen für deren<br />
Opfer – erst recht, wenn es Kinder<br />
sind.<br />
Diesen Ansatz verfolgt dieses<br />
Dossier. Es will erklären, einordnen.<br />
Burnout sei, warnen die einen, im<br />
Kinderzimmer angekommen. Der<br />
Hohe Lebenszufriedenheit,<br />
nüchterne Stressbilanz<br />
Anhaltspunkte für das emotionale<br />
Wohlbefinden von Schulkindern in<br />
der Schweiz liefert die Studie «Health<br />
Behaviour in School-aged Children»<br />
(HBSC). Die Schülerbefragung unter<br />
der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO<br />
untersucht alle vier Jahre die Ge <br />
sundheit von 11- bis 15-Jährigen in<br />
44 Ländern.<br />
«Kinder und Jugendliche nehmen<br />
schlechte Gesundheit kaum als<br />
Krankheit wahr», schickt der Bericht<br />
voraus, «bei schlechter Gesundheit<br />
zu sein bedeutet für sie vor allem,<br />
emotional und zwischenmenschlich<br />
verunsichert zu sein.» Daher sei das<br />
Gesundheitsempfinden von Kindern<br />
und Jugendlichen ein guter<br />
Indikator für deren psychische Verfassung.<br />
Gemäss der aktuellsten HBSC-<br />
Studie aus dem Jahr 2014 schätzen<br />
über 90 Prozent der befragten 10 000<br />
Schülerinnen und Schüler in der<br />
Schweiz ihre Gesundheit als gut<br />
oder ausgezeichnet ein. Auch in<br />
Sachen Lebenszufriedenheit schneiden<br />
sie gut ab. Demnach sind 9 von<br />
10 Knaben zwischen 11 und 15 Jahren<br />
recht bis sehr zufrieden mit<br />
ihrem Leben, von den Mädchen sind<br />
es je nach Altersgruppe zwischen<br />
83 und 87 Prozent.<br />
Nüchterner sieht ihre Stressbilanz<br />
aus. So geben 10 Prozent aller<br />
befragten 11-Jährigen an, regelmässig<br />
traurig zu sein, 15 Prozent schätzen<br />
sich als nervös ein. So <br />
Burnout ist im Kinderzimmer<br />
angekommen, sagen die einen.<br />
Viele Kinder sind heute<br />
verweichlicht, sagen andere. >>><br />
13
Dossier<br />
>>> genannte psychoaffektive<br />
Symptome – die Literatur bezeichnet<br />
sie oft als Stressmerkmale – sind<br />
zum Beispiel Gereiztheit, Müdigkeit<br />
oder Einschlafschwierigkeiten. Die<br />
Pubertät könne solche Anzeichen<br />
durchaus mit sich bringen, schreiben<br />
die Experten. Wenn es sich<br />
allerdings um chronische Symptome<br />
handle, hänge dies mit einem beeinträchtigten<br />
Wohlbefinden zusammen.<br />
Als chronisch gelten Symptome,<br />
die mehrmals wöchentlich oder<br />
während sechs Monaten täglich verspürt<br />
werden. Dabei scheint Müdigkeit<br />
bei Schweizer Kindern am weitesten<br />
verbreitet zu sein. Und: Mit<br />
steigendem Alter äussern bis zu<br />
einem Drittel der Knaben mindestens<br />
zwei chronische, psychoaffektive<br />
Symptome, bei den Mädchen<br />
beträgt der Höchstwert hier sogar<br />
46 Prozent.<br />
Der Druck ist selbst gemacht<br />
Während die Daten zur HBSC-Studie<br />
die Frage nach den Stressfaktoren<br />
nicht im Detail beantworten, gibt die<br />
Studie Juvenir 4.0 der Jacobs Foundation<br />
Antwort darauf. Sie hat allerdings<br />
nicht Kinder im Fokus, sondern<br />
Schweizer Jugendliche im Alter<br />
zwischen 15 und 21 Jahren.<br />
In der Untersuchung von 2014<br />
sagte fast die Hälfte der 1500 Befragten,<br />
das Gefühl von Stress und<br />
Überforderung gehöre zu ihrem Alltag.<br />
56 Prozent der weiblichen<br />
Jugendlichen gaben an, häufig bis<br />
sehr häufig unter Druck zu stehen,<br />
bei den männlichen waren es 37<br />
Prozent. Wichtigste Stressursachen<br />
sind Schule, Studium und (Lehr-)<br />
Beruf: In diesen Bereichen fühlen<br />
sich 60 Prozent der Jugendlichen<br />
häufig bis sehr häufig gestresst und<br />
überfordert.<br />
Die viel diskutierte «Terminfreizeit»<br />
scheint dagegen kein Thema zu<br />
sein: Sport und Hobbys setzen<br />
Jugendliche kaum unter Druck, das<br />
gilt auch für den Umgang mit sozialen<br />
>>><br />
Medien.<br />
Sport und Hobbys setzen<br />
Jugendliche kaum unter Druck.<br />
Das gilt auch für den<br />
Umgang mit sozialen Medien.<br />
«Ich fühlte<br />
mich wie in<br />
einer Blase»<br />
Für Sandra, 17, Praktikantin<br />
Behindertenbetreuung, liegt der<br />
schlimmste Druck darin, so sein<br />
zu müssen wie alle anderen. Das<br />
habe sie an den Rand ihrer Kräfte<br />
gebracht, ihr die Lebensfreude<br />
und den Schlaf geraubt.<br />
«Gegen Ende der Primarschule war ich<br />
plötzlich zur Zielscheibe geworden: Ich<br />
wurde fertiggemacht. Vielleicht war mein<br />
Gewicht der Grund dafür oder meine ruhige<br />
Art. Ich weiss es nicht. Jedenfalls gab man<br />
mir täglich zu verstehen, dass ich komisch<br />
sei, nicht so wie die anderen, ein Nichts. So<br />
ging das zwei Jahre lang. Ich reagierte mit<br />
Rückzug. Mir fehlte die Kraft, mit meinen<br />
Eltern zu sprechen, ich reagierte gereizt,<br />
wenn sie es versuchten. Ich konnte nicht<br />
schlafen, war nervös und müde. Ich fühlte<br />
mich wie in einer Blase, umhüllt von Traurigkeit.<br />
Selbstmordgedanken begleiteten<br />
mich jeden Tag. Meine Eltern drängten<br />
mich, Hilfe zu suchen. Die Jugendseelsorge<br />
war ein Glücksfall.<br />
In der Oberstufe wendete sich mein<br />
Leben zum Guten. Auf einer Privatschule<br />
fand ich meine beste Freundin. Sie hat<br />
mich gelehrt, für mich einzustehen. Ich war<br />
glücklich, bis es um die Berufswahl ging.<br />
Mit 16 eine solche Entscheidung treffen zu<br />
müssen, hat mich überfordert. Wer die Sek<br />
B besucht, muss sich ständig anhören, dass<br />
es auf diesem Niveau sowieso gelaufen<br />
sei mit der Zukunft. Ich hoffe, das stimmt<br />
nicht. Ich habe bis heute keine Lehrstelle<br />
gefunden, trotz hundert Bewerbungen.<br />
Nach der Sek begann ich ein Praktikum<br />
im Behindertenwohnheim. Ich wurde<br />
ins kalte Wasser geworfen. Mein Chef<br />
erwartete, dass ich mit anpacke wie alle<br />
anderen. Ich war aber langsamer, weil die<br />
Arbeit körperlich anstrengend war. An<br />
mir nagte das Gefühl, nicht zu genügen.<br />
Die Traurigkeit und die Nervosität kamen<br />
zurück, ich hatte Angst, dass sich der<br />
Teufelskreis wiederholt. Der Chef stellte<br />
mir einen Ausbildungsplatz in Aussicht.<br />
Ich klammerte mich an diese Hoffnung,<br />
die sich aber zerschlug: Kurz vor Ablauf<br />
meines Praktikums erfuhr ich, dass es für<br />
mich keine Anschlusslösung gibt.<br />
Dank der Hilfe meiner Mutter konnte<br />
ich in einem anderen Wohnheim ein Praktikum<br />
beginnen. Hier blühe ich auf. Ich<br />
muss nicht nur funktionieren, sondern<br />
werde auch angeleitet. Die Arbeit macht<br />
mir Freude, geblieben ist die Sorge, dass<br />
ich als Sek-B-Absolventin mit schwachem<br />
Leistungsausweis nirgendwo unterkomme.<br />
Manchmal breche ich aus dem Nichts in<br />
Tränen aus. Ich will unbedingt Fachfrau Be -<br />
hindertenbetreuung lernen. Dafür bewerbe<br />
ich mich, wenns sein muss, wieder hundert<br />
Mal – aber nicht mehr in diesem Jahr. Nach<br />
dem Praktikum will ich erst einmal nach<br />
Australien, Englisch lernen.»<br />
14
Dossier<br />
>>> Es scheinen weder Eltern,<br />
Lehrer noch Berufsbildner zu sein,<br />
die den Nachwuchs mit ihren An <br />
sprüchen überfordern. In der Juvenir-Studie<br />
gaben 80 Prozent der<br />
Gestressten an, nicht andere, sondern<br />
sie selbst setzten sich unter<br />
Druck. Als Grund dafür führen Forscher<br />
die starke Leistungsorientierung<br />
und die Zukunftsangst vieler<br />
Jugendlichen an; Eigenschaften, die<br />
bereits in vorhergehenden Umfragen<br />
festgestellt worden seien. Bezeichnenderweise<br />
hätten 80 Prozent der<br />
Vier von fünf gestressten<br />
Jugendlichen geben an, nicht<br />
andere, sondern sie selbst<br />
setzten sich unter Druck.<br />
Jugendlichen, die sich gestresst fühlten,<br />
auch Angst um ihre berufliche<br />
Zukunft.<br />
Alain Di Gallo, Leiter der Kinderund<br />
Jugendpsychiatrischen Klinik<br />
der Universitären Psychiatrischen<br />
Kliniken Basel, kennt das Phänomen.<br />
«Unser Bildungssystem ist<br />
durchlässiger geworden», sagt er,<br />
«das ist eine grosse Errungenschaft,<br />
die nicht nur Chancen bietet, sondern<br />
auch Druck erzeugen kann.<br />
Man kann immer noch eine Stufe<br />
höher steigen, sich noch besser qualifizieren.<br />
Als Kehrseite drohen der<br />
Fall, Gefühle von Ungenügen und<br />
nagende Selbst zweifel.»<br />
Burnout bei Kindern?<br />
«Es kommt so gut wie nicht mehr<br />
vor, dass Eltern mich fragen, was sie<br />
tun sollen, damit ihr Kind die Schule<br />
endlich ernst nimmt», sagt >>><br />
«Ich will<br />
nicht Coiffeuse<br />
werden»<br />
Yara, 14, setzt alles daran, es ins<br />
Gymnasium zu schaffen. Die<br />
Sekschülerin hat Angst, dass ihre<br />
Zukunftschancen sonst schwinden.<br />
«Manchmal habe ich das Gefühl, über mir<br />
schwebe eine dunkle Wolke. Dann blicke<br />
ich nicht mehr durch. Ich gebe mir in der<br />
Schule allergrösste Mühe, was sich kaum<br />
auf meine Noten auswirkt. Ich besuche die<br />
zweite Sekundarklasse und bereite mich<br />
auf die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium<br />
vor, wie die Hälfte der Schüler in meiner<br />
Klasse. Nach der sechsten Klasse hatten<br />
es ausser drei Schülern alle versucht, ich<br />
inklusive. Ich hoffe, diesmal klappt es.<br />
Manchmal zweifle ich an mir: Bin ich<br />
nicht klug genug? Sollte ich mich besser für<br />
eine Lehrstelle bewerben? Ich weiss, dass<br />
dies für mich nicht das Richtige wäre. Die<br />
Matura öffnet einem viele Türen. Berufe, die<br />
mich interessieren, setzen sie voraus: Ich<br />
könnte mir vorstellen, Anwältin zu werden<br />
oder Journalistin – aber nicht Coiffeuse.<br />
Gerade kommt alles auf einmal. In der<br />
Schule steht die Berufswahl im Zentrum,<br />
dabei bräuchte ich meine Energie, um mich<br />
auf die Gymiprüfung vorzubereiten. Im Vorbereitungskurs,<br />
den die Schule anbietet,<br />
musste ich mir meinen Platz erkämpfen.<br />
Der Klassenlehrer wollte meine Teilnahme<br />
verhindern, ich sei nicht geeignet. Nun kann<br />
ich doch hingehen, weil sich meine Eltern<br />
für mich eingesetzt haben: Für sie ist meine<br />
Motivation wichtiger als die Schulnoten.<br />
Ich war in der Primarschule aus den USA<br />
in die Schweiz gezogen, meine Eltern sind<br />
Ingenieure und hatten hier ein Jobangebot.<br />
Deutschlernen war anspruchsvoll, doch die<br />
grösste Umstellung bedeutete das Schulsystem.<br />
In Amerika war der Unterricht an <br />
schaulicher, aktiver. Hier hält der Lehrer<br />
einen Monolog. In den USA war der Stundenplan<br />
nicht für alle gleich, man ging ein<br />
auf die individuellen Stärken der Schüler.<br />
Freizeit habe ich kaum. An Abenden und<br />
Wochenenden lerne ich, die Hausaufgaben<br />
dauern oft bis spät. Vor ein paar Monaten ist<br />
mir alles über den Kopf gewachsen, ich war<br />
müde, verlor meine Motivation und war nur<br />
noch gereizt. Oft habe ich aus dem Nichts<br />
heraus angefangen zu weinen. Meine Mutter<br />
ermutigte mich, die Jugendberatungsstelle<br />
aufzusuchen. Viele haben Hemmungen,<br />
Hilfe in Anspruch zu nehmen; ich kann es<br />
nur empfehlen. Meine Beraterin brachte<br />
mir Entspannungsübungen bei, aber auch<br />
Strategien, um Druck abzubauen.<br />
Tagebuchschreiben hilft gegen Stress,<br />
Lesen ebenso. Ich lege jetzt öfter mal das<br />
Handy weg, schlafe besser, habe mehr<br />
Energie für die Schule. Und doch gerate<br />
ich immer wieder unter Druck, den ich<br />
mir selbst mache. Meine Eltern schimpfen<br />
nicht, wenn ich schlechte Noten habe, und<br />
sie hören nicht auf, mich immer wieder aufs<br />
Neue zu motivieren. Dafür bin ich ihnen<br />
dankbar.»<br />
17
Dossier<br />
>>> der Kinder- und Jugendpsych<br />
ia ter Michael Schulte-Markwort.<br />
«Früher hatten Eltern oft Sorge, dass<br />
aus ihrem Kind nichts wird. Heute<br />
wollen sie wissen, wie ihre Kinder<br />
weniger angestrengt leben und lernen<br />
können.»<br />
Schulte-Markwort ist ärztlicher<br />
Direktor der Klinik für Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum<br />
Hamburg-Eppendorf und<br />
der Kinder- und Jugendpsychosomatik<br />
am Altonaer Kinderkrankenhaus.<br />
2016 hat er ein viel beachtetes<br />
Buch veröffentlicht. Es heisst «Burnout-Kids.<br />
Wie das Prinzip Leistung<br />
unsere Kinder überfordert».<br />
Der effekthascherische Titel passt<br />
nicht zu den leisen Tönen, die der<br />
60-Jährige im Gespräch anschlägt.<br />
«Ich mag es nicht, wenn man übertreibt»,<br />
sagt er. «Es gehört zu meinen<br />
Aufgaben, Kinder zu verstehen,<br />
nicht, sie krank zu reden.»<br />
Schulte-Markwort betont, dass<br />
psychische Erkrankungen bei Kin<br />
Ein Krankheitsbild aus der<br />
Erwachsenenwelt verschiebt<br />
sich zu den Kindern:<br />
die Erschöpfungsdepression.<br />
dern und Jugendlichen in den vergangenen<br />
30 Jahren nicht zugenommen<br />
hätten – mit einer Ausnahme,<br />
wie er vermutet. «Ich begegne<br />
Jugendlichen, meistens Mädchen,<br />
die sich als traurig, antriebslos, weinerlich<br />
und niedergeschlagen be <br />
schreiben. Sie haben Schlafstörungen<br />
und zeigen das Vollbild einer<br />
Depression, passen bei genauerer<br />
Diagnostik aber nicht in die gängigen<br />
Kategorien.»<br />
Burnout bei Kindern? «Die Diagnose<br />
kam mir zunächst nicht in<br />
den Sinn, weil ich davon ausgegangen<br />
war, dass sie im<br />
>>><br />
Kindes<br />
«Ich kann mich<br />
nicht festlegen»<br />
Shakur, 17, hat manchmal Angst,<br />
sein Leben nicht auf die Reihe zu<br />
kriegen. Er will später den Betrieb<br />
seiner Eltern übernehmen, steht<br />
aber ohne Lehrstelle da.<br />
«Manchmal bereue ich es, dass ich die<br />
Schule auf die leichte Schulter genommen<br />
habe. Leider habe ich mich mehr auf meine<br />
Freunde konzentriert statt aufs Lernen.<br />
Meine Noten waren ganz gut, aber es<br />
haperte beim Betragen: Zuverlässigkeit,<br />
Pünktlichkeit – in meinem Zeugnis stehen<br />
die Kreuzchen am falschen Ort.<br />
Ich bin zwar nicht so der Schultyp, konnte<br />
es mir aber auch nicht vorstellen, nach<br />
der Sek schon mit Arbeiten anzufangen.<br />
Unserer Sek-Lehrerin war die Anzahl verschickter<br />
Bewerbungen wichtiger als das,<br />
was drinstand. Auch im zehnten Schuljahr<br />
bot der Klassenlehrer wenig Unterstützung<br />
beim Inhalt. Ich fand, das bringe wenig –<br />
und ging. Die Vereinbarung mit meinen<br />
Eltern war, dass ich im Pizzakurier mithelfe,<br />
den sie betreiben, und mich nebenher um<br />
eine Lehrstelle kümmere. Letzteres hat<br />
nicht wirklich funktioniert. Darum besuche<br />
ich neu eine Handwerksschule, ich gehe<br />
einmal die Woche in den Unterricht und<br />
muss mich um ein Praktikum bemühen. In<br />
der neuen Schule bereiten wir uns gezielt<br />
vor: Ich habe zwei Bewerbungen verschickt<br />
und bereits die Zusage für eine Schnupperlehre<br />
als Lüftungsmechaniker.<br />
Ich habe mir schon als Kind die Frage<br />
gestellt, was ich einmal arbeiten will. Bloss<br />
eine eindeutige Antwort fand ich nie. Ich<br />
habe so viele Inter essen, bin immer offen<br />
für Neues. Ich habe in viele Berufe hineingeschnuppert,<br />
fast überall hat es mir<br />
gefallen – aber ich konnte mir in keinem<br />
Fall vorstellen, nur noch diese eine Arbeit<br />
zu machen. Ich kann mich nicht festlegen.<br />
Mein Bruder macht eine KV-Lehre auf der<br />
Bank. Ich glaube, meine Mutter hätte mich<br />
auch gerne in so einem Beruf gesehen.<br />
Später würde ich gerne den Pizzaservice<br />
vom Vater übernehmen, ich bin mit dem<br />
Betrieb gross geworden, er bedeutet mir<br />
viel. Die Arbeit ist vielseitig: Man besorgt<br />
den Einkauf, kocht, macht das Büro, er -<br />
ledigt die Auslieferungen. Die mache ich<br />
besonders gerne, so sehe ich immer neue<br />
Gesichter. Mein Vater sagt, ich hätte noch<br />
viel vor mir, wenn ich den Betrieb übernehmen<br />
wolle. Es reiche nicht, von allem<br />
eine Ahnung zu haben, man müsse dahintersehen,<br />
im Detail Bescheid wissen.<br />
Ich habe einen guten Draht zu Menschen,<br />
ich glaube, man erreicht viel, wenn man<br />
ihnen mit Anstand begegnet. Aber ich habe<br />
Angst, dass ich nichts auf die Reihe bringe,<br />
weil ich mich so leicht ablenken lasse. Ich<br />
arbeite wirklich daran, mich zu verbessern.<br />
Ich hoffe, dass ich eine Lehrstelle finde und<br />
es schaffe, drei Jahre durchzubeissen, auch<br />
wenn es mal eintönig wird.»<br />
18
Thematisieren Sie die<br />
Schule nicht dauernd,<br />
auch wenn es für Ihr Kind<br />
gerade nicht rund läuft.
Dossier<br />
>>> alter nicht vorkommt, ähnlich<br />
wie Demenz», sagt Schulte-Markwort.<br />
«Erst dachte ich, ich hätte es<br />
mit besonders empfindlichen<br />
Jugendlichen zu tun. Je mehr es<br />
wurden, desto klarer wurde mir<br />
aber, dass sich ein Krankheitsbild<br />
aus der Erwachsenenwelt zu den<br />
Kindern verschiebt: die Erschöpfungsdepression.»<br />
Schulte-Markwort verwendet lieber<br />
den populären Begriff Burnout,<br />
um Missverständnissen vorzubeugen.<br />
«Die Ursachen sind anders als<br />
bei einer ‹normalen› Depression»,<br />
sagt er. «Bei der Erschöpfungsdepression<br />
geht es um inneren und<br />
verinnerlichten Leistungsanspruch.<br />
Hier folgt die Depression aus der<br />
Erschöpfung und nicht umgekehrt.»<br />
Widersprüchliche Botschaften<br />
Seine jungen Patienten seien gekennzeichnet<br />
vom Bemühen, «gute» Kinder<br />
zu sein, sagt Schulte-Markwort:<br />
«Da haben unglaubliche Selbstdiszi-<br />
Wer nichts leistet, hat<br />
verloren. Das lernen Kinder<br />
heute von klein auf.<br />
plinierungsprozesse stattgefunden.»<br />
Kinder von heute wollten, ohne dass<br />
sie jemand dazu antreibe, erfolgreich<br />
sein, «oder eher: perfekt».<br />
Weil sie es nicht anders kennen,<br />
ist der Psychiater überzeugt: «Wir<br />
leben in einer durchökonomisierten<br />
Gesellschaft, die mit hoher Taktung<br />
all diejenigen ausspuckt, die nicht<br />
mithalten können. Wer nichts leistet,<br />
hat verloren. Das lernen Kinder<br />
heute von klein auf.»<br />
Auch die Familie sei eingebunden<br />
in das Erfolgsprinzip, das keine<br />
Versager zulasse. Oft seien Kinder<br />
widersprüchlichen Botschaften ausgesetzt.<br />
«Hauptsache, du bist glücklich»,<br />
heisse es, oder «Schulnoten<br />
sind nicht alles».<br />
Nicht selten kämen die gut ge -<br />
meinten Beruhigungsversuche von<br />
Eltern, die selber ein hohes Tempo<br />
an den Tag legten, sich über<br />
«faule»Arbeitslose beschwerten,<br />
unter Zeitmangel litten. «Wir leben<br />
Kindern vor, dass Erfolg meist eine<br />
zweifelhafte Work-Life-Balance<br />
nach sich zieht», sagt Schulte-Markwort.<br />
«Väter werden zu Wochenend-<br />
Papas, und Mütter haben kaum<br />
noch Zeit für sich selbst. Kinder<br />
haben ein feines Gespür für Werte<br />
und dafür, was uns diese tatsächlich<br />
wert sind.»<br />
>>><br />
10 Tipps für ein<br />
entspanntes<br />
Familienleben<br />
1. Wer selbst unter Strom steht, kann<br />
sein Kind nicht zur Entspannung<br />
anhalten. Seien Sie sich bewusst,<br />
dass Ihre persönliche Stressbilanz<br />
auch die Ihres Kindes mitbeeinflusst.<br />
2. Kinder haben ein ausgeprägtes<br />
Gespür für das, was uns wirklich<br />
wichtig ist. Achten Sie darauf, dass<br />
Sie Zeitinseln schaffen und<br />
regelmässig pflegen können. Rituale<br />
wie ein gemeinsames Familienessen<br />
eignen sich dafür am besten.<br />
3. Suchen Sie so oft wie möglich das<br />
Gespräch mit Ihrem Kind. Das<br />
bedeutet nicht, es nach seinen<br />
Problemen zu löchern. Sprechen Sie<br />
einfach über das, was Sie bewegt,<br />
begeistert, verbindet.<br />
4. Von nichts kommt nichts: Scheuen<br />
Sie nicht den Aufwand, wenn er zu<br />
einem gemütlichen Miteinander<br />
beiträgt und Austausch ermöglicht.<br />
Ein Brunch am Sonntagmorgen, ein<br />
Filmabend, Bräteln im Wald – kleine<br />
Highlights schaffen Lebensqualität.<br />
5. Schreiben Sie Ihren Kindern nicht<br />
vor, was eine sinnvolle Beschäftigung<br />
ist. Wenn sie für Jugendliche darin<br />
besteht, einfach nur abzuhängen, ist<br />
das in Ordnung.<br />
6. Achten Sie darauf, wie Sie als Eltern<br />
Leistung vorleben und thematisieren.<br />
Kinder haben feine Antennen für<br />
Widersprüchliches. Wenn Sie Ihrem<br />
Kind versichern, Glücklichsein sei<br />
das Wichtigste, selber aber überaus<br />
ehrgeizige Ansprüche an sich selbst<br />
haben, ist das nicht glaubwürdig.<br />
7. Thematisieren Sie die Schule nicht<br />
dauernd, auch wenn es für Ihr Kind<br />
gerade nicht rundläuft.<br />
8. Legen Sie die Smartphones zum<br />
Essen beiseite, am besten auch über<br />
Nacht. Halten Sie Ihre Kinder und<br />
sich selbst dazu an, Informationen<br />
nicht auf sich einprasseln zu lassen.<br />
Zücken Sie bewusst nicht immer das<br />
Handy, um Wartezeit zu überbrücken.<br />
Halten Sie’s mit Informationen wie<br />
mit dem Essen – wir konsumieren<br />
auch nicht alles, was verfügbar ist,<br />
und kommen gut ohne Zwischenmahlzeit<br />
aus.<br />
9. Räumen Sie Ihrem Kind nicht jegliche<br />
Steine aus dem Weg und lassen Sie<br />
es seinen Teil in der Familie betragen.<br />
Darauf sollten Sie sogar bestehen,<br />
denn es macht stark.<br />
10. Studieren Sie Ihr Kind nicht zu sehr.<br />
Kinder, die es gewohnt sind, dass<br />
sie ständig sorgenvoll beobachtet<br />
werden, fühlen sich schneller überfordert<br />
als solche, die merken, dass<br />
ihnen die Eltern auch etwas zutrauen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>21
Dossier<br />
>>> Eltern die Schuld zu geben,<br />
greift für den Jugendpsychiater zu<br />
kurz. Schulte-Markwort verweist auf<br />
ökonomische Zwänge, beispielsweise<br />
den Wandel von der Gross- hin<br />
zur Kleinfamilie, die Ratlosigkeit<br />
erzeuge, weil Mütter und Väter alles<br />
allein stemmen müssten.<br />
Der Psychiater führt aussterbende<br />
soziale Normen und Traditionen<br />
an, die zwar nicht über alle Zweifel<br />
erhaben gewesen seien, aber einem<br />
zumindest Orientierung gegeben<br />
hätten. «Früher gab es etwa noch die<br />
Sicherheit, dass man ein Leben lang<br />
bei seinem Arbeitgeber bleibt», sagt<br />
er. «Heute haben wir Zeitarbeitsverträge,<br />
sprechen von der Generation<br />
Praktikum. Kann sich so innere Stabilität<br />
entwickeln?»<br />
Auch Trägheit lässt uns ausbrennen<br />
Wir idealisierten die Vergangenheit,<br />
findet dagegen der Frankfurter Entwicklungspsychologe<br />
Martin Dornes<br />
(vgl. Interview auf Seite 26). Die<br />
Grossfamilie von früher habe keineswegs<br />
nur Unterstützung, sondern<br />
auch Bevormundung bedeutet.<br />
Zudem sei die Arbeitswelt nicht<br />
familienfreundlicher gewesen: «Die<br />
Arbeiter litten unter Monotonie,<br />
schwerer körperlicher Belastung und<br />
den langen Arbeitszeiten. Stress gab<br />
es reichlich, auch wenn nicht so viel<br />
darüber geredet wurde wie heute.»<br />
Diese Meinung vertritt auch Katrin<br />
Aklin. Sie ist Schulleiterin bei der<br />
Zürcher Stiftung OPA, die Jugendlichen<br />
mit sozialen Schwierigkeiten<br />
hilft, sich in den Arbeitsmarkt zu<br />
integrieren. «Wir haben das Gefühl,<br />
um die Welt stehe es schlecht, weil<br />
wir alles erfahren – auch das, was<br />
uns gar nicht betrifft», sagt sie. Da<br />
gebe es nur eines: bewusster konsumieren.<br />
«Beim Essen machen wir es<br />
auch so: Wir stopfen nicht alles in<br />
uns hinein, was verfügbar ist. Mit<br />
Informationen sollten wir genauso<br />
verfahren, auch das ist eine Frage<br />
der Disziplin.»<br />
Jugendexpertin Aklin coacht<br />
auch Erwachsene, die sie oft auf-<br />
Burnouts entstehen selten aus<br />
Überanstrengung. Häufiger ist<br />
Trägheit die Ursache.<br />
Und fehlende Zufriedenheit.<br />
grund eines Burnouts konsultieren.<br />
Den Grund für Stress und Überforderung<br />
sieht sie nicht in überhöhten<br />
Leistungsanforderungen, «es hapert<br />
eher an unserer Leistungsbereitschaft»,<br />
ist sie überzeugt. Aklin geht<br />
noch weiter: «Burnouts aufgrund<br />
von Überanstrengung sind deutlich<br />
seltener als Burnouts, die aus Trägheit<br />
entstehen.»<br />
Aklin spricht von einer Passivität,<br />
die Jugendliche und Erwachsene<br />
gleichermassen betreffe und ein<br />
Gefühl des Ausgeliefertseins erzeuge.<br />
«Es fehlt uns an Zufriedenheit»,<br />
sagt sie, «weil wir wahres Engagement<br />
einem oberflächlichen Verständnis<br />
von Erfolg geopfert haben.»<br />
Position beziehen, Unbequemlichkeiten<br />
aushalten, sich einsetzen,<br />
auch ohne Aussicht auf Belohnung<br />
– das alles sei heute unpopulär, weil<br />
anstrengend. «Wir gehen lieber<br />
dahin, wo alle applaudieren», sagt<br />
Aklin, «und leben das den Jungen<br />
vor.»<br />
In der Kindererziehung funktioniere<br />
diese Passivität aber nicht.<br />
Erziehung bedeute, Stellung zu nehmen,<br />
Vorbild zu sein, Reibungsfläche<br />
zu bieten. «Viele Eltern vermeiden<br />
Reibung», weiss Aklin, «weil sie<br />
Arbeit bedeutet. Sie ist aber eine<br />
wichtige Voraussetzung für die Entwicklung<br />
von Selbstwertgefühl. In<br />
Auseinandersetzungen entwickeln<br />
wir Fähigkeiten.»<br />
Nicht nur in der Schule, auch im<br />
Umfeld ihrer drei eigenen Kinder<br />
beobachte sie stattdessen, wie dem<br />
Nachwuchs Bequemlichkeit anerzogen<br />
werde. Man stelle Kindern lieber<br />
alles bereit, statt sie selbst machen<br />
zu lassen. «Dass dies auf eine niedrigere<br />
Belastungsgrenze hin- >>><br />
Literatur<br />
Schulte-Markwort, Michael: Burnout-<br />
Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere<br />
Kinder überfordert. Droemer Knaur,<br />
2016, 272 Seiten. Fr. 28.90<br />
Dornes, Martin: Die Modernisierung der<br />
Seele. Kind – Familie – Gesellschaft.<br />
Fischer Taschenbuch, 2012, 528 Seiten.<br />
Fr. 17.90<br />
Dornes, Martin: Macht der Kapitalismus<br />
depressiv? Über seelische Gesundheit<br />
und Krankheit in modernen<br />
Gesellschaften. Fischer Taschenbuch,<br />
2016, 160 Seiten. Fr. 23.90<br />
Links<br />
Zu viel Stress – zu viel Druck! Wie<br />
Schweizer Jugendliche mit Stress und<br />
Leistungsdruck umgehen. Juvenir-<br />
Studie 4.0, Jacobs Foundation, 2015.<br />
Online: www.juvenir.ch > Downloads ><br />
Juvenir 4.0<br />
Delgrande Jordan, Marina, und<br />
Eichenberger, Yvonne: Die psychische<br />
Gesundheit von Kindern und<br />
Jugendlichen im Schulalter<br />
(Detailauswertungen von Daten<br />
aus der HBSC-Studie 2014).<br />
Gesundheitsförderung Schweiz, 2016.<br />
Online: gesundheitsfoerderung.ch ><br />
Downloads > Bericht 6: Psychische<br />
Gesundheit über die Lebensspanne<br />
(Seite 58–69)<br />
22 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Burnout – was heisst das?<br />
Definition Burnout gilt als umgangssprachliche<br />
Bezeichnung für die<br />
Erschöpfungsdepression.<br />
Symptome Kinder und Jugendliche,<br />
die davon betroffen sind, ziehen<br />
sich häufig zurück, wirken dabei<br />
antriebslos und haben kein Interesse<br />
mehr an Hobbys oder Freunden. Viele<br />
klagen über Kopfschmerzen oder<br />
Schlaflosigkeit. Jugendliche sind<br />
oft gereizt und übellaunig, jüngere<br />
Kinder können durch Spielunlust,<br />
verstärkte Trennungsangst oder<br />
Bauchweh auffallen. Halten solche<br />
Symptome über Wochen an, ist<br />
der Rat einer Fachperson hilfreich;<br />
besonders dann, wenn das Gespräch<br />
mit dem Kind keine Besserung<br />
bringt. Dann helfen Elternberatungsstellen<br />
weiter.<br />
Unterschied Die Symptome, welche<br />
die Erschöpfungsdepression mit<br />
sich bringt, treten auch bei der<br />
klassischen Depression auf. Die<br />
Krankheitsbilder sind allerdings nicht<br />
zu verwechseln: Die Erschöpfungsdepression<br />
entsteht, wie der Name<br />
schon sagt, aus der Erschöpfung<br />
heraus, bei der klassischen<br />
Depression ist die Erschöpfung eine<br />
Folge der Krankheit.<br />
Zahlen Über die Häufigkeit des<br />
Burnouts im Kindes- und Jugendalter<br />
gibt es kaum Daten. Der Jugendpsychiater<br />
und Buchautor Michael<br />
Schulte-Markwort schätzt, dass etwa<br />
drei bis fünf Prozent aller Kinder und<br />
Jugendlichen davon betroffen sind,<br />
meist Teenager. «Es gibt allerdings<br />
viele Hinweise darauf, dass die<br />
Altersgrenze sinkt», sagt Schulte-<br />
Markwort.<br />
Anfälligkeit Meist habe er es mit<br />
leistungsorientierten Mädchen zu<br />
tun, die an ihrem Perfektionismus<br />
zerbrächen, sagt Schulte-Markwort.<br />
Allerdings beanspruchten Knaben<br />
auch seltener Hilfe: «Sie sind oft<br />
nicht so redefähig und -willig wie<br />
Mädchen.»<br />
Generell, so der Jugendpsychiater,<br />
treffe Burnout Jugendliche an Gymnasien<br />
häufiger als Altersgenossen,<br />
die eine Schule mit niedrigerem Leistungsprofil<br />
besuchen. Es ist zudem<br />
bekannt, dass Kinder aus Scheidungsfamilien<br />
ein erhöhtes Risiko<br />
für psychische Erkrankungen haben.<br />
Gilt das auch fürs Burnout? «Mein<br />
Befund lässt den Schluss leider zu»,<br />
sagt Schulte-Markwort.<br />
Laut dem Jugendpsychiater sind<br />
auch Kinder aus armutsgefährdeten<br />
Familien und solche mit Mobbin g-<br />
erfahrungen anfälliger für Erschöpfungsdepressionen.<br />
Bild: Gabrielle Duplantier / plainpicture<br />
24 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Für etwas brennen, sich<br />
mit einer Sache identifizieren,<br />
bietet den besten Schutz<br />
gegen Stress und Burnout.<br />
>>> ausläuft, liegt nahe», findet<br />
Aklin. Mit Verständnis dürften<br />
Jugendliche jedenfalls nicht rechnen,<br />
weder in der Schule noch auf<br />
dem Arbeitsmarkt. Auch da fehle es<br />
nämlich am Willen, sich ernsthaft<br />
mit Kindern auseinanderzusetzen.<br />
Mit der Folge, dass auf der Strecke<br />
bleibe, wer seinen Knoten nicht im<br />
Alleingang löse.<br />
Rasender Stillstand<br />
Jugendliche mit lückenhaftem Leistungsausweis<br />
oder Brüchen im<br />
Lebenslauf hätten es zunehmend<br />
schwerer, weiss Aklin: «Arbeitgeber<br />
hätten am liebsten Nachwuchs nach<br />
Konfektion. Einen jungen Menschen<br />
einzustellen, den man noch etwas<br />
unter die Fittiche nehmen muss, der<br />
dafür aber Entwicklungspotenzial<br />
hat, kommt für die meisten nicht<br />
infrage. Es bedeutet zu viel Aufwand.»<br />
Was fehle, seien Erwachsene, die<br />
wirklich Lust hätten, Jugendliche zu<br />
begleiten – mit Herz, Standhaftigkeit<br />
und der nötigen Ausdauer.<br />
Paradoxerweise, glaubt Aklin, sei es<br />
diese fehlende Hingabe, das Leben<br />
auf Sparflamme, das uns ausbrennen<br />
lasse: «Wir horten unsere Energie,<br />
um sie darauf zu verwenden, dem<br />
nächstbesten Vorteil hinterherzujagen.<br />
Das erzeugt keine Befriedigung,<br />
sondern Unruhe.»<br />
«Rasender Stillstand», nennt<br />
Jugendarbeiter Daniele Gasparini<br />
das Phänomen. In der sogenannten<br />
Leistungsgesellschaft bedeute Leistung<br />
zu einem grossen Teil das taktische<br />
Abwägen von Optionen, die<br />
kaum mehr zu überblicken seien.<br />
Die «Multioptions-Kultur», sagt<br />
Gasparini, sei anstrengend, vor<br />
allem für Jugendliche. Manche lassen<br />
sich von ihren Verführungen<br />
aber viel weniger stressen, weiss der<br />
Jugendexperte: «Es sind jene, die<br />
ihre Aufmerksamkeit einer be -<br />
stimm ten Sache verschrieben ha -<br />
ben.» Jugendliche, die, um die Metapher<br />
aufzugreifen, brennen für<br />
etwas. Ihr Engagement trifft dabei<br />
freilich nicht immer die Vorstellungen<br />
der Eltern.<br />
«Bei uns gehören etwa die Sprayer<br />
zu den Glücklichsten», sagt Salome<br />
Gasparini, die zusammen mit<br />
ihrem Vater Daniele die Jugendarbeit<br />
einer Zürcher Seegemeinde<br />
koordiniert. «Graffitikunst ist zwar<br />
mitunter illegal, aber offensichtlich<br />
sinnstiftend: Sie verlangt Hingabe<br />
und den Zusammenhalt als Gruppe.»<br />
So spende die Peergroup ihren<br />
Mitgliedern Kraft und Zufriedenheit,<br />
mache sie weniger anfällig für<br />
Nebengeräusche. Das gelte auch für<br />
die Fankultur im Sport, «früher auch<br />
in der Musik», sagt Salome Gasparini,<br />
«aber diese Subkulturen sind<br />
weitgehend ausgestorben».<br />
Die Identifikation mit einer<br />
Bewegung oder Sache, sind Vater<br />
und Tochter Gasparini überzeugt,<br />
sei ein wirksamer Schutzmechanismus<br />
gegen Stress und Burnout.<br />
Bloss: Sich richtig ins Zeug zu legen<br />
für etwas, das sei bei den meisten<br />
Jungen nicht mehr gefragt. «Sie halten<br />
uns damit den Spiegel vor»,<br />
sagen die Jugendarbeiter, «wir<br />
Erwachsenen haben ja auch keine<br />
Visionen.»<br />
Wohin des Weges?<br />
Ja: Wir driften selbst auf dem Meer<br />
der Möglichkeiten. Stellt sich die<br />
Frage, was uns als Kompass dienen<br />
soll. Normen und Werte, die Korsett<br />
und Wegweiser zugleich waren,<br />
haben wir so weit hinterfragt, dass<br />
die meisten ihre Gültigkeit verloren<br />
haben. Man kann das beängstigend<br />
finden oder befreiend. Was bedeutet<br />
es für unsere Kinder? «Jede Generation<br />
sieht sich vor neue, bisher unbekannte<br />
Herausforderungen gestellt»,<br />
sagt der Jugendpsychiater Alain Di<br />
Gallo. «Sicher haben allerdings<br />
Geschwindigkeit und Frequenz der<br />
Veränderungen in der letzten Dekade<br />
zugenommen, und damit die<br />
Gefahr von Verunsicherung und<br />
Identitätskrisen.»<br />
Dass solche Stresssymptome und<br />
möglicherweise sogar damit verbundene<br />
psychische Störungen bei<br />
Jugendlichen zunehmen, sei jedoch<br />
eine Vermutung, die wir durchaus<br />
kritisch hinterfragen sollten, findet<br />
Di Gallo. «Die Adoleszenz ist eine<br />
Lebensspanne des Umbruchs, der<br />
Öffnung und Krisen und war schon<br />
immer mit Zukunftsängsten verbunden.»<br />
Wie können wir Kindern helfen,<br />
sie zu bewältigen? «Am wichtigsten<br />
erscheint mir, Vertrauen in ihre Entwicklung<br />
zu zeigen, ihre Stärken zu<br />
fördern und sie in ihren Schwächen<br />
zu unterstützen», sagt Di Gallo.<br />
«Dazu gehört auch das Setzen von<br />
Grenzen. Lernen bedeutet nicht<br />
immer Vergnügen. Es fordert Durchhaltewillen<br />
und Verzicht.»<br />
>>><br />
Virginia Nolan<br />
war als Teenager davon überzeugt, dass<br />
die Welt da draussen auf sie warte. Die<br />
Rechnung ging zwar nicht immer auf – ihren<br />
Optimismus hat sich die Autorin trotzdem<br />
bewahrt. Heutigen Jugendlichen wünscht sie<br />
mehr Abenteuerlust statt Zukunftsangst.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>25
«Wir idealisieren<br />
die Vergangenheit»<br />
Die Klage über Leistungsdruck ist fast so alt wie die Menschheit selbst, sagt Martin<br />
Dornes. Der Entwicklungspsychologe über Schulreformen, Förderwahn und warum Kinder<br />
und Eltern heute nicht mehr Stress haben als früher. Interview: Virginia Nolan<br />
Herr Dornes, Sie bestreiten, dass Kinder<br />
und Eltern unter Druck stehen.<br />
Warum?<br />
Leistungsdruck wird seit Jahrzehnten<br />
immer wieder vorgebracht und<br />
als Grund sowohl für Unzufriedenheit<br />
in der Schule und im Stu dium<br />
angeführt als auch für die angebliche<br />
Zunahme seelischer Erkrankungen,<br />
zunehmende Ju gendgewalt, Alkoholkonsum,<br />
Computersucht und so<br />
weiter. Offenkundig handelt es sich<br />
dabei um einen Universalschlüssel,<br />
der beliebig einsetzbar ist.<br />
Was macht Sie da so sicher?<br />
Wir hatten es bereits früher mit an <br />
geblich zunehmend erschöpften<br />
Kindern und Erwachsenen zu tun.<br />
Die dokumentierte Verbreitung der<br />
vegetativen Dystonie, später auch<br />
Stresssyndrom genannt, betrug<br />
Anfang der 1960er-Jahre 30 bis 50<br />
Prozent, was alle heutigen Burnout-<br />
Ziffern in den Schatten stellt. Als<br />
Ursache galt, wie übrigens schon<br />
1890 für die später als Erschöpfungsdepression<br />
umschriebene Neurasthenie,<br />
die «Hochtourenzivilisation»<br />
mit ihren vielfältigen Anforderungen<br />
in Arbeit und Freizeit. Eine<br />
Hamburger Studie von 1958 ergab,<br />
dass 61 Prozent aller 10- bis 11-Jährigen<br />
mindestens ein psychopathologisches<br />
Symptom wie Kopfschmerzen,<br />
Einschlafstörungen, Übelkeit<br />
oder Zähneknirschen aufwiesen. Die<br />
Zeitdiagnose lautete: wachsender<br />
Verkehr und Strassenlärm, vom<br />
Wiederaufbau erschöpfte Mütter<br />
und «neue» Medien – damals amerikanische<br />
Comic-Hefte. An unseren<br />
Schulen orteten Soziologen bereits<br />
1978 «extremen Leistungsdruck».<br />
Gerade was die Schule betrifft, gibt<br />
es aber Anhaltspunkte dafür, dass<br />
die Leistungsanforderungen nicht<br />
gestiegen sind.<br />
«Die Anforderungen<br />
an schulische<br />
Leistungen sind<br />
nicht gewachsen.»<br />
Zum Beispiel?<br />
Wenn in Deutschland heute 50 Prozent<br />
eines Jahrgangs Abitur machen<br />
– zu meiner Zeit waren es 10 Prozent<br />
– und die durchschnittliche Ab <br />
schlussnote in den letzten 15 Jahren<br />
mit jedem Jahrgang besser geworden<br />
ist, liegt der Gedanke an gelockerte<br />
Leistungsanforderungen nahe.<br />
Denk bar ist auch, dass heute zu viele<br />
Kinder das Gymnasium besuchen,<br />
die dafür nicht die notwendigen<br />
Voraussetzungen mitbringen und<br />
sich deshalb überfordert fühlen.<br />
Der Stress beginnt nicht erst im Gymnasium.<br />
Experten wie der Kinderarzt<br />
Herbert Renz-Polster monieren, dass<br />
schon die Primarschule vom Lernort<br />
zum Arbeitsmarktzulieferer verkomme.<br />
Das halte ich für eine typische Nost<br />
algiethese. Sie impliziert, dass die<br />
Schule früher ein Lernort war und<br />
es heute nicht mehr ist. Wann hat<br />
die Schule denn diesen Glorienschein<br />
des Lernorts verloren? Dass<br />
wirtschaftliche und wettbewerbs <br />
orientierte Interessen die Schullandschaft<br />
dominieren, ist eine der vielen<br />
Halbwahrheiten, die über die Schule<br />
zirkulieren. Die meisten Schulreformen<br />
der letzten 40 Jahre sind<br />
nicht von der Wirtschaft gefordert,<br />
sondern von Politikern implementiert<br />
worden – und zwar meist unter<br />
dem Vorzeichen der Emanzipation,<br />
des Nachteilsausgleichs, der Förderung<br />
Benachteiligter, der Inklusion.<br />
Richtig ist, dass die Bedeutung qualifizierter<br />
Schulabschlüsse zugenommen<br />
hat und das Anliegen der Eltern,<br />
ihr Kind solle Abitur beziehungsweise<br />
die Matura machen.<br />
Was mitunter im viel diskutierten<br />
Förderwahn gipfelt.<br />
Die Verschulung der Kindheit durch<br />
übertriebene Förderung wird seit<br />
mindestens 35 Jahren diskutiert.<br />
Schon 1981 schrieb der US-Psychologe<br />
David Elkind ein Buch, das sich<br />
26 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
damit befasste und die These «college<br />
starts at two» aufstellte. Dafür<br />
wurden Einzelbeispiele wie Fremdsprachenunterricht<br />
ab zwei als Beleg<br />
angeführt. Die gibt es immer. Die<br />
Pädagogin, Dokumentarfilmerin<br />
und Sachbuchautorin Donata<br />
Elschenbroich dagegen hat Dutzende<br />
von Frühförderungseinrichtungen<br />
und Kitas besucht. Ihr Resümee<br />
lautet: «Unseren Kindern, egal aus<br />
welchen Elternhäusern, wird heute<br />
so achtungsvoll begegnet wie in keiner<br />
Generation zuvor.» Warum<br />
reden wir nicht darüber?<br />
Sagen Sie es uns.<br />
Fragt man Erwachsene nach dem<br />
Zustand der Jugend, so hört man seit<br />
je überwiegend pessimistische Antworten.<br />
Befragt man sie hingegen<br />
danach, wie es ihren Kindern oder<br />
denen ihrer Bekannten geht, ist es<br />
umgekehrt. Aus Umfragen und Studien<br />
wissen wir auch, dass die Le <br />
benszufriedenheit von Kindern im<br />
deutschen Sprachraum sehr gross ist.<br />
Die Jugendforscher Hurrelmann<br />
und Albrecht etwa konstatieren in<br />
ihrer einschlägigen Arbeit von 2016:<br />
«Mit Stress können die meisten<br />
beeindruckend gut umgehen, auch<br />
wenn sie gerne jammern.»<br />
Hurrelmann spricht in der aktuellen<br />
Shell-Jugend-Studie aber auch von<br />
einer «Generation unter Druck». Demnach<br />
spiele insbesondere der unbe -<br />
rechenbar gewordene Arbeitsmarkt<br />
eine Rolle.<br />
Unstrittig ist, dass sich die Erwartungen<br />
an Arbeitnehmer verändert<br />
haben. Früher wurden Erduldung<br />
von Monotonie am Fliessband und<br />
Folgebereitschaft bei Anweisungen<br />
erwartet, heute Flexibilität und Selbständigkeit.<br />
Wieso sollte das einen<br />
zunehmenden Druck darstellen?<br />
Eben: weil Berechenbarkeit fehlt.<br />
Erwartungen und Anforderungen<br />
verändern sich, das war schon immer<br />
so. Zwischen 1950 und 1970 sind die<br />
meisten bäuerlichen Arbeitsplätze<br />
verschwunden und durch industrielle<br />
ersetzt worden. Stress bei der<br />
Arbeit gab es früher reichlich: Arbeiter<br />
litten unter schwerer körperlicher<br />
Belastung und den langen Arbeitszeiten.<br />
Wir idealisieren die Vergangenheit.<br />
Vati gehörte damals samstags<br />
noch dem Arbeitgeber, nicht der<br />
Familie.<br />
«Partnerschaftliche<br />
Erziehung ist eine<br />
gute Vorbereitung<br />
aufs Leben.»<br />
Heute sind Eltern dafür im Stress,<br />
weil sie alles allein schaffen müssen:<br />
Kinderbetreuung, Beruf, Haushalt. Das<br />
Los der heutigen Kleinfamilie?<br />
Dieser Topos wird überstrapaziert.<br />
Oft hört man dann noch die afrikanische<br />
Weisheit, dass es ein ganzes<br />
Dorf brauche, um ein Kind grosszuziehen.<br />
Oder den Hinweis, dass<br />
einem früher die Grossmutter zur<br />
Seite gestanden sei. Da werden das<br />
Dorf und die Grossfamilie idealisiert.<br />
Die meisten afrikanischen Dörfer<br />
sind keine Idyllen, und das Verhältnis<br />
zwischen den Generationen<br />
war früher oft angespannt. Die Mutter<br />
wünschte sich nichts sehnlicher,<br />
als von der bevormundenden Grossmutter<br />
in Ruhe gelassen zu werden.<br />
Gleichwohl boten feste Strukturen<br />
und verbindliche Werte auch Sicherheit.<br />
Heute ist alles offen. Birgt das<br />
neben vielen Vorteilen nicht auch die<br />
Gefahr, dass Orientierungslosigkeit<br />
uns überfordert?<br />
Was früher die Gesellschaft vorgab,<br />
dürfen oder müssen wir nun selbst<br />
herausfinden. Das erhöht zweifellos<br />
die Anforderungen an die Selbst <br />
organisierungs- und Selbststeuerungsfähigkeiten<br />
von Eltern und<br />
Kindern. Das ist psychische Arbeit<br />
und manchmal anstrengend. Es<br />
besteht das Risiko, dass manche<br />
Menschen diesem erhöhten Selbststeuerungsaufwand<br />
nicht gewachsen<br />
sind. Gerade jene, die nicht in einem<br />
verhandlungsorientierten Elternhaus<br />
aufgewachsen sind. Ein starrer<br />
Baum bricht im Wind, ein biegsamer<br />
nicht. Das macht doch deutlich, dass<br />
frühere «Sicherheiten» keine Leit <br />
linie für Erziehung mehr sein können.<br />
Die heute verbreitete partnerschaftliche<br />
oder demokratisierte<br />
Erziehung erachte ich dagegen als<br />
ganz gute Vorbereitung aufs Leben.<br />
Es heisst aber auch, sie führe zu verunsicherten<br />
Eltern.<br />
Sie mag mit manchen Verhaltensunsicherheiten<br />
verbunden sein; darüber,<br />
was nun erlaubt oder geboten<br />
ist. Unsicherheit kann aber auch<br />
produktiv sein, sie regt zum Nachdenken<br />
über unser Tun an. Bei all<br />
den Debatten über Verunsicherung,<br />
Überforderung und Druck drohen<br />
wir die eine historische Errungenschaft<br />
des Erziehungswandels aus<br />
den Augen zu verlieren: Sie besteht<br />
darin, dass wir die Gewalt aus dem<br />
Eltern-Kind-Verhältnis zurückgedrängt<br />
haben und kindbezogener<br />
erziehen. Allein dieser Vorteil wiegt<br />
alle eventuellen Nachteile auf.<br />
Zur Person<br />
Martin Dornes, 67, ist ein deutscher<br />
Soziologe, Psychologe und Psychotherapeut.<br />
Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen<br />
in den Bereichen Entwicklungspsychologie,<br />
Psychoanalyse, Sozialisationstheorie,<br />
Familienforschung, Eltern-Kind-Beziehung. Der<br />
Autor zahlreicher Sachbücher ist verheiratet<br />
und Vater eines erwachsenen Sohnes.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>27
Erfolg ist Kopfsache<br />
Für Schulstress gibt es viele Gründe. Einer der häufigsten ist die Angst vor Prüfungen. Der Lernforscher<br />
Josef Meier hat eine Methode entwickelt, die Schülern hilft, Druck und Nervosität abzubauen. Sie heisst<br />
stressreduziertes Lernen (SRL) und erzielt vielversprechende Resultate. Text: Virginia Nolan<br />
hielt Vorträge. Heute wird SRL in 17<br />
Ländern Europas sowie in Südafrika<br />
unterrichtet. Die Ausbildung wird<br />
im Fernstudium absolviert. In der<br />
Schweiz gibt es bisher zwei Multiplikatoren,<br />
Pädagogen aus der Erwachsenenbildung.<br />
In der Volksschule ist<br />
SRL noch nicht an gekommen.<br />
Das kennt wohl jeder:<br />
Man hat sich tagelang<br />
auf eine Prüfung<br />
vorbereit, und<br />
im entscheidenden<br />
Moment ist das Gelernte weg.<br />
Für Stress in der Schule gibt es<br />
viele Gründe, Prüfungsangst ist<br />
einer der häufigsten, weiss Josef<br />
Meier, der als Englischlehrer an verschiedenen<br />
Schulstufen unterrichtete<br />
und heute an der Universität<br />
Augsburg zu innovativen Lern- und<br />
Mentaltechniken forscht. Aus seiner<br />
Erfahrung als Lehrer weiss er zu gut,<br />
wie Nervosität den Lernerfolg be -<br />
einträchtigt: «Immer wieder berichteten<br />
Eltern, wie ihre Kinder viel für<br />
Prüfungen gelernt und dann aus<br />
Stress versagt hätten.» Für die Kinder<br />
führe der Frust auf Dauer zu<br />
Motivationsproblemen.<br />
Meier wollte helfen. Aus dem<br />
Sport mit Mentaltechniken vertraut,<br />
fing er an, Entspannungsmethoden,<br />
Atemtechniken, Visualisierungen<br />
und Konzentrationsübungen in der<br />
Schule anzuwenden. Er entwickelte<br />
seine eigene Methode, das stressreduzierte<br />
Lernen (SRL). Über ein<br />
Jahr lang testete er sie an Schulen.<br />
Mit Erfolg: «Die Kinder waren<br />
entspannter und konnten sich besser<br />
konzentrieren.» Meier begann, Kollegen<br />
in seiner Methode anzuweisen,<br />
stellte Lernmaterial zusammen,<br />
In der Entspannung dreht das<br />
Gehirn auf<br />
Wünschenswert wäre es, denn Forschungsresultate<br />
sprechen für die<br />
Methode. Um deren Wirksamkeit zu<br />
prüfen, hat Meier eine Untersuchung<br />
durchgeführt, an der sich 70 deutsche<br />
Schulklassen beteiligten. Durch<br />
das internationale Lehrernetzwerk<br />
LTE konnte er seine Studie auf 15<br />
weitere europäische Länder ausweiten.<br />
Fast 10 000 Schüler haben teilgenommen.<br />
Erste Resultate der noch<br />
unveröffentlichten Analyse geben<br />
Meier recht: In Deutschland etwa<br />
sagten 56 Prozent der Schüler, sie<br />
seien vor jedem Test nervös. Nach<br />
dem Unterricht mit SRL gab mehr<br />
als ein Drittel dieser Betroffenen an,<br />
sich vor Prüfungen viel entspannter<br />
zu fühlen. In Spanien war es sogar<br />
mehr als jeder zweite Schüler.<br />
Der Schlüssel zum Erfolg liegt im<br />
Alphazustand, einem Bewusstseinszustand,<br />
wie er in Tagträumen,<br />
vor dem Einschlafen oder beim<br />
Übergang zum Wachwerden eintritt.<br />
Dabei bewegen sich die Gehirnwellen<br />
mit etwa 7 bis 14 Hertz. «Dann<br />
lernen wir am effizientesten», sagt<br />
Meier. «Nicht umsonst fällt uns die<br />
Lösung für ein Problem oft beim<br />
28 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Aufwachen ein.» Im Alphazustand<br />
wird der Balken, welcher linke und<br />
rechte Gehirnhälfte verbindet,<br />
durchlässiger für Informationen.<br />
Die linke Gehirnhälfte ist laut Wissenschaft<br />
eher zuständig für die<br />
logischen, sich wiederholenden Prozesse<br />
und beherrscht die Konzentration<br />
aufs Detail, die rechte hat<br />
eine überschauende Funktion. Der<br />
Alphazustand lässt uns von den spezifischen<br />
Arbeitsweisen beider Ge <br />
hirnhälften profitieren. Stressreduziertes<br />
Lernen soll Schülern helfen,<br />
sich in diesen Zu stand zu versetzen.<br />
«Die meisten Schüler atmen<br />
falsch»<br />
Zum Beispiel mit Entspannungsmusik.<br />
Dabei legen die Schüler den<br />
Kopf auf den Tisch, die Lehrerin gibt<br />
An weisungen zur Atmung, nimmt<br />
die Klasse mit auf eine Fantasiereise,<br />
erzählt vom Meeresrauschen am<br />
Strand. Diese Übung sei vor Prüfungen<br />
sinnvoll, sagt Meier, aber es empfehle<br />
sich auch, in der Schule den<br />
Tag damit zu beginnen. Selbst die<br />
Quirligsten kämen so zur Ruhe.<br />
«Die meisten Schüler atmen<br />
falsch», weiss er auch. Verbreitet sei<br />
der Irrglaube, tiefes Einatmen trage<br />
zur Entspannung bei. «Das Gegenteil<br />
ist der Fall», sagt Meier, beim<br />
Herunterfahren gehe es um tiefes<br />
Ausatmen. Das will gelernt sein.<br />
Meier plädiert dafür, Entspannungstechniken<br />
in den Alltag einzubauen,<br />
denn sie gelingen nur durch Üben.<br />
Etwa innerliches Rückwärtszählen:<br />
Neulinge fangen bei 30 an, Geübte<br />
bei 15, um sich zu beruhigen.<br />
Mit dem Daumen in der Luft eine<br />
Acht nachzeichnen, von links nach<br />
rechts, dann umgekehrt – auch das<br />
ist eine von Meiers Kurzübungen,<br />
welche die Konzentration auf eine<br />
einzige Sache und so die Entspannung<br />
fördern. «Vor Prüfungen helfen<br />
sie, gelassener an die Sache zu<br />
gehen», sagt Meier. Er habe seine<br />
Schüler stets ermutigt, sich beim<br />
Test ein paar Minuten für Entspannungstechniken<br />
zu nehmen. «Das<br />
ist keine verlorene Zeit, es zahlt sich<br />
zehnfach aus, wenn man so gar nicht<br />
erst ins Haspeln gerät.»<br />
SRL vermittelt auch Techniken,<br />
Gelerntes besser abrufen zu können;<br />
etwa mithilfe von Visualisierungen.<br />
Ein Beispiel: Lehrpersonen lassen<br />
Schüler zu Prüfungsthemen Mindmaps<br />
erstellen und fordern sie am<br />
Prüfungstag auf, sich diese in Erinnerung<br />
zu rufen. So holen die Schüler<br />
gedanklich wieder hervor, was sie<br />
sich bereits einmal notiert haben.<br />
Das sei ein wirksamer Trick, um<br />
Blackouts vorzubeugen, sagt Meier.<br />
Eine weitere Baustelle im Kampf<br />
gegen Stress und Nervosität ist die<br />
emotionale Negativspirale, in die<br />
Schüler vor einem Test oft geraten.<br />
«Erwachsene kennen das auch», sagt<br />
Meier, «wir malen uns am Morgen<br />
aus, wie schlecht das Gespräch mit<br />
dem Vorgesetzten laufen wird, und<br />
stellen am Abend erleichtert fest,<br />
dass alles halb so wild war. Diese<br />
Erkenntnis sollten wir verinnerlichen<br />
– und beim nächsten Mal als<br />
Wegweiser abrufen.»<br />
Vom Leistungssport lernen<br />
Wer sich das Versagen einrede, müsse<br />
damit rechnen, dass es auch eintrete.<br />
«Umgekehrt», sagt Meier, «lässt<br />
sich Erfolg durch positives Denken<br />
ein Stück weit programmieren.» Der<br />
Lernforscher arbeitet dafür mit Affirmationen,<br />
positiven Bildern und<br />
Glaubenssätzen, die Schülern helfen,<br />
mit mehr Zuversicht an die Prüfungssituation<br />
heranzutreten.<br />
Diese Art mentales Training sei<br />
im Leistungssport gang und gäbe,<br />
sagt Meier. So spielten etwa Skispringer<br />
ihren Absprung zunächst<br />
in Gedanken durch, und Messgeräte<br />
hätten ergeben, dass diese Visualisierungen<br />
körperlich spürbar seien:<br />
Die Muskeln führten exakt die Be <br />
wegungen aus, die sie später beim<br />
Absprung vollzögen. «Was im Sport<br />
üblich ist», findet Meier, «sollte endlich<br />
auch in der Schule ankommen.»<br />
Mehr Infos auf: www.e-f-l.net<br />
Im nächsten Heft:<br />
Richtig streiten<br />
Bilder: Caterina Sansone / plainpicture, iStockphoto<br />
Hausaufgaben, Handykonsum, Drogen: Was bringt<br />
Eltern in Rage? Worüber streiten sie mit ihren<br />
Kindern? Und wie streitet man richtig? Drei Familien<br />
berichten. Und der Experte weiss Rat, wie sich<br />
Konflikte vermeiden lassen. In der März-Ausgabe.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>29
Monatsinterview<br />
«Wir sind auf die Eltern<br />
angewiesen»<br />
In jedem Kanton gibt es Schulpsychologische Dienste. Ihr Angebot steht Kindern und<br />
Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung. Doch was sind<br />
das für Fälle, bei denen Schulpsychologen hinzugezogen werden? Schulpsychologin<br />
Ruth Etienne Klemm über ihre Arbeit, auffällige Schüler und überforderte Eltern.<br />
Interview: Evelin Hartmann Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo<br />
Ein schön restauriertes Stadthaus<br />
im Zürcher Kreis 6. Im 3. Stock<br />
befinden sich die Räume des<br />
Schulpsychologischen Dienstes<br />
Waidberg. Im Gang eine Spielecke,<br />
im Büro der Schulpsychologin eine<br />
Sandkiste mit Sandspielzeug. Ruth<br />
Etienne Klemm lächelt, streicht über<br />
den Rock ihres Kostüms, setzt sich.<br />
Vor ihr auf dem Tisch liegen<br />
ausgebreitet Unterlagen. Sie hat sich<br />
gut vorbereitet auf das Gespräch mit<br />
der Journalistin.<br />
Frau Etienne Klemm, als Schulpsychologin<br />
arbeiten Sie mit Lehrpersonen,<br />
Schulleitern, der Schulpflege und<br />
Eltern eng zusammen. Mit welchen<br />
Sorgen kommen Eltern zu Ihnen?<br />
Wenn sich Eltern an den Schulpsychologischen<br />
Dienst wenden, geht<br />
es immer um Schwierigkeiten ihrer<br />
Kinder in der Schule und mit dem<br />
Lernen. Sie machen sich Sorgen, dass<br />
ihr Kind schulisch nicht recht vom<br />
Fleck kommt, denken, dass ihr Kind<br />
vom Lehrer nicht «richtig» gesehen,<br />
in seinen Fähigkeiten und seinem<br />
Bemühen nicht richtig eingeschätzt<br />
wird, oder sie sagen, dass sich das<br />
Kind in der Klasse nicht wohlfühlt.<br />
Was heisst das konkret?<br />
Machen wir ein Beispiel: Ein Kind<br />
ist in der 6. Klasse und möchte an<br />
die Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium<br />
gehen. Die Eltern sind überzeugt,<br />
dass diese Schule genau das<br />
Richtige für ihr Kind ist. Die Lehrpersonen<br />
hingegen sehen einige<br />
Schwierigkeiten beim Lernen und<br />
bei der Arbeitshaltung. Dann kann<br />
es sein, dass die Eltern mit der Idee<br />
«Manche Eltern<br />
delegieren ihre<br />
Träume an die<br />
Kinder. Und<br />
überfordern sie.»<br />
was? Ist diese Schwierigkeit den<br />
Lehrpersonen auch in den vorangegangenen<br />
Schuljahren aufgefallen?<br />
Wurden Massnahmen, wie spezielle<br />
Lese- oder Rechtschreibtrainings,<br />
ergriffen? Mit welchem Erfolg? Falls<br />
nicht, kann das Kind von uns abgeklärt<br />
werden. Dies muss natürlich<br />
sehr sorgfältig erfolgen, damit nicht<br />
der Verdacht aufkommt, die Eltern<br />
wollten dem Kind nur einen Vorteil<br />
verschaffen.<br />
Haben Sie ein weiteres Beispiel für<br />
uns?<br />
Ein anderes Mal haben mich Eltern<br />
kontaktiert, die der Meinung waren,<br />
ihr 8-jähriger Sohn sei sehr begabt<br />
und langweile sich im Unterricht. Sie<br />
hatten im Familienrat darüber<br />
gesprochen, ob der Junge vielleicht<br />
eine Klasse überspringen sollte. Er<br />
sei so lernbegierig und die Eltern<br />
wollten, dass er sich die Freude am<br />
Lernen erhält. Ich bin dann auf die<br />
Lehrerin zugegangen, die im Grunde<br />
gleicher Meinung war. Der Bub<br />
sei auf der kognitiven und sozialen<br />
Ebene sehr weit. Sie war sich aber<br />
nicht sicher, ob er auch schon von<br />
der emotionalen Reife in eine vierte<br />
Klasse passen würde.<br />
Wie sind Sie vorgegangen?<br />
zu uns kommen, ihr Sohn, ihre Tochter<br />
habe eine Rechtschreibschwäche,<br />
für die sie einen Nachteilsausgleich<br />
erwirken möchten. Das würde be <br />
deuten, dass das Kind zusätzliche<br />
Zeit bekommt oder gewisse Hilfsmittel,<br />
zum Beispiel einen Rechtschreibeduden,<br />
bei der Prüfung<br />
verwenden darf.<br />
Und der Schulpsychologische Dienst<br />
geht dem nach.<br />
Wir kontaktieren die Schule, die das<br />
Kind besucht. Hat man dort bereits Ich habe die ganze Familie zu Ge <br />
etwas unternommen, und, wenn ja, sprächen eingeladen. Ich woll >>><br />
«Ich bedaure<br />
Jugendliche, die<br />
sich durchs Gymi<br />
quälen, weil sie<br />
für diese<br />
Schulform nicht<br />
geeignet sind»,<br />
sagt Ruth<br />
Etienne Klemm.<br />
30 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
31
Monatsinterview<br />
>>> te ihre Sicht gut kennenlernen Mit welchen Problemen kommen<br />
und habe einen IQ-Test mit dem<br />
Jungen und projektive Verfahren<br />
(Sandspiele, Zeichnungen) durchgeführt.<br />
Wir haben über mögliche Konfliktsituationen<br />
und Hürden in der<br />
zukünftigen Klasse gesprochen und<br />
sie probehalber auch ein bisschen<br />
durchgespielt: «Was kannst du in<br />
einem solchen Fall machen?» «Was<br />
tust du normalerweise?» Nach so<br />
Lehrperson auf Sie zu?<br />
Häufig geht es bei ihren Anfragen<br />
um sehr unruhige Kinder, die den<br />
Unterricht stören, laut sind, dem<br />
Stoff nicht folgen können. Oder sie<br />
haben den Eindruck, sie könnten sie<br />
nicht genügend fördern, die grosse<br />
Regelklasse wäre kein adäquater<br />
Rahmen für deren besondere<br />
Bedürfnisse. Sie vermuten beispielsweise<br />
einem Gespräch kann man die sozialen<br />
und emotionalen Möglichkeiten<br />
und Fähigkeiten des Kindes besser «Viele Eltern haben<br />
einschätzen.<br />
Und welchen Eindruck hatten Sie von den Kopf nicht frei,<br />
dem Jungen?<br />
um sich mit<br />
Er war auf eine sympathische, herzige<br />
Weise noch ein junger Schulbub. ihren Kindern zu<br />
Also hatte die Lehrerin ihn richtig eingeschätzt?<br />
beschäftigen.»<br />
Auf jeden Fall! Gemeinsam haben<br />
wir dann eine Gewichtung vorgenommen.<br />
Seine kognitive und seine<br />
soziale Seite waren sehr stark ausgeprägt,<br />
und er hatte bereits ein gutes<br />
emotionales Fundament. Er war<br />
nicht jemand, den man leicht verunsichern<br />
konnte, so dass wir alle den<br />
Eindruck hatten, ein Versuch würde<br />
sich lohnen, trotz aktuell noch fehlender<br />
Reife.<br />
Also hat er eine Klasse übersprungen<br />
…<br />
… und hat es gut gemacht. Heute ist<br />
er am Gymnasium und zufrieden.<br />
ein ADHS und erhoffen sich,<br />
nach einer Abklärung besser zu wissen,<br />
was mit dem Kind los ist. Zum<br />
einen wollen sie das Unterrichtsklima<br />
verbessern, zum anderen dem<br />
Schüler, der Schülerin helfen.<br />
Und wenn die Eltern einer Abklärung<br />
nicht zustimmen?<br />
Das respektieren wir. In einem solchen<br />
Fall würde ich mit der Lehrperson<br />
ihre Fragen besprechen. Je<br />
nachdem könnte es dann sein, dass<br />
ich mir im Rahmen eines allgemeinen<br />
Schulbesuchs in der Klasse einen<br />
Eindruck von der Gesamtdynamik<br />
mache und die Lehrperson berate.<br />
Dabei schauen Sie sich natürlich das<br />
entsprechende Kind an. Angenommen,<br />
sie haben den gleichen Eindruck wie<br />
Die Schulpsychologischen Dienste<br />
die Lehrperson.<br />
Dann würde ich das auch so kommunizieren.<br />
Schulpsychologische Dienste sind öffentliche<br />
Zusammen mit der<br />
Beratungsstellen. Ihr Angebot steht Kindern und Lehrperson würden wir überlegen,<br />
Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen<br />
wie wir die Eltern für eine Zusammenarbeit<br />
kostenlos zur Verfügung. Schulpsychologen<br />
gewinnen und welche<br />
und Schulpsychologinnen führen Abklärungen<br />
weiteren Massnahmen dem Kind<br />
durch, beraten bei Lernschwierigkeiten, bei<br />
helfen könnten, dem Unterricht besser<br />
Verhaltensauffälligkeiten oder bei schulischen<br />
zu folgen.<br />
Laufbahnfragen und empfehlen unterstützende<br />
Welche Massnahmen könnten das<br />
Massnahmen. In allen Kantonen gibt es<br />
sein?<br />
Schulpsychologische Dienste. Informationen und In manchen Fällen hilft es bereits,<br />
Kontaktadressen auf www.schulpsychologie.ch. einen ruhigeren Sitzplatz auszuwäh-<br />
len. Es gibt auch Kopfhörer, die den<br />
Geräuschpegel in der Klasse dämpfen.<br />
Das hilft vielen, sich besser zu<br />
konzentrieren. Andere brauchen<br />
ganz detaillierte Arbeitsanweisungen,<br />
Vorgaben anhand eines Ablaufschemas,<br />
an das sie sich halten können.<br />
Wenn das nicht reicht, brauchen<br />
wir die Eltern mit im Boot. Dann<br />
wird ein gemeinsames Gespräch mit<br />
der Lehrperson, der Schulleitung<br />
und den Eltern vorgeschlagen.<br />
Gibt es eine Instanz, die bestimmen<br />
kann, dass ein Kind von einer Schulpsychologin,<br />
einem Schulpsychologen<br />
abgeklärt wird?<br />
Ja, die Schulpflege. Aber wir versuchen<br />
alles, um solch eine «Zwangsmassnahme»<br />
zu vermeiden. Wir sind<br />
auf die Kooperation der Eltern angewiesen<br />
– sie kennen das Kind am<br />
besten. So ein Fall ist mir zum Glück<br />
noch nicht begegnet. In der Regel<br />
arbeiten alle Seiten sehr gut zusammen.<br />
Zum Wohl des Kindes.<br />
In vielen Gemeinden wurden die<br />
Kleinklassen aufgelöst und die Kinder<br />
mit speziellem Förderbedarf in die<br />
Regelklassen integriert. Inwiefern hat<br />
dies Ihre Arbeit verändert?<br />
Sie sprechen das neue Volksschulgesetz<br />
an. Mit ihm hat es einen Paradigmawechsel<br />
gegeben: von der<br />
Separation zur Integration. Grundsätzlich<br />
ist zu sagen, dass die Klassenzusammensetzung<br />
dadurch heterogener<br />
geworden ist und das Lernen<br />
individualisierter, was eine grosse<br />
Herausforderung für die Lehrpersonen,<br />
aber auch für uns Psychologen<br />
darstellt. Lag der Fokus bisher vor<br />
allem auf den Schwierigkeiten des<br />
Kindes, berücksichtigen wir nun<br />
auch stärker als bisher das Umfeld<br />
des Kindes, die Interaktionen und<br />
alles, was das Mitmachen im Unterricht<br />
beim Kind fördert beziehungsweise<br />
hindert.<br />
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene<br />
hat sich in den letzten Jahren einiges<br />
verändert.<br />
Oh ja. Die Anforderungen an die<br />
Familien sind gestiegen. Viele Eltern<br />
arbeiten heute sozusagen 150 Pro-<br />
32 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Monatsinterview<br />
zent, sind stark belastet und haben<br />
den Kopf nicht frei. Einige sind auch<br />
am Wochenende zu müde, um sich<br />
wirklich mit ihren Kindern zu be <br />
schäftigen, auseinanderzusetzen,<br />
und sind dann auch nicht in der<br />
Lage, eine klare Erziehungshaltung<br />
einzunehmen. Sie geben nach, wo<br />
sie nicht nachgeben sollten. Andererseits<br />
haben wir heute viele Familien<br />
mit Migrationshintergrund<br />
beziehungsweise Flüchtlinge, die<br />
unsere Kultur und unser Schulsystem<br />
kaum kennen. Deshalb wird<br />
vieles heute an die Schule delegiert,<br />
wie das Einüben von Regeln oder das<br />
Schenken von Zuwendung und Aufmerksamkeit.<br />
Können Sie uns einen solchen Fall<br />
schildern?<br />
Ich bin einmal im Fall eines kleinen<br />
Erstklässlers zugezogen worden, der<br />
die ganze Klasse aufgemischt hat.<br />
Zwei Lehrer, die Schulleitung, der<br />
Schulpflegepräsident, die Logopädin,<br />
die Eltern und ich sassen zusammen<br />
am runden Tisch. Die Lehrer<br />
haben den Bub als absoluten Störenfried<br />
beschrieben, der nie aufpassen<br />
könne, nichts arbeite, ständig die<br />
anderen Kinder ablenke und nun für<br />
«In der Schule ein<br />
Störenfried, daheim<br />
das liebste Kind.<br />
Das kommt vor.»<br />
den Unterricht untragbar geworden<br />
sei. Die Eltern haben ihren Ohren<br />
nicht getraut. Daheim sei er das<br />
liebste Kind, spiele gerne, helfe Mutter<br />
und Vater. Es war, als hätten wir<br />
von zwei verschiedenen Kindern<br />
gesprochen.<br />
Was haben Sie unternommen?<br />
Wir hatten zwei komplett unterschiedliche<br />
Bilder von ein und demselben<br />
Kind vor uns. Ich wollte diese<br />
beiden Bilder zusammenbringen. Ich<br />
schlug vor, den Buben, der bereits<br />
vom Unterricht ausgeschlossen war,<br />
für einen Monat wieder die Schule<br />
besuchen zu lassen mit der Auflage,<br />
dass Vater oder Mutter ihn begleiteten.<br />
Ich würde nach einer Woche<br />
einen Unterrichtsbesuch machen.<br />
Ich war beeindruckt von dem, was<br />
ich sah. Der Junge hat seine Mutter<br />
permanent auf Trab gehalten, sie<br />
musste ihm ständig hinterherspringen:<br />
«Sei jetzt still», «das musst du<br />
tun», «du darfst jetzt nicht sprechen,<br />
das stört», «setz dich hin und nimm<br />
den Bleistift …»<br />
Wollten die Eltern die Realität nicht<br />
sehen?<br />
Sie konnten die Realität einer Schulklasse<br />
nicht sehen. Die Lehre >>><br />
«Wir versuchen<br />
Druck zu<br />
vermeiden,<br />
setzen auf die<br />
Kooperation mit<br />
den Eltern», sagt<br />
Ruth Etienne<br />
Klemm. «Sie<br />
kennen ihr Kind<br />
am besten.»<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>33
Monatsinterview<br />
>>> rin hat 20 Kinder zu betreuen<br />
und nicht ein einziges. Sie ist darauf<br />
angewiesen, dass die Kinder sich an<br />
gemeinsame Regeln halten, dass sie<br />
mehr oder weniger aufpassen, wenn<br />
sie sie dazu auffordert, dass sie zuhören<br />
und das Gefühl entwickeln, ein<br />
Teil einer grösseren Gruppe zu sein.<br />
Der Bub durfte in der Klasse bleiben.<br />
Er hat eine zusätzliche Förderung<br />
bekommen, und die Eltern waren<br />
motiviert, ihrerseits mitzuhelfen,<br />
dass der Junge bleiben konnte.<br />
Die von Ihnen genannten Beispiele<br />
betreffen Primarschüler. Ist Ihre Mitarbeit<br />
bei Oberstufenschülern nicht<br />
mehr gefragt?<br />
Oh doch. Auf der Oberstufe treffen<br />
wir oft noch immer auf die gleichen<br />
Probleme – verschärft durch Schulmüdigkeit<br />
und Pubertätsschwierigkeiten.<br />
Ein grosses Ziel bei diesen<br />
Schülern ist immer, alles daran zu<br />
setzen, dass sie ihren Schulabschluss<br />
machen können, damit sie eine Lehre<br />
oder eine verkürzte Lehre mit<br />
Attest beginnen können. Oft werden<br />
sie auch durch verschiedene Brückenangebote<br />
zusätzlich unterstützt,<br />
damit sie ihren Weg in den ersten<br />
Arbeitsmarkt finden.<br />
«Eltern treibt die<br />
Sorge um, ihre<br />
Kinder könnten<br />
einmal keinen<br />
guten Beruf lernen.»<br />
Was beschäftigt Mütter und Väter<br />
heute am meisten?<br />
Ich denke die Sorge, ihre Kinder<br />
könnten einmal keinen guten Beruf<br />
lernen, den sozialen Aufstieg nicht<br />
schaffen oder vom gesellschaftlichen<br />
Abstieg bedroht sein, ist etwas, das<br />
viele schon sehr früh umtreibt. Eltern<br />
wollen, dass ihre Kinder bestmöglich<br />
geschult und gefördert werden, um<br />
später sichere Jobs zu finden und<br />
gutes Geld zu verdienen. Das baut<br />
eine Menge Druck auf, nicht nur bei<br />
den Kindern, sondern auch in der<br />
Schule. Wir Schulpsychologen versuchen<br />
immer wieder zu helfen,<br />
diesen Stress abzubauen.<br />
Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?<br />
Mir ist es wichtig, zu verstehen, warum<br />
Eltern selber so viel Stress haben<br />
und Stress machen. Die eigene Ge <br />
schichte spielt massiv in die Erziehung<br />
hinein – auch die der eigenen<br />
Schulkarriere. Manche kennen diesen<br />
Leistungsdruck aus dem eigenen<br />
Elternhaus. Andere kommen vielleicht<br />
aus einem Land, wo die gesellschaftlichen<br />
und wirtschaftlichen<br />
Bedingungen keine höhere Schulbildung<br />
zuliessen. Ihre Träume delegieren<br />
sie nun an ihre Kinder. Wieder<br />
andere fürchten den globalen Wettbewerb<br />
und denken: Einschulung je<br />
früher, je besser. So argumentierte<br />
einmal ein Vater, der seine Tochter<br />
unbedingt mit knapp sechs Jahren<br />
Evelin Hartmann, stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi, im<br />
Gespräch mit der Zürcher Schulpsychologin Ruth Etienne Klemm.<br />
Zur Person<br />
einschulen lassen wollte, damit, dass<br />
in anderen Ländern die Kinder auch<br />
so früh in die Schule kommen.<br />
«Zeigen Sie breites<br />
Interesse für die<br />
Lebenswelt Ihres<br />
Kindes.»<br />
Was können Sie tun?<br />
Ich versuche Überzeugungsarbeit zu<br />
leisten, dass ein guter Schulstart für<br />
die Kinder entscheidend ist. Gekappte<br />
Kindergartenjahre zahlen sich<br />
selten aus. Im Gegenteil! Wenn die<br />
Kinder schulreif sind, dann sind sie<br />
ausgerüstet für Neues und können<br />
vom Unterricht profitieren – und<br />
übrigens nicht nur sie, sondern alle<br />
rundherum auch.<br />
Dr. phil. Ruth Etienne Klemm ist Schulpsychologin im Schulpsychologischen<br />
Dienst der Stadt Zürich sowie Mutter von zwei erwachsenen Kindern – einer<br />
Tochter und einem Sohn.<br />
34 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Viele Eltern sind sehr präsent, wenn<br />
es um Tests, Prüfungen und so weiter<br />
geht. Setzen sie damit die falschen<br />
Signale?<br />
Die einseitige Gewichtung der Leistung<br />
ist etwas sehr Kontraproduktives.<br />
Eine Faustregel für die Eltern<br />
lautet: Zeigen Sie breites Interesse<br />
für die Lebenswelt Ihres Kindes.<br />
Und da gehört ganz vieles dazu, die<br />
anderen Kinder, die Freunde, die<br />
Schule, ihr Familienalltag, die<br />
gemeinsamen Ausflüge. Dafür<br />
braucht es aber Zeit, die in vielen<br />
Familien heute oft fehlt. Darunter<br />
kann die Beziehung zwischen Eltern<br />
und Kindern leiden. Für die Kinder<br />
und ihre Entwicklung ist es aber<br />
wichtig, eine gute Beziehung zu<br />
ihren Eltern leben, pflegen und entwickeln<br />
zu können. Wenn es dann<br />
aber um den Übertritt ans Gym <br />
nasium oder die Sekundarschule<br />
geht, spielen Noten doch eine wichtige<br />
Rolle.<br />
Auch hierzulande wollen immer mehr<br />
Eltern ihre Kinder am Gymi sehen.<br />
Über diese Entwicklung sind wir<br />
Schulpsychologinnen und Schulpsychologen<br />
nicht glücklich. Ich bedaure<br />
die überforderten Kinder, die sich<br />
durchs Gymnasium quälen, weil sie<br />
für diese Schulform nicht geeignet<br />
sind. Für viele Schüler ist ein Sekundarschulabschluss<br />
mit anschliessendem<br />
Lehrabschluss die viel bessere<br />
Grundausbildung und ein gutes<br />
Fundament. Die Erfahrung zeigt,<br />
dass über den Erfolg und die Freude<br />
an dem, was man erreicht hat, die<br />
Lust wächst, weiter zu lernen. Ich<br />
sage Eltern oft: Wenn es uns gelingt,<br />
dass Ihr Kind eine gute Schulkar riere<br />
macht, bei der es glücklich und<br />
zufrieden ist und viel lernt, wird es<br />
seinen Weg machen.<br />
>>><br />
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Kolumne<br />
Kämpfen Sie für sich selbst,<br />
nicht gegen Ihren Mann!<br />
Ein Familienvater trinkt, zieht sich zurück, wirkt depressiv. Seine Familie leidet darunter.<br />
Die siebenjährige Tochter fühlt sich allein und ausgeschlossen. Seine Frau bittet Jesper Juul<br />
um Rat – und bekommt eine Antwort, die sie vor eine grundlegende Entscheidung stellt.<br />
Jesper Juul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestseller<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschluss zur See, war<br />
später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />
und Barkeeper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />
leidet Juul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />
Rollstuhl.<br />
Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Mein Mann und ich<br />
sind seit acht Jahren<br />
verheiratet<br />
und haben eine<br />
siebenjährige,<br />
wunderbare Tochter. Als ich ihn<br />
kennenlernte, hat er oft getrunken.<br />
Das wurde mit der Zeit zu einer festen<br />
Gewohnheit. Alkohol war ein<br />
Begleiter jeder Auseinandersetzung.<br />
Er arbeitet vorwiegend nachmittags<br />
und abends. Seine Präsenz zu<br />
Hause beschränkt sich meist auf den<br />
Sonntag. Erst wenn sein Schlafbedürfnis<br />
gedeckt ist, hat er für die<br />
Tochter etwas Zeit, die er am liebsten<br />
in der Wohnung verbringt. Ich muss<br />
oft intervenieren, damit es zu einer<br />
gemeinsamen Aktivität kommt.<br />
Dann schaut er mit ihr eine Kindersendung,<br />
oder wir essen zusammen.<br />
Die Rollenaufteilung in der Familie<br />
ist klassisch: Der Mann bringt das<br />
Geld nach Hause, die Frau steht hinterm<br />
Herd und erzieht die Kinder.<br />
Damit bin ich nicht einverstanden.<br />
Ich bin anders erzogen worden, fügte<br />
mich aber zum Wohl des Kindes.<br />
Nach Jahren musste ich feststellen,<br />
dass mein Mann depressiv ist. Er<br />
hat das auch zugegeben, nachdem er<br />
Es braucht immer zwei<br />
Personen, um eine destruktive<br />
Beziehung zu schaffen.<br />
über Selbstmordgedanken gesprochen<br />
hatte.<br />
Ich arbeite, habe promoviert und<br />
bin total erschöpft. Wir haben auch<br />
finanzielle Probleme. Und alles, was<br />
mit unserer Tochter zu tun hat, re gle<br />
ich im Alleingang. Unterstützung<br />
bekomme ich gar keine – und zwar<br />
seit Anfang an. Die Kommunikation<br />
zwischen mir und meinem Mann ist<br />
momentan auf ein Telefongespräch<br />
reduziert.<br />
Unsere Tochter spürt die Frustration<br />
und Nervosität meinerseits und<br />
ist unglücklich, dass sie wenig von<br />
ihrem Papa hat. Sie vermisst seine<br />
Aufmerksamkeit und leidet darunter.<br />
Seit einem Jahr ist sie sehr weinerlich,<br />
fühlt sich oft von Kindern<br />
ausgeschlossen, sagt öfters, sie habe<br />
einen schlechten Tag und sei traurig.<br />
Sie hat keine Strategie entwickelt,<br />
um nach einem Ersatz oder Ausweg<br />
zu suchen, wenn sie ausgeschlossen<br />
wird. Sonst gibt sie gern den Ton an,<br />
das liegt in ihrem Temperament.<br />
Allerdings kann sie nicht diplomatisch<br />
sein.<br />
Eigentlich fühlen wir uns beide<br />
ausgeschlossen, nicht wahrgenommen.<br />
Unsere Bedürfnisse werden<br />
gar nicht erkannt. Ich bewege mich<br />
in einem Teufelskreis.<br />
Ich habe Hilfe gesucht, gehe zur<br />
Kindertherapeutin meiner Tochter<br />
und kann in Gesprächen etwas von<br />
meinem Frust erkennen, begründen<br />
und verstehen. Auch das Verhalten<br />
meiner Tochter spreche ich an, da<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
36 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
sie mir gegenüber seit Jahren grob<br />
ist. Und ich habe vor, mit meinem<br />
Mann bei unserem Hausarzt seine<br />
Depression und Behandlungsmöglichkeiten<br />
zu besprechen.<br />
Ich habe über eine Trennung<br />
nachgedacht. Aber ich befürchte,<br />
dass es dann gar keinen Austausch<br />
mehr zwischen Tochter und Vater<br />
gibt. Anderseits bietet eine glückliche<br />
Mutter wohl mehr Halt als eine<br />
überforderte und unglückliche, die<br />
keinen Ausweg sieht. Wie sehen Sie<br />
das, Herr Juul?<br />
Werden Sie für Ihre Tochter ein<br />
weibliches Vorbild, das sich weigert,<br />
ein Opfer zu sein. Sie muss das<br />
sehr bald lernen.<br />
Antwort von Jesper Juul<br />
Vielen Dank für Ihr Vertrauen und<br />
die ehrliche, direkte Art, mit welcher<br />
Sie Ihre Familiensituation schildern;<br />
das ist für mich und auch für viele<br />
andere Familien, die mit ähnlichen<br />
Problemen kämpfen, hilfreich. Es<br />
gibt aber eine wesentliche Information,<br />
die ich Ihrem Brief nicht entnehmen<br />
kann: Lieben Sie Ihren<br />
Mann? Ich frage das deshalb: Sollten<br />
Sie es nicht tun, ist es für mich<br />
schwer vorstellbar, woher Sie die<br />
Energie und das Durchhaltevermögen<br />
nehmen werden, um die nächsten<br />
drei bis fünf Jahre zu überstehen,<br />
unabhängig davon, welche Entscheidung<br />
Sie treffen.<br />
Ich bin überzeugt davon, dass der<br />
Schmerz Ihrer Tochter Ihnen schon<br />
gezeigt hat, dass Sie ihr keinen<br />
Gefallen damit getan haben, die<br />
Leere Ihrer Ehe über so viele Jahre<br />
hinweg zu erdulden. Sie beide sind<br />
der Dynamik zum Opfer gefallen,<br />
welche vom inkompetentesten Mitglied<br />
der Familie, Ihrem Mann, definiert<br />
wird.<br />
Es braucht immer zwei Personen,<br />
um eine destruktive Beziehung zu<br />
schaffen, und in Ihrem Fall haben<br />
Sie Ihrem Mann die Macht gegeben,<br />
die er jetzt hat. Es ist, als ob Sie ihm<br />
die Autoschlüssel in die Hand drücken<br />
und ihn darum bitten würden,<br />
mit Ihnen allen betrunken zu fahren.<br />
Vor einem moralischen Richter<br />
verliert der Alkoholisierte immer,<br />
aber im richtigen Leben sind Sie beide<br />
gleichermassen verantwortlich,<br />
und nur Ihre Tochter ist das Opfer.<br />
Ich hebe dies in der Hoffnung<br />
hervor, dass Sie damit anfangen werden,<br />
Ihre wertvolle Energie dafür zu<br />
verwenden, für sich selber zu kämpfen<br />
und nicht gegen ihn. Je länger Sie<br />
so weitermachen wie bisher, je<br />
schuldiger wird er sich fühlen, und<br />
Schuld macht ihn durstig. Wenn es<br />
Ihnen gelingt, die Verantwortung<br />
für sich selber und Ihre Tochter zu<br />
übernehmen, könnte es ihn dazu<br />
inspirieren, die Verantwortung für<br />
sein Leben zu übernehmen.<br />
Wenn es wahr ist, dass er seit vielen<br />
Jahren unter einer starken De <br />
pression leidet, hat er den de struktivsten<br />
Weg, damit umzugehen,<br />
gewählt, nämlich zu einem introvertierten,<br />
unverantwortlichen, selbstzerstörerischen<br />
Mann und Vater zu<br />
werden. Ich sage bewusst «gewählt»,<br />
weil es andere Möglichkeiten gab,<br />
zum Beispiel den Schmerz mit<br />
Ihnen zu teilen oder professionelle<br />
Hilfe in Anspruch zu nehmen.<br />
Diese schlechte Wahl war in der<br />
Hinsicht ansteckend, als Sie und<br />
Ihre Tochter seine Strategie kopiert<br />
haben. Ihnen und der Zu kunft Ihrer<br />
Tochter zuliebe und um möglicherweise<br />
eine sinnvolle Partnerschaft zu<br />
schaffen, müssen Sie jetzt verantwortlich<br />
werden und eine der folgenden<br />
Entscheidungen treffen:<br />
1. Wenn Ihre Liebe für ihn erschöpft<br />
ist, schulden Sie es Ihnen beiden,<br />
sich von ihm scheiden zu lassen.<br />
Die ersten Monate, nachdem Sie<br />
und Ihre Tochter ausgezogen sind,<br />
werden zeigen, ob er sich emotional<br />
als Teilzeitvater qualifizieren<br />
möchte. Der erste Schritt ist, mit<br />
dem Trinken aufzuhören.<br />
2. Wenn Sie ihn immer noch lieben,<br />
so wie er ist, müssen Sie von ihm<br />
verlangen, dass er zur Kur geht<br />
und trocken wiederkommt. Solange<br />
er an einem Programm teilnimmt,<br />
geben Sie ihm alle Unterstützung,<br />
welche sein Betreuer<br />
vorschlägt. Denken Sie nie, dass<br />
Ihre Liebe ihn heilen kann. Nur er<br />
selber kann sich heilen, und Sie<br />
können ihn in den folgenden<br />
Monaten und Jahren dabei unterstützen.<br />
Wenn Ihr Hausarzt ihn<br />
als klinisch depressiv diagnostiziert<br />
und ihm Antidepressiva verschreibt,<br />
muss er am selben Tag<br />
mit dem Trinken aufhören und<br />
nicht warten, bis er sich weniger<br />
depressiv fühlt. Sie und Ihre Tochter<br />
müssen in Bezug auf Ihren<br />
Umgang miteinander realistische<br />
Erwartungen haben. Sehr oft<br />
erzeugen Antidepressiva ein mattes<br />
Gefühlsleben.<br />
Ganz gleich, welche Entscheidung<br />
Sie treffen, für Ihre Tochter wird es<br />
das Geschenk ihres Lebens sein.<br />
Nicht nur die Beziehung zu ihrem<br />
Vater wird viel klarer, Sie bekommt<br />
auch in Ihnen ein weibliches Vorbild,<br />
das sich weigert, ein Opfer zu sein.<br />
Sie muss das sehr bald lernen.<br />
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>37
Erziehung & Schule<br />
Wie geflüchtete Kinder und Jugendliche<br />
unsere Schulen bereichern<br />
Jeder dritte Geflüchtete, der nach Europa kommt, ist allein unterwegs und minderjährig.<br />
Viele von ihnen sind schulpflichtig. Welche Folgen hat das für unser Bildungssystem? Eltern<br />
befürchten überquellende Schulklassen, in denen kaum noch jemand Deutsch spricht,<br />
Lehrpersonen einen Qualitätsverlust ihres Unterrichts. In ihrem Buch «Die Flüchtlinge sind da!»<br />
widmet sich unsere Autorin dem Thema Zuwanderung in unseren Schulen und der Frage,<br />
wie wir diese pädagogische Herausforderung bewältigen können.<br />
Text und Bilder: Katharina Blass<br />
Koch, Dachdecker, Ärztin –<br />
die Berufswünsche der<br />
jungen Flüchtlinge sind so<br />
verschieden wie ehrgeizig.<br />
Ein Montagvormittag in<br />
der Berufs-, Fach-, und<br />
Fortbildungsschule<br />
(BFF) in Bern. Die zugewanderten<br />
Jugendlichen<br />
sind in ein Brückenangebot eingebunden<br />
– ein bis zwei Jahre zwischen<br />
Regelschule und Berufslehre.<br />
Gerade haben sie Deutschunterricht,<br />
aber weil eine Journalistin zu<br />
Gast ist, darf sich jeder erst einmal<br />
vorstellen.<br />
Ausser Nuur aus Somalia sind da<br />
noch Abdulqadir, auch aus Somalia,<br />
Rahel aus Eritrea, Neslihan aus der<br />
Türkei, Yanik aus Spanien und<br />
Ro shan aus Sri Lanka. Sie alle sind<br />
seit einem bis drei Jahren in der<br />
Schweiz und zwischen 16 und 18<br />
Jahre alt. Sie wollen Automobilfach-<br />
mann, Koch, Informatiker, Dachdecker,<br />
Altenpflegerin und Ärztin<br />
werden. Eigentlich sind es 16 Schüler,<br />
für sechs Unterrichtsstunden in<br />
der Woche wird die Klasse jedoch<br />
halbiert, um intensiver Deutsch lernen<br />
zu können.<br />
Heute geht es um «damals und<br />
jetzt». Deutschlehrer Daniel Graf<br />
stellt die Zeit ohne Computer und<br />
Smartphone der jetzigen Zeit gegenüber.<br />
«Wo hättest du lieber gelebt?»,<br />
fragt er Neslihan. «Ich hätte lieber<br />
früher gelebt, weil ich gern in der<br />
Natur bin und es heute in den Städten<br />
kaum noch Platz dafür gibt»,<br />
sagt die Türkin. Sie spricht sehr gut<br />
Deutsch, obwohl sie erst anderthalb<br />
Jahre in der Schweiz lebt. Sie hat<br />
eine Vorlehre als Pharmaassistentin<br />
gemacht, später möchte sie Medizin<br />
studieren. «Das ist nicht unmöglich,<br />
aber ein sehr langer Weg», sagt<br />
Graf.<br />
Diesen Eindruck von motivierten<br />
und engagierten Schülerinnen<br />
und Schülern erhält, wer sich in ein<br />
Klassenzimmer setzt und dem<br />
Unterricht folgt.<br />
Wer aber länger mit Lehrerinnen<br />
und Lehrern spricht, bekommt die<br />
andere Seite der Einwanderungs-<br />
38 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Brückenangebot:<br />
Zwischen<br />
Regelschule und<br />
Berufslehre<br />
lernen die jungen<br />
Flüchtlinge Deutsch.<br />
debatte zu hören. «Wir sind überfahren<br />
worden.» «Wir wissen nicht,<br />
was wir tun sollen.» So tönt es aus<br />
vielen Lehrerzimmern im Land.<br />
Plötzlich sind die Flüchtlinge da<br />
– und niemand ist vorbereitet. Es<br />
gibt zu wenige Lehrpersonen, keine<br />
Ressourcen für Deutschunterricht<br />
oder nicht genügend Geld für Freizeitangebote.<br />
Einen Lehrplan zur<br />
Integration der Neuankömmlinge<br />
hat niemand, und überhaupt fragen<br />
sich viele, was Integration genau<br />
bedeuten soll. Alle Beteiligten sind<br />
mit einer neuen Situation konfrontiert:<br />
Lehrer wissen nicht genau, wie<br />
sie mit den traumatisierten Schülern<br />
umgehen sollen. Eltern machen<br />
sich Sorgen, dass das Niveau in den<br />
Klassen absinkt.<br />
Schätzungen zufolge reisten 2015<br />
rund 10 000 minderjährige Flüchtlinge,<br />
davon 3000 schulpflichtige, in<br />
die Schweiz ein. Zum Vergleich: Das<br />
sind 45 Prozent mehr als 2014. Die<br />
Entwicklung schürt viele Ängste<br />
und Vorurteile in der Gesellschaft.<br />
Gleichzeitig ist das aber auch eine<br />
riesige Chance für das gesamte Bildungssystem<br />
und alle Teilnehmer,<br />
weil die Schulen sich verändern<br />
müssen und werden. Nicht nur<br />
zugunsten der Zugewanderten, sondern<br />
auch zugunsten aller Schweizerinnen<br />
und Schweizer.<br />
Wir alle müssen endlich die<br />
Qualität, Sinnhaftigkeit und Gestaltung<br />
des Bildungssystems, vor allem<br />
aber der Schulen und ihrer Lehrpläne<br />
hinterfragen. Nur hier werden<br />
die Grundlagen für ein späteres<br />
Erwerbsleben und somit der langfristigen<br />
Integration aller >>><br />
Integration braucht Zeit. Aber<br />
die Zugewanderten sitzen jetzt<br />
in den Klassenzimmern.<br />
Wir müssen rasch anpacken!<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>39
Erziehung & Schule<br />
>>> Zugewanderten gelegt. Ihr<br />
Erfolg ist entscheidend. Es müssen<br />
Projekte und Initiativen entstehen,<br />
Wirtschaft – also Ausbildungsbetriebe<br />
– und Schule müssen besser<br />
zu sammenarbeiten. Und das<br />
kommt nicht nur den Flüchtlingen<br />
zugute. Allerdings braucht das Zeit,<br />
und wir können nicht so lange warten,<br />
denn die Zugewanderten sitzen<br />
jetzt in den Klassen. Wir müssen<br />
jetzt anpacken! Wir alle werden<br />
neue Menschen und fremde Kulturen<br />
kennenlernen.<br />
Die Lehrpersonen, aber auch die<br />
Schülerinnen und Schüler, die in<br />
der Schweiz gross geworden sind,<br />
werden sich im Unterricht mit den<br />
Folgen von Krieg und Vertreibung<br />
auseinandersetzen und vielleicht<br />
auch in ihrer Freizeit spüren, wie<br />
wichtig eine funktionierende<br />
Demokratie und ein Leben in Freiheit<br />
und Frieden sind.<br />
Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments<br />
und Intoleranz sind keine<br />
latenten Schwingungen mehr, sondern<br />
werden im Unterricht, am<br />
Stammtisch, im Parlament, in den<br />
Medien thematisiert werden. Davon<br />
können alle – vom Erstklässler bis<br />
zum Bundesrat – nur profitieren.<br />
Zurück in der Berufs-, Fach- und<br />
Fortbildungsschule in Bern. Die BFF<br />
hat zwölf Klassen im Brückenangebot.<br />
Vor wenigen Jahren waren es<br />
nur sechs. «Den grössten Anteil<br />
machen Schüler aus Eritrea aus»,<br />
sagt die Klassenlehrerin, die an <br />
onym bleiben möchte, im Gespräch<br />
nach dem Unterricht. Rund 30 Prozent.<br />
Bisher waren die Klassen sehr<br />
gemischt, vom Fami liennachzug bis<br />
zum Di plo matensohn erhielten sie<br />
Deutschunterricht.<br />
Neuerdings kommen vor allem<br />
geflüchtete Afghanen und Syrer<br />
dazu. Obwohl Einwanderung und<br />
Integration in der Schweiz schon<br />
lange Teil der Kultur- und Bildungsgeschichte<br />
sind, stehen auch hier die<br />
Lehrerinnen und Lehrer neuen Problemen<br />
gegenüber. Das grösste<br />
davon ist der hohe Anteil an unbegleiteten<br />
minderjährigen Flüchtlingen.<br />
Manche Flüchtlinge waren<br />
seit Monaten, oft auch<br />
seit Jahren allein unterwegs.<br />
Allein im Kanton Bern sei die Zahl<br />
seit 2015 von 100 auf 500 angestiegen.<br />
«Sie sind seit Monaten, manchmal<br />
auch seit Jahren allein unterwegs<br />
gewesen», erzählt die Klassenlehrerin.<br />
Es falle ihnen sehr schwer, sich<br />
plötzlich wieder einer Autoritätsperson<br />
unterzuordnen. Ausserdem<br />
müssten sie soziale Kompetenzen<br />
wie zum Beispiel Pünktlichkeit neu<br />
lernen. «Sie waren lange auf sich<br />
gestellt, und plötzlich ist da wieder<br />
jemand, in dessen Obhut sie sind.<br />
Einige Minderjährige brauchen lange,<br />
um sich daran zu gewöhnen»,<br />
sagt die Klassenlehrerin. Trotzdem<br />
seien sie immer noch Kinder.<br />
Ebenfalls verändert habe sich der<br />
administrative Part: «Man ist immer<br />
in Kontakt mit vielen verschiedenen<br />
Institutionen, nicht mehr mit den<br />
Eltern.»<br />
Auch später reichen die Bedingungen<br />
im sozialen und administrativen<br />
Umfeld der zugewanderten<br />
Jugendlichen weit in den Schulalltag<br />
hinein. «Erst sind sie in Aufnahmeeinrichtungen<br />
untergebracht,<br />
und wenn sie volljährig werden,<br />
sind sie plötzlich doch wieder auf<br />
sich gestellt», sagt die Klassenlehrerin.<br />
Sie erzählt von einem Schüler,<br />
der von einem auf den anderen Tag<br />
in einer Wohngemeinschaft mit<br />
Vielen Geflüchteten<br />
fällt es am Anfang<br />
schwer, sich wieder<br />
einer Autoritätsperson<br />
unterzuordnen.<br />
40 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
zwei anderen Flüchtlingen lebte.<br />
Der Schüler fragte sie um Rat, als er<br />
seinen Schlüssel verloren hatte. «Ich<br />
habe ein bisschen gebraucht, bis ich<br />
verstanden habe, dass es nicht um<br />
den Wohnungsschlüssel, sondern<br />
um den zu seinem Zimmer ging.»<br />
Die Vorstellung, der Schüler<br />
schliesse sein Zimmer ab, wenn er<br />
die Wohnung verlasse, habe ihr Sorgen<br />
bereitet. Deshalb soll die Schule<br />
den jungen Leuten nicht nur den<br />
Weg ins Berufsleben bereiten, sondern<br />
vor allem auch ein Schutzraum<br />
sein. Darin sind sich die meisten<br />
Lehrerinnen und Lehrer einig.<br />
Die Schülerinnen und Schüler,<br />
die die Brückenangebote in An <br />
spruch nehmen, hätten mit 16 bis<br />
22 Jahren ein «schönes Alter», sagt<br />
die Lehrerin, denn die meisten würden<br />
verstehen, dass sie nun ein neues<br />
Leben beginnen können. Das<br />
motiviere sie sehr, nicht nur zu lernen,<br />
sondern auch sich zu integrieren.<br />
Und das sollten wir, die gesamte<br />
Gesellschaft, fördern.<br />
>>><br />
Einige gute Förderprogramme, die jungen<br />
Migranten und Migrantinnen einen besseren<br />
Zugang zu unserem Bildungssystem<br />
ermöglichen sollen, gibt es hierzulande<br />
bereits. Eines davon heisst ChagALL, vorgestellt<br />
in unserer Reportage auf Seite 52.<br />
Katharina Blass<br />
arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.<br />
Nach der Veröffentlichung ihres Buches<br />
«Die Flüchtlinge sind da» bekam sie<br />
unzählige E-Mails von Flüchtlingsgegnern<br />
mit Beschimpfungen und Beleidigungen.<br />
Ihr Fazit: Alles richtig gemacht, Botschaft<br />
ist angekommen.<br />
Buchtipp<br />
Armin Himmelrath, Katharina<br />
Blass: Die Flüchtlinge sind da!<br />
– Wie zugewanderte Kinder und<br />
Jugendliche unsere Schulen<br />
verändern – und verbessern<br />
hep-Verlag, Bern 2016, 200 Seiten,<br />
Fr. 19.20, E-Book Fr. 15.90<br />
Unsere<br />
Mediadaten:<br />
www.fritzundfraenzi.ch<br />
Info-Abend:<br />
20. März<br />
«Ihr Aus- und Weiterbildungsinstitut<br />
IKP:<br />
wissenschaftlich – praxisbezogen<br />
– anerkannt»<br />
Dr. med. Y. Maurer<br />
Dipl. Partner-,<br />
Paar- u. Familienberater(in)<br />
IKP<br />
Ganzheitliche systemische Psychologie:<br />
Lösungs- und ressourcenorientierte<br />
Beratung rund um<br />
Beziehungsprobleme. Dauer: 3 Jahre,<br />
SGfB-anerkannt. Optional mit eidg. Dipl.<br />
Seit 30 Jahren anerkannt<br />
Ausbildung<br />
Seniorenbetreuung<br />
Infos unter www.ibk-berufsbildung.ch<br />
Kinderbetreuung –<br />
ein Beruf mit Zukunft!<br />
Der Beruf «Fachperson Betreuung, Fachrichtung Kinderbetreuung»<br />
hat in den vergangenen Jahren einen Riesenaufschwung erlebt.<br />
Obwohl sich die Zahl der Kindertagesstätten dank finanzieller<br />
Unterstützung des Bundes vervielfacht hat, bleibt das Angebot an<br />
offenen Ausbildungsplätzen ungenügend: nicht alle Schulabgängerinnen,<br />
die diesen Weg einschlagen möchten, finden eine Lehrstelle.<br />
Das bke bietet deshalb eine private, schulisch organisierte Ausbildung<br />
mit einem musisch-kreativen Schwerpunkt. Mit Kindern<br />
arbeiten verlangt vielseitige, neugierige und verständnisvolle<br />
Betreuungspersonen, und der Beruf FaBe bietet vielfältige<br />
und interessante Anschlussmöglichkeiten.<br />
Informationen zu Aus- und Weiterbildung finden Sie auf www.bke.ch
In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />
Erziehung & Schule<br />
Schreiben zu Hause:<br />
die Schrift im Alltag entdecken<br />
Zu Hause sammeln Kinder erste Erfahrungen mit der Schrift, die für den Schreiberwerb<br />
in der Schule bedeutend sind. Der Familienalltag bietet Kindern viele informelle Anlässe,<br />
um die Welt der Schrift zu entdecken. Text: Johanna Oeschger<br />
Schatzsuche<br />
Ein Hinweis – ein Satz, ein Wort, ein<br />
Symbol – auf einem Zettel führt zum<br />
ersten Posten, an dem ein weiterer Hinweis<br />
versteckt ist. Dieser führt zum<br />
nächsten Posten usw. Alternative: eine<br />
Schatzkarte zeichnen und beschriften.<br />
Zuerst suchen die Kinder, dann die<br />
Eltern!<br />
«Verkäuferlis»<br />
Als (Schreib-)Vorbereitung zum beliebten<br />
«Verkäuferlispiel» können die<br />
Waren im Einkaufsladen beschriftet<br />
werden – etwa mit Artikelbezeichnung,<br />
Preis, Aktionen. Schreibanfänger können<br />
die Wörter von Originalverpackungen<br />
oder Prospekten abschreiben oder<br />
ausschneiden.<br />
Familienkalender<br />
Bei einigen Familien hängt zu Hause ein<br />
gemeinsamer Kalender, in dem Geburtstage,<br />
Musikstunden, Ferien und andere<br />
wichtige Termine festgehalten werden.<br />
Neue Einträge können gemeinsam<br />
notiert werden.<br />
Hintergrund<br />
Für das Schreibenlernen ist der<br />
Umgang mit der Schrift im Elternhaus<br />
wesentlich. Unter dem<br />
Begriff «Family Literacy» hat die<br />
Schreibforschung die Wirksamkeit<br />
von familiären Lese- und<br />
Schreibaktivitäten mehrfach aufgezeigt.<br />
Unterstützend ist, wenn<br />
Kinder die Schrift als etwas<br />
Selbstverständliches und Bedeutungsvolles<br />
erleben. Werden Kinder<br />
in motivierenden Alltagssituationen<br />
zum Lesen und<br />
Schreiben angeregt, finden sie<br />
einen persönlichen Zugang dazu<br />
und können ihre Kompetenzen allmählich<br />
sichern und erweitern.<br />
Wunschmenü<br />
Für einen besonderen Anlass, zum Beispiel<br />
einen Geburtstag oder Feiertag,<br />
dürfen die Kinder ihr Wunschmenü<br />
zusammenstellen und aufschreiben.<br />
Anschliessend geht es ans gemeinsame<br />
Einkaufen (Einkaufsliste schreiben)<br />
und Kochen (Rezept lesen). Ein feines<br />
Essen, das allen am Tisch schmeckt, ist<br />
die beste Bestätigung für den eigenen<br />
Schreiberfolg.<br />
App-Tipp<br />
Capt’n Sharky: erste Buchstaben<br />
Auf dem Piratenschiff mit Capt’n Sharky lösen Kinder viele kleine<br />
Buchstabenrätsel. Die App eignet sich für Kinder ab Vorschulalter<br />
und ist für iOS und Android erhältlich. Kosten: Fr. 1.–.<br />
Johanna Oeschger<br />
ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />
unterrichtet Deutsch und Englisch<br />
auf der Sekundarstufe II und arbeitet als<br />
Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />
Bild: iStockphoto<br />
42 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kolumne<br />
Liebe ist seltsam<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
Michèle Binswanger<br />
Die studierte Philosophin<br />
ist Journalistin und Buchautorin.<br />
Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen,<br />
ist Mutter zweier Kinder<br />
und lebt in Basel.<br />
Manche Gedanken kreuzen so unpassend im Bewusstsein<br />
auf, wie ein Clown auf einer Beerdigung. Neulich<br />
polterte meine bald 16-jährige Tochter nachts die Treppe<br />
herauf, und als ich sie im Gang abfing, fiel sie mir in<br />
die Arme. «Es geht mir schlecht!», sagte sie. Sie hatte<br />
Bier getrunken, ihr war übel geworden,, und sie dachte, sie müsse sterben.<br />
«Kann man nichts tun?», heulte sie. Ich streichelte ihr den Kopf und<br />
musste lächeln. Man kann nichts tun, dachte ich. Aber wenigstens baut<br />
sich der Alkohol schnell ab. Wart nur, bis du dich zum ersten Mal verliebst.<br />
Das dachte ich vielleicht deshalb, weil ich in diesen Tagen meine Tagebücher<br />
aus meinen Teenagertagen wieder gelesen hatte. Sie handeln von<br />
nichts anderem als der Liebe. Wenn wir lieben, dann sind wir in gewisser<br />
Weise genau das: Clowns auf einer Beerdigung. So schrieb ich damals:<br />
«Was immer Liebe ist, sie macht einen lächerlich. Man richtet seine<br />
Aufmerksamkeit auf einen Mittelpunkt, den es gar nicht gibt: Wie und<br />
wann sehe ich ihn wieder? War er einfach nett und es steckt nichts dahinter?<br />
Soll ich ihn zum Essen einladen? Warum ruft er nicht an? Sehe ich<br />
ihn heute? Oder morgen? All diese Fragen. Wie hätte ich reagieren sollen,<br />
als er mich berührte? Ihn ebenfalls berühren? Nichts ist schrecklicher als<br />
die Vorstellung, ich könnte jemandem lästig sein. Aber ich will, ich muss,<br />
ich kann nicht anders. Eine lächerliche Figur.»<br />
Aber dann: Ist es nicht die der Liebe eigene Dramaturgie, die das<br />
Leben überhaupt erst lebenswert macht?<br />
«Ich finde keine Worte für das, was ich mit X habe. Wir sind in den<br />
Bergen. Die Zeit ist unbestimmt, wir könnten mit unseren Fahrrädern<br />
zum See hinauf fahren, X könnte zur Tür hineinkommen und wir könnten<br />
Sex haben, ich könnte dabei schwanger werden oder wir könnten<br />
auch zu Mittag essen. Oder nichts von alledem, alles könnte auch erst<br />
morgen geschehen oder morgen könnte es auch regnen. Wieso macht<br />
einem der Verlauf der Zeit Angst? Alles ist vergänglich, auch die Liebe.<br />
Oftmals schweigen wir uns einfach an. Wir schlafen zusammen, dann<br />
liegen wir da und sehen uns an, ab und zu lacht der eine oder andere,<br />
lächelt, wir küssen uns und schweigen. Gestern jedoch brachte ich nach<br />
langem Schweigen drei Worte zusammen. ‹Liebe ist seltsam›, sagte ich.<br />
‹Wieso?›<br />
Ich erwog, ihn zu fragen, ob er glaube, im Paradies sei es auch so<br />
schön. Dann fragte ich mich, wie man in dieser Welt überhaupt auf so<br />
einen Gedanken kommen könne. Eben. Liebe ist seltsam.»<br />
Liebe ist seltsam, das stimmt. «Wie Flipperkugeln werden wir auf eine<br />
Reise geschickt, von der wir höchstens wissen, dass sie enden wird. Doch<br />
wozu? Ich versuche das, was mir durch die Hände fliesst wie Sand, zu fassen,<br />
ihm einen Namen zu geben, den Namen dessen, den ich liebe.»<br />
Die wahre Schönheit der Liebe besteht darin, sie zu verschenken – ob<br />
einem Mann, einer Frau, einem Kind, einer Fremden. So dachte ich, und<br />
als die Tochter eingeschlafen war, schloss ich leise die Zimmertür.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>43
Elterncoaching<br />
Mein Kind trödelt!<br />
«Bist du immer noch nicht weiter? Jetzt beeil dich!» Wenig bringt<br />
Eltern so sehr auf die Palme wie Kinder, die trödeln. Warum kann sich die<br />
Tochter nicht einfach anziehen und an den Frühstückstisch kommen?<br />
Warum bleibt der Sohn schon wieder stehen und hängt seinen Gedanken<br />
nach, anstatt endlich vorwärtszumachen?<br />
Fabian Grolimund<br />
ist Psychologe und Autor («Mit<br />
Kindern lernen»). In der Rubrik<br />
«Elterncoaching» beantwortet<br />
er Fragen aus dem Familienalltag.<br />
Der 37-Jährige ist verheiratet<br />
und Vater eines Sohnes, 4,<br />
und einer Tochter, 1. Er lebt<br />
mit seiner Familie in Freiburg.<br />
www.mit-kindern-lernen.ch<br />
www.biber-blog.com<br />
Als wir bei einem<br />
Eltern-Kind-Seminar<br />
zum Thema Lernen<br />
Eltern und Kinder<br />
getrennt voneinander<br />
befragt haben, was sie am meisten<br />
nervt, stand das Trödeln bei den<br />
Eltern weit oben. Für die Kinder war<br />
dies keine Überraschung. Sie wussten,<br />
dass ihre Tagträume und ihre<br />
Langsamkeit die Eltern störten –<br />
schliesslich hörten sie den ganzen<br />
Tag «Beeil dich!», «Mach vorwärts!»,<br />
«Bist du immer noch nicht weiter?!».<br />
Die Eltern jedoch überraschte die<br />
Antwort der Kinder auf die Frage,<br />
was für sie das Schlimmste überhaupt<br />
sei. Die Mehrzahl sagte: Das<br />
ständige Hetzen und Drängen der<br />
Eltern. Erst durch diese Rückmeldung<br />
wurde den Eltern bewusst, wie<br />
sehr ihr ständiges Antreiben die<br />
Kinder beim Lernen unter Druck<br />
setzt, ihnen unbeschwerte Momente<br />
stiehlt und sie aus dem Spiel herausreisst.<br />
Wir haben also auf der einen Seite<br />
Eltern, die ihren Tagesplan im<br />
Kopf haben, auf die Uhr schielen<br />
und dafür sorgen müssen, dass die<br />
Kinder, die zum Träumen und<br />
Trödeln neigen, flüchten sich<br />
vermehrt in Tagträume, wenn sie<br />
unter Druck gesetzt werden.<br />
Kinder rechtzeitig in der Schule<br />
oder beim Sport sind. Auf der anderen<br />
Seite stehen die Kinder, die im<br />
Moment leben, den Augenblick<br />
geniessen und sich in etwas vertiefen<br />
möchten. Wie können Familien<br />
in diesem Punkt zueinander finden?<br />
Das Kind unterstützen<br />
Der oft geäusserte Vorschlag, die<br />
Eltern sollen die Kinder früher<br />
wecken, damit sie am Morgen nicht<br />
hetzen müssen, bringt wenig. Meist<br />
dauert dann alles noch etwas länger.<br />
Doch auch das ständige Antreiben<br />
nützt herzlich wenig. In den<br />
letzten Jahren habe ich vielen Eltern<br />
die Frage gestellt: «Was passiert,<br />
wenn Sie Ihr Kind dazu drängen,<br />
sich zu beeilen? Wird es dadurch<br />
langsamer oder schneller?» Die<br />
allermeisten Eltern antworteten:<br />
Mein Kind wird noch langsamer.<br />
Mir scheint, dass Kinder, die zum<br />
Träumen und Trödeln neigen, sich<br />
vermehrt in Tagträume flüchten,<br />
wenn sie von aussen unter Druck<br />
gesetzt werden. Sie blenden die fordernde<br />
Welt, die gestressten Eltern,<br />
den vollen Terminkalender aus, um<br />
einen Moment der Ruhe zu finden.<br />
Mein Vorschlag wäre daher: Hören<br />
Sie auf, «Beeil dich!» zu sagen.<br />
Wenn Sie möchten, können Sie es<br />
mit mehr Struktur versuchen – dies<br />
hilft verträumten Kindern, sich<br />
nicht zu verlieren. Hat ein jüngeres<br />
Kind beispielsweise Mühe, sich<br />
morgens zügig anzuziehen, können<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
44 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Sie einen Parcours mit seinen Kleidern<br />
legen: die Unterhose neben das<br />
Bett, das T-Shirt auf die Türschwelle,<br />
die Socken in den Gang, die<br />
Hosen in die Küche. Ihr Kind be -<br />
wegt sich vom Zimmer zum Frühstück,<br />
während es sich anzieht.<br />
Bei älteren Kindern kann eine<br />
Playlist mit einer fixen Abfolge von<br />
Songs helfen. Schalten Sie morgens<br />
die Liste mit den Lieblingsliedern<br />
Ihres Kindes ein. Das erste Lied darf<br />
es im Bett hören, die nächsten drei<br />
unter der Dusche, das fünfte beim<br />
Abtrocknen, das sechste beim<br />
Anziehen. Kinder lassen sich lieber<br />
sanft von ihren Lieblingsliedern aus<br />
der Tür begleiten als von genervt<br />
hervorgepressten Kommentaren.<br />
Das Kind schützen<br />
Manchmal bleibt Ihnen als Eltern<br />
eines langsamen Kindes nichts weiter<br />
übrig, als es vor dem Tempo und<br />
dem Druck der Welt zu bewahren.<br />
Manche Eltern von Träumerkindern<br />
berichten, dass ihre Kinder bereits<br />
in der Primarschule mehrere Stunden<br />
für die Hausaufgaben aufwenden.<br />
Diese Kinder sind oft so schulmüde,<br />
dass sie während dieser<br />
Hausaufgabenmarathons kaum<br />
etwas zustande bringen. Dafür entwickeln<br />
sie eine immer grössere<br />
Aversion gegen das Lernen. Es fehlt<br />
ihnen an Freizeit und Erholungsräumen.<br />
Die dringend benötigten Pausen<br />
nehmen sie sich dann immer<br />
mehr während des Unterrichts,<br />
indem sie sich ausklinken, träumen<br />
und aus dem Fenster schauen.<br />
Ich empfehle Ihnen in diesem<br />
Fall, die Zeit für die Hausaufgaben<br />
zu begrenzen. Reden Sie mit der<br />
Lehrperson, schildern Sie ihr, wie<br />
lange Ihr Kind für die Aufgaben<br />
braucht. Fast alle Lehrpersonen sind<br />
offen für diesen Vorschlag: Das<br />
Kind macht 10 Minuten Hausaufgaben<br />
pro Schuljahr (zum Beispiel 40<br />
Minuten in der vierten Klasse).<br />
Hat es in dieser Zeit konzentriert<br />
gearbeitet, darf es die Hausaufgaben<br />
abbrechen. Sie als Eltern schreiben<br />
ins Hausaufgabenheft: «Hat 40<br />
Minuten konzentriert gearbeitet.»<br />
Meist arbeiten die Kinder konzentrierter<br />
und schneller, wenn das<br />
Pensum reduziert wird. Viele packt<br />
der Ehrgeiz, in dieser Zeit möglichst<br />
viel zu schaffen. Ihr Kind arbeitet<br />
noch besser, wenn Sie die Hausaufgaben<br />
gemeinsam planen, Ihr Kind<br />
die Arbeitszeiten mit kurzen Pausen<br />
unterbrechen darf und Sie ihm wirksame<br />
Lernstrategien vermitteln.<br />
Vom Kind lernen<br />
Schliesslich möchte ich Ihnen vorschlagen,<br />
von Ihrem Kind zu lernen<br />
– und sich damit selbst etwas Gutes<br />
zu tun. Vertieft sich Ihr Kind gerne<br />
in ein Spiel? Beobachtet es jeden<br />
Käfer auf dem Weg? Ist es ihm egal,<br />
wenn der Einkauf etwas länger dauert<br />
und Sie den Bus verpassen? Ob<br />
Sie darauf gestresst reagieren oder<br />
diese Momente mit Ihrem Kind<br />
geniessen können, hängt stark davon<br />
ab, was Sie sich vornehmen.<br />
Wenn Sie Ziele wie «Einkaufen»<br />
oder «Geschirrspüler einräumen»<br />
im Kopf haben, werden Kinder mit<br />
ihren Plänen, ihrem Spiel und ihrem<br />
eigenen Kopf zu einem Hindernis<br />
auf dem Weg zu Ihrem Ziel. Hindernisse<br />
frustrieren und ärgern uns. Je<br />
stärker Sie sich einem bestimmten<br />
Zeitplan verpflichtet fühlen, desto<br />
grösser der Frust – und desto mehr<br />
stellen sich die Kinder quer.<br />
Darf ich Ihnen ein Experiment<br />
vorschlagen? Setzen Sie sich nächste<br />
Woche an zwei Nachmittagen das<br />
Ziel, Zeit mit Ihren Kindern zu verbringen<br />
und sich auf deren Rhythmus<br />
einzulassen. Dabei gilt: Alles<br />
kann, nichts muss. Betrachten Sie es<br />
als Bonus, wenn Sie in dieser Zeit<br />
auch einkaufen oder die Wohnung<br />
aufräumen können. Fragen Sie sich<br />
am Ende dieser Nachmittage: Wie<br />
habe ich mich gefühlt? Wie war die<br />
Stimmung zwischen mir und den<br />
Kindern? Was haben wir gemacht?<br />
Vielleicht bemerken Sie, dass Sie<br />
genauso gut vorankommen, dabei<br />
aber weniger Stress empfinden. Wir<br />
Lassen Sie sich öfter mal auf<br />
den Rhythmus Ihres Kindes<br />
ein und geniessen Sie es, selbst<br />
langsamer zu werden.<br />
Erwachsenen leben nach der Uhr.<br />
Sich einmal auf den Rhythmus des<br />
Lebens einzulassen und die Dinge<br />
dann zu tun, wenn es sich richtig<br />
anfühlt, kann befreiend wirken.<br />
Kurztipps für den Umgang mit langsamen<br />
und verträumten Kindern:<br />
• Verzichten Sie darauf, Ihr Kind zur<br />
Eile anzutreiben. Meist werden die<br />
Kinder dadurch noch langsamer.<br />
• Geben Sie dem Kind mehr Struktur,<br />
indem Sie mit ihm planen oder<br />
feste Abläufe einüben.<br />
• Schützen Sie Ihr Kind vor Überforderung.<br />
Begrenzen Sie die Hausaufgabenzeit<br />
in Kooperation mit<br />
der Lehrperson. Es ist wichtiger,<br />
dass Ihr Kind lernt, kurze Phasen<br />
konzentriert zu arbeiten als alles<br />
fertig zu machen.<br />
• Achten Sie gerade bei trödelnden<br />
Kindern darauf, dass Sie die Hausaufgaben<br />
durch kurze Pausen (5<br />
Minuten) unterbrechen. Bewusste<br />
Pausen reduzieren das Bedürfnis,<br />
sich Pausen zu stehlen, indem man<br />
aus dem Fenster schaut und vor<br />
sich hinträumt.<br />
• Lassen Sie sich öfter mal auf den<br />
Rhythmus des Kindes ein und<br />
geniessen Sie es, selbst langsamer<br />
zu werden und das Leben bewusster<br />
wahrzunehmen.<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Wie kann ich meinem Kind helfen,<br />
selbständiger zu werden?<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>45
Erziehung & Schule<br />
Tim, 6 Jahre alt, will bei seinen<br />
Gross eltern leben. Darf er das?<br />
Welche Rechte haben Kinder, wenn Eltern sich trennen? Was ist der Unterschied zwischen<br />
Selbstbestimmungsrecht und Mitwirkungsrecht eines Kindes? Und wie können Eltern Kinder<br />
unterstützen, ihre Rechte wahrzunehmen? Unsere Autorin kennt die Antworten. Text: Sandra Hotz<br />
Die Eltern des 6-jährigen<br />
Tim und der<br />
11-jährigen Lisa sind<br />
seit einigen Monaten<br />
getrennt. Der Vater<br />
ist ausgezogen und lebt in der gleichen<br />
Stadt mit seiner neuen Partnerin.<br />
Sie erwartet ein Kind. Die Eltern<br />
vereinbaren, dass die Kinder wie<br />
bisher einen Wochentag vom Vater<br />
betreut werden und bei diesem wohnen;<br />
zusätzlich sollen sie jedes zweite<br />
Wochenende bei ihm verbringen.<br />
Vom Gericht zu seinen Vorstellungen<br />
des künftigen Lebensmittelpunkts<br />
befragt, sagt Tim, dass er bei<br />
seinen Grosseltern auf dem Lande<br />
leben möchte. Die 11-jährige Lisa,<br />
die eine Lese- und Rechtschreibstörung<br />
hat und deswegen auch unter<br />
Schulproblemen leidet, würde gerne<br />
die Schule wechseln und daher beim<br />
Vater wohnen. Die Mutter würde es<br />
hingegen vorziehen, mit Lisa eine<br />
Therapie zu beginnen.<br />
Welche Rechte haben Kinder,<br />
wenn sich ihre Eltern trennen?<br />
Haben Kinder etwas zu ihrer Schule<br />
oder zu möglichen Therapien zu<br />
sagen? Kann ein Kind Einfluss auf<br />
sein alltägliches persönliches<br />
Lebensumfeld, Familie, Schule und<br />
Gesundheit, nehmen?<br />
Persönlichkeitsrechte des Kindes<br />
Die Gesetzeslage unterscheidet dabei<br />
zwischen dem Selbstbestimmungsrecht<br />
und den Mitwirkungsrechten<br />
des Kindes. Beides zählt zu den Persönlichkeitsrechten<br />
des Kindes.<br />
Kann ein Kind in einer Sache selbst<br />
entscheiden, muss es weder die<br />
Eltern dazu fragen, noch müssen<br />
diese das Kind rechtlich vertreten.<br />
Das Kind hat die alleinige Entscheidungsmacht.<br />
In diesen Fällen kann<br />
von einem Selbstbestimmungsrecht<br />
des Kindes gesprochen werden.<br />
Zwei gesetzlich geregelte Beispiele<br />
in der Schweiz sind:<br />
Minderjährige entscheiden ab dem<br />
16. Lebensjahr über Fragen der<br />
religiösen Zugehörigkeit selbst<br />
(Art. 303 Abs. 3 ZGB).<br />
Urteilsfähige Kinder müssen zu<br />
ihrer Adoption zustimmen (Art.<br />
265 Abs. 2 ZGB).<br />
Allgemein entscheiden Minderjährige<br />
höchstpersönliche Lebensangelegenheiten<br />
selbst, sofern sie urteilsfähig<br />
sind (Art. 19c ZGB). Das<br />
heisst: Dann, wenn sie imstande<br />
sind, zu beurteilen, welches die<br />
Konsequenzen ihrer Entscheidung<br />
bzw. Handlung sind, entscheiden sie<br />
etwa über Eingriffe in ihren Körper<br />
(Operation, Therapie, ein Piercing).<br />
Wirkt das Kind in irgendeiner<br />
Weise an einem behördlichen Verfahren<br />
oder einer Entscheidung mit,<br />
wird es beispielsweise über die möglichen<br />
Folgen einer Scheidung oder<br />
eines Schulwechsels informiert,<br />
dazu an gehört und äussert es sich<br />
auch tatsächlich zur Sache wie etwa<br />
Lisa zum Schulwechsel, kann von<br />
Das Mitwirkungsrecht sollte<br />
bei Entscheiden zum<br />
Lebensumfeld die Regel sein.<br />
Mitwirkungsrechten des Kindes ge -<br />
spro chen werden. Mitwirken heisst<br />
so viel wie aktiv teilnehmen, sich<br />
beteiligen und möglicherweise auch<br />
mitbestimmen. Es bedeutet jedenfalls,<br />
dass das Kind informiert und<br />
angehört wird (sofern es das will)<br />
und seine Äusserungen ernst<br />
genommen werden. Gleichbedeutend<br />
mit Mitwirken bzw. Mitwirkungsrechten<br />
sind die Fremdwörter<br />
Partizipieren oder Partizipationsrechte.<br />
Für Mitwirkungsrechte ist nach<br />
schweizerischem Recht grundsätzlich<br />
keine Urteilsfähigkeit von Kindern<br />
nötig, für Selbstbestimmungsrechte<br />
hingegen schon. Um selbst<br />
bestimmen zu können, werden entsprechende<br />
verstandes- und willensmässige<br />
Fähigkeiten vorausgesetzt<br />
(Alter, Reife, kognitive Fähigkeiten).<br />
Das Selbstbestimmungsrecht eines<br />
Kindes bleibt deshalb grundsätzlich<br />
die Ausnahme. Normalerweise wird<br />
ein Kind durch seine Eltern vertreten.<br />
46 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bild: Chris Adams / Westend61 / Plainpicture<br />
Das Mitwirkungsrecht des Kindes<br />
sollte hingegen die Regel sein, wenn<br />
es um Entscheide zu seinem persönlichen<br />
Lebensumfeld (vor allem<br />
Familie, Schule und Gesundheit)<br />
geht. Mitwirkungs- und Selbstbestimmungsrechte<br />
sind Persönlichkeitsrechte<br />
und untrennbar mit der<br />
Person verbunden, das gilt auch<br />
beim Kind.<br />
Nur ausnahmsweise wird es nicht<br />
zur Mitwirkung kommen: Ein Säugling<br />
kann nicht aktiv mitwirken,<br />
aber trotzdem kann er rechtlich ein<br />
Erbe erwerben. Die Mitwirkung<br />
fehlt hingegen zu Unrecht, wenn<br />
beispielsweise Mutter und Bruder<br />
die 11-jährige Lisa beeinflussen,<br />
sodass sie ihren Wunsch nach einem<br />
In einem Scheidungsverfahren<br />
sieht das schweizerische Recht<br />
die Kindesanhörung vor.<br />
Schulwechsel nicht äussert. Die Mitwirkung<br />
fehlt auch dann, wenn der<br />
Wunsch von Tim, zu seinen Grosseltern<br />
zu ziehen, ignoriert wird.<br />
Mitwirkungsrecht ist ein<br />
internationales Kinderrecht<br />
Das Mitwirkungsrecht des Kindes<br />
ist mit Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention<br />
(1989) seit dem Jahre<br />
1997 ein international verbindliches<br />
Kinderrecht in der Schweiz: Das<br />
Recht des Kindes, sich frei zu äussern,<br />
nach Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention<br />
umfasst das Recht auf<br />
Berücksichtigung seiner Meinung<br />
und das Recht, Einfluss auf das persönliche<br />
Lebensumfeld nehmen zu<br />
können. Das Recht gilt für alle Arten<br />
von gerichtlichen oder behördlichen<br />
Verfahren, die das Kind direkt oder<br />
indirekt in seinen Lebensbelangen<br />
betreffen.<br />
In Umsetzung von Art. 12 UN-<br />
Kinderrechtskonvention sieht das<br />
schweizerische Recht z. B. die Anhörung<br />
im Scheidungsverfahren vor.<br />
Die Anhörung bezweckt die Re -<br />
spektierung der Persönlichkeitsrechte<br />
der Kinder. Ziel der Anhörung der<br />
Kinder in einem Scheidungsverfahren<br />
ist es, dass die entscheidungsbefugten<br />
Personen einen persönlichen<br />
Eindruck davon erhalten, wie die<br />
Kinder ihre Situation sehen und welche<br />
Bedeutung die beiden Elternteile<br />
für die Kinder haben.<br />
Ebenso sollen die Kinder die<br />
Gelegenheit erhalten, sich über ihre<br />
Wünsche und ihre Bedürfnisse zu<br />
äussern und mit einer unabhängigen<br />
Person über ihre momentane Situation<br />
der Trennungsphase der Eltern<br />
zu reden.<br />
Die Kindesanhörung dient dem<br />
Kindeswohl. Das Kindeswohl zu<br />
achten, bedeutet aber auch, dass eine<br />
richterliche Behörde nicht jedem<br />
Wunsch eines Kindes nachkommen<br />
muss, denn es kann beispielsweise<br />
sein, dass die Grosseltern im Falle<br />
des 6-jährigen Tim völlig ungeeignet<br />
sind, ihn bei sich aufzunehmen, aus<br />
gesundheitlichen Gründen etwa.<br />
Der Wunsch des Kindes ist legitim<br />
Können Kinder in einem rechtlichen<br />
oder behördlichen Verfahren mitwirken,<br />
so bringen sie die Perspektive<br />
von Kindern ein, die Erwachsenen<br />
nicht unbedingt zugänglich ist.<br />
Das Mitwirkungsrecht umfasst >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>47
Erziehung & Schule<br />
Kinder schätzen es sehr, wenn<br />
sie im Gespräch eine aktive<br />
Rolle einnehmen können.<br />
Alle Kinder haben Menschenrechte<br />
Kinder in aller Welt sind Träger und Trägerinnen von<br />
Menschenrechten. Kein Mensch, keine Behörde<br />
und kein Staat darf Kinderrechte verweigern.<br />
Kinderrechte sind zu schützen und anzuerkennen.<br />
Jedes Kind hat das<br />
Recht auf Leben,<br />
Recht auf Gesundheit,<br />
Recht auf Schutz,<br />
Recht auf eine eigene Meinung (das ist die<br />
Mitwirkung),<br />
Recht auf Bildung,<br />
Recht auf eine gewaltfreie Erziehung,<br />
um nur einige der UN-Kinderrechtskonvention<br />
(www.unicef.ch > So helfen wir > Kinderrechte)<br />
aufzuzählen.<br />
Wenn uns interessiert, wie die Kinderrechte in der<br />
Schweiz besser umgesetzt werden können und<br />
was wir tun können, um diese zu stärken, sollten<br />
wir nicht vergessen, dass die Rechte der Kinder<br />
längst nicht überall eingehalten werden. In einigen<br />
Ländern gibt es kein sauberes Wasser, keine<br />
Schulen, müssen Kinder arbeiten, werden sie früh<br />
verheiratet oder als Kindersoldaten eingesetzt.<br />
>>> je doch die Pflicht der zuständigen<br />
Behörde, sich mit dem Wunsch<br />
von Tim auseinanderzusetzen: Wie<br />
war die Beziehung zu den Grosseltern<br />
in der Vergangenheit? Möchte<br />
Tim vielleicht«nur» den ständigen<br />
Streitereien der Eltern entfliehen<br />
oder einem Loyalitätskonflikt ausweichen?<br />
Welche Möglichkeiten<br />
gäbe es, dass Tim trotzdem bei seinen<br />
Grosseltern wohnen könnte?<br />
Mit der Mitwirkung von Kindern<br />
erhöht sich aber auch deren Be <br />
reitschaft, einen Entschluss, der von<br />
den Entscheidungsträgern getroffen<br />
wird, zu akzeptieren. Kinder schätzen<br />
es im Gespräch allgemein, wenn<br />
sie eine aktive Rolle übernehmen<br />
können. Sie möchten als Person in<br />
ihrem gesamten Lebensumfeld<br />
wahrgenommen werden und nicht<br />
nur als ein «Problemfall».<br />
Fortschritt erreicht<br />
Die Anerkennung von Mitwirkungsrechten<br />
und Kinderrechten hat in<br />
den letzten Jahrzehnten unbestreitbar<br />
Fortschritte gemacht. Der rechtliche<br />
Schutz von Kindern bleibt aber<br />
trotz neuer normativer Vorgaben<br />
und praxisorientierter Standards in<br />
der Schweiz uneinheitlich und ist auf<br />
gewisse Sachbelange beschränkt.<br />
Zudem hinkt die Umsetzung im Alltag<br />
noch hinterher, und der Bekanntheitsgrad<br />
der Mitwirkungsrechte<br />
lässt teilweise noch zu wünschen<br />
übrig.<br />
Eine im 2013 publizierte Studie<br />
zum Ländervergleich in Europa in<br />
Sachen Jugendstrafrecht attestiert<br />
der Schweiz und Schottland etwa<br />
eine sehr gute Berücksichtigung der<br />
Mitwirkung von Jugendlichen. Die<br />
Umsetzung der Mitwirkungsrechte<br />
von Kindern ist im Alltag jedoch vor<br />
allem in Schulbelangen noch verbesserungsfähig.<br />
Auch eine Befragung von 50 Mitgliedern<br />
erstinstanz licher Gerichte<br />
in der Romandie aus dem Jahre 2012<br />
zeigt, dass vor allem Kinder in<br />
«hochstrittigen» Fällen angehört<br />
werden und solche, die 10 Jahre oder<br />
älter sind. Darüber hinaus wird erst<br />
rund jedes hundertste Kind in einem<br />
gerichtlichen oder behördlichen<br />
Verfahren in der Schweiz durch eine<br />
Verfahrensvertreterin oder einen<br />
Verfahrensvertreter professionell<br />
unterstützt.<br />
Eine Studie aus dem Jahre 2011,<br />
welche die Kindesschutzsysteme<br />
untersuchte, kommt unter anderem<br />
zum Schluss, dass die Mitwirkung<br />
der Gesamtfamilie und eine unabhängige<br />
Kontrollinstanz in der<br />
Schweiz hilfreich sein könnten.<br />
Zwei jüngere EU-Studien aus<br />
dem Jahre 2015 (ohne Berücksichtigung<br />
der Schweiz) kommen zum<br />
Schluss, dass noch Handlungsbedarf<br />
besteht, dass die Schutzbestimmungen<br />
bei Kindern noch zu wenig be <br />
kannt sind, den Erwachsenen an der<br />
erforderlichen Kompetenz fehlt und<br />
dass gewisse Gruppen von Kindern<br />
noch weniger Möglichkeiten zur<br />
Mitwirkung haben.<br />
Was können Eltern tun?<br />
Eltern können ihre Kinder unterstützen,<br />
die Mitwirkungsrechte wahrzunehmen.<br />
Sie können zum Beispiel<br />
dazu beitragen, dass ihr Kind die<br />
Informationen, die zu seiner Meinungsbildung<br />
nötig sind, in einer<br />
verständlichen Weise erhält. Sie können<br />
dazu beitragen, dass ihre Kinder<br />
schon am Familientisch lernen mitzuwirken.<br />
Ferner ist sicherzustellen, dass<br />
alle Personen, die das Kind in einem<br />
Verfahren informieren, anhören,<br />
begleiten und vertreten, eine positive<br />
Grundhaltung gegenüber den<br />
Kindern haben und eine entsprechende<br />
Schulung (Grundkenntnisse<br />
in Recht, Kenntnisse der Kinderpsychologie)<br />
aufweisen.<br />
Zusätzlich sollte eine unabhängige<br />
Ombudsstelle oder -person in der<br />
Schweiz als Anlaufsstelle für Kinderrechte<br />
errichtet werden und sicherstellen<br />
können, dass die Kinderrechte<br />
durchgesetzt werden. Eine solche<br />
Institution wäre auch in Gesetzgebungsverfahren<br />
zu Kinderrechten<br />
einzubeziehen. Ihr käme auch Koordinationsfunktion<br />
zu.<br />
Sandra Hotz<br />
ist Juristin und Co-Leiterin des Projekts<br />
«Kinder fördern. Eine interdisziplinäre<br />
Studie zum Umgang mit ADHS» am Institut<br />
für Familienforschung und -beratung der<br />
Universität Freiburg. Sie beschäftigt sich<br />
mit Kinderrecht und Fragen der<br />
Selbstbestimmung von Patienten.<br />
>>><br />
48 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Stiftung Elternsein<br />
Ein gefährliches Vorbild für Populisten<br />
Ellen Ringier über US-Präsident Donald Trump und die Folgen seiner Politik.<br />
Bild: Vera Hartmann / 13 Photo<br />
Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />
die Stiftung Elternsein.<br />
Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />
Hätte ich Kinder im «erziehungsfähigen<br />
Alter» (meine sind bald 24 und 26 Jahre<br />
alt), glauben Sie mir, ich hätte die grösste<br />
Mühe, ihnen zu erklären, warum ein<br />
Mann, der nicht nur alle gängigen Regeln<br />
eines friedlichen Zusammenlebens mit<br />
Bedacht verletzt, sondern dem freien Handel,<br />
dem freien Personenverkehr eine<br />
Ende machen will, Präsident des mächtigsten<br />
Landes der Welt werden konnte!<br />
Donald Trump hat Frauen, Behinderte,<br />
Mexikaner, Muslime und Journalisten beleidigt und ist<br />
dennoch oder gerade deswegen Präsident der USA<br />
geworden! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er mit<br />
diesen Pauschalverunglimpfungen, mit dem Schüren<br />
von Ängsten, mit der Emotionalisierung eines jeden<br />
Sachverhalts, mit reinem Populismus ungestraft davonkommen,<br />
geschweige denn gewählt würde!<br />
Populistisch, so die Definition, ist eine Politik, die<br />
mit scheinbar einfachen Lösungen die Gunst der Bevölkerung<br />
zu gewinnen versucht. Dabei stützt sich der<br />
Populismus auf Ressentiments, häufig auf Fremdenfeindlichkeit.<br />
Eine der beliebten politischen Forderungen<br />
von Populisten lautet: Um Arbeitslosigkeit abzuwehren,<br />
dürfen keine Ausländer mehr ins Land oder<br />
sind Ausländer aus dem Land auszuweisen. Damit lassen<br />
sich alle die Menschen mobilisieren, die – aus welchen<br />
Gründen auch immer – um ihre Arbeit fürchten.<br />
Dabei spielt es dem Populisten keine Rolle, dass die<br />
Wirtschaft ohne Ausländer zusammenbrechen würde …<br />
«Grenze zu, Ausländer raus = Arbeitsplatzsicherung<br />
des Inländers!» Als ob es Globalisierung, Digitalisierung<br />
und andere Entwicklungen nicht gäbe, die für die<br />
Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden können!<br />
«Willkürlich ausgewählte Feindbilder für aktuelle<br />
Situationen und gesellschaftliche Probleme verantwortlich<br />
zu machen, verschafft ein stellvertretendes Ventil<br />
und sorgt für politisch gewollte Radikalisierungen. Die<br />
Folgen sind Hass, Gewalt und Vernichtung», so zu lesen<br />
in einer Kolumne eines Freundes aus Österreich.<br />
In Europa stehen in diesem Jahr wichtige Wahlen an,<br />
und es machen sich in zahlreichen Ländern Populisten<br />
ans Werk, die ihrem Volk mit radikal einfachen Lösun-<br />
gen auf Kosten von Minderheiten, wie Grenzschliessungen,<br />
Feindbilder zum Abschuss freigeben. Bloss keine<br />
differenzierten Angebote, die der Gesellschaft etwas<br />
abverlangen könnten! Die Erziehungsmaxime, dass man<br />
etwas leisten muss, um etwas zu bekommen («Es gibt<br />
nichts Gutes, ausser man tut es!»), kommt mir angesichts<br />
mancher grossmundiger Wahlversprechen reichlich<br />
antiquiert vor …<br />
Unsere jungen Erwachsenen werden im angebrochenen<br />
Jahr in wichtigen, richtungsweisenden politischen<br />
Fragen zur Urne gerufen.Werden sie sich dann daran<br />
erinnern,<br />
• dass unser Wohlstand auf offenen Grenzen beruht und<br />
dass eine wachsende Wirtschaft auf freien Personenund<br />
Warenverkehr angewiesen ist,<br />
• dass unsere Vorfahren jahrhundertelang für die Freiheiten<br />
von heute gekämpft haben, dass Hektoliter von<br />
Blut junger Männer auf den Schlachtfeldern Europas<br />
vergossen wurden, um religiöse und politische Diktate<br />
zu beseitigen,<br />
• dass die multilateralen Verträge, mithin die garantierte<br />
Handels-, die Niederlassungsfreiheit unserem Kontinent<br />
mit einigen wenigen Ausnahmen immerhin 70<br />
Jahre Frieden gebracht haben und vor allem<br />
• dass das Schüren von Emotionen und Angst, den<br />
schlechtesten Ratgebern überhaupt, zu Hass und<br />
Gewalt und in letzter Konsequenz gar zu Vernichtung<br />
führen kann?<br />
Haben wir Eltern, die wir eine Generation des ungebrochenen<br />
Konsums sind, unsere Jugend auf härtere Zeiten,<br />
wie sie unsere Eltern und Grosseltern kannten, vorbereitet?<br />
Oder wird die junge Generation, auf einen ungebrochenen<br />
Konsum fixiert, zwangsweise den Versprechen<br />
der Populisten erliegen müssen?<br />
STIFTUNG ELTERNSEIN<br />
«Eltern werden ist nicht schwer,<br />
Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />
Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />
Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein an. Sie<br />
richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern und<br />
Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen Eltern,<br />
Kindern, Lehrern und die Vernetzung der eltern- und<br />
erziehungsrelevanten Organisationen in der deutschsprachigen<br />
Schweiz. Die Stiftung Elternsein gibt das Schweizer<br />
ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus. www.elternsein.ch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>49
Erziehung & Schule<br />
«Mama, mir ist langweilig!»<br />
Das Leben vieler Kinder ist von morgens bis abends durchgetaktet. Jede freie Minute<br />
ist verplant; sich zu langweilen ist verpönt. Völlig zu unrecht, sagen Experten.<br />
Wer sich die Zeit nimmt, nichts zu tun, entwickelt besonders kreative Ideen. Ein Plädoyer<br />
für mehr Langeweile. Text: Marion Heidelberger<br />
«Langeweile ist keine<br />
Zeitverschwendung,<br />
im Gegenteil: Sie bildet.»<br />
Marion Heidelberger, 49, ist<br />
Vize präsidentin des LCH, seit 30 Jahren<br />
als Primarlehrerin tätig und Mutter von<br />
zwei Söhnen, 21 und 22.<br />
Sandi Mann und Rebekah<br />
Cadman haben vor drei<br />
Jahren an einer Tagung in<br />
England eine Studie zum<br />
Thema «Fantasie und Tagträume»<br />
vorgestellt: Bei dieser<br />
waren 40 Versuchspersonen eine<br />
Viertelstunde mit der Aufgabe ge <br />
langweilt worden, Nummern aus<br />
einem Telefonbuch abzuschreiben.<br />
Ohne ersichtlichen Grund, als völlig<br />
sinnlose Aufgabe.<br />
Offenbar hatte diese monotone<br />
Tätigkeit eine erstaunliche Wirkung<br />
auf die Fantasie der Versuchspersonen.<br />
Als diese nämlich im Anschluss<br />
ans Telefonnummern abschreiben<br />
einen Kreativitätstest machen mussten,<br />
sprudelten die Ideen nur so aus<br />
ihnen heraus. Die gelangweilten<br />
Teilnehmenden waren viel kreativer<br />
als diejenigen in der Vergleichsgruppe.<br />
Diese haben den gleichen Kreativitätstest<br />
absolviert, mussten aber<br />
vorher nicht sinnlos Telefonnummern<br />
abschreiben.<br />
Offenbar mag unser Gehirn keine<br />
lang anhaltenden, monotonen Ar <br />
beiten. Wenn von aussen keine neuen<br />
Reize oder Eindrücke kommen,<br />
erschafft es sich selbst welche. Durch<br />
diese Form von Langeweile entsteht<br />
im Gehirn ein erhöhtes Potenzial an<br />
Kreativität. Das Gehirn «freut» sich<br />
Organisieren Sie langweilige<br />
Situationen für Ihr Kind – damit<br />
fördern Sie seine Fantasie.<br />
auf die neue Aufgabe und gibt sein<br />
Bestes. Deshalb schnitten die ge <br />
langweilten Versuchspersonen beim<br />
Kreativitätstest besser ab.<br />
Der Druck steigt stetig<br />
Diese Ergebnisse belegen eindrücklich,<br />
dass Langeweile nichts Schlechtes<br />
ist und sich positiv auf das kreative<br />
Potenzial auswirkt. Offenbar<br />
beflügelt Langeweile die Fantasie.<br />
Warum hat sie dann trotzdem einen<br />
so schlechten Ruf?<br />
Der Druck in der Arbeitswelt<br />
steigt stetig, die Belastungen nehmen<br />
für jeden Einzelnen laufend zu.<br />
Als erfolgreich gilt, wer immer be <br />
schäftigt ist oder wenigstens be <br />
schäftigt aussieht. Diese Einstellung<br />
hat sich längst auf das Freizeitverhalten,<br />
die Familie und die Kinder<br />
übertragen.<br />
Familienagenden quillen über,<br />
wer den Kindern ständig Programm<br />
bietet, meint, das Beste für sein Kind<br />
zu tun. Auch die Schule kann sich<br />
dieser Entwicklung nicht entziehen.<br />
Es gibt Lehrpersonen, die eine<br />
Woche lang Hasen im Schulzimmer<br />
züchten, mit der Klasse mit dem<br />
Velo um den Zürichsee fahren, tags<br />
darauf bei der ETH Roboter ausleihen,<br />
um Programmierexperimente<br />
durchzuführen, und nebenbei noch<br />
einen Film drehen und eine Schülerzeitung<br />
schreiben.<br />
Langeweile ist Wegbereiter für<br />
die Fantasie<br />
Die Resultate des eingangs erwähnten<br />
Experiments decken sich mit<br />
50 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
meiner fast 30-jährigen Erfahrung<br />
als Primarlehrerin: Langeweile<br />
braucht es, hin und wieder. Langeweile<br />
aushalten muss man lernen. In<br />
unserer digitalisierten, schnelllebigen<br />
Zeit mehr denn je. Aus der Langeweile<br />
entspringen viele kreative<br />
Ideen; sie ist der Wegbereiter für die<br />
Fantasie. Und Fantasie braucht es für<br />
das psychische Wohlbefinden und<br />
einen erfolgreichen Spracherwerb.<br />
Das freie Spiel ist für die gesunde<br />
Entwicklung eines Kindes die wichtigste<br />
Fördermassnahme. Im freien<br />
Spiel lernt das Kind mit Hilfe seiner<br />
Fantasie aus wenig etwas Spannendes<br />
zu machen. Diese Fantasie entsteht<br />
aber nur, wenn Langeweile<br />
vorausgeht. Erst aus langweiligen<br />
Situationen entsteht Kreativität, entstehen<br />
gute Ideen zum Spielen. Egal<br />
ob mit sich selbst, mit einem Spielkameraden<br />
oder einer erwachsenen<br />
Person: Das Eintauchen in die eigene<br />
Fantasiewelt braucht Zeit, will<br />
geübt sein und geht nie auf Knopfdruck.<br />
Die Familienagenda entrümpeln<br />
Auch beim Spracherwerb spielt das<br />
freie Spiel eine wichtige Rolle.<br />
Obwohl jedes Kind sein eigenes<br />
Tempo hat, gelingen den meisten<br />
Kindern mit etwa zwei Jahren bereits<br />
längere Sätze, und mit vier Jahren<br />
können sich die meisten Kinder verständlich<br />
ausdrücken. Dann bleiben<br />
nochmals etwa acht Jahre Zeit bis zur<br />
korrekten Verwendung der Sprache<br />
nach unseren Grammatikregeln.<br />
Und genau dieses Üben passiert, vor<br />
allem in der Zeit bis Mitte Unterstufe,<br />
im freien Spiel, in der Interaktion<br />
mit gleichaltrigen Spielpartnerinnen<br />
oder in der Auseinandersetzung mit<br />
sich selbst.<br />
Der Spracherwerb ist kein be -<br />
wusster Lernprozess. Für den<br />
Sprach erwerb ist es wichtig, dass<br />
Kinder aktiv sprechen, ihre Kommunikation<br />
selber gestalten. Nur so<br />
können die notwendigen Verknüpfungen<br />
im Gehirn entstehen. Um<br />
sich die sprachlichen Reize und<br />
Anzeige<br />
Fantasie fördert das psychische<br />
Wohlbefinden und den<br />
erfolgreichen Spracherwerb.<br />
An regungen zu holen, die die Kinder<br />
in der jeweiligen Phase ihrer<br />
Sprachentwicklung benötigen,<br />
braucht es unendlich viel Übung.<br />
Und genau dies bietet das Rollenspiel.<br />
Und was heisst das nun konkret<br />
für die Freizeitgestaltung in der<br />
Familie?<br />
Entrümpeln Sie Ihre Familien -<br />
agenda. Bieten Sie Ihrem Kind<br />
immer wieder Zeit und Raum für<br />
Langeweile. Insbesondere sehr aktive<br />
Kinder, mit einem enormen<br />
Bedürfnis nach Bewegung, brauchen<br />
Langeweile, um herauszufinden,<br />
was ihnen guttut, um zur Ruhe<br />
zu kommen, um sich zu spüren.<br />
Organisieren Sie bewusst langweilige<br />
Situationen für Ihr Kind und fördern<br />
Sie damit die Fantasie. Gönnen<br />
Sie Ihren Kindern bildschirmfreie<br />
Zeiten und verfallen Sie nicht aus<br />
einer falschen Motivation heraus in<br />
Hyperaktivismus.<br />
Langeweile kann man üben<br />
Das Gleiche gilt für die Schule. Ich<br />
lasse meinen Kindern in der Unter-<br />
K’WERK<br />
K’Werk Zürich | Bildschule 4–16<br />
Kursprogramm und Anmeldung<br />
www.kwerk-zürich.ch<br />
Das K’Werk ist eine Bildschule für<br />
Kinder und Jugendliche von 4–16 Jahren.<br />
K’ steht für Kinder, Kurse, Kunst,<br />
Kreativität, Kultur, Kontinuität.<br />
stufe immer wieder Zeit, um sich mit<br />
sich selbst zu beschäftigen, stelle<br />
Freiräume mit offenen Aufgabenstellungen<br />
zur Verfügung. Der Lehrplan<br />
sieht solche inszenierten «Langeweilezeiten»<br />
vor. Selbstverständlich werden<br />
diese mit zunehmendem Alter<br />
weniger durch Rollenspiele gefüllt.<br />
Ab der zweiten Klasse beispielsweise<br />
durch das Erfinden von Geschichten<br />
oder offene Aufgaben im kreativen<br />
Bereich. Manchmal sind Papier<br />
und Bleistift wirkungsvoller als die<br />
neueste App auf dem iPad.<br />
Viele Kinder tun sich anfangs<br />
schwer damit, aber Langeweile aushalten<br />
und Geduld haben, bis daraus<br />
Kreativität entsteht, kann man üben.<br />
Es fühlt sich mit der Zeit gut an. Das<br />
ist Motivation genug, es erneut auszuprobieren<br />
und auszuhalten.<br />
Nein, früher war nicht alles besser.<br />
Und ich habe auch nichts gegen<br />
iPad, Hunderobotor und andere<br />
digitale Spielsachen. Aber ich mag<br />
ebenso Eile mit Weile, Briobahn und<br />
Schere, Leim und Papier. Langeweile<br />
ist keine Zeitverschwendung. Im<br />
Gegenteil. Langeweile bildet.<br />
ICICI<br />
Ausstellung «Bauplatz Kreativität»<br />
der Bildschulen Schweiz:<br />
17. März – 2.April <strong>2017</strong><br />
Räffelstrasse 10, Zürich Binz<br />
Februar <strong>2017</strong>51
Erziehung & Schule<br />
Eine Chance<br />
für Mohamed<br />
Ob man ans Gymnasium kommt oder nicht, entscheidet die Herkunft. Das ist leider<br />
auch in der Schweiz noch immer so. Das Programm ChagALL soll für mehr<br />
Chancengleichheit sorgen. Junge, begabte Migrantinnen und Migranten werden<br />
dabei für eine höhere Schullaufbahn fit gemacht. Eine Erfolgsgeschichte.<br />
Text: Evelin Hartmann Bilder: Roshan Adihetty / 13 Photo<br />
52 52 <br />
Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Für eine bessere<br />
Konzentration:<br />
Mohamed (rechts)<br />
und die anderen<br />
Teilnehmer lernen<br />
Übungen zur<br />
Entspannung.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Februar <strong>2017</strong>53
Erziehung & Schule<br />
«Wir raten den Eltern, ihren<br />
Kindern die Freiheit zu<br />
lassen, lernen zu können»,<br />
sagt Stefan Marcec.<br />
Die Hürde liegt hoch<br />
Mohamed ist ein grosser, schlaksiger<br />
Junge, seine kurzen Locken sind<br />
schwarz, sein Teint ist dunkel. Seine<br />
Familie kommt aus Somalia, die seines<br />
Banknachbarn aus Afghanistan.<br />
Montenegro, Portugal, Marokko,<br />
Rumänien: Die Programmteilnehmer<br />
stammen aus aller Herren Länder.<br />
Was sie eint, ist ein hohes intellektuelles<br />
Potenzial sowie ein<br />
Elternhaus, in dem weder Mutter<br />
noch Vater die deutsche Sprache in<br />
die Wiege gelegt bekommen haben<br />
– und die nur über bescheidene<br />
finanzielle Mittel verfügen. Letzteres<br />
muss per Steuerausweis nachgewiesen<br />
werden. «Bei uns bewerben sich<br />
immer wieder ausländische Eltern,<br />
die alles andere als bedürftig sind»,<br />
sagt Stefan Marcec, Lehrer am Gymnasium<br />
Unterstrass und operativer<br />
Leiter des Programms. Er betont, wie<br />
hoch die Hürden sind, um überhaupt<br />
aufgenommen zu werden.<br />
Jeden April kontaktiert Stefan<br />
Marcec Sekundarschulen im Raum<br />
Zürich, Winterthur und Dietikon.<br />
Lehrer, die vom Potenzial eines oder<br />
mehrerer ihrer Achtklässler überzeugt<br />
sind, können diese per Empfehlungsschreiben<br />
vorschlagen.<br />
Zumeist leben diese Schüler in der<br />
ersten oder zweiten Generation bei<br />
uns. Auch sie müssen ein Motivationsschreiben<br />
verfassen.<br />
Was folgt, ist ein stufenweise<br />
durchgeführtes Aufnahmeverfahren,<br />
welches ein schriftliches Assessment,<br />
die Erfassung von psychologischen<br />
und intellektuellen Fähigkeiten<br />
und Fertigkeiten sowie, in einem<br />
weiteren Schritt, ein ausführliches<br />
Aufnahmegespräch umfasst. Wer<br />
dann immer noch dabei ist, hat gute<br />
Chancen, ausgewählt zu werden.<br />
Zwei Mal pro<br />
Woche gibt es<br />
Förderunterricht.<br />
Essay, Abhandlung, Erörterung<br />
– das sind Textformen,<br />
die Neuntklässler<br />
kennen sollten, wenn<br />
sie eine Mittelschule<br />
besuchen wollen. An diesem Mittwochnachmittag<br />
stehen diese<br />
Begriffe an der Schultafel des Gymnasiums<br />
Unterstrass in Zürich.<br />
Karolina Zegars Blick schweift zwischen<br />
der Tafel und ihren Schülern<br />
hin und her. «Welche weiteren Wörter<br />
sind euch fremd?», fragt die Lehrerin<br />
in die Runde. Mohamed<br />
Axmed Macow schaut auf sein Blatt,<br />
steht auf, geht zur Tafel und schreibt<br />
«Metaebene». Mohamed ist ein<br />
guter Schüler, ein sehr guter sogar.<br />
Nur Deutsch macht ihm Probleme.<br />
Dass der 16-Jährige am Mittwochnachmittag<br />
zum Unterricht kommen<br />
muss, während alle anderen<br />
seiner Kollegen freihaben, stört ihn<br />
nicht. Im Gegenteil. Mohamed ist<br />
froh, einer von 26 Teilnehmern des<br />
Migrationsprojekts ChagALL zu<br />
sein.<br />
«Es ist erwiesen, dass junge Migranten,<br />
die aus bescheidenen finanziellen<br />
Verhältnissen stammen,<br />
wenig Chancen auf einen höheren<br />
Bildungsabschluss haben», sagt Jürg<br />
Schoch, Direktor des Gymnasiums<br />
Unterstrass. Unabhängig davon, wie<br />
begabt sie seien. Aus diesem Grund<br />
wurde 2008 das Programm ChagALL,<br />
Chancengerechtigkeit durch<br />
Arbeit an der Lernlaufbahn, ins<br />
Leben gerufen. Seither wurden 137<br />
begabte jugendliche Migrantinnen<br />
und Migranten neben ihrem Regelunterricht<br />
gecoacht und geschult.<br />
Mit dem Ziel, sie für die Aufnahmeprüfung<br />
an einem Gymnasium,<br />
einer Berufsmittelschule oder Fachmittelschule<br />
fit zu machen. Träger<br />
des Programms ist – ebenso wie für<br />
das Gymnasium Unterstrass – der<br />
Verein für das Evangelische Lehrerseminar<br />
Zürich, finanziert wird es<br />
durch zwei Stiftungen.<br />
Mitra drohte Zwangsverheiratung<br />
Haben die Schüler den Sprung ins<br />
Programm geschafft, werden sie<br />
zusammen mit ihren Eltern an einem<br />
Informationsabend über den Verlauf,<br />
die Rechte und Pflichten im Programm<br />
informiert und gebeten,<br />
einen Ausbildungsvertrag zu unterschreiben.<br />
Erst danach gelten die<br />
Jugendlichen als aufgenommen.<br />
«Wir raten den Eltern, ihren Kindern<br />
die Freiheit zu lassen, lernen zu<br />
können», sagt Stefan Marcec. Das<br />
heisst, weniger auf die jüngeren<br />
Geschwister aufpassen oder im elterlichen<br />
Geschäft mithelfen – dafür<br />
mehr Zeit zum Lernen zu haben. «In<br />
der Regel sind diese Eltern sehr einsichtig<br />
und stolz auf ihre Kinder.»<br />
So wie Mutter und Vater von Mitra<br />
Karimi, 18 Jahre alt und >>><br />
«Das Elternhaus<br />
ist entscheidend»<br />
Kinder von Migranten sind an<br />
Gymnasien unterdurchschnittlich<br />
vertreten – weil sie häufig in<br />
sozioökonomisch benachteiligten<br />
Familien aufwachsen, sagt<br />
Bildungsforscher Urs Moser.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Herr Moser, welche Chancen haben junge<br />
Migranten an Schweizer Schulen?<br />
Das kommt darauf an, wie gut sie von<br />
ihren Eltern unterstützt werden können.<br />
Kinder von Akademikern haben unabhängig<br />
von ihrer kulturellen Herkunft<br />
54 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
gute Chancen, eine höhere Schullaufbahn<br />
zu durchlaufen.<br />
Es kommt demnach immer auf den<br />
Bildungshintergrund der Eltern an?<br />
Unter anderem. Von Bedeutung können<br />
auch finanzielle Mittel sein, die für zu <br />
sätzliche Förderung, beispielsweise Prüfungsvorbereitung,<br />
eingesetzt werden,<br />
oder die Kenntnisse des Bildungssystems.<br />
Sprechen wir von den Migranten, deren<br />
Eltern keinen höheren Bildungsabschluss<br />
und keine finanziellen Mittel haben.<br />
Ihnen fehlt oft die Unterstützung von zu<br />
Hause. Ihre Eltern haben oftmals wenig<br />
Zeit, meist mangelt es ihnen an Deutschkenntnissen.<br />
Sprachliche Defizite können<br />
auch dazu führen, dass das Potenzial und<br />
der Wille der Kinder, eine höhere Schule<br />
zu besuchen, übersehen werden.<br />
Helfen da Programme wie das Migrantenförderprogramm<br />
ChagALL weiter?<br />
Sehr sogar, weil die Jugendlichen ein Ziel<br />
vor Augen haben: den Übertritt in die<br />
Mittelschule. Und es treffen dabei zwei<br />
wesentliche Erfolgsfaktoren aufeinander,<br />
die Schüler sind hochmotiviert, und die<br />
Betreuung im Programm ist ausreichend<br />
und effektiv.<br />
ChagALL richtet sich an kognitiv sehr<br />
starke Jugendliche. Was muss auf einer<br />
breiteren Ebene passieren, um alle Migrantenkinder<br />
fördern zu können?<br />
Jede durchdachte und gut ausgeführte<br />
Fördermassnahme hilft und ist wertvoll.<br />
Natürlich wäre es darüber hinaus wichtig,<br />
dass alle Kinder neben ihrer Herkunftssprache<br />
auch frühest möglich Deutsch<br />
lernen.<br />
Demnach ist eine totale Chancengleichheit<br />
nie erreichbar.<br />
Im Sinne, dass jedes Kind sein Potenzial<br />
optimal nutzen kann, leider nein. Der<br />
Staat kann nicht ab Geburt eines Kindes<br />
Sprachförderung verordnen. Vielen<br />
Eltern fällt es zudem schwer, ihr Kind in<br />
ein Förderprogramm zu schicken, wenn<br />
es noch so jung ist. Dies hat nicht zwingend<br />
etwas mit der Nationalität zu tun.<br />
Urs Moser<br />
ist seit 1999 Mitglied der Geschäftsleitung<br />
des Instituts für Bildungsevaluation der<br />
Universität Zürich sowie Mitglied der<br />
nationalen Projektleitung für Pisa-Studien.<br />
Er ist Vater zweier Teenager.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>55
Erziehung & Schule<br />
>>> Schülerin des Gymnasiums<br />
Unterstrass. Als sie 12 Jahre alt war,<br />
sind ihre Eltern mit ihr aus Afghanistan<br />
geflohen. Das Mädchen sollte<br />
zwangsverheiratet werden. Heute<br />
lebt die Familie in Zürich, der Vater<br />
arbeitet als Logistiker, die Mutter ist<br />
Hausfrau. Beide sprechen nur ge <br />
brochen Deutsch.<br />
Das sind schlechte Startbedingungen<br />
im Schweizer Bildungssystem.<br />
Und doch, an ihrer Sekundarschule<br />
gehörte Mitra zu den<br />
Klas senbesten. «Aber den Sprung<br />
ans Gymnasium hätte ich nie alleine<br />
geschafft», ist sie sich sicher. Nach<br />
bestandener Aufnahme ins Programm<br />
fuhr sie jeden Mittwochnachmittag<br />
und Samstagmorgen<br />
zum Extra-Unterricht, wurde in<br />
Mathematik, Deutsch und Französisch<br />
sowie Geometrie geschult.<br />
Zwei Lehrpersonen arbeiten im Programm<br />
jeweils zusammen, eine<br />
Gymnasial- und eine Sekundarkraft.<br />
«Zusätzlich vermittle ich regelmässig<br />
Konzentrations- und Entspannungsübungen,<br />
erkläre, wie man<br />
sich und seine Arbeit bestmöglich<br />
organisiert», ergänzt Stefan Marcec.<br />
Die Motivation ist gross<br />
«Das Programm ist sehr anspruchsvoll<br />
und erfordert ein hohes Mass an<br />
Motivation und Durchhaltewillen»,<br />
betont Karolina Zegar. Die Lehrerin<br />
hatte 2012 von ChagALL gelesen und<br />
sich beworben. «Hier wird den Schülern<br />
vermittelt: Ihr habt eine reale<br />
Chance, wenn ihr euch anstrengt.<br />
Das hat mir damals keiner mit auf<br />
den Weg gegeben», erinnert sich die<br />
gebürtige Polin. Sie will es heute als<br />
Lehrperson anders machen.<br />
«Euer Job ist es, eure Fehler zu<br />
analysieren. Deshalb schreibe ich<br />
euch die korrekte Lösung immer an<br />
den Rand», sagt sie und schaut in die<br />
fragenden Gesichter ihrer Schüler.<br />
In Deutsch haben sie fast alle Schwächen.<br />
Das sei normal. «Grundsätzlich<br />
sind die Motivation und die<br />
Leistungsbereitschaft sehr hoch.<br />
Nur haben wir seit ein paar Jahren<br />
immer wieder Motivationsprobleme<br />
bei einzelnen Schülern. Das war zu<br />
Beginn des Projekts nicht so», erinnert<br />
sich Karolina Zegar. Warum das<br />
so ist, wisse sie nicht. In den ersten<br />
Jahren nach Projektstart waren es 12<br />
bis 14 Teilnehmer pro Schuljahr, nun<br />
sind es 24 bis 26 Teilnehmer, die<br />
jedes Jahr aufgenommen werden.<br />
Die Regeln sind streng<br />
Valeria Casty hat den Sprung ans<br />
Gymnasium mittlerweile geschafft.<br />
Ihr Vater, ein Spanier, kam mit 13<br />
Jahren in die Schweiz, ihre Mutter<br />
mit 28. Sie stammt aus Kolumbien,<br />
hatte dort studiert. Ihr Vater ist Telematiker.<br />
Beide Eltern sprechen heute<br />
gut Deutsch. Warum also kam<br />
Valeria zu ChagALL? «Ich glaube, in<br />
meinem Jahrgang hatte es noch freie<br />
Plätze», erklärt sie. Benachteiligt ist<br />
sie also nicht – oder nicht so wie die<br />
anderen Teilnehmer. Trotzdem ist sie<br />
sicher, dass sie die spezielle Förderung<br />
nötig hatte. «In Deutsch war ich<br />
schwach.»<br />
Die 17-Jährige erinnert sich noch<br />
gut daran, wie es war, jeden Mittwochmittag<br />
in den Bus Richtung<br />
Unterstrass zu steigen, wenn alle<br />
anderen ihrer Kolleginnen freihatten<br />
und nach Hause konnten.<br />
Natürlich versuche man Motivationstiefs<br />
im Projekt aufzufangen,<br />
unterstützend zur Seite zu stehen.<br />
Aber die Regeln seien streng, sagt<br />
Programmleiter Stefan Marcec. Man<br />
erwarte absolute Pünktlichkeit. Und<br />
wer mehr als einmal unentschuldigt<br />
fehle, werde abgemahnt. Dass vereinzelt<br />
Schüler vorzeitig ausscheiden,<br />
weil sie zum Beispiel eine Lehrstelle<br />
gefunden haben, komme vor.<br />
«Warum tust du dir diesen Stress<br />
an?», sei Valerie manchmal von<br />
ihren ehemaligen Mitschülern ge <br />
fragt worden, die nach der Schule<br />
eine Ausbildung begonnen hatten.<br />
«Heute beneiden sie mich», sagt die<br />
Gymnasiastin. Eine KV-Ausbildung<br />
wäre für sie nichts gewesen. «Ich<br />
möchte unbedingt Lehrerin werden.»<br />
Hat sie als ehemalige Pro<br />
Französisch ist<br />
ein beliebtes<br />
Fach. Deutsch<br />
bereitet vielen<br />
mehr Probleme.<br />
«Ihr habt eine reale Chance,<br />
wenn ihr euch anstrengt.<br />
Das hat mir damals keiner<br />
mit auf den Weg gegeben.»<br />
56 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
grammteilnehmerin einen Sonderstatus<br />
am Gymnasium? «Nein, ich<br />
falle nicht auf», sagt sie. Ihre Eltern<br />
haben einen ähnlichen Bildungshintergrund<br />
wie die anderen Eltern und<br />
können ihr beim Lernen helfen, sie<br />
bei ihrer Berufswahl beraten.<br />
Damit ist sie die grosse Ausnahme.<br />
Viele Eltern von Programmteilnehmern<br />
können nicht einmal die<br />
Schulbücher zahlen, geschweige<br />
denn Unterstützung bei den Hausaufgaben<br />
bieten. Daher ist für Schülerinnen<br />
wie Mitra das Folgeprogramm<br />
ChagALL+ so wichtig. «Das<br />
erste halbe Jahr nach Übertritt an die<br />
Mittelschule haben die Schüler weiterhin<br />
jeden Samstagvormittag<br />
Unterricht», erklärt Stefan Marcec,<br />
unterricht beendet. Er klappt sein<br />
Heft zu. Jetzt geht’s weiter mit Französisch,<br />
danach mit Mathematik.<br />
Am Abend, wenn seine vier jüngeren<br />
Geschwister schlafen oder fernsehen,<br />
wird er lernen. Mohamed hat<br />
ein grosses Ziel: ein Ingenieurstudium<br />
an der ETH Zürich. Er wäre<br />
der erste in seiner Familie.<br />
Evelin Hartmann<br />
>>><br />
um Unterrichtsstoff aufzuholen, Fragen<br />
stellen zu können. Und auch<br />
danach gebe es auf Wunsch Förderstunden.<br />
Kommen die meisten Programmteilnehmer<br />
zu ihm an die<br />
Schule? «Nein, viele streben einen<br />
Abschluss an der Berufs- beziehungsweise<br />
Fachmittelschule an»,<br />
sagt der Gymnasiallehrer.<br />
Letztendlich schaffen rund 80<br />
Prozent der ChagALL-Teilnehmer<br />
den Übertritt an die gewünschte<br />
Schule und bis zu 70 Prozent von<br />
ihnen den angestrebten Abschluss.<br />
Eine Quote, auf die man stolz ist am<br />
Gymnasium Unterstrass.<br />
Mohamed hofft, einer von denen<br />
zu sein, die es schaffen. Nach einer<br />
Dreiviertelstunde ist der Deutschist<br />
selbst Migrantin und hat manchmal<br />
Mühe, ihrer vierjährigen Tochter zu folgen,<br />
die jetzt schon besser Schwiizerdütsch<br />
spricht, als sie selbst jemals lernen wird.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>57
dend.<br />
><br />
«Ich bin mit zwei Müttern<br />
gross geworden»<br />
«Ein Kind verdient<br />
Mutter und Vater»<br />
(«Regenbogenfamilien»,<br />
Heft 12/16 / 1/17)<br />
Psychologie & Gese lschaft<br />
Regenbogenfamilien –<br />
und wie geht es den Kindern?<br />
Mu ter, Vater, Kind ist heute längst nicht die einzige Variante einer Familie. Auch viele<br />
gleichgeschlechtliche Paare wünschen sich Kinder. Wie erfüllen sich diese Paare ihren<br />
Kinderwunsch? Und wie entwickeln sich Kinder in Regenbogenfamilien? Neue<br />
Forschungsergebnisse aus den USA scha fen nun eindeutig Klarheit. Text: Nathalie Meuwly<br />
Diese Kinder entwickeln<br />
sich vergleichbar mit Kindern,<br />
die mit Mu ter und Vater<br />
aufwachsen.<br />
nach dem Wohlbefinden von Kin-<br />
Gleichgeschlechtliche Paare sto sen<br />
jedoch auf gro se Hürden, we n sie dern in Regenbogenfamilien.<br />
personen. So reicht die reine Anwe-<br />
zu überwinden.<br />
der Beziehung, welche eine emotionale<br />
Sicherheit vermittelt, entscheihen.<br />
Immerhin wird in Zukunft die<br />
etra und Nicole sind seit<br />
schlechtlichen P aren gewährt. Das<br />
beide wünschen sich ein<br />
schlechtliche Eltern und deren Kin-<br />
Glück mit einem Kind teilen. Beide<br />
ste lt zum Beispiel sicher, dass Kin-<br />
Schweiz leben. Der nationale Dach-<br />
Eltern entwickeln sich vergleichbar<br />
schätzt, dass bis zu 30 0 Kinder in Waisenrente oder im Tre nungsfa l Vater aufwachsen.<br />
Anspruch auf Unterhalt haben.<br />
traditione le Familienbild mit Mutter,<br />
Vater und<br />
behalten. Im folgenden Text richten<br />
Kindern.<br />
ihren Kinderwunsch realisieren<br />
einig: Ein Kind braucht für eine<br />
gesunde Entwicklung tragfähige<br />
und verlä sliche Beziehungen zu<br />
den Eltern oder anderen Bezugs-<br />
aus, damit sich Kinder gut entwi-<br />
Der Zugang zur Adoption und<br />
In-vitro-Fertilisation ist nur für<br />
heterosexue le Ehep are vorgese-<br />
Stiefkindadoption auch gleichge-<br />
sieben Jahren ein P ar,<br />
Aus psychologischer Sicht ist zu<br />
Familie gründen. Auch der den dringend notwendigen<br />
Andreas und Simon wo len ihr<br />
P are sind beispielhaft für viele<br />
auch die aktue le Forschungslage:<br />
Regenbogenfamilien, die in der<br />
verband Regenbogenfamilien<br />
mit Kindern, die mit Mu ter und<br />
aufwachsen. Regenbogenfamilien<br />
personen ergeben stets da selbe<br />
erweitern also nebst Patchworkbogenfamilien<br />
ist es wichtig, die<br />
rechtlichen Aspekte im Auge zu<br />
wir den Fokus aber auf die Frage<br />
P<br />
Kind und möchten eine<br />
einer solchen Familienkonste lation<br />
familien sowie Einelternfamilien das<br />
möchten. Zum einen mü sen Entscheidungen<br />
getroffen werden, wie<br />
beispielweise wer von beiden Partwandt<br />
ist. Au serdem gilt es in der<br />
nern biologisch mit dem Kind ver-<br />
Schweiz viele rechtliche Hinderni se<br />
bedeutet: Fortan erhalten gleichge-<br />
rechtlichen Schutz, der für heterosexue<br />
le Familien selbstverständlich<br />
ist. Die neue Gesetzesbestimmung<br />
der, die in Regenbogenfamilien aufwachsen,<br />
im Todesfa l Anspruch auf<br />
Für das Verständnis von Regen-<br />
50 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
In der Psychologie ist man sich<br />
senheit von Bezugspersonen nicht<br />
ckeln kö nen. Vielmehr ist die Art<br />
Auf die Art der Beziehung<br />
kommt es an<br />
erwarten, da s gleichgeschlechtliche<br />
P are ihren Kindern diese Art von<br />
Beziehung bieten kö nen. Dies zeigt<br />
Kinder mit gleichgeschlechtlichen<br />
Umfragen bei Eltern und Lehr-<br />
Bild: Kinder, die mit zwei Mü tern<br />
oder zwei Vätern aufwachsen, unterscheiden<br />
sich in ihrer emotionalen<br />
Entwicklung nicht. Sie sind gleich<br />
Bild: Hero Images / plainpicture<br />
glücklich, gleich ängstlich und<br />
haben auch kein grö seres oder kleineres<br />
Risiko, verhaltensauffä lig zu<br />
werden oder psychische oder somatische<br />
Symptome zu entwickeln als<br />
Kinder, die mit Mu ter und Vater<br />
aufwachsen. Auch bezüglich der<br />
kognitiven Entwicklung gibt es keine<br />
Unterschiede. Kinder zeigen dasselbe<br />
Lernverhalten in der Schule<br />
und sind sozial ähnlich eingebunden.<br />
Selbst in Inte ligenztest schneiden<br />
sie gleich ab.<br />
Auch Fachpersonen schätzen in<br />
Beobachtungen von Adoptiveltern<br />
den Umgang mit den Kindern gleich<br />
Zusammenfa send ka n festgehal-<br />
also keine andere Entwicklung zu<br />
ten werden, da s positive Elterntender<br />
sind für die Entwicklung<br />
da s die gleichgeschlechtlichen<br />
Kind-Beziehungen weitaus bedeu-<br />
eines Kindes als das Geschlecht oder<br />
die sexue le Orientierung der Eltern.<br />
Eine kürzlich publizierte repräsentative<br />
Studie, die 20 1 bis 2012 in<br />
den USA durchgeführt wurde,<br />
kommt zum selben Ergebnis. In dieser<br />
Studie konnte sichergeste lt wertre<br />
ung meist aktiver sind als heterosexue<br />
le biologische Väter.<br />
den, da s die zufä lig ausgewählten<br />
Elternp are a le seit der Geburt des<br />
ein. Kinde reagieren gleich auf ihre<br />
beider Eltern ist vergleichbar. Inter-<br />
der gleichgeschlechtlichen Adoptiveltern<br />
sogar als feinfühliger eingeschätzt<br />
als das Verhalten von heterosexue<br />
len Adoptiveltern.<br />
Kindes zusammen waren und das<br />
Kind gemeinsam aufzogen. Zudem<br />
Alter von 6 bis 17 Jahren einen sogenannten<br />
Zwi ling in der Vergleichs-<br />
für die Ergebni se zu e reichen.<br />
ha te jedes untersuchte Kind im<br />
Eltern, und auch die K operation<br />
stichprobe mit identischem Alter<br />
e santerweise wir das Verhalten und sozioökonomischem Hinter-<br />
Für die Kinder von Nicole und<br />
grund, um eine hohe Au sagekraft<br />
Petra oder Andreas und Simon ist<br />
erwarten als die der Nachbarskinder<br />
mit Mu ter und Vater. Der einzige<br />
erwartete Unterschied kö nte sein,<br />
werden. So haben mehrere Studien<br />
Elternp are Kinderbetre ung und<br />
Hausarbeit ausgeglichener aufteilen<br />
gezeigt, da s beide gleichgeschlechtlichen<br />
Elternteile in der Kinderbe-<br />
Werden die Kinder nicht gehänselt?<br />
Andreas und Simon sorgen sich, da s<br />
ihr Kind in der Schule gehänselt werden<br />
kö nte, und nehmen sich<br />
Zwei Mamis oder zwei Papis<br />
zu haben, kann bedeuten,<br />
dass das Kind ausgelacht wird.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 51<br />
Ein schönes Bild mit zwei Männern und einem Baby auf dem Bett. Darauf<br />
ein Text: «Gleichgeschlechtliche Elternteile sind meist aktiver in der<br />
Kinderbetreuung als heterosexuelle Väter.»<br />
Als aktiver Hetero-Vater und Freund von vielen aktiven Hetero-Vätern<br />
fühle ich mich ehrlich gesagt etwas vor den Kopf gestossen. Was soll<br />
diese «angeblich wissenschaftliche Aussage» in einem derartigen Beitrag<br />
beziehungsweise in einem wissenschaftlichen Text? Das ist doch nicht<br />
wirklich erforschbar, oder?! Das ist verallgemeinernd. Und zudem können<br />
sich zwei Väter logischerweise intensiver um ein Kind kümmern als nur<br />
einer. Wo bleibt aber die Mutter oder im umgekehrten Fall der Vater? Und<br />
genau hier geht es mir zu weit: Ein Kind verdient Mutter und Vater, die es<br />
ja auch gemeinsam zeugen. Homo-Paare können Kinder haben, wenn sie<br />
sie selbst zeugen.<br />
Hat das Fritz+Fränzi-Team wohl den Mut, eine derartige Stellungnahme<br />
von mir zu drucken? Bin gespannt … Es mag konservativ klingen,<br />
aber in unserer toleranten und liberalen Gesellschaft gilt ja die Meinungsfreiheit.<br />
Grundsätzlich finde ich viele Berichte von euch super!<br />
Philippe Recher, Zizers (per Mail)<br />
«Der Grundbaustein einer<br />
gesunden Gesellschaft»<br />
(«Regenbogenfamilien», Heft 12/16 / 1/17)<br />
Vielen Dank für die vielen wertvollen Beiträge in Ihrem Magazin. Zum<br />
Artikel «Regenbogenfamilien» möchte ich anmerken, dass die Trias Vater,<br />
Mutter, Kind der Grundbaustein einer gesunden Gesellschaft ist und<br />
jedes Kind ein Recht auf Vater und Mutter hat.<br />
Gleichgeschlechtliche<br />
Elternteile sind meist<br />
aktiver in der<br />
Kinderbetre ung als<br />
heterosexuelle Väter.<br />
«Vieles wird schöngeredet»<br />
(«Regenbogenfamilien», Heft 12/16 / 1/17)<br />
Ich bin ein grosser Fan Ihrer Zeitschrift, danke für die vielen<br />
wertvollen Beiträge! – Nun ist mir der Artikel über Regenbogenfamilien<br />
aufgefallen. Es ist sehr wichtig, dass darüber<br />
geschrieben wird, wie es Kindern in gleichgeschlechtlichen<br />
Haushalten geht.<br />
Ich bin selber mit zwei Müttern gross geworden (meine<br />
Mutter hat sich nach der Trennung mit meinem Vater für eine<br />
Frauenbeziehung entschieden), und ich muss sagen, dass ich<br />
es nicht einfach fand, im Gegenteil. Ich habe mich immer<br />
wieder geschämt dafür, mich nicht getraut, meine Mutter als<br />
lesbisch zu erwähnen, wenn Freundinnen nach Hause kamen.<br />
Und ich habe eine ziemliche Verwirrung bezüglich meiner<br />
eigenen Weiblichkeit und Sexualität davongetragen, die bis<br />
heute anhält. Meine Mutter ist und war eher ein männlicher<br />
Typ, mein Vater hingegen nicht unbedingt der starke Mann.<br />
Das alles hat sicher zu meiner Prägung und zu meinem<br />
Selbstwertgefühl beigetragen.<br />
Es gab auch Zeiten, da konnte ich das Lesbischsein<br />
meiner Mutter gut akzeptieren. Es ist ja auch jetzt eher «in»,<br />
so etwas gut zu finden. Ich finde es schwierig, dass ich das<br />
Gefühl habe, das Ganze kritisch zu sehen, sei nicht gern<br />
gesehen oder gehört. Was mich bei Ihrem Artikel stört, ist,<br />
dass vieles schöngeredet wird und ich kaum auf ein<br />
kritisches Wort stosse – das ist wohl politisch unkorrekt. Ich<br />
würde mir sehr wünschen, dass es mal jemand wagt,<br />
kritischer auf dieses Thema zu blicken. Selbst im Internet bei<br />
Recherchen stosse ich kaum auch auf kritische Stimmen.<br />
Mich würde es interessieren, wie es den (jungen)<br />
Erwachsenen geht, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern<br />
oder Partnern der Eltern gross geworden sind.<br />
Und ja – wenn es ums Wohl des Kindes geht, sind sicher<br />
zwei gleichgeschlechtliche, gesunde, reflektierte Eltern<br />
besser als Mutter und Vater, die sich dauernd streiten. Ich<br />
finde die gesamte Thematik sehr komplex. Vielleicht können<br />
Sie ja mal ausführlicher darüber berichten.<br />
Dorothea Reichen-Wetzler, Reichenbach (per Mail)<br />
Marla Meier (per Mail)<br />
58 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Monatsinterview<br />
Fallschirm aus dem Flugzeug sprinzeln<br />
geschlagen.<br />
selbständig werden un die Welt<br />
Erste in Luzern, die bereits mit<br />
Da haben Sie recht. Die Tatsache,<br />
Sie haben uns gelehrt, da s es im<br />
Strumpfhosen ihrer Kinder selbst<br />
physische Widerstandsfähigkeit,<br />
Verwandtschaft immer Päckchen<br />
mit feinen, wei sen synthetischen<br />
gen la sen kö nen – ich hä te auf<br />
Frau Ringier, Ihre Mutter stammt aus<br />
einer Londoner Bankiersfamilie, Ihr<br />
Vater war ein Pelzgro shändler aus<br />
der I nerschweiz. Zur damaligen Zeit<br />
keine alltägliche Kombination.<br />
da s meine Mu ter Ausländerin war<br />
– und noch dazu aus einer so weltoffenen<br />
Stadt kam –, war das Prägendste<br />
in meiner Kindheit. Während<br />
die anderen Mü ter die wo lenen<br />
dieser kleinen Holzbüchsen wurde<br />
strickten, schickte unsere Londoner<br />
Strumpfhosen. Und ansta t in einer<br />
ich in einem marineblauen Kinder<br />
dern umhergefahren.<br />
wagen mit gro sen gefederten Rä <br />
Ihre Mu ter war sehr o fen, weltgewandt,<br />
kultiviert, während Ihr Vater als<br />
sehr bodenständig und diszipliniert<br />
galt. Führte diese Diskrepanz nicht zu<br />
Spannungen in der Familie?<br />
Eigenartigerweise haben sich meine<br />
getroffen, da gab es ni eine Diffe<br />
samten Familie war, da s wir Teil<br />
Eltern in der Erziehung absolut dieser Gese lschaft sind. Meine es oft Situationen, in denen ich<br />
renz. Es gab das elterliche Macht<br />
ich hier blo s lebend durch?» Das<br />
tionierten, wie die Eltern das von<br />
Eltern standen immer im Austausch<br />
wort, und wir drei Schwestern funk<br />
einem verlangten. Ein Auflehnen gab<br />
es nicht. Andererseits war unseren<br />
sehen ko nten. Ich war bestimmt die<br />
18 Jahren in Leningrad und Moskau<br />
war. Natürlich ha ten diese Reisen<br />
immer einen erzieherischen Hintergrund:<br />
Mein Vater war ein Inte lektue<br />
ler, ihm ging Lernen über alles.<br />
Von Ihrem Gro svater stammt der<br />
Satz: «Im Leben geht es immer darum,<br />
anderen Menschen eine Chance zu In welchen Situationen haben Ihre<br />
geben.» Sind Sie durch ihn der soziale Eltern Sie darin bestärkt, weiterzumachen,<br />
nicht aufzugeben?<br />
und engagierte Mensch geworden, der<br />
Sie heute sind?<br />
Kindergeburtstagen hat meine Mut<br />
Meine Eltern sind mit uns oft Berg<br />
Die Grundüberzeugung unserer ge <br />
gedacht habe: «O Gott, wie komme<br />
merte sich um sie, ein Weihnachts<br />
Skifahren ist noch ein anderes Bei<br />
Steilhang gekommen weil ich mich<br />
ter jedes Jahr aus der Nachbarschaft<br />
Eltern sehr wichtig, da s wir schne l<br />
mit ihren Mitarbeitern, man küm<br />
geld war obligatorisch. Zu meinen<br />
serkopf eingeladen. Ihm hat es bei<br />
uns gefa len, und wir haben das nicht<br />
hinterfragt. Er gehört einfach dazu.<br />
Ein indisches Sprichwort lautet:<br />
«Solange die Kinder klein sind, gib<br />
ihnen Wurzeln, wenn sie älter werden,<br />
gib ihnen Flügel.» Was haben Ihre<br />
Eltern in dieser Hinsicht getan?<br />
Leben eine gewi se Demut braucht<br />
und Resilienz. Eine psychische und<br />
Dinge auch mal auszuhalten. Und<br />
sie haben mir die Fähigkeit mitgegeben,<br />
übera l zurechtzukommen.<br />
Sie hä ten mich irgendwo mit einem<br />
jedem Fleckchen dieser Erde Wur<br />
steigen gegangen. Ich bin bis Schwierigkeitsgrad<br />
sechs gekle tert. Da gab<br />
spiel. Ich bin jedes Mal durch den<br />
getraut habe, mich talwärts zu lehnen.<br />
Wer Angst hat, lehnt sich<br />
Jetzt<br />
mitmachen<br />
ww.fritzundfraenzi.ch/<br />
leserumfrage<br />
Do sier<br />
72<br />
Léni (l.) und ihre<br />
Schwester Finnja.<br />
Trotz der schweren<br />
Krankheit haben die<br />
Zwi linge ihre Nähe<br />
zueinander nicht<br />
verloren.<br />
Do sier<br />
Leserbriefe<br />
«Ich bin<br />
beeindruckt»<br />
(Monatsinterview mit Ellen<br />
Ringier, Heft 12/16 / 1/17)<br />
«Disziplin war alles.<br />
Und Sport»<br />
Im Dezember wird E len Ringier 65 Jahre alt. Die Präsidentin der Stiftung Elternsein,<br />
Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi, schaut auf ihr bewegtes Leben<br />
zurück, erzählt, welchen Namen unser Magazin ursprünglich hä te tragen so len. Und<br />
ve rät ihren Herzenswunsch. Text: Evelin Hartmann und Nik Niethammer Bilder: Maurice H as / 13 Photo<br />
«Ic hä te auf<br />
jedem Fleckchen<br />
dieser Welt Wurzeln<br />
schlagen können.»<br />
auch einen Jungen mit einem Was ><br />
36 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Fr. 7.50 1/November 2016<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 37<br />
Liebe Frau Ringier<br />
Ich habe gerade Ihr Interview im Magazin gelesen und<br />
bin beeindruckt. Als Familienmanagerin und Lehrerin<br />
schätze ich das Heft sehr. Ich habe fest auf einen<br />
Lottogewinn gehofft, um eine eigene Stiftung zu<br />
gründen, das hat leider nicht geklappt ;-)<br />
Herzlichen Dank dafür, dass Sie Energie und Geld für<br />
so ein wichtiges Thema einsetzen.<br />
Anja Bernet (per Mail)<br />
«Leider fehlt die Brücke<br />
zu Kindern, die sterben<br />
müssen»<br />
«Léni, bitte bleib!», Heft 12/16 / 1/17)<br />
Erziehung & Schule<br />
« Léni, bitte bleib!»<br />
Sie war ein lebenslustiges, ein starkes Kind. Dann kam<br />
der Tag, an dem Léni wegen Halsschmerzen zum Arzt<br />
musste. Seine Diagnose war unvorstellbar: Krebs.<br />
Es begann eine unerträgliche Leidensgeschichte.<br />
Ihre Mu ter erzählt. Text: Léda Forgó Bilder: Charlo te Schreiber, privat<br />
72 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Mit grosser Freude habe ich den Artikel über Léni gelesen. Als<br />
ebenfalls betroffene Mutter eines an einem Hirntumor erkrankten<br />
Kindes habe ich den Artikel mit Interesse gelesen und uns an<br />
so vielen Stellen wiedererkannt. Leider ist bei uns die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass dieses Weihnachten das letzte sein wird mit<br />
der ganzen Familie, sehr viel grösser als die Chance, dieses auch<br />
nächstes Jahr noch gemeinsam zu feiern. Weshalb ich auch sehr<br />
interessiert war am Artikel über den Umgang mit dem Tod.<br />
Ich finde es sehr schade, dass darin nicht die Brücke geschlagen<br />
wurde zu den Kindern, die sterben müssen. Da ja auch im<br />
Artikel von den vielen Kindern erzählt wurde, die man während<br />
der Therapien kennenlernt und die auf ihrem Weg sterben. Auch<br />
auf unserem Weg haben wir diverse Kinder kennengelernt, die die<br />
Welt schon wieder verlassen mussten.<br />
Ich hätte mir einfach gewünscht, dass man den Tod nicht<br />
immer nur im Zusammenhang mit alten Menschen thematisiert.<br />
Es sterben doch auch ganz viele Mamis und Papis von kleinen<br />
Kindern oder eben auch Kinder.<br />
Erziehung & Schule<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 73<br />
Jesper Juul<br />
Wie Mü ter e scha fen,<br />
an sich zu denken<br />
Ein Tag bei der KESB<br />
Wie die Behörde<br />
arbeitet –<br />
eine Reportage<br />
Leserumfrage<br />
Fr. 7.50 12/Dezember 2016 1/Januar <strong>2017</strong><br />
Karin Suter (per Mail)<br />
«Das Engagement<br />
lohnt sich»<br />
(November-Heft 11/16,<br />
Dezember-Heft 12/16 / 1/17)<br />
Kinder und Karriere<br />
Fabian Grolimund<br />
Mein Kind ist<br />
ein Angeber<br />
Léni wi l leben<br />
Eine Mutter kämpft<br />
um das Leben ihrer<br />
krebskranken Tochter<br />
Die Lüge von<br />
der Vereinbarkeit<br />
Was Eltern<br />
wissen müssen<br />
Sexualität<br />
Liebe Frau Ringier<br />
Das ElternMagazin vom Dezember und auch vom<br />
November hat mir grosse Freude bereitet beim Lesen.<br />
Ich gebe die beiden Exemplare meinem Sohn weiter, er<br />
hat ja zwei Kinder. Ich hoffe, dass er das Heft abonniert<br />
und dafür in seinem Freundeskreis Werbung macht. Es<br />
hat so spannende und interessante Artikel, vielseitig und<br />
offen, ehrlich und aktuell. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem<br />
riesigen Engagement und Ihrem grossartigen Einsatz. Ja,<br />
Frau Ringier, man sieht es an Ihrer Ausstrahlung an: Das<br />
Engagement befriedigt sie, ist zwar anstrengend, aber es<br />
lohnt sich. Schön so!<br />
Elisabeth Staffelbach (per Mail)<br />
«Weiter so!»<br />
Bild: Li nea Lar son / plainpicture<br />
10 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
(«Dossier Sexualität»,<br />
«Léni, bitte bleib!», Heft 12/16 / 1/17)<br />
Wenn die<br />
Sexualität<br />
erwacht<br />
Erforschen Kinder die Welt, gehört der eigene Körper dazu. Doch<br />
viele Eltern wissen nicht, wie sie der erwachenden Sexualität<br />
ihrer Kinder begegnen so len. Keinesfalls mit Schweigen, raten<br />
Experten. Ein entspannter Umgang mit Sex und eine frühe<br />
Aufklärung begünstigen die körperliche Entwicklung der Kinder.<br />
Text: Claudia Marinka und Claudia Landolt<br />
Bilder: Linnea Lar son, Sian Davey, Ruth Erdt<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 1<br />
Ich habe das neuste ElternMagazin in einem Zug durchgelesen.<br />
Ein grosses Kompliment zu dieser Ausgabe!<br />
Die verschiedenen Artikel zum Thema «Sexualität» fand ich<br />
gerade aus Elternsicht ausgesprochen gut, offen und persönlich<br />
ermutigend.<br />
Der persönliche und ergreifende Bericht über die Krebserkrankung<br />
von Léni hat mich enorm berührt.<br />
Als Familienvater bin ich immer auf der Suche nach solch<br />
spannenden und inspirierenden Artikeln. Weiter so!<br />
Heinrich Schaffner (per Mail)<br />
>>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>59
Do sier<br />
Do sier<br />
«Alle, Frauen und Männer,<br />
zahlen den Preis»<br />
(Dossier «Die Lüge von der<br />
Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />
Die Lüge von<br />
der Vereinbarkeit<br />
Wer Kinder hat und Ka riere machen möchte, zahlt einen hohen<br />
Preis – besonders als Frau. Mü te reiben sich auf zwischen<br />
Familie und Beruf. Denn die viel zitierte Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf bedeutet vor allem eins: ganz viel Stress.<br />
Eine Entmystifizierung. Text: Siby le Sti lhart Bilder: Jan von Ho leben<br />
10 November 2016 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November 2016 1<br />
Der Titel hat mich sehr angesprochen, und ich war erfreut, dass es<br />
endlich jemand wagt, darüber zu schreiben. Leider war ich von dem<br />
Artikel schon nach Kurzem sehr enttäuscht bzw. verärgert.<br />
Wie schon so oft in Zeitungsartikeln und auch in Ihrem Artikel ist<br />
unter anderem die Rede davon, dass die Hausarbeit und Kinderbetreuung<br />
nach wie vor in der Verantwortung der Frau liegt. Das stelle<br />
ich in keiner Art und Weise in Frage. Was mich aber sehr stört, ist,<br />
dass mit keinem Wort erwähnt ist, dass umgekehrt genau auch<br />
immer noch der allergrösste Teil der Verantwortung für die Erwerbsarbeit<br />
bei den Männern liegt. Sie kommen in Ihrem Artikel auf<br />
durchschnittlich 68 Stunden Arbeitsaufwand bei einer Mutter, die<br />
auch einer Erwerbsarbeit nachgeht, und erwähnen dann noch kurz<br />
zum Schluss, dass das durchschnittliche Arbeitspensum eines<br />
Mannes doch auch beachtliche 70 Stunden pro Woche beträgt, was<br />
ja eigentlich so nebenbei noch höher ist als das der Frauen.<br />
Die Elternzeitschrift Fritz+Fränzi bietet eine wirklich tolle<br />
Plattform für ein solches Thema, aber bitte berücksichtigen Sie in<br />
Ihrem Artikel die Geschlechter in gleichem Mass. Frauen möchten<br />
Anerkennung für ihre geleistete Arbeit – wir Männer möchten sie<br />
auch! Und möchten Sie tatsächlich beiden Geschlechtern gerecht<br />
werden, so hören Sie bitte auf, Frauen nur als Opfer von Männern zu<br />
sehen und Männer nur als Täter an Frauen! Eine Möglichkeit wäre<br />
zum Beispiel, den Fokus voll auf unser System zu richten, dann würde<br />
vielleicht gerechter sichtbar, was wir alle, Männer und Frauen, für<br />
einen Preis für unser System bezahlen, und so könnten wir vielleicht<br />
gemeinsam an einer gerechteren Zukunft für beide Geschlechter<br />
arbeiten. Wie wärs?!<br />
Mit freundlichen Grüssen von einem zu vereinbaren versuchenden<br />
Mann und Vater.<br />
Peter Meienberg, Basel (per Mail)<br />
«Danke für den genialen<br />
Artikel»<br />
(Dossier «Die Lüge von der<br />
Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />
Herzlichen Dank für den genialen Artikel von Frau Stillhart. Sie spricht<br />
mir so sehr aus dem Herzen und gibt mir das Gefühl, nicht alleine mit<br />
diesem Problem dazustehen. Bewundernswert ist auch ihre<br />
Konsequenz, im eigenen Leben das Paradoxon zu lösen!<br />
«Sie decken nur die<br />
halbe Lüge auf»<br />
(Dossier «Die Lüge von der<br />
Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />
Als Akademiker mit einem Betreuungspensum (zwei<br />
Söhne, 10 und 12) von 50 Prozent bin ich enttäuscht<br />
darüber, dass Sie nur die halbe Lüge aufdecken. Ist es ein<br />
Relikt der abgeflauten Emanzipationsbewegung oder in<br />
den Köpfen der Männer noch nicht angekommen: Der<br />
zweite Teil der Lüge ist doch, dass Frauen mehr betroffen<br />
wären als Männer. Bereinigt man die Statistik bezüglich<br />
des Ausbildungsstandes, haben Frauen heute nach der<br />
«Babypause» bessere Karten als Männer, die zugunsten<br />
der Kinderbetreuung ihr Pensum über die gleiche Zeit<br />
und in gleichem Ausmass reduziert haben. Eine<br />
Fortsetzung einer begonnenen Karriere nach 10 Jahren<br />
Pause? Ein neuer Arbeitgeber, weil nun doch wieder<br />
mehr Zeit vorhanden wäre? Für Männer deutlich<br />
schwieriger, und deshalb, weil bekannt ist, dass Frauen<br />
nach der Babypause leichter wieder reinkommen, diese<br />
Lücke im Lebenslauf sogar Ansprüche bei der Arbeitslosenkasse<br />
generiert (bis zum 12.Lebensjahr des letzten<br />
Kindes!) und Mann auf diese Vorteile nicht zurückgreifen<br />
kann, getrauen sich viele Männer nicht, den Karrieresuizid<br />
zu vollziehen.<br />
Artikel wie der Ihre, der darauf abzielt, die Situation<br />
der Frau zu pathologisieren und sie als diejenige<br />
glorifiziert, die sich teilen muss und dabei verliert, sind<br />
genauso kontraproduktiv wie die Behauptung, Männer<br />
hätten kein Interesse an der Betreuung eigener Kinder<br />
(ja, Sie haben richtig gelesen, ein Klischee, das durch die<br />
Realität längst überholt ist). Tatsache ist, dass BetreuungsZEIT<br />
Zeit braucht und diese Zeit nicht auf den<br />
Bäumen wächst, sondern jeder für sich entscheiden<br />
muss, ob er Teile seiner 24 Stunden pro Tag in Karriere<br />
oder Kinder investiert. Dazu gibt es die weitere Auswahl<br />
zwischen aufwendigeren Karrieren, welche geschlechtsunabhängig<br />
wenig Betreuungszeit erlauben<br />
und evtl. an ein hohes Mass an Erfahrung gebunden sind,<br />
welche ja im Kinderzimmer nicht gemacht werden kann,<br />
und Karrieren, die weniger spektakulär verfolgt werden<br />
können.<br />
Unterstützung durch die Medien wird für die Väter<br />
wichtig. Für die Mütter war es in den letzten Jahrzehnten<br />
sicher auch sehr bedeutend. Aber heute ist das Thema<br />
ausgelutscht und es gibt Neues.<br />
Mei-Lin Blum (per Mail)<br />
G. Umenhofer (per Mail)<br />
60 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Leserbriefe<br />
«Aus einer anderen Welt»<br />
(Dossier «Die Lüge von der<br />
Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />
Fritz und Fränzi (rechts)<br />
Lehmann im Alter von<br />
sechs Jahren.<br />
Ich habe in der November-Ausgabe den Artikel zur<br />
Vereinbarkeit gelesen. Von der Juristin Salome, der<br />
Ökonomin Sabine, Nadin, der Politologin, und ihren<br />
Männern, den Vätern. Wie hin- und hergerissen diese<br />
Frauen sind und sich dann für ihre Kinder entscheiden.<br />
Wie schwierig es doch ist, und wie teuer die Kinderbetreuung<br />
ist. Über die Erwartungen und das unfaire<br />
Verhalten anderer.<br />
Ich frag mich nur, was sagt die alleinerziehende<br />
Mutter von zwei Kindern? Die Verkäuferin, Coiffeuse,<br />
Servicefachangestellte, welche vom Mindestlohn allein<br />
zwei Kinder grosszieht. Ohne Vater, Mann, Freund. Was<br />
sagen die Frauen, die keine Wahl haben? Die eine Miete<br />
von 1500 Franken und die Krankenkassenprämie von<br />
650 Franken pro Monat bezahlen?<br />
Die Frauen, die 80 bis 100 Prozent arbeiten und an<br />
jedem Handballspiel, jedem Konzert und Elternabend<br />
dabei sind? Leiden die auch unter Burnout? Sind<br />
überlastet, übermüdet? Nein, denn sie haben keine Zeit,<br />
keine Wahl! Wieso kommt keine von diesen Frauen in<br />
diesem Artikel vor?<br />
Den Grundgedanken dieses Artikels finde ich gut. Gut<br />
recherchiert und leicht zu lesen.<br />
Nur die Beispiele sind aus einer anderen Welt.<br />
Valeria. S. (per Mail)<br />
«Ihr habt euch um<br />
Welten verbessert»<br />
«Fritz und Fränzi<br />
gibt es wirklich»<br />
Mit Freude lese ich Ihren Elternratgeber Fritz+Fränzi. Unsere<br />
Kinder bringen dieses tolle Magazin regelmässig von der Schule<br />
nach Hause.<br />
Mit grossem Interesse habe ich auch das Interview mit Frau<br />
Ellen Ringier gelesen. Auch wie sie auf den Namen gekommen ist.<br />
Als es Ihr Magazin neu gab, haben mich viele Leute angesprochen,<br />
einige haben mir sogar ein Heft mitgebracht.<br />
Wir sind zweieiige Zwillinge, geboren 1973! Und heissen Fritz<br />
und Fränzi! Ich wollte Ihnen das mal mitteilen, ja, es gibt uns<br />
wirklich! Ich weiss natürlich auch, dass diese Namen nicht mehr<br />
in Mode sind. Daher freut es mich umso mehr, dass es dieses<br />
Magazin mit unserem Namen immer noch gibt.<br />
Fränzi und Fritz Lehmann, Grindelwald (per Mail)<br />
Ihr habt euch inhaltlich und auch das Layout um Welten<br />
verbessert. Einfach super. Habe zur Geburt unserer<br />
Tochter 2008 ein Jahresabo von einem Bekannten<br />
erhalten. Mir hat es nicht gefallen, und dies nicht nur, weil<br />
mein Kind im «falschen Alter» war für dieses Magazin.<br />
Nun hat mir Fritz+Fränzi im vergangenen Jahr wirklich<br />
sehr gut gefallen! Super Artikel. Die ADHS-Reihe war<br />
super.<br />
Judith Müller, Gossau (per Mail)<br />
Schreiben Sie uns!<br />
Ihre Meinung ist uns wichtig! Was machen wir gut?<br />
Was könnten wir besser machen? Lassen Sie es uns<br />
wissen! Sie erreichen uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch<br />
oder Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich.<br />
Und natürlich auch über Twitter: @fritzundfraenzi<br />
oder Facebook: www.facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Kürzungen behält sich die Redaktion vor.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>61
Ernährung & Gesundheit<br />
Erste Hilfe<br />
bei Zahnunfällen<br />
Selbst Bagatellunfälle an den Zähnen können Komplikationen nach sich ziehen.<br />
Deshalb ist es wichtig, schnell und richtig zu handeln. Text: Petra Seeburger<br />
Die achtjährige Jessica<br />
hat bei einem Sturz<br />
mit dem Velo ihr<br />
Kinn heftig am Lenker<br />
angeschlagen.<br />
«Sie hat sich die Lippe aufgebissen,<br />
was stark geblutet hat», erzählt ihre<br />
Mutter, «und zwei Vorderzähne<br />
waren auch draussen!» Die Eltern<br />
fuhren sofort in die Notfallstation.<br />
Als die Wunde versorgt war, sprach<br />
der Notfallarzt mit einem Zahnarzt,<br />
weil Jessica vorne schon bleibende<br />
Zähne hat. Die ausgeschlagenen<br />
Zähne hatte der Vater in Milch eingelegt<br />
und mitgenommen. Der<br />
Zahnarzt konnte sie so direkt wieder<br />
einsetzen.<br />
Jessicas Eltern haben bei der Erstversorgung<br />
ihrer Tochter alles richtig<br />
gemacht: die Wunde mit einer<br />
Mullbinde abgepresst und die Zähne<br />
in eine «physiologische», also körperähnliche<br />
Lösung gelegt. Durch<br />
eine falsche Handhabung wäre die<br />
Oberflächenstruktur der Zähne<br />
kaputtgegangen, was ein Wiedereinsetzen<br />
verunmöglicht hätte. Jessicas<br />
wieder eingesetzte Zähne werden<br />
noch für einige Zeit mit einer Schie-<br />
ne stabil gehalten. Wie es aussieht,<br />
wird sie keine Langzeitfolgen davontragen.<br />
Ausgeschlagene bleibende Zähne<br />
richtig behandeln<br />
«Grössere Kinder, die wegen eines<br />
Zahnunfalls mit bleibenden Zähnen<br />
in den Notfall kommen, sind meistens<br />
mit dem Velo gestürzt oder im<br />
Schwimmbad ausgerutscht», sagt<br />
Zahnarzt Hubertus van Waes von<br />
der Klinik für Kieferorthopädie und<br />
Kinderzahnmedizin in Zürich und<br />
Leiter der Zürcher Schulzahnklinik.<br />
Wenn bei einem Unfall bleibende<br />
Zähne ausgeschlagen werden, gilt es,<br />
richtig zu handeln: «Sofort zum<br />
Zahnarzt gehen», sagt van Waes.<br />
«Wenn möglich sollten die Zähne<br />
noch am Unfallort wieder eingesetzt<br />
werden.» Falls das nicht geht, den<br />
Zahn in Milch oder in einem Plastiksäcklein<br />
mit etwas Speichel transportieren.<br />
Auf keinen Fall Alkohol<br />
oder Desinfektionsmittel dafür verwenden<br />
und den Zahn auch nicht<br />
einfach in die Hosentasche stecken.<br />
Kann ein Zahn replantiert werden,<br />
wird er rund zwei Wochen mit einer<br />
Wegen möglicher Folgeschäden<br />
sind Zahnunfälle immer<br />
der Versicherung zu melden.<br />
Schiene fixiert. Den Rest erledigt die<br />
Natur.<br />
Zu Zahnunfällen bei kleineren<br />
Kindern kommt es oft, weil sie stolpern,<br />
fallen und gegen eine Kante<br />
schlagen. Typisch sind gemäss van<br />
Waes auch «Knochenbrüche im<br />
Gesicht und ausgeschlagene Zähne».<br />
Je nach Unfall können sich die<br />
Zähne auch lockern, verschieben<br />
oder werden hineingeschlagen.<br />
Bei herausgeschlagenen Milchzähnen<br />
ist ein Artzbesuch nicht am<br />
gleichen Tag nötig, denn diese werden<br />
nicht wieder eingesetzt, da dies<br />
die bleibenden Zähne beim Durchbrechen<br />
behindern könnte. Mit<br />
einer Zahnlücke wegen ausgeschlagener<br />
Milchzähne haben Kinder<br />
keine Probleme, weiss van Waes.<br />
62 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«Sie können sich gut anpassen.» Die<br />
obere Frontreihe sei kein Problem,<br />
bei der unteren Frontreihe könne es<br />
vorkommen, dass ein Kind lisple.<br />
«Bei einer Spange setzen wir deshalb<br />
manchmal einen Ersatzzahn ein.»<br />
Sind Milchzähne jedoch verschoben,<br />
muss man sofort zum Zahnarzt,<br />
damit der Zahn an seine Position<br />
zurückgeschoben werden kann,<br />
so Hubertus van Waes. «Dies ist nur<br />
gleichentags möglich.» Hat ein Kind<br />
starke Schmerzen oder kann nicht<br />
mehr beissen, gilt das ebenfalls.<br />
Zahnunfälle seien immer der Versicherung<br />
zu melden, betont van<br />
Waes, denn Folgeschäden sehe man<br />
oft erst Jahre später. «Die obligatorische<br />
Grundversicherung deckt bei<br />
Kindern die entstehenden Kosten.»<br />
Kinder und Jugendliche<br />
gut überwachen<br />
Zahnverletzungen selber bluten<br />
kaum. Wird aber die Zunge oder die<br />
Lippe verletzt, blutet es stark. Die<br />
Wunden müssen mit Kompressen<br />
oder sauberen Tüchern bedeckt und<br />
komprimiert werden. Brüche der<br />
Mittelgesichtsknochen sind laut Professor<br />
Martin Rücker, Direktor der<br />
Klinik für Mund-, Kiefer- und<br />
Gesichtschirurgie am Universitätsspital<br />
Zürich, bei Kindern selten.<br />
«Die Knochenhaut ist dicker und der<br />
Knochen noch weicher.» Beim Sturz<br />
aufs Kinn, was häufig bei Velo-, Roller-<br />
oder Rollschuhunfällen passiere,<br />
könne aber durchaus zum Beispiel<br />
der Gelenkfortsatz des Unterkiefers<br />
brechen.<br />
Abhängig vom Bruchverlauf<br />
kommt eine konservative – in erster<br />
Linie mit weichem Essen entlastende<br />
– oder eine operative Behandlung<br />
in Frage. Endoskopisch unterstützte<br />
Techniken erlauben hier Operationen<br />
ohne äusserlich sichtbare Narben.<br />
«Je früher ein solcher Bruch<br />
operativ versorgt wird, desto besser»,<br />
sagt Martin Rücker.<br />
Der leitende Arzt der Klinik,<br />
Harald Essig, erklärt, dass sie in diesem<br />
Bereich mit computerassistierter<br />
Chirurgie arbeiteten. So könne<br />
er die Operation simulieren und<br />
Implantate massanfertigen. «Fehlt<br />
ein Zahn, kann er zunächst provisorisch<br />
und dann nach Abschluss des<br />
Wachstums definitiv ersetzt werden<br />
– also bei Mädchen allerfrühestens<br />
mit etwa 16 Jahren, bei Jungen zwei<br />
Jahre später.» Kieferchirurg Rücker<br />
empfiehlt, alle Kinder mit Verletzungen<br />
im Mundbereich auch hinsichtlich<br />
eines Schädel-Hirn-Traumas<br />
zu überwachen und je nach<br />
Sturz abzuklären, ob die Halswirbelsäule<br />
verletzt sei. Und: «Bei offenen<br />
Wunden braucht es eine Impfung<br />
gegen Wundstarrkrampf.»<br />
Wo Gefahren lauern<br />
Als Risikosportarten nennt Rücker<br />
zuerst Fussball. «Es ist eine häufige<br />
Sportart, man bekommt schnell einmal<br />
einen Ellbogen ins Gesicht.»<br />
Ebenfalls weit oben rangieren Pferdeunfälle.<br />
Harald Essig erklärt:<br />
«Wenn Pferde den Kopf schnell drehen,<br />
kann dies sehr heftig sein.»<br />
Risikobehaftet sind auch Eishockey,<br />
Boxen, Mountainbiken oder «aggressive»<br />
Mannschftssportarten wie<br />
Rugby. «Bei diesen Sportarten tragen<br />
heute aber alle einen Schutz», sagt<br />
Harald Essig. «Idealerweise wird<br />
dieser individuell von einem Spezialisten<br />
angepasst.»<br />
Doch Zahnarzt van Waes und die<br />
beiden Kiefer chirurgen relativieren<br />
diese Gefahren, denn die meisten<br />
Zahnunfälle passieren im normalen<br />
Alltag.<br />
Petra Seeburger<br />
ist Intensivpflegefachfrau, Journalistin und<br />
Kommunikationsspezialistin. Sie arbeitet<br />
seit über 30 Jahren im Gesundheitswesen.<br />
Herausgeschlagene Zähne<br />
muss man in Milch oder<br />
Speichel transportieren.<br />
Was zu tun ist …<br />
… bei Unfällen mit bleibenden Zähnen<br />
Abgebrochene Zähne: Je mehr abgebrochen ist,<br />
desto dringender die Behandlung.<br />
Gelockerte Zähne: Behandlung dringend, der<br />
Zahn muss eventuell fixiert werden.<br />
Verschobene Zähne: Behandlung dringend, der<br />
Zahn sollte an seinen Platz gerückt werden.<br />
Hineingeschlagene Zähne: Dringende<br />
Behandlung, den Zahn an seine Position<br />
zurückbringen.<br />
Herausgeschlagene Zähne: Sofort zum Zahnarzt!<br />
Dort wenn möglich Zahn replantieren. Zahn am<br />
besten in einer Zahnrettungsbox in Milch oder<br />
Speichel transportieren. Zahn bei sichtbarer<br />
Verschmutzung kurz unter fliessendem Wasser<br />
abspülen, auf keinen Fall abreiben.<br />
… bei Unfällen mit Milchzähnen<br />
Abgebrochene Zähne: Innert Tagen zum Zahnarzt.<br />
Gelockerte Zähne: Behandlung ist nicht dringend.<br />
Verschobene Zähne: Möglichst sofort zum<br />
Zahnarzt, damit der Zahn wieder an seinen Platz<br />
gedrückt werden kann.<br />
Herausgeschlagene Zähne: Ausgeschlagene<br />
Milchzähne werden nicht replantiert, innert Tagen<br />
zum Zahnarzt gehen.<br />
Hineingeschlagene Zähne: Behandlung ist selten<br />
nötig, aber Zahnarzt informieren wegen hohem<br />
Folgeschäden-Risiko für bleibenden Zahn!<br />
… in jedem Fall<br />
Jeden Zahnunfall sofort dem Zahnarzt melden.<br />
– Was ist passiert, wann, wie, wo?<br />
– Alter des Kindes?<br />
– Milch- oder bleibende Zähne betroffen?<br />
Zahnunfälle immer der Versicherung melden!<br />
Auch Bagatellunfälle können Komplikationen<br />
nach sich ziehen.<br />
Quelle und weitere Informationen:<br />
www.dent.uzh.ch > Für Patienten > Downloads ><br />
Merkblätter – Schulzahnpflege – Kinder ><br />
Zahnunfälle<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>63
Psychologie & Gesellschaft<br />
Können Kinder zur<br />
Rechenschaft gezogen werden?<br />
Verursachen Kinder mutwillig einen Schaden, können sie von Gesetzes<br />
wegen haftbar gemacht werden. Was Eltern über das Thema Haftung und<br />
Urteilsfähigkeit von Kindern wissen müssen. Text: Susan Edthofer<br />
«Ein Schadenfall<br />
kann die Zukunft<br />
eines Kindes schwer<br />
beeinträchtigen.»<br />
Kinder treiben manchmal auch Unfug.<br />
Meistens verläuft alles harmlos. Doch was<br />
passiert, wenn sie mutwillig etwas kaputt<br />
machen oder jemandem wehtun? In der<br />
Zeitschrift «Beobachter» wird dies am Beispiel<br />
eines neunjährigen Jungen erläutert: Ein Knabe<br />
spielte in einer Scheune mit Streichhölzern und entfachte<br />
einen Brand. Er wurde als urteilsfähig befunden, da<br />
Kinder in diesem Alter wissen sollten, dass das Spielen<br />
mit Streichhölzern gefährlich ist. Eltern sind also nicht<br />
immer für das Handeln ihres Kindes verantwortlich.<br />
Dass Kinder von Gesetzes wegen als urteilsfähig gelten,<br />
sobald sie die Folgen ihres Tuns abschätzen können, ist<br />
vielen Eltern kaum oder zu wenig bewusst.<br />
Haftung aufgrund von Urteilsfähigkeit<br />
Eltern haften laut Gesetz für ihre minderjährigen Kinder,<br />
wenn sie ihre Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen<br />
haben. Ist etwas passiert, wird also erst einmal geklärt,<br />
ob Eltern auf ihr Kind aufgepasst haben. Im folgenden<br />
Beispiel stellte sich die Frage, ob der Vater seiner Aufsichtspflicht<br />
nachgekommen ist, als er seinen beiden<br />
Kleinkindern beim Schlitteln zuschaute. Obwohl er<br />
dabei war, konnte er nicht verhindern, dass seine Kinder<br />
eine Frau rammten, die sich beim Sturz verletzte. Das<br />
Gericht entschied zugunsten des Vaters.<br />
Haben Eltern ihre Aufsichtspflicht erfüllt, müssen sie<br />
rechtlich gesehen nicht für einen Schaden aufkommen.<br />
Das bedeutet, dass das Kind einen vorsätzlich oder fahrlässig<br />
zugefügten Schaden selber berappen muss. Die<br />
Geschädigten wenden sich natürlich trotzdem eher an<br />
die Eltern als an die Kinder oder Jugendlichen. Zum<br />
Beispiel wenn beim Nachbarhaus die Fensterscheibe zu<br />
Bruch ging, obwohl dort nicht Fussball gespielt werden<br />
darf. Um das Verhältnis zu den Nachbarn nicht zu trüben,<br />
kommen Eltern meist für den Schaden auf, auch<br />
wenn sie ihre Aufsichtspflicht nicht vernachlässigt<br />
haben.<br />
Damit das Kind aus einem solchen Vorfall etwas<br />
lernt, sollte es miteinbezogen werden und vom Brief an<br />
die Haftpflichtversicherung bis zur Entschuldigung bei<br />
Susan Edthofer ist Redaktorin<br />
im Bereich Kommunikation<br />
den Nachbarn am Prozess teilnehmen. von Pro Juventute.<br />
Meistens muss noch ein Selbstbehalt beglichen<br />
werden. Durch die Mithilfe beim<br />
Gärtnern oder Autoputzen bekommt das Kind Gelegenheit,<br />
eine Dummheit wieder in Ordnung zu bringen.<br />
Mit Schulden ins Erwachsenenleben starten<br />
Komplizierter wird es bei hohen Schadenssummen. In<br />
der Regel haben Kinder nicht genügend Geld, um für<br />
grössere Schäden aufzukommen. Im Härtefall werden<br />
sie erst dann belangt, wenn sie selber verdienen. Ein<br />
leichtsinnig herbeigeführter Schadenfall kann die<br />
Zukunft eines jungen Menschen also nachhaltig beeinträchtigen.<br />
Wichtig ist, dass Eltern ihre Kinder über<br />
diese Rechtslage und die Auswirkungen aufklären.<br />
Was Eltern tun können – vier Tipps<br />
Nehmen Sie Ihre Aufsichtspflicht wahr. Rechtlich gesehen müssen<br />
Sie in einem solchen Fall nicht für einen Schaden aufkommen, den<br />
Ihr Kind verursacht hat.<br />
Machen Sie Ihr Kind darauf aufmerksam, dass es für eine vorsätzliche<br />
und mutwillige Tat gesetzlich bestraft und zur Kasse gebeten<br />
werden kann.<br />
Damit das Kind aus einem Vorfall etwas lernt, lassen Sie es am Brief<br />
an die Haftpflichtversicherung und an der Entschuldigung bei den<br />
Nachbarn teilhaben.<br />
Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, eine Dummheit durch eine<br />
Gegenleistung in Ordnung zu bringen, zum Beispiel durch Mithilfe<br />
beim Gärtnern oder Autoputzen.<br />
Pro Juventute Elternberatung<br />
Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von<br />
Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder<br />
online (www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag,<br />
zur Erziehung stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen keine<br />
Kosten an. In den Elternbriefen finden Eltern Informationen für den<br />
Erziehungsalltag. Das Thema Haftung und Urteilsfähigkeit wird im Extrabrief<br />
«Geld und Konsum im Familienalltag» behandelt.<br />
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64 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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2016 sind moderne Familienzimmer und neue Familiensuiten entstanden,<br />
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Februar <strong>2017</strong>65<br />
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0317
Digital & Medial<br />
Meine Daten gehören mir!<br />
Ein Leben ohne Internet ist heute nicht mehr denkbar. Wie können wir schon Kindern<br />
beibringen, ihre Daten online zu schützen? «Seid Abenteurer unter fremden Namen!»<br />
und zehn weitere Tipps von Sicherheitsexperte Martin Hellweg. Text: Bianca Fritz<br />
Datenschutz ist ein<br />
furchtbar unangenehmes<br />
Thema. Viele<br />
haben aufgehört,<br />
sich mit Sicherheitshinweisen<br />
und -tipps zu beschäftigen.<br />
Weil diese endlos und widersprüchlich<br />
erscheinen und einem<br />
unweigerlich das Gefühl geben, dass<br />
man das Internet sich und seinen<br />
Kindern am besten verbieten sollte.<br />
Umso erstaunlicher, dass gerade<br />
Sicherheitsexperte Martin Hellweg,<br />
der seine Daten so leidenschaftlich<br />
schützt wie kaum ein Zweiter, beim<br />
Treffen mit Fritz+Fränzi Handy und<br />
Laptop immer griffbereit hat. «Ich<br />
will den Menschen nicht den Spass<br />
verderben», betont er. «Ich will sie<br />
aber darauf aufmerksam machen,<br />
dass im Internet wirklich jeder eine<br />
öffentliche Person ist.»<br />
Normalerweise berät Hellweg<br />
Firmen oder Prominente, die Opfer<br />
einer digitalen Attacke wurden oder<br />
sich davor schützen wollen. Heute<br />
aber bricht er seine Tipps für Eltern<br />
herunter. «Je früher wir Kindern ein<br />
paar praktische Verhaltensregeln für<br />
das digitale Leben beibringen, umso<br />
besser», sagt er. Denn die Komplexität<br />
des digitalen Lebens ist bei Kin-<br />
dern noch überschaubar. Behörden<br />
oder Geheimdienste haben an dem,<br />
was Kinder tun, noch kein grosses<br />
Interesse. «Darum kann man zu -<br />
nächst auf einige wenige Dinge<br />
fokussieren und diese Kindern spielerisch<br />
nahebringen», sagt Hellweg.<br />
Seine zehn Tipps für Kinder und<br />
Eltern – plus ein Spezialtipp für die,<br />
die langsam erwachsen werden:<br />
1. Seid Abenteurer unter<br />
fremden Namen!<br />
Es muss Kindern Spass machen,<br />
erfundene Namen anzunehmen und<br />
im Internet zu nutzen wie in einer<br />
Abenteuergeschichte. «Es gibt häufig<br />
keinen Grund, seinen echten Namen<br />
zu benutzen», sagt Hellweg. Die<br />
grossen Datenkraken wissen so zwar<br />
anhand der Geräte, die wir nutzen,<br />
wer da grad aktiv ist – aber jemand,<br />
der uns in Google nachschaut, kann<br />
uns nicht mehr so leicht auschecken.<br />
Das gilt zum Beispiel für den Arbeitgeber,<br />
bei dem sich der Jugendliche<br />
für eine Lehrstelle bewirbt.<br />
Sichere Passwörter haben mehr<br />
als zwölf Zeichen und tragen<br />
niemals den Namen des Kindes.<br />
2. Anwendungen nicht<br />
miteinander verknüpfen<br />
Anwendungen sollte man niemals<br />
verknüpfen. Es sieht immer so harmlos<br />
aus und ist so herrlich bequem,<br />
wenn ein neues Programm anbietet:<br />
Loggen Sie sich mit Ihrem Facebook-Profil<br />
ein. Hellweg aber warnt:<br />
«Was nicht dort steht ist: Sie erlauben<br />
uns damit, Ihre Daten abzusaugen<br />
und mit Ihnen Werbung zu machen.»<br />
Darum: Für die neue Anwendung<br />
einen der zugelegten Fantasienamen<br />
mit einem neuen Passwort benutzen.<br />
3. Sichere Passwörter …<br />
… haben mehr als zwölf Zeichen,<br />
haben nichts mit Geburtstagen oder<br />
dem Namen vom Sprössling zu tun,<br />
werden regelmässig aktualisiert und<br />
sind niemals, wirklich niemals dieselben<br />
für mehrere Konten. Wie soll<br />
man sich so viele komplexe Codes<br />
merken? Hellweg hat eine spannende<br />
Methode gefunden: Man stellt<br />
sich drei Fragen, davon eine, die sich<br />
auf die jeweilige Applikation, die<br />
Bild: iStockphoto<br />
66 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Benutzen wir<br />
im Internet<br />
Fantasienamen,<br />
kann man uns<br />
weniger gut<br />
nachspionieren.<br />
man öffnen will, bezieht. Zum Beispiel:<br />
Was ist meine Lieblingsfarbe? Antwort:<br />
Gelb.<br />
Was ist mein Lieblingstier? Antwort:<br />
Nashorn.<br />
Was ist der erste Buchstabe der Applikation,<br />
die dieses Passwort öffnen<br />
soll, und wie viele Buchstaben hat<br />
der Name der Applikation? Antwort<br />
etwa für Twitter: T und 7.<br />
Nun hängt man die ersten beiden<br />
Antworten zusammen. Das ergibt:<br />
GelbNashorn. Die dritte Antwort<br />
fügt man an der Stelle ihrer Zahl ein,<br />
hier also der siebten Stelle. Das ergibt<br />
«GelbNaT7shorn», ein schwierig<br />
zu knackendes Passwort, das<br />
noch sicherer wird, wenn man an<br />
einer festen Stelle auch noch ein Sonderzeichen<br />
einfügt oder z. B. für<br />
jedes a ein @, und würde dann so<br />
heissen: «GelbN@T7shorn».<br />
Die ersten paar Male muss man<br />
beim Bilden des Passworts noch<br />
nachdenken – aber bald geht es von<br />
selbst. Man muss sich kein einziges<br />
Passwort mehr merken, nur die drei<br />
Fragen, und hat dennoch für jedes<br />
Konto ein komplett neues Passwort.<br />
Und: Will man die Passwörter nach<br />
ein paar Monaten wechseln, so legt<br />
man sich einfach neue Fragen zu.<br />
4. Browse auch mal anonym!<br />
Was wir im Internet machen, sagt<br />
viel über uns aus. Die klar auf uns<br />
zugeschnittene Werbung, nachdem<br />
wir ein Produkt gegoogelt haben, ist<br />
das eine. Problematischer wird es,<br />
wenn Datenkraken diese Infos etwa<br />
an Versicherungen oder Banken verkaufen.<br />
Plötzlich gibt es dann keine<br />
Zusatzversicherung mehr, weil mein<br />
Kind sich für Risikosportarten interessiert<br />
oder ständig schwere Krankheiten<br />
googelt. Bringen Sie also<br />
Ihrem Kind bei, zwei Browser zu<br />
nutzen – den regulären für ungefährliche<br />
Anfragen und einen anonymen<br />
Browser für sensible Themen. Hellweg<br />
empfiehlt den Torbrowser: www.<br />
torproject.org.<br />
5. Lerne zu löschen!<br />
Gerade Jugendliche sammeln gerne<br />
Apps auf ihrem Smartphone. >>><br />
Datenriesen verkaufen diese Infos<br />
über unser Netzverhalten weiter.<br />
Das kann problematisch werden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>67
Digital & Medial<br />
Ausgerechnet die Lieblings-App<br />
unserer Kinder, WhatsApp,<br />
ist des Datenschützers Alptraum.<br />
>>> Hinter fast jeder App steckt<br />
auch eine Anmeldung zu einem<br />
Internetkonto. Je grösser der Speicher<br />
des Smartphones, umso grösser<br />
die Gefahr, dass nie aussortiert wird.<br />
Jede dieser Apps aber sammelt<br />
Daten. Machen Sie es sich also zur<br />
Gewohnheit, alle paar Monate mit<br />
Ihrem Kind dessen Apps durchzugehen<br />
und zu fragen: «Was benutzt<br />
du noch?» Was nicht gebraucht wird,<br />
wird gelöscht. Wichtig: Zuerst das<br />
Konto löschen – das geht meist<br />
innerhalb der App. Erst dann die<br />
App runterwerfen. Dasselbe gilt<br />
übrigens auch für Programme auf<br />
dem PC.<br />
6. Sorgenkind WhatsApp<br />
Für Datenschützer wie Martin Hellweg<br />
ist ausgerechnet die Lieblings-<br />
App aller Jugendlichen ein Alptraum.<br />
WhatsApp ist so aufgebaut,<br />
dass es ohne den Zugriff auf alle<br />
Nummern im Telefonbuch nicht<br />
nutzbar ist. Und alle Daten laufen<br />
über Server fern der Heimat, die<br />
nicht dem Schweizer Datenschutz<br />
unterliegen. Ausserdem gehört das<br />
Netzwerk zu Facebook – und dass<br />
dieses Megaunternehmen mit den<br />
undurchdringlichen Datenschutzerklärungen<br />
die wertvollen Daten aus<br />
den scheinbar privaten Unterhaltungen<br />
nutzt, wissen wir spätestens, seit<br />
uns die Zustimmung zur Weiterleitung<br />
der WhatsApp-Daten an Facebook<br />
abgenötigt wurde. Sicherheitsexperte<br />
Hellweg empfiehlt daher<br />
ganz klar, auf die sicherere Variante<br />
Threema umzusteigen und dies auch<br />
allen Freunden zu raten. «Gerade bei<br />
Kindern ist der Zeitpunkt perfekt,<br />
weil sie sich in WhatsApp noch nicht<br />
etabliert haben. Threema kann das<br />
Gleiche, speichert aber die Kontaktdaten<br />
nicht bei sich. Und wer Whats-<br />
App schon hat, kann ja zunächst<br />
beide Messenger parallel nutzen –<br />
bis endlich alle die Notwendigkeit<br />
erkannt haben.» Hellweg gibt übrigens<br />
jedem Freund, der Threema<br />
installiert, einen Drink aus – das<br />
wirkt.<br />
7. GPS ausschalten<br />
Viele Apps möchten über die Position<br />
des Handys Bescheid wissen.<br />
Beispiel Instagram: Wenn man es der<br />
App erlaubt, erstellt sie im Hintergrund<br />
eine Karte, die zeigt, wo welches<br />
Foto aufgenommen wurde. Und<br />
zwar auf die Hausnummer genau.<br />
Wer also oft zu Hause fotografiert,<br />
verrät auch seine Privatadresse. Was<br />
für Einbrecher besonders dann<br />
spannend ist, wenn plötzlich Ferienfotos<br />
live gepostet werden … Also:<br />
GPS-Nutzung nur den Apps erlauben,<br />
die diese auch wirklich brauchen<br />
– zur Navigation zum Beispiel.<br />
Oder GPS ganz ausschalten und nur<br />
anmachen, wenn man es gerade<br />
braucht. Das spart auch Akku.<br />
8. Bist du es wirklich?<br />
Wenn jemand nach Informationen,<br />
Bildern oder gar Geld fragt, ist<br />
immer Skepsis angebracht. Selbst<br />
wenn die Nachricht vom Handy oder<br />
von der E-Mail-Adresse eines Freundes<br />
kommt. Handys können gestohlen<br />
und Mailkontos gehackt sein.<br />
Was hilft, ist die Bitte um einen kurzen<br />
Videochat. Oder man ruft auf<br />
dem Festnetz an, um nachzufragen.<br />
9. Gegen unerwünschte<br />
Einblicke …<br />
… hat Martin Hellweg ein einfaches<br />
Mittel: Kamera überdecken. Die<br />
Webcam an seinem Laptop ist mit<br />
einem kleinen Klebepunkt blockiert,<br />
den er nur abnimmt, wenn er die<br />
Kamera gerade benutzt. So kann ihn<br />
niemand in seiner Wohnung sehen,<br />
wenn er ihn nicht sehen soll – denn<br />
für Hacker ist das Aktivieren der<br />
Kamera ein Leichtes. Auch beim<br />
Smartphone braucht es ein Bewusstsein<br />
dafür, dass dieses jederzeit spicken<br />
und die Bilder verbreiten könnte.<br />
Eine Klapphülle schützt vor dem<br />
ständigen Blick der Frontkamera,<br />
und wenn das Handy mit der<br />
Rückenkamera auf dem Tisch liegt<br />
oder in der Tasche bleibt, gibt das<br />
ebenfalls nur langweilige Bilder.<br />
10. Die erste eigene<br />
E-Mail-Adresse<br />
Diese sollte laut Martin Hellweg<br />
nicht von einem Gratisanbieter sein.<br />
Denn diese leben vom Auswerten<br />
der Informationen, die sie aus den<br />
privaten E-Mails ziehen und an grosse<br />
Anbieter verkaufen. Dazu werden<br />
sie immer wieder von Hackern<br />
geknackt, die damit Schlimmes<br />
anstellen können. Um das zu verhindern,<br />
reserviert man sich für wenig<br />
Geld eine eigene Domain, z. B. mit<br />
VornameNachname.ch, und richtet<br />
dort E-Mail-Adressen ein, also zum<br />
Beispiel Rolf@RolfMuster.ch. «Eine<br />
Webseite muss man nicht aufschalten<br />
– aber später wird der Jugendliche<br />
dankbar sein, wenn er eine seriöse<br />
Visitenkarte im Netz aufbauen<br />
möchte und die passende Domain<br />
schon besitzt», sagt Hellweg.<br />
11. Spezialtipp: Tu nur, was du<br />
nicht lassen kannst!<br />
Wird aus dem Kind ein Jugendlicher,<br />
wird es immer wichtiger, an die eigene<br />
Zukunft zu denken. Bei Erwachsenen<br />
ist dies der erste Tipp, den<br />
Hellweg gibt: Bei allem Handeln<br />
abwägen, ob das digitale Risiko und<br />
die möglichen Kosten in einem<br />
gesunden Verhältnis zum Nutzen<br />
stehen. «Es ist manchmal erschreckend,<br />
dass wir für einen digitalen<br />
Kick bereit sind, uns eine mögliche<br />
Zukunft zu ruinieren», sagt Hellweg.<br />
Hier sieht er aber auch eine der<br />
grössten Herausforderungen für die<br />
Eltern – und deshalb steht der Tipp<br />
hier zum Schluss: Wie macht man<br />
Jugendlichen klar, dass ihr Handeln<br />
im Internet wie ein digitales Tattoo<br />
68 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Urlaub auf Familisch<br />
Mit der Nr. 1 für Familienferien<br />
ist? Das Bikinibild zu posten, mag<br />
sich für den Moment cool anfühlen<br />
und Komplimente einbringen. Aber<br />
das Bild kann einen auch ein Leben<br />
lang begleiten und ist potenziell für<br />
jeden sichtbar. Also fragen Sie Ihr<br />
Kind doch mal: «Würdest du dieses<br />
Bild auch im Grossverteiler platzieren,<br />
wo es dein Leben lang aufhängt?»<br />
>>><br />
Diese Tipps stellen nur eine Auswahl dar. Wenn<br />
aus Kindern Erwachsene werden, werden nach<br />
und nach immer mehr Sicherheitstipps wichtig.<br />
52 hat Martin Hellweg in seinem Buch zusammengefasst:<br />
Martin Hellweg: Safe Surfer. 52 Tipps zum<br />
Schutz Ihrer Privatsphäre im Digitalen Zeitalter.<br />
Econ, 2014. 190 Seiten, rund 18 Franken.<br />
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MIT MARTIN HELLWEG!<br />
Am Freitag, 7. April <strong>2017</strong>, von 16 bis 19 Uhr gibt<br />
Martin Hellweg in Zürich gemeinsam mit dem<br />
Rechtsexperten Matthias Schwaibold einen<br />
Workshop für Eltern zur Internetsicherheit von<br />
Kindern. Hier können auch individuelle Bedenken<br />
und Probleme angesprochen werden. Und das<br />
Buch «Safe Surfer» gibt es noch obendrauf.<br />
Fritz+Fränzi verlost 15 Karten für den Workshop<br />
(im Wert von je 80 Franken für einen Elternteil<br />
oder 120 Franken für ein Elternpaar). Teilnahme<br />
auf www.fritzundfraenzi.ch/datenschutzseminar.<br />
Wer kein Glück hatte, kann auch Tickets kaufen<br />
auf: www.vbodyguard.com/elternseminar.<br />
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Das Alphotel Hirschegg Hotelbetriebsgesellschaft mbH, Schlössleweg 6, A-6992 Hirschegg<br />
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Weiss Christian e. U., Holzleiten 86, A-6416 Obsteig<br />
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Zur Person<br />
Martin Hellweg, geboren 1967, gründete<br />
2007 den Virtual Bodyguard – eine Firma,<br />
die sich auf den Schutz der Privatsphäre<br />
spezialisiert hat. Privat bereist er die Welt<br />
und macht Musik.<br />
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Februar <strong>2017</strong>69<br />
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Schützen Sie Ihre<br />
Kinder vor gefährdenden<br />
Inhalten?<br />
Bei der Altersfreigabe von Büchern, Filmen<br />
oder Computerspielen gibt es teilweise<br />
erhebliche Unterschiede. Von Medium zu<br />
Medium. Von Kanton zu Kanton. Ein kurzer<br />
Einblick. Text: Michael In Albon<br />
Bild: Swisscom<br />
Bei Kinder- und Jugendbüchern<br />
fehlen verbindliche<br />
Vorgaben für die<br />
Altersempfehlung. Deshalb<br />
gilt in der Branche<br />
das Alter der Hauptperson einer Ge -<br />
schichte als gängiger Richtwert. Da -<br />
neben berücksichtigen Verlage für<br />
ihre Einstufung oft noch Handlung,<br />
Sprache, Thema und Komplexität<br />
des Buches.<br />
Für welche Altersstufe ein Kinofilm<br />
freigegeben wird, prüft die<br />
Schweizerische Kommission Ju -<br />
gendschutz (filmrating.ch). Sie<br />
unterscheidet dabei die Stufen 0, 6,<br />
10, 12, 16 und 18 Jahre. Das klingt<br />
eindeutiger, als es in der Realität ist.<br />
Denn über die Altersempfehlungen<br />
von Kinofilmen setzen sich viele<br />
Kinobetreiber hinweg. So kann es<br />
sein, dass ein Film in St. Gallen und<br />
Luzern für Vierjährige zugelassen<br />
ist, in Bern für Sechsjährige und in<br />
Zürich erst für Achtjährige.<br />
Und bei Computerspielen? Hier<br />
gilt die Pan-European Game Information<br />
(PEGI), welche auch die<br />
wichtigsten Spielkonsolenhersteller<br />
wie Sony und Nintendo unterstützen.<br />
Die Symbole des PEGI-Einstufungssystems<br />
sind auf der Vorderund<br />
der Rückseite der Verpackung<br />
aufgedruckt und unterscheiden die<br />
Altersgruppen 3, 7, 12, 16 und 18.<br />
Sie weisen darauf hin, ob ein Spiel<br />
nach Gesichtspunkten des Jugendschutzes<br />
für eine Altersgruppe ge -<br />
eignet ist oder nicht. Aber auch hier<br />
ist Vorsicht geboten: Die Freigabe in<br />
der Schweiz erfolgt nach dem PEGI-<br />
System, auf einer in Deutschland<br />
produzierten Spiele-DVD kann aber<br />
die Alterseinstufung der USK<br />
(Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle)<br />
mit einer anderen Empfehlung<br />
daherkommen.<br />
Altersfreigabe ist kein Gütesiegel<br />
Ein Freigabe-Label bedeutet lediglich<br />
«schadet nicht»; zusätzliche<br />
inhaltliche Kriterien erhalten Eltern<br />
damit nicht. Nur ist es mit der<br />
Altersklassifizierung nicht getan.<br />
Das wissen Eltern meist aus Erfahrung:<br />
Jedes Kind entwickelt sich<br />
individuell, hat seinen eigenen Charakter.<br />
So hält manchmal ein dreijähriges<br />
Kind die Spannung einer<br />
Geschichte besser aus als ein sechsjähriges.<br />
Oder ein Zehnjähriger ist<br />
überfordert, wo ein Gleichaltriger<br />
unterfordert ist – beim selben Buch,<br />
Film oder Computergame.<br />
Inhaltliche Kriterien sind also<br />
nötig, um ein Produkt für Kinder<br />
oder Jugendliche als geeignet und<br />
gut zu bezeichnen. Bei allen Medien.<br />
Gut ist, wenn ein Produkt Themen<br />
aufgreift, mit denen sich Kinder und<br />
Jugendliche identifizieren können.<br />
Themen, die ihre Welt betreffen und<br />
Kinder und Jugendliche bereichern.<br />
Auch Geschichten, die Mut machen,<br />
sind wichtig. Und solche, die Emotionen<br />
ansprechen und Fragen be -<br />
antworten, die Kinder und Jugendliche<br />
gerade umtreiben.<br />
Für Sie als Eltern heisst das weiterhin:<br />
Interessieren Sie sich für die<br />
Welt Ihrer Kinder – für ihre Bücher,<br />
Filme, Computerspiele. Fragen Sie<br />
nach und sprechen Sie darüber. Und<br />
machen Sie sich selbst ein Bild.<br />
Haben Sie Zweifel? Dann legen Sie<br />
das Produkt noch ein, zwei Jahre in<br />
den Schrank. Erziehen Sie Ihre Kinder<br />
zu wohlwollend kritischen Geistern.<br />
Und erleben Sie zusammen,<br />
wie man Inhalte kritisch hinterfragt<br />
und beurteilt. Immer wieder.<br />
Michael In Albon<br />
Michael In Albon ist Beauftragter<br />
Jugendmedienschutz und Experte<br />
Medienkompetenz von Swisscom.<br />
Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />
Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />
digitalen Medien im Familienalltag.<br />
swisscom.ch/medienstark<br />
70 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Digital & Medial<br />
«Oh nein, das frisst unser Papier auf!»<br />
Ein Faxgerät ist für ein 7-jähriges Kind in der<br />
heutigen Zeit halt ein Mysterium.<br />
Tweet von @neufelich<br />
Sind Tiere gut für Kinder?<br />
Das Videointerview<br />
Unser Redaktionshund Sukhi weiss, warum es<br />
für Familien ganz besonders wichtig ist, sich die<br />
Anschaffung eines Haustieres gut zu überlegen.<br />
Er selbst hat nämlich früher einer Familie gehört und<br />
Fritz+Fränzi-<br />
App laden,<br />
starten, diese Seite<br />
scannen und<br />
das Video-Interview<br />
sehen.<br />
wurde dann weggegeben, als er für die Kinder nicht mehr so interessant war. Und<br />
weil er sie heute noch vermisst, darf er unsere kleine Videoserie präsentieren.<br />
Wir haben David Naef vom Schweizer Tierschutz STS und vom Kinderclub KRAX<br />
getroffen und ihm neun Fragen zum Thema Haustiere und Familie gestellt. Von der<br />
Frage, ob Tiere überhaupt wichtig sind für Kinder, bis hin zur Frage, wie man den<br />
Tod eines Haustiers verarbeiten kann. Das Interview lief als Serie auf unserer<br />
Facebook-Seite www.facebook.com/fritzundfraenzi. Jetzt kann das ganze<br />
Interview in unserer App angesehen werden.<br />
Bilder: ZVG<br />
Jugend an die Kamera!<br />
Jugendliche, die sich fürs Filmemachen oder<br />
einfach für spannende neue Produk tionen<br />
von Gleichaltrigen interessieren, sind<br />
bei den Jugendfilmtagen vom 15. bis zum<br />
19. März in Zürich eine wichtige Adresse.<br />
Bei diesem Event handelt es sich um das<br />
bedeutendste Kurzfilmfestival für junge<br />
Filmschaffende der Schweiz. An allen Tagen<br />
wird es spannende Kurzfilmvorführungen<br />
geben, ausserdem finden Workshops und<br />
Ateliers statt, in denen die Jugendlichen<br />
gegen einen kleinen Kostenbeitrag das<br />
Film handwerk und die richtige Präsen tation<br />
ihrer Filme erlernen können. Das Highlight<br />
ist natürlich die Preisverleihung, bei<br />
der auch das Publikum mitbestimmen<br />
darf. Anmeldung zu den Workshops und<br />
weitere Infos zum diesjährigen Programm<br />
auf jugendfilmtage.ch.<br />
Serious Game:<br />
Der Datenschutz-Praktikant<br />
Wer nutzt eigentlich unsere Daten, was sollte man heraus geben<br />
und was eher nicht? Im neuen Computerspiel DATAK wird der<br />
Spieler als Praktikant des Stadtpräsidenten eingestellt, er soll ihn<br />
bei Entscheidungen in Sachen Datenschutz unterstützen. Dabei<br />
helfen ihm diverse Youtube-Stars mit Sicherheitstipps – und<br />
natürlich das eigene Gespür. Die Aufgaben sind ganz schön knifflig,<br />
denn alle Daten einfach zu verweigern, macht unbeweglich und<br />
wird teuer. Wir wurden schon nach drei Tagen im Amt wieder vor<br />
die Tür gesetzt – wie lange halten Sie durch? Wie lange Ihre<br />
Kinder? Das Spiel soll ohne Zeigefinger sensibilisieren und wird<br />
von der Plattform jugendundmedien.ch unterstützt. rts.ch/datak<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>71
Service<br />
Vielen Dank<br />
an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />
Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsoren<br />
Dr. iur. Ellen Ringier<br />
Walter Haefner Stiftung<br />
Credit Suisse AG<br />
Rozalia Stiftung<br />
UBS AG<br />
Georg und Bertha<br />
Schwyzer-Winiker Stiftung<br />
UBS AG<br />
Impressum<br />
17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Präsidentin des Stiftungsrates:<br />
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />
Tel. 044 400 33 11<br />
(Stiftung Elternsein)<br />
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />
ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />
Redaktion<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />
n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />
Verlag<br />
Fritz+Fränzi,<br />
Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />
Tel. 044 277 72 62,<br />
info@fritzundfraenzi.ch,<br />
verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />
www.fritzundfraenzi.ch<br />
Business Development & Marketing<br />
Leiter: Tobias Winterberg,<br />
t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />
Anzeigen<br />
Administration: Dominique Binder,<br />
d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 62<br />
Art Direction/Produktion<br />
Partner & Partner, Winterthur<br />
Bildredaktion<br />
13 Photo AG, Zürich<br />
Korrektorat<br />
Brunner AG, Kriens<br />
Auflage<br />
(WEMF/SW-beglaubigt 2015)<br />
total verbreitet 103 920<br />
davon verkauft 17 206<br />
Preis<br />
Jahresabonnement Fr. 68.–<br />
Einzelausgabe Fr. 7.50<br />
iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />
Abo-Service<br />
Galledia Verlag AG Berneck<br />
Tel. 0800 814 813, Fax 058 344 92 54<br />
abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />
Für Spenden<br />
Stiftung Elternsein, 8008 Zürich<br />
Postkonto 87-447004-3<br />
IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />
Inhaltspartner<br />
Institut für Familienforschung und -beratung<br />
der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />
und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />
Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation / Forum<br />
Bildung / Elternnotruf / Pro Juventute /<br />
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik<br />
Zürich / Schweizerisches Institut für Kinderund<br />
Jugendmedien<br />
Stiftungspartner<br />
Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />
Zürich / Schweizerische Vereinigung der<br />
Elternorganisationen / Marie-Meierhofer-Institut<br />
für das Kind / Schule und Elternhaus Schweiz /<br />
Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter<br />
und Väter SVAMV / Kinderlobby Schweiz /<br />
kibesuisse Verband Kinderbetreuung Schweiz<br />
DIE GRATIS-KREDITKARTE.<br />
3000<br />
PUNKTE<br />
Bis 28.2.<strong>2017</strong> beantragen und<br />
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anfordern unter 044 439 40 27 oder in Ihrer<br />
Migros abholen.<br />
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Keine Jahresgebühr, auch in den Folgejahren<br />
Kostenlose Partnerkarte<br />
Weltweit Cumulus-Punkte sammeln<br />
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Buchtipps<br />
Der exakte<br />
Situationsplan<br />
der beiden<br />
Detektivinnen<br />
zum Mord im<br />
Internat.<br />
Eine heisse<br />
Spur für<br />
Kommissar<br />
Maroni<br />
Mit seinen<br />
Rätselbild-<br />
Krimis war Jürg<br />
Obrist jahrelang im Schülermagazin<br />
Spick vertreten. Im neusten Buch<br />
über Kommissar Maroni laden<br />
40 Minikrimis zum genauen<br />
Hinschauen und Miträtseln ein.<br />
dtv, 2016, Fr. 19.90, ab 8 Jahren<br />
Rätsel lösen, Geheimnisse lüften – nichts<br />
ist spannender! Neben Krimiserien für<br />
Kinder machen auch andere Formate<br />
kleineren und grösseren Spürnasen Lust<br />
aufs Zweifeln, Rätseln und Mitfiebern.<br />
Endlich ein richtiger Fall!<br />
Zwei Schülerinnen und ihr Detektivbüro.<br />
Miranda Lux –<br />
Denken heisst<br />
Zweifeln oder<br />
warum jede<br />
Geschichte zwei<br />
Seiten hat<br />
Als Mitglied des<br />
Zweifelwerks ist<br />
Miranda Lux Verschwörungen und<br />
falschen Wahrheiten auf der Spur.<br />
Die skurrilen Charaktere werden von<br />
Oliver Schlick mit so viel Witz<br />
geschildert, dass grösster Lesespass<br />
garantiert ist.<br />
Ueberreuter, 2016, Fr. 23.90,<br />
ab 12 Jahren<br />
Bilder: ZVG<br />
Schuluniformen und Ge <br />
heimgänge, heimliche<br />
Mitternachtspartys in den<br />
Schlafsälen, eine Französischlehrerin,<br />
die Mamsell<br />
genannt wird – ein Wiedersehen<br />
mit alten Bekannten. Aber: Was<br />
einen in die Welt von «Hanni und<br />
Nanni» und Enid Blytons weiteren<br />
britischen Internatsgeschichten<br />
zurückkatapultiert, wird in «Mord<br />
ist nichts für junge Damen» mit<br />
einer Prise Sherlock Holmes und<br />
Agatha Christie gewürzt. Denn<br />
Hazel Wong und Daisy Wells, Schülerinnen<br />
des ehrenvollen Mädcheninstituts<br />
Deepdean im England der<br />
1930er-Jahre, betreiben ein Detektivbüro.<br />
Bisher hatten sie allerdings<br />
leider nie einen richtigen Fall zu<br />
lösen, bis Hazel eines Abends die<br />
Leiche von Miss Bell findet – die<br />
kurz darauf wie vom Erdboden verschluckt<br />
ist! Unter Umgehung aller<br />
strengen Internatsregeln lösen die<br />
beiden den Fall. Eine Lehrperson<br />
nach der anderen gerät ins Visier<br />
der Mädchen, die nicht merken,<br />
dass Gefahr von ganz oben droht …<br />
Autor Robin Stevens lehnt sich<br />
lustvoll an bekannte Schul- und Kriminalgeschichten<br />
an. Trotzdem<br />
weht in «Mord ist nichts für junge<br />
Damen» auch ein neuer Wind.<br />
Denn während bei Enid Blyton<br />
Schülerinnen aus dem Ausland als<br />
Exotinnen kritisch beäugt werden,<br />
ist hier Hazel, die aus Hongkong<br />
kommt, selbst die Erzählerin der<br />
Geschichte und kann ihren Gefühlen<br />
und Erlebnissen eine eigene<br />
Stimme geben.<br />
Robin Stevens:<br />
Mord ist nichts für<br />
junge Damen.<br />
Knesebeck, 2016,<br />
Fr. 19.90,<br />
ab 11 Jahren<br />
Kellerkind<br />
Nürnberg, 1828:<br />
Ein unbekannter<br />
junger Mann<br />
taucht auf dem<br />
Marktplatz auf. Wo<br />
kommt er her?<br />
Kristien Dieltiens<br />
erzählt packend und aus einer<br />
ungewohnten Perspektive die<br />
Geschichte von Kaspar Hauser neu.<br />
Urachhaus, 2016, Fr. 28.90,<br />
ab 14 Jahren<br />
Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />
Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />
Instituts für Kinder- und<br />
Jugendmedien SIKJM.<br />
Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />
weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>73
Eine Frage – drei Meinungen<br />
Ich möchte mit meinen Kindern, 5 und 7, ein Tischgebet sprechen.<br />
Mein Mann kann mit Religion überhaupt nichts anfangen, meint,<br />
ich beeinflusse meine Kinder religiös. Wie soll ich mich verhalten?<br />
Deborah, 44, Langenthal BE<br />
Nicole Althaus<br />
Religion sitzt tiefer, als man<br />
vermutet. Das merkt man<br />
spätestens, wenn mit den<br />
eigenen Kindern plötzlich das<br />
Bedürfnis nach Ritualen<br />
wieder hochkommt. Ich gehe<br />
in Anbetracht der Religionsmüdigkeit<br />
Ihres Mannes<br />
davon aus, dass Ihre Kinder<br />
nicht getauft sind und Sie auf weitere kirchliche Rituale<br />
verzichten werden. Da wird ein Tischgebet, das ja in<br />
erster Linie Ausdruck der Dankbarkeit ist, umgekehrt<br />
Ihren Mann auch nicht umbringen. Der erste Satz muss<br />
ja nicht unbedingt mit «Lieber Gott» beginnen.<br />
Tonia von Gunten<br />
Ich erachte es als eine wertvolle<br />
Aufgabe der Eltern,<br />
ihren Kindern die eigenen<br />
wichtig erscheinenden Werte<br />
mit auf den Weg zu geben.<br />
Tun Sie, was Sie für richtig<br />
halten! Solange in der Familie<br />
jeder seine eigene Meinung<br />
äussern darf, ist alles in Ordnung:<br />
Sie wollen am Tisch beten – Ihr Mann will es<br />
nicht. Also beten Sie! Was mich noch<br />
interessieren würde: Was wollen denn die Kinder?<br />
Peter Schneider<br />
Die Vorstellung Ihres<br />
Mannes, man könne es mit<br />
gebührender Vorsicht vermeiden,<br />
seine Kinder zu<br />
beeinflussen, ist nachgerade<br />
niedlich. Und die neue Panik<br />
von Ungläubigen vor jedweder<br />
Frömmigkeit steht der<br />
alten Panik der Gläubigen vor<br />
dem Gottseibeiuns fast schon in nichts mehr nach.<br />
Also: Wenn Ihnen ein Tischgebet wichtig ist, dann<br />
beten Sie mit Ihren Kindern. Ihr Mann kann ja seinerseits<br />
dazu säuerlich schweigen und dadurch seinen ihm<br />
als Beeinflussungsberechtigtem zustehenden Anteil<br />
neutralisierender Gegenbeeinflussung leisten. Und in<br />
zwanzig Jahren sehen Sie dann, wer gewonnen hat.<br />
Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin und<br />
Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag».<br />
Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir eltern» und<br />
hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.ch» initiiert<br />
und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter von zwei<br />
Kindern, 16 und 12.<br />
Tonia von Gunten, 43, ist Elterncoach, Pädagogin<br />
und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />
Programm, das frische Energie in die Familien<br />
bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />
stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />
und Mutter von zwei Kindern, 10 und 7.<br />
Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />
Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />
andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />
für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />
ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />
der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />
erwachsenen Sohnes.<br />
Haben Sie auch eine Frage?<br />
Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />
74 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Die Herausforderungen an Sie als Eltern<br />
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■ Lern- und Medientipps von ausgewiesenen Fachleuten und Experten.<br />
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