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02/2017

Fritz + Fränzi

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Fr. 7.50 2/Februar <strong>2017</strong><br />

Jesper Juul<br />

Kämpfen Sie für sich,<br />

nicht gegen Ihren Mann<br />

11 Tipps für Eltern<br />

So sind Ihre Kinder<br />

sicher im Internet<br />

unterwegs<br />

Burnout mit 12<br />

Erschöpft und<br />

antriebslos


Das Kinderbuch mit Gian und Giachen.<br />

Und vielen Kinderbuch-Vorteilen. Jetzt erhältlich<br />

im Buchhandel und auf graubuenden.ch/kinderbuch<br />

Exklusiver Kinderbuch-Vorteil:<br />

Gratis-Skischule und<br />

-Skipass in Arosa für Kinder<br />

bis Jahrgang 1999


Editorial<br />

Bild: Geri Born<br />

Nik Niethammer<br />

Chefredaktor<br />

«Eine Generation, die zunehmend<br />

in den besten Lebensjahren mit<br />

Burnout zu kämpfen hat, entwirft<br />

für ihre eigenen Kinder einen<br />

Lebensweg mit noch mehr Tempo,<br />

noch mehr Leistung, noch mehr<br />

‹Förderung›. Sie funktioniert<br />

Kin dergärten zu Schulen um, weil<br />

sie glaubt, Kinder, die früh Mathe<br />

lernen, seien schneller am Ziel.<br />

Moment einmal – an welchem Ziel?»<br />

Herbert Renz-Polster, deutscher Kinderarzt,<br />

Wissenschaftler und Buchautor<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

In unserer Nähe wurde kürzlich ein Wohnheim für Flüchtlinge eröffnet. Bevor<br />

die Menschen einzogen, durften unsere Kinder einen Augenschein nehmen.<br />

Wie zwei kleine Forscher stapften sie durch die enge Behausung, begutachteten<br />

die Gemeinschaftsküche und die Gemeinschaftswaschräume und die<br />

16 Quadratmeter Grundfläche, die jeder Familie zum Leben bleibt. Um<br />

schliesslich beinahe triumphierend festzustellen: «So ein Container ist ja<br />

nicht viel grösser als unser Spielzimmer.»<br />

Die Flüchtlinge sind da. Und sie sind mitten unter uns. «Wie zugewanderte<br />

Kinder und Jugendliche unsere Schulen verändern – und verbessern» lautet der<br />

Titel eines Buches, das im letzten Jahr für Aufsehen sorgte – und viele gehässige<br />

Reaktionen von Flüchtlingsgegnern auslöste. Ich habe die Autorin Katharina<br />

Blass gebeten, uns aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Einwanderung auf<br />

unser Bildungssystem hat. Und was von der Sorge zu halten ist, dass in vor<br />

Flüchtlingen überquellenden Klassen kaum mehr Deutsch<br />

gesprochen werde und die Qualität des Unterrichts leide.<br />

Wir müssen die Dinge rasch anpacken – ab Seite 38.<br />

Eine Chance für Mohamed – ab Seite 52.<br />

Ein bisschen stolz sind wir beim Schweizer ElternMagazin<br />

schon, mit Michèle Binswanger die vom Branchenmagazin<br />

«Schweizer Journalist» ausgezeichnete<br />

«Gesellschaftsjournalistin des Jahres 2016» an Bord zu<br />

haben. Binswangers Themenbreite sei gewaltig, heisst es<br />

in der Jury-Begründung. «Sie reicht von ‹Fussball: Eine<br />

Abrechnung› über ‹Schrott-Journalismus› bis zum<br />

‹Sexlamismus›. Doch ihre Thesen sind ideologisch nicht<br />

kalkulierbar. Sie ist die politisch unkorrekte Feministin<br />

des Journalismus.»<br />

Davon, dass die studierte Philosophin und zweifache<br />

Mutter immer wieder den Nerv der Zeit trifft, wortgewaltig<br />

und meinungsstark, können Sie sich auch in dieser<br />

Ausgabe überzeugen: In ihrer bisher persönlichsten Fritz+Fränzi-Kolumne<br />

schreibt die Autorin über die Schönheit der Liebe. Und die Schmerzen, die sie<br />

verursacht. Ein grossartiger Text, wie ich finde. Liebe ist seltsam – Seite 43.<br />

Nun wünsche ich Ihnen viel Lesevergnügen mit dieser Ausgabe. Ausgewählte<br />

Geschichten aus dem Heft sowie Texte, die wir nur online publizieren, finden<br />

Sie auf unserer Webseite unter www.fritzundfraenzi.ch.<br />

Herzlichst, Ihr Nik Niethammer<br />

850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>3


Inhalt<br />

Ausgabe 2 / Februar <strong>2017</strong><br />

Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />

fritzundfraenzi.ch und<br />

facebook.com/fritzundfraenzi.<br />

Augmented Reality<br />

Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />

erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />

Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />

Erziehung & Schule<br />

38 Flüchtlinge machen Schule<br />

Überfüllte Klassenräume, sinkendes<br />

Lernniveau? Nein, junge Flüchtlinge<br />

bereichern unsere Schulen, sagt<br />

Autorin Katharina Blass.<br />

42 Schreib doch mal!<br />

Ob Einkaufszettel oder<br />

Familienkalender – der Alltag bietet<br />

viele Anlässe, das Schreiben zu üben.<br />

46 Kind, du hast (das) Recht!<br />

Was steht unseren Kindern von<br />

Gesetzes wegen zu?<br />

10<br />

Dossier: Erschöpft<br />

10 Wenn der Antrieb fehlt<br />

Viel wurde über Burnout bei Buben und<br />

Mädchen geschrieben. Aber wie geht<br />

es unseren Kindern wirklich? Experten<br />

zeichnen ein differenziertes Bild.<br />

Bild: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />

26 Alles halb so schlimm …<br />

… sagt Martin Dornes, früher hatten<br />

Familien auch nicht weniger Stress.<br />

Ein Gespräch mit dem streitbaren<br />

Entwicklungspsychologen.<br />

28 Nur keine Angst!<br />

Der Lernforscher Josef Meier hat eine<br />

Methode entwickelt, die Schülern helfen<br />

soll, Druck und Nervosität abzubauen.<br />

Cover<br />

Manchmal wird<br />

schon Kindern und<br />

Jugendlichen alles<br />

zu viel: Diagnose<br />

Burnout, unser<br />

Dossier im März.<br />

Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo, Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Roshan Adihetty / 13 Photo, iStockphoto<br />

4


30<br />

52<br />

66<br />

Wann muss ein Kind zum<br />

Schulpsychologen, Ruth Etienne Klemm?<br />

Ein Programm soll jungen Migranten dabei<br />

helfen, ihre schulischen Ziele zu erreichen.<br />

Wie schützen Jugendliche ihre Daten im<br />

Internet? Ein Leitfaden.<br />

50 «Mama, mir ist langweilig!»<br />

Der Tag vieler Kinder ist heute von<br />

morgens bis abends verplant. Dabei<br />

ist das Nichtstun so wichtig.<br />

52 Eine Chance für Mohamed<br />

Im Begabtenprogramm ChagALL soll<br />

jungen Migranten der Sprung an die<br />

Mittelschule ermöglicht werden.<br />

Ernährung & Gesundheit<br />

62 Gesunde Zähne<br />

Wenn Kinderzähne bei Unfällen<br />

beschädigt werden, sollten Eltern<br />

den Zahnarzt aufsuchen.<br />

Psychologie & Gesellschaft<br />

64 Kinder vor dem Gesetz<br />

Ab wann können Kinder für ihr<br />

Handeln zur Rechenschaft gezogen<br />

werden?<br />

Digital & Medial<br />

66 Sicherheit im Netz<br />

Experte Martin Hellweg gibt Tipps<br />

zum Thema Daten und Sicherheit.<br />

70 Empfohlen ab …<br />

Bei der Altersfreigabe von Büchern,<br />

Videos und Games gibt es zum<br />

Teil erhebliche Unterschiede. Ein<br />

wichtiger Überblick.<br />

71 Mixed Media<br />

Rubriken<br />

03 Editorial<br />

06 Entdecken<br />

30 Monatsinterview<br />

Die Schulpsychologin Ruth Etienne<br />

Klemm über die Schwierigkeiten,<br />

mit denen Familien und Lehrer heute<br />

konfrontiert sind.<br />

36 Jesper Juul<br />

Zu einer destruktiven Beziehung<br />

braucht es immer zwei, sagt der<br />

Familientherapeut und rät einer Frau,<br />

aus der Opferrolle auszubrechen.<br />

43 Michèle Binswanger<br />

Unsere Kolumnistin über die Liebe.<br />

44 Fabian Grolimund<br />

Alle Eltern kennen es: Das Kind trödelt<br />

und treibt einen damit zur Weissglut.<br />

Aus der Haut fahren hilft da wenig.<br />

49 Stiftung Elternsein<br />

Ellen Ringier über die Gefahren des<br />

Populismus.<br />

58 Leserbriefe<br />

Service<br />

65 Verlosung<br />

72 Sponsoren/Impressum<br />

73 Buchtipps<br />

74 Eine Frage – drei Meinungen<br />

Eine Mutter möchte mit ihren Kindern<br />

ein Tischgebet sprechen. Der Vater<br />

ist Atheist. Sollte sie auf das religiöse<br />

Ritual verzichten?<br />

75 Abo<br />

Die nächste Ausgabe erscheint<br />

am 6. März <strong>2017</strong>.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>5


Entdecken<br />

Ich lüge, na und?<br />

Je häufiger Menschen lügen,<br />

desto weniger Skrupel empfinden<br />

sie, so die Studienergebnisse<br />

einer Forschergruppe am<br />

University College in London.<br />

Sie liessen Probanden in einem<br />

Hirnscanner hemmungslos<br />

lügen. Während die Amygdala,<br />

die Hirnregion, in der die emotionale<br />

Bewertung von Situationen<br />

stattfindet, anfangs noch<br />

bei jeder Unwahrheit aufflackerte,<br />

wurde dieses Signal<br />

mit der Zeit immer schwächer.<br />

Das schlechte Gewissen wegen<br />

des Lügens liess nach …<br />

3 FRAGEN<br />

an Alessandra Weber, Geschäftsleiterin Institut Kinderseele Schweiz<br />

«Teenager beraten Teenager»<br />

Um Eltern mit einer psychischen Krankheit sowie ihre Familien und ihr<br />

Umfeld mit Informationen und Hilfsangeboten noch besser zu erreichen,<br />

bereitet die Organisation Institut Kinderseele Schweiz iks eine Online-<br />

Plattform auf. Ein erstes Herzstück dieser Plattform sind zwölf Kurzfilme<br />

zum Thema, wie Alessandra Weber vom iks sagt.<br />

Interview: Evelin Hartmann<br />

160 Mio. Stunden mehr opfern Mädchen zwischen<br />

5 und 14 Jahren für die Hausarbeit<br />

als Jungen. Laut dem Kinderhilfswerk Unicef verbringen<br />

Mädchen damit weltweit im Schnitt 40 %<br />

mehr Zeit damit, zu kochen, zu putzen und sich<br />

um Familienmitglieder zu kümmern.<br />

Alessandra Weber, wen möchte die Organisation mit ihrer Plattform<br />

erreichen?<br />

Die vier Hauptzielgruppen sind betroffene Eltern, deren Kinder, Menschen<br />

in ihrem Umfeld wie Freunde und Nachbarn sowie Personen, die beruflich<br />

mit Kindern psychisch belasteter Eltern zu tun haben wie etwa Lehrer.<br />

Was finden diese auf ihrer Homepage?<br />

Für ihre Gruppe speziell aufbereitete Informationen. So haben wir beispielsweise<br />

für jede Zielgruppe Kurzfilme zum Thema aufgenommen. Im Zentrum<br />

der Filme steht jeweils eine Geschichte, die auf Erfahrungsberichten von<br />

Be troffenen basiert. Die Geschichten werden in Form von Testimonials erzählt<br />

und sind von Schauspielern gespielt.<br />

Wann werden diese Filme zu sehen sein?<br />

Schon jetzt. Weitere Filme, in denen Jugendliche die sieben häufigsten<br />

psychischen Krankheiten einfach erklären, folgen im Frühling. Auch eine<br />

anonyme E-Beratung durch eine Fachperson oder einen Peer ist geplant. Dabei<br />

werden Jugendliche von jungen Menschen beraten, Eltern von anderen<br />

betroffenen Eltern.<br />

Alle Infos auf www.iks-ies.ch<br />

Ein Lachen schenken<br />

Circolina heisst ungeschminkt Silvia Rindlisbacher und war<br />

früher als Sozialarbeiterin tätig. Heute ist sie die Initiantin des<br />

Vereins Huusglön. 2008 wurde der Verein gegründet mit dem Ziel,<br />

kranke und behinderte Menschen auch ausserhalb des Spitals, an<br />

ihrem Wohnort, zu besuchen und zum Lachen zu bringen. Mit<br />

einfühlsamen Improvisationen<br />

nehmen Circolina und<br />

ihre Clownkollegen Kontakt<br />

zu ihren grossen und<br />

kleinen Zuschauern auf und<br />

zaubern so manches<br />

Lachen hervor. Ihr Engagement<br />

ist unentgeltlich.<br />

Infos auf www.huusgloen.ch<br />

Starten Sie<br />

die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite<br />

und erleben Sie die<br />

Huusglön bei<br />

Ihrer Arbeit.<br />

Bild: iStockphoto<br />

6 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Publireportage<br />

Rubrik<br />

Snow’n’Rail: attraktive Kombi-<br />

Angebote für die ganze Familie.<br />

Geniessen Sie gemeinsam mit Ihren Liebsten unvergessliche<br />

Momente im Schnee und entdecken Sie die familienfreundlichen<br />

Angebote in den Schweizer Skigebieten. Dank den günstigen<br />

Kombi-Angeboten reisen Familien bequem mit dem Öffentlichen<br />

Verkehr in zahlreiche traumhafte Wintersportorte und profitieren<br />

von ermässigten Skipässen.<br />

Ermässigt auf die Piste<br />

mit Snow’n’Rail.<br />

Zahlreiche Schweizer Skigebiete haben<br />

sich besonders den Familien verschrieben<br />

und bieten mit familienfreundlichen Einrichtungen<br />

und Angeboten alles, was es für<br />

den perfekten Schneespass braucht.<br />

Mit den Snow’n’Rail-Kombi-Angeboten<br />

von SBB RailAway reisen Sie nicht nur<br />

bequem mit dem Öffentlichen Verkehr an,<br />

Sie sparen auch richtig viel Geld. Neben<br />

dem ermässigten 1-, 2- und 6-Tages-<br />

Skipässen und 20% Rabatt auf die Fahrt<br />

mit dem Öffentlichen Verkehr können<br />

Sie beim Kauf von Snow’n’Rail-Kombi-<br />

Angeboten ausserdem von 15% auf die Miete<br />

Ihrer Wintersportausrüstung bei «Intersport<br />

Rent» profitieren.<br />

Blatten-Belalp.<br />

Belalp – unter den Sternen.<br />

In nur 100 Minuten erreichen Sie von Bern aus<br />

die Belalp. Es erwarten Sie 68 km Abfahrten in<br />

allen Schwierigkeitsgraden. Direkt bei der<br />

Bergstation der Gondelbahn befindet sich<br />

das «Hexenland» für unsere kleinen Gäste.<br />

Das Gebiet erstreckt sich vom Hohstock auf<br />

3118 m ü. M. bis nach Blatten auf 1322 m ü. M.<br />

Neben top präparierten Pisten wartet der<br />

150 Meter lange Skitunnel Hohstock mit traumhaften<br />

Abfahrten. Er ist das Tor zum weissen<br />

Paradies für Freerider und Tiefschneefahrer<br />

und bietet auch auf präparierter Piste einen<br />

unvergesslichen Genuss. Die 7 Kilometer lange<br />

Schlittel abfahrt Belalp-Blatten ist in der Nacht<br />

wie auch am Tag immer ein Erlebnis.<br />

Braunwald.<br />

Wintererlebnis «Hoch über dem Alltag».<br />

Braunwald, das Glarner Bergdorf hoch über<br />

dem Alltag. Nach einer kurzen Anreisezeit<br />

sind Sie bereits auf 1256 m ü. M. – und es geht<br />

noch höher hinaus. Auf Skifahrer und Snowboarder<br />

warten präparierte Pisten für jedes<br />

Niveau und ein abwechslungsreicher Funpark.<br />

Die rassige Schlittel bahn sowie der gemütliche<br />

Schlittelweg sind eine optimale Schneesport<br />

Alternative. Naturfreunde geniessen das<br />

Wandererlebnis mit Blick auf das hochalpine<br />

Bergpanorama. Braunwald ist der ideale<br />

Familiensportort mit Unterkünften in jeder<br />

Preisklasse. Bis bald in Braunwald.<br />

Die Kombi-Angebote sind online, an den<br />

meisten Schweizer Bahnhöfen sowie am<br />

Billettautomat erhältlich. Beim Online-Kauf<br />

des Snow’n’Rail-Kombis können Sie den<br />

Skipass für zahlreiche Skigebiete einfach<br />

und bequem auf den SwissPass laden. Mit<br />

dem SwissPass können Sie im Skigebiet<br />

ohne Anstehen an der Kasse direkt durch<br />

die Drehkreuze und ab ins Schneesportvergnügen.<br />

Alle Informationen zu den attraktiven<br />

Snow’n’Rail-Kombi-Angeboten für über<br />

35 Wintersportgebiete finden Sie auf<br />

sbb.ch/snownrail.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>7


Entdecken<br />

Vom Fremdsein<br />

Gullivers Reisen Die Szene ist berühmt: Gulliver, im Zwergenstaat Liliput zum<br />

Riesen mutiert, wird von todesmutigen Liliputanern mit stecknadelkleinen Speeren und<br />

spinnwebdünnen Fäden an den Boden gefesselt. Gulliver, halb amüsiert, halb empört,<br />

kommt mit den Winzlingen ins Gespräch und kann sie schliesslich von seiner Friedfertigkeit<br />

überzeugen. Das Think Tank Théâtre aus Genf bringt das weltbekannte Stück des<br />

irischen Schriftstellers und Satirikers Jonathan Swift im Februar ins Schlachthaustheater<br />

Bern! Dabei spielt das Stück in einem geschlossenen, realistisch gestalteten Bühnenraum,<br />

in dem die Kinder durch Fenster einen jeweils individuellen Blick auf die märchenhafte<br />

Welt von Liliput erhaschen. Und dank Kopfhörern können die Kinder all das, was nicht<br />

existiert, plötzlich wahrnehmen – die brodelnde Atmosphäre der liliputanischen Hauptstadt<br />

wird als Kino im Kopf greifbar.<br />

Gulliver – Zimmerstück n° 2, ab acht Jahren (auf Deutsch), www.schlachthaus.ch<br />

«Wann hast du dich<br />

zuletzt fremd gefühlt?»,<br />

fragen namhafte Autoren<br />

wie Franz Hohler,<br />

Felicitas Pommerening<br />

und Patrick Tschan in<br />

der Kurzgeschichten-<br />

Sammlung «Fremdsein». Aufhänger dieser<br />

Sammlung sind die Flüchtlingsströme, die<br />

Nord- und Mitteleuropa erreicht haben.<br />

Und natürlich wird in diesen Geschichten<br />

von der Flucht erzählt – aber nicht nur.<br />

«Wir entfremden uns in Beziehungen und<br />

Familien voneinander. Wir fühlen uns<br />

fremd, wenn sich das Umfeld verändert.<br />

Aber wir können uns auch fremd fühlen,<br />

wenn wir selbst es sind, die sich verändern<br />

– und dann nicht mehr in das Gewohnte<br />

hineinpassen», schreibt die Herausgeberin<br />

und Journalistin Bianca Fritz im Vorwort.<br />

Ein bewegendes Buch über ein Gefühl, das<br />

uns alle verbindet: Fremdsein. Der Erlös<br />

geht an World Vision Schweiz und Terre<br />

des hommes Schweiz, die ihn bei Hilfsprojekten<br />

für Flüchtlingskinder rund um<br />

Syrien und auf der Balkanroute einsetzen.<br />

«Fremdsein», epubli, 2016, ab Fr. 9.90,<br />

auch als E-Book erhältlich<br />

Alle Informationen auf www.fremdsein.net<br />

«Für jeden Franken, den man in eine<br />

psychotherapeutische Behandlung<br />

investiert, kann man im Sozialsystem<br />

zwei bis drei Franken sparen.»<br />

Yvik Adler in der NZZ über das heutige Delegationsmodell. Dieses<br />

besagt, dass psychologische Psychotherapeuten – also Menschen mit<br />

einem Studium in Psychologie, nicht in Medizin – bei einem Arzt<br />

oder Psychiater angestellt sein müssen, damit die Grundversicherung<br />

für die Behandlung aufkommt.<br />

Yvik Adler ist Co-Präsidentin<br />

der Föderation der Schweizer<br />

Psychologen (FSP).<br />

Für kleine und grosse Forscher<br />

Was machen eigentlich Patumbah-Forscher? Sie<br />

sammeln, entdecken, fotografieren und zeichnen<br />

ihre Entdeckungen zu wechselnden Themen rund<br />

um die Baukultur. Wann sie das machen? Immer<br />

am ersten Mittwoch des Monats, wenn die Villa<br />

Patumbah ihre Ateliers für Kinder ab sechs Jahren<br />

öffnet. Bei jedem Besuch füllen die jungen Forscher<br />

ein Tagebuch und erhalten zum Schluss ein<br />

Entdeckerdiplom. Das Angebot ist offen, eine<br />

Anmeldung nicht nötig. Jeden zweiten Sonntag<br />

des Monats dürfen auch die Eltern mit ins Atelier ...<br />

www.heimatschutzzentrum.ch<br />

Bilder: ZVG<br />

8 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


schenken sie lebensfreude<br />

für kinder mit einer krankheit, behinderung<br />

oder schweren verletzung.<br />

Die Stiftung Kinderhilfe Sternschnuppe<br />

erfüllt Herzenswünsche<br />

und lässt Träume wahr werden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

www.sternschnuppe.ch<br />

postkonto 80-20400-1<br />

Februar <strong>2017</strong>9<br />

Diese Anzeige ist für die Stiftung Kinderhilfe Sternschnuppe kostenlos.


Wenn alles<br />

zu viel wird<br />

Immer häufiger klagen bereits Zwölfjährige über Erschöpfung und<br />

Antriebslosigkeit. Wer ist schuld? Die Leistungsgesellschaft mit<br />

ihrem Schlachtruf: höher, schneller, weiter? Die Schule? Die Eltern,<br />

die ihren Kindern alles abverlangen? Oder setzen sich Kinder heute<br />

selber zu sehr unter Druck? Eine Spurensuche.<br />

Text: Virginia Nolan Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />

10 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>11


Dossier<br />

Die Bilder zu diesem Dossier stammen vom<br />

Zürcher Fotografen Daniel Auf der Mauer.<br />

Der 38-Jährige fotografiert regelmässig<br />

Reportagen und Porträts für internationale<br />

Publikationen wie «The New York Times» und<br />

«Der Spiegel». Alle im Dossier abgebildeten<br />

Jugendlichen haben der Veröffentlichung<br />

von Text und Bildern zugestimmt.<br />

Nachwuchs sei nicht gestresst, sondern<br />

verweichlicht, sagen die anderen.<br />

Wie geht es Kindern im Zeitalter<br />

von Effizienzsteigerung und<br />

Gewinnmaximierung, von Flexibilisierung<br />

und Globalisierung? Wir<br />

fragen Kinder und Jugendliche. Und<br />

haken bei denen nach, die sie täglich<br />

begleiten; bei Eltern, Jugendarbeitern,<br />

Lehrpersonen, Therapeuten,<br />

Sozialforschern und beim Krisencoach.<br />

Es gibt ein Sprichwort, das<br />

besagt, nichts sei so ge ­<br />

recht verteilt wie der<br />

Verstand: Jeder glaube,<br />

er habe genug davon.<br />

Mit dem Stress verhält es sich ähnlich.<br />

Gerade als Eltern sind wir der<br />

Meinung, wir kämen damit nicht zu<br />

kurz. Und doch sagt dies allein<br />

wenig darüber aus, wie hoch unsere<br />

Belastung tatsächlich ist. Ein Zu ­<br />

stand, den wir als Volkskrankheit<br />

bezeichnen, verlangt nach einer kritischeren<br />

Auseinandersetzung. Im<br />

Idealfall sieht diese vermutlich so<br />

aus, dass wir nicht blindlings einstimmen<br />

ins Klagelied über die Leistungsgesellschaft,<br />

aber gleichzeitig<br />

unsere Augen öffnen für deren<br />

Opfer – erst recht, wenn es Kinder<br />

sind.<br />

Diesen Ansatz verfolgt dieses<br />

Dossier. Es will erklären, einordnen.<br />

Burnout sei, warnen die einen, im<br />

Kinderzimmer angekommen. Der<br />

Hohe Lebenszufriedenheit,<br />

nüchterne Stressbilanz<br />

Anhaltspunkte für das emotionale<br />

Wohlbefinden von Schulkindern in<br />

der Schweiz liefert die Studie «Health<br />

Behaviour in School-aged Children»<br />

(HBSC). Die Schülerbefragung unter<br />

der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO<br />

untersucht alle vier Jahre die Ge ­<br />

sundheit von 11- bis 15-Jährigen in<br />

44 Ländern.<br />

«Kinder und Jugendliche nehmen<br />

schlechte Gesundheit kaum als<br />

Krankheit wahr», schickt der Bericht<br />

voraus, «bei schlechter Gesundheit<br />

zu sein bedeutet für sie vor allem,<br />

emotional und zwischenmenschlich<br />

verunsichert zu sein.» Daher sei das<br />

Gesundheitsempfinden von Kindern<br />

und Jugendlichen ein guter<br />

Indikator für deren psychische Verfassung.<br />

Gemäss der aktuellsten HBSC-<br />

Studie aus dem Jahr 2014 schätzen<br />

über 90 Prozent der befragten 10 000<br />

Schülerinnen und Schüler in der<br />

Schweiz ihre Gesundheit als gut<br />

oder ausgezeichnet ein. Auch in<br />

Sachen Lebenszufriedenheit schneiden<br />

sie gut ab. Demnach sind 9 von<br />

10 Knaben zwischen 11 und 15 Jahren<br />

recht bis sehr zufrieden mit<br />

ihrem Leben, von den Mädchen sind<br />

es je nach Altersgruppe zwischen<br />

83 und 87 Prozent.<br />

Nüchterner sieht ihre Stressbilanz<br />

aus. So geben 10 Prozent aller<br />

befragten 11-Jährigen an, regelmässig<br />

traurig zu sein, 15 Prozent schätzen<br />

sich als nervös ein. So ­<br />

Burnout ist im Kinderzimmer<br />

angekommen, sagen die einen.<br />

Viele Kinder sind heute<br />

verweichlicht, sagen andere. >>><br />

13


Dossier<br />

>>> genannte psychoaffektive<br />

Symptome – die Literatur bezeichnet<br />

sie oft als Stressmerkmale – sind<br />

zum Beispiel Gereiztheit, Müdigkeit<br />

oder Einschlafschwierigkeiten. Die<br />

Pubertät könne solche Anzeichen<br />

durchaus mit sich bringen, schreiben<br />

die Experten. Wenn es sich<br />

allerdings um chronische Symptome<br />

handle, hänge dies mit einem beeinträchtigten<br />

Wohlbefinden zusammen.<br />

Als chronisch gelten Symptome,<br />

die mehrmals wöchentlich oder<br />

während sechs Monaten täglich verspürt<br />

werden. Dabei scheint Müdigkeit<br />

bei Schweizer Kindern am weitesten<br />

verbreitet zu sein. Und: Mit<br />

steigendem Alter äussern bis zu<br />

einem Drittel der Knaben mindestens<br />

zwei chronische, psychoaffektive<br />

Symptome, bei den Mädchen<br />

beträgt der Höchstwert hier sogar<br />

46 Prozent.<br />

Der Druck ist selbst gemacht<br />

Während die Daten zur HBSC-Studie<br />

die Frage nach den Stressfaktoren<br />

nicht im Detail beantworten, gibt die<br />

Studie Juvenir 4.0 der Jacobs Foundation<br />

Antwort darauf. Sie hat allerdings<br />

nicht Kinder im Fokus, sondern<br />

Schweizer Jugendliche im Alter<br />

zwischen 15 und 21 Jahren.<br />

In der Untersuchung von 2014<br />

sagte fast die Hälfte der 1500 Befragten,<br />

das Gefühl von Stress und<br />

Überforderung gehöre zu ihrem Alltag.<br />

56 Prozent der weiblichen<br />

Jugendlichen gaben an, häufig bis<br />

sehr häufig unter Druck zu stehen,<br />

bei den männlichen waren es 37<br />

Prozent. Wichtigste Stressursachen<br />

sind Schule, Studium und (Lehr-)<br />

Beruf: In diesen Bereichen fühlen<br />

sich 60 Prozent der Jugendlichen<br />

häufig bis sehr häufig gestresst und<br />

überfordert.<br />

Die viel diskutierte «Terminfreizeit»<br />

scheint dagegen kein Thema zu<br />

sein: Sport und Hobbys setzen<br />

Jugendliche kaum unter Druck, das<br />

gilt auch für den Umgang mit sozialen<br />

>>><br />

Medien.<br />

Sport und Hobbys setzen<br />

Jugendliche kaum unter Druck.<br />

Das gilt auch für den<br />

Umgang mit sozialen Medien.<br />

«Ich fühlte<br />

mich wie in<br />

einer Blase»<br />

Für Sandra, 17, Praktikantin<br />

Behindertenbetreuung, liegt der<br />

schlimmste Druck darin, so sein<br />

zu müssen wie alle anderen. Das<br />

habe sie an den Rand ihrer Kräfte<br />

gebracht, ihr die Lebensfreude<br />

und den Schlaf geraubt.<br />

«Gegen Ende der Primarschule war ich<br />

plötzlich zur Zielscheibe geworden: Ich<br />

wurde fertiggemacht. Vielleicht war mein<br />

Gewicht der Grund dafür oder meine ruhige<br />

Art. Ich weiss es nicht. Jedenfalls gab man<br />

mir täglich zu verstehen, dass ich komisch<br />

sei, nicht so wie die anderen, ein Nichts. So<br />

ging das zwei Jahre lang. Ich reagierte mit<br />

Rückzug. Mir fehlte die Kraft, mit meinen<br />

Eltern zu sprechen, ich reagierte gereizt,<br />

wenn sie es versuchten. Ich konnte nicht<br />

schlafen, war nervös und müde. Ich fühlte<br />

mich wie in einer Blase, umhüllt von Traurigkeit.<br />

Selbstmordgedanken begleiteten<br />

mich jeden Tag. Meine Eltern drängten<br />

mich, Hilfe zu suchen. Die Jugendseelsorge<br />

war ein Glücksfall.<br />

In der Oberstufe wendete sich mein<br />

Leben zum Guten. Auf einer Privatschule<br />

fand ich meine beste Freundin. Sie hat<br />

mich gelehrt, für mich einzustehen. Ich war<br />

glücklich, bis es um die Berufswahl ging.<br />

Mit 16 eine solche Entscheidung treffen zu<br />

müssen, hat mich überfordert. Wer die Sek<br />

B besucht, muss sich ständig anhören, dass<br />

es auf diesem Niveau sowieso gelaufen<br />

sei mit der Zukunft. Ich hoffe, das stimmt<br />

nicht. Ich habe bis heute keine Lehrstelle<br />

gefunden, trotz hundert Bewerbungen.<br />

Nach der Sek begann ich ein Praktikum<br />

im Behindertenwohnheim. Ich wurde<br />

ins kalte Wasser geworfen. Mein Chef<br />

erwartete, dass ich mit anpacke wie alle<br />

anderen. Ich war aber langsamer, weil die<br />

Arbeit körperlich anstrengend war. An<br />

mir nagte das Gefühl, nicht zu genügen.<br />

Die Traurigkeit und die Nervosität kamen<br />

zurück, ich hatte Angst, dass sich der<br />

Teufelskreis wiederholt. Der Chef stellte<br />

mir einen Ausbildungsplatz in Aussicht.<br />

Ich klammerte mich an diese Hoffnung,<br />

die sich aber zerschlug: Kurz vor Ablauf<br />

meines Praktikums erfuhr ich, dass es für<br />

mich keine Anschlusslösung gibt.<br />

Dank der Hilfe meiner Mutter konnte<br />

ich in einem anderen Wohnheim ein Praktikum<br />

beginnen. Hier blühe ich auf. Ich<br />

muss nicht nur funktionieren, sondern<br />

werde auch angeleitet. Die Arbeit macht<br />

mir Freude, geblieben ist die Sorge, dass<br />

ich als Sek-B-Absolventin mit schwachem<br />

Leistungsausweis nirgendwo unterkomme.<br />

Manchmal breche ich aus dem Nichts in<br />

Tränen aus. Ich will unbedingt Fachfrau Be -<br />

hindertenbetreuung lernen. Dafür bewerbe<br />

ich mich, wenns sein muss, wieder hundert<br />

Mal – aber nicht mehr in diesem Jahr. Nach<br />

dem Praktikum will ich erst einmal nach<br />

Australien, Englisch lernen.»<br />

14


Dossier<br />

>>> Es scheinen weder Eltern,<br />

Lehrer noch Berufsbildner zu sein,<br />

die den Nachwuchs mit ihren An ­<br />

sprüchen überfordern. In der Juvenir-Studie<br />

gaben 80 Prozent der<br />

Gestressten an, nicht andere, sondern<br />

sie selbst setzten sich unter<br />

Druck. Als Grund dafür führen Forscher<br />

die starke Leistungsorientierung<br />

und die Zukunftsangst vieler<br />

Jugendlichen an; Eigenschaften, die<br />

bereits in vorhergehenden Umfragen<br />

festgestellt worden seien. Bezeichnenderweise<br />

hätten 80 Prozent der<br />

Vier von fünf gestressten<br />

Jugendlichen geben an, nicht<br />

andere, sondern sie selbst<br />

setzten sich unter Druck.<br />

Jugendlichen, die sich gestresst fühlten,<br />

auch Angst um ihre berufliche<br />

Zukunft.<br />

Alain Di Gallo, Leiter der Kinderund<br />

Jugendpsychiatrischen Klinik<br />

der Universitären Psychiatrischen<br />

Kliniken Basel, kennt das Phänomen.<br />

«Unser Bildungssystem ist<br />

durchlässiger geworden», sagt er,<br />

«das ist eine grosse Errungenschaft,<br />

die nicht nur Chancen bietet, sondern<br />

auch Druck erzeugen kann.<br />

Man kann immer noch eine Stufe<br />

höher steigen, sich noch besser qualifizieren.<br />

Als Kehrseite drohen der<br />

Fall, Gefühle von Ungenügen und<br />

nagende Selbst zweifel.»<br />

Burnout bei Kindern?<br />

«Es kommt so gut wie nicht mehr<br />

vor, dass Eltern mich fragen, was sie<br />

tun sollen, damit ihr Kind die Schule<br />

endlich ernst nimmt», sagt >>><br />

«Ich will<br />

nicht Coiffeuse<br />

werden»<br />

Yara, 14, setzt alles daran, es ins<br />

Gymnasium zu schaffen. Die<br />

Sekschülerin hat Angst, dass ihre<br />

Zukunftschancen sonst schwinden.<br />

«Manchmal habe ich das Gefühl, über mir<br />

schwebe eine dunkle Wolke. Dann blicke<br />

ich nicht mehr durch. Ich gebe mir in der<br />

Schule allergrösste Mühe, was sich kaum<br />

auf meine Noten auswirkt. Ich besuche die<br />

zweite Sekundarklasse und bereite mich<br />

auf die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium<br />

vor, wie die Hälfte der Schüler in meiner<br />

Klasse. Nach der sechsten Klasse hatten<br />

es ausser drei Schülern alle versucht, ich<br />

inklusive. Ich hoffe, diesmal klappt es.<br />

Manchmal zweifle ich an mir: Bin ich<br />

nicht klug genug? Sollte ich mich besser für<br />

eine Lehrstelle bewerben? Ich weiss, dass<br />

dies für mich nicht das Richtige wäre. Die<br />

Matura öffnet einem viele Türen. Berufe, die<br />

mich interessieren, setzen sie voraus: Ich<br />

könnte mir vorstellen, Anwältin zu werden<br />

oder Journalistin – aber nicht Coiffeuse.<br />

Gerade kommt alles auf einmal. In der<br />

Schule steht die Berufswahl im Zentrum,<br />

dabei bräuchte ich meine Energie, um mich<br />

auf die Gymiprüfung vorzubereiten. Im Vorbereitungskurs,<br />

den die Schule anbietet,<br />

musste ich mir meinen Platz erkämpfen.<br />

Der Klassenlehrer wollte meine Teilnahme<br />

verhindern, ich sei nicht geeignet. Nun kann<br />

ich doch hingehen, weil sich meine Eltern<br />

für mich eingesetzt haben: Für sie ist meine<br />

Motivation wichtiger als die Schulnoten.<br />

Ich war in der Primarschule aus den USA<br />

in die Schweiz gezogen, meine Eltern sind<br />

Ingenieure und hatten hier ein Jobangebot.<br />

Deutschlernen war anspruchsvoll, doch die<br />

grösste Umstellung bedeutete das Schulsystem.<br />

In Amerika war der Unterricht an ­<br />

schaulicher, aktiver. Hier hält der Lehrer<br />

einen Monolog. In den USA war der Stundenplan<br />

nicht für alle gleich, man ging ein<br />

auf die individuellen Stärken der Schüler.<br />

Freizeit habe ich kaum. An Abenden und<br />

Wochenenden lerne ich, die Hausaufgaben<br />

dauern oft bis spät. Vor ein paar Monaten ist<br />

mir alles über den Kopf gewachsen, ich war<br />

müde, verlor meine Motivation und war nur<br />

noch gereizt. Oft habe ich aus dem Nichts<br />

heraus angefangen zu weinen. Meine Mutter<br />

ermutigte mich, die Jugendberatungsstelle<br />

aufzusuchen. Viele haben Hemmungen,<br />

Hilfe in Anspruch zu nehmen; ich kann es<br />

nur empfehlen. Meine Beraterin brachte<br />

mir Entspannungsübungen bei, aber auch<br />

Strategien, um Druck abzubauen.<br />

Tagebuchschreiben hilft gegen Stress,<br />

Lesen ebenso. Ich lege jetzt öfter mal das<br />

Handy weg, schlafe besser, habe mehr<br />

Energie für die Schule. Und doch gerate<br />

ich immer wieder unter Druck, den ich<br />

mir selbst mache. Meine Eltern schimpfen<br />

nicht, wenn ich schlechte Noten habe, und<br />

sie hören nicht auf, mich immer wieder aufs<br />

Neue zu motivieren. Dafür bin ich ihnen<br />

dankbar.»<br />

17


Dossier<br />

>>> der Kinder- und Jugendpsych<br />

ia ter Michael Schulte-Markwort.<br />

«Früher hatten Eltern oft Sorge, dass<br />

aus ihrem Kind nichts wird. Heute<br />

wollen sie wissen, wie ihre Kinder<br />

weniger angestrengt leben und lernen<br />

können.»<br />

Schulte-Markwort ist ärztlicher<br />

Direktor der Klinik für Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum<br />

Hamburg-Eppendorf und<br />

der Kinder- und Jugendpsychosomatik<br />

am Altonaer Kinderkrankenhaus.<br />

2016 hat er ein viel beachtetes<br />

Buch veröffentlicht. Es heisst «Burnout-Kids.<br />

Wie das Prinzip Leistung<br />

unsere Kinder überfordert».<br />

Der effekthascherische Titel passt<br />

nicht zu den leisen Tönen, die der<br />

60-Jährige im Gespräch anschlägt.<br />

«Ich mag es nicht, wenn man übertreibt»,<br />

sagt er. «Es gehört zu meinen<br />

Aufgaben, Kinder zu verstehen,<br />

nicht, sie krank zu reden.»<br />

Schulte-Markwort betont, dass<br />

psychische Erkrankungen bei Kin­<br />

Ein Krankheitsbild aus der<br />

Erwachsenenwelt verschiebt<br />

sich zu den Kindern:<br />

die Erschöpfungsdepression.<br />

dern und Jugendlichen in den vergangenen<br />

30 Jahren nicht zugenommen<br />

hätten – mit einer Ausnahme,<br />

wie er vermutet. «Ich begegne<br />

Jugendlichen, meistens Mädchen,<br />

die sich als traurig, antriebslos, weinerlich<br />

und niedergeschlagen be ­<br />

schreiben. Sie haben Schlafstörungen<br />

und zeigen das Vollbild einer<br />

Depression, passen bei genauerer<br />

Diagnostik aber nicht in die gängigen<br />

Kategorien.»<br />

Burnout bei Kindern? «Die Diagnose<br />

kam mir zunächst nicht in<br />

den Sinn, weil ich davon ausgegangen<br />

war, dass sie im<br />

>>><br />

Kindes­<br />

«Ich kann mich<br />

nicht festlegen»<br />

Shakur, 17, hat manchmal Angst,<br />

sein Leben nicht auf die Reihe zu<br />

kriegen. Er will später den Betrieb<br />

seiner Eltern übernehmen, steht<br />

aber ohne Lehrstelle da.<br />

«Manchmal bereue ich es, dass ich die<br />

Schule auf die leichte Schulter genommen<br />

habe. Leider habe ich mich mehr auf meine<br />

Freunde konzentriert statt aufs Lernen.<br />

Meine Noten waren ganz gut, aber es<br />

haperte beim Betragen: Zuverlässigkeit,<br />

Pünktlichkeit – in meinem Zeugnis stehen<br />

die Kreuzchen am falschen Ort.<br />

Ich bin zwar nicht so der Schultyp, konnte<br />

es mir aber auch nicht vorstellen, nach<br />

der Sek schon mit Arbeiten anzufangen.<br />

Unserer Sek-Lehrerin war die Anzahl verschickter<br />

Bewerbungen wichtiger als das,<br />

was drinstand. Auch im zehnten Schuljahr<br />

bot der Klassenlehrer wenig Unterstützung<br />

beim Inhalt. Ich fand, das bringe wenig –<br />

und ging. Die Vereinbarung mit meinen<br />

Eltern war, dass ich im Pizzakurier mithelfe,<br />

den sie betreiben, und mich nebenher um<br />

eine Lehrstelle kümmere. Letzteres hat<br />

nicht wirklich funktioniert. Darum besuche<br />

ich neu eine Handwerksschule, ich gehe<br />

einmal die Woche in den Unterricht und<br />

muss mich um ein Praktikum bemühen. In<br />

der neuen Schule bereiten wir uns gezielt<br />

vor: Ich habe zwei Bewerbungen verschickt<br />

und bereits die Zusage für eine Schnupperlehre<br />

als Lüftungsmechaniker.<br />

Ich habe mir schon als Kind die Frage<br />

gestellt, was ich einmal arbeiten will. Bloss<br />

eine eindeutige Antwort fand ich nie. Ich<br />

habe so viele Inter essen, bin immer offen<br />

für Neues. Ich habe in viele Berufe hineingeschnuppert,<br />

fast überall hat es mir<br />

gefallen – aber ich konnte mir in keinem<br />

Fall vorstellen, nur noch diese eine Arbeit<br />

zu machen. Ich kann mich nicht festlegen.<br />

Mein Bruder macht eine KV-Lehre auf der<br />

Bank. Ich glaube, meine Mutter hätte mich<br />

auch gerne in so einem Beruf gesehen.<br />

Später würde ich gerne den Pizzaservice<br />

vom Vater übernehmen, ich bin mit dem<br />

Betrieb gross geworden, er bedeutet mir<br />

viel. Die Arbeit ist vielseitig: Man besorgt<br />

den Einkauf, kocht, macht das Büro, er -<br />

ledigt die Auslieferungen. Die mache ich<br />

besonders gerne, so sehe ich immer neue<br />

Gesichter. Mein Vater sagt, ich hätte noch<br />

viel vor mir, wenn ich den Betrieb übernehmen<br />

wolle. Es reiche nicht, von allem<br />

eine Ahnung zu haben, man müsse dahintersehen,<br />

im Detail Bescheid wissen.<br />

Ich habe einen guten Draht zu Menschen,<br />

ich glaube, man erreicht viel, wenn man<br />

ihnen mit Anstand begegnet. Aber ich habe<br />

Angst, dass ich nichts auf die Reihe bringe,<br />

weil ich mich so leicht ablenken lasse. Ich<br />

arbeite wirklich daran, mich zu verbessern.<br />

Ich hoffe, dass ich eine Lehrstelle finde und<br />

es schaffe, drei Jahre durchzubeissen, auch<br />

wenn es mal eintönig wird.»<br />

18


Thematisieren Sie die<br />

Schule nicht dauernd,<br />

auch wenn es für Ihr Kind<br />

gerade nicht rund läuft.


Dossier<br />

>>> alter nicht vorkommt, ähnlich<br />

wie Demenz», sagt Schulte-Markwort.<br />

«Erst dachte ich, ich hätte es<br />

mit besonders empfindlichen<br />

Jugendlichen zu tun. Je mehr es<br />

wurden, desto klarer wurde mir<br />

aber, dass sich ein Krankheitsbild<br />

aus der Erwachsenenwelt zu den<br />

Kindern verschiebt: die Erschöpfungsdepression.»<br />

Schulte-Markwort verwendet lieber<br />

den populären Begriff Burnout,<br />

um Missverständnissen vorzubeugen.<br />

«Die Ursachen sind anders als<br />

bei einer ‹normalen› Depression»,<br />

sagt er. «Bei der Erschöpfungsdepression<br />

geht es um inneren und<br />

verinnerlichten Leistungsanspruch.<br />

Hier folgt die Depression aus der<br />

Erschöpfung und nicht umgekehrt.»<br />

Widersprüchliche Botschaften<br />

Seine jungen Patienten seien gekennzeichnet<br />

vom Bemühen, «gute» Kinder<br />

zu sein, sagt Schulte-Markwort:<br />

«Da haben unglaubliche Selbstdiszi-<br />

Wer nichts leistet, hat<br />

verloren. Das lernen Kinder<br />

heute von klein auf.<br />

plinierungsprozesse stattgefunden.»<br />

Kinder von heute wollten, ohne dass<br />

sie jemand dazu antreibe, erfolgreich<br />

sein, «oder eher: perfekt».<br />

Weil sie es nicht anders kennen,<br />

ist der Psychiater überzeugt: «Wir<br />

leben in einer durchökonomisierten<br />

Gesellschaft, die mit hoher Taktung<br />

all diejenigen ausspuckt, die nicht<br />

mithalten können. Wer nichts leistet,<br />

hat verloren. Das lernen Kinder<br />

heute von klein auf.»<br />

Auch die Familie sei eingebunden<br />

in das Erfolgsprinzip, das keine<br />

Versager zulasse. Oft seien Kinder<br />

widersprüchlichen Botschaften ausgesetzt.<br />

«Hauptsache, du bist glücklich»,<br />

heisse es, oder «Schulnoten<br />

sind nicht alles».<br />

Nicht selten kämen die gut ge -<br />

meinten Beruhigungsversuche von<br />

Eltern, die selber ein hohes Tempo<br />

an den Tag legten, sich über<br />

«faule»Arbeitslose beschwerten,<br />

unter Zeitmangel litten. «Wir leben<br />

Kindern vor, dass Erfolg meist eine<br />

zweifelhafte Work-Life-Balance<br />

nach sich zieht», sagt Schulte-Markwort.<br />

«Väter werden zu Wochenend-<br />

Papas, und Mütter haben kaum<br />

noch Zeit für sich selbst. Kinder<br />

haben ein feines Gespür für Werte<br />

und dafür, was uns diese tatsächlich<br />

wert sind.»<br />

>>><br />

10 Tipps für ein<br />

entspanntes<br />

Familienleben<br />

1. Wer selbst unter Strom steht, kann<br />

sein Kind nicht zur Entspannung<br />

anhalten. Seien Sie sich bewusst,<br />

dass Ihre persönliche Stressbilanz<br />

auch die Ihres Kindes mitbeeinflusst.<br />

2. Kinder haben ein ausgeprägtes<br />

Gespür für das, was uns wirklich<br />

wichtig ist. Achten Sie darauf, dass<br />

Sie Zeitinseln schaffen und<br />

regelmässig pflegen können. Rituale<br />

wie ein gemeinsames Familienessen<br />

eignen sich dafür am besten.<br />

3. Suchen Sie so oft wie möglich das<br />

Gespräch mit Ihrem Kind. Das<br />

bedeutet nicht, es nach seinen<br />

Problemen zu löchern. Sprechen Sie<br />

einfach über das, was Sie bewegt,<br />

begeistert, verbindet.<br />

4. Von nichts kommt nichts: Scheuen<br />

Sie nicht den Aufwand, wenn er zu<br />

einem gemütlichen Miteinander<br />

beiträgt und Austausch ermöglicht.<br />

Ein Brunch am Sonntagmorgen, ein<br />

Filmabend, Bräteln im Wald – kleine<br />

Highlights schaffen Lebensqualität.<br />

5. Schreiben Sie Ihren Kindern nicht<br />

vor, was eine sinnvolle Beschäftigung<br />

ist. Wenn sie für Jugendliche darin<br />

besteht, einfach nur abzuhängen, ist<br />

das in Ordnung.<br />

6. Achten Sie darauf, wie Sie als Eltern<br />

Leistung vorleben und thematisieren.<br />

Kinder haben feine Antennen für<br />

Widersprüchliches. Wenn Sie Ihrem<br />

Kind versichern, Glücklichsein sei<br />

das Wichtigste, selber aber überaus<br />

ehrgeizige Ansprüche an sich selbst<br />

haben, ist das nicht glaubwürdig.<br />

7. Thematisieren Sie die Schule nicht<br />

dauernd, auch wenn es für Ihr Kind<br />

gerade nicht rundläuft.<br />

8. Legen Sie die Smartphones zum<br />

Essen beiseite, am besten auch über<br />

Nacht. Halten Sie Ihre Kinder und<br />

sich selbst dazu an, Informationen<br />

nicht auf sich einprasseln zu lassen.<br />

Zücken Sie bewusst nicht immer das<br />

Handy, um Wartezeit zu überbrücken.<br />

Halten Sie’s mit Informationen wie<br />

mit dem Essen – wir konsumieren<br />

auch nicht alles, was verfügbar ist,<br />

und kommen gut ohne Zwischenmahlzeit<br />

aus.<br />

9. Räumen Sie Ihrem Kind nicht jegliche<br />

Steine aus dem Weg und lassen Sie<br />

es seinen Teil in der Familie betragen.<br />

Darauf sollten Sie sogar bestehen,<br />

denn es macht stark.<br />

10. Studieren Sie Ihr Kind nicht zu sehr.<br />

Kinder, die es gewohnt sind, dass<br />

sie ständig sorgenvoll beobachtet<br />

werden, fühlen sich schneller überfordert<br />

als solche, die merken, dass<br />

ihnen die Eltern auch etwas zutrauen.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>21


Dossier<br />

>>> Eltern die Schuld zu geben,<br />

greift für den Jugendpsychiater zu<br />

kurz. Schulte-Markwort verweist auf<br />

ökonomische Zwänge, beispielsweise<br />

den Wandel von der Gross- hin<br />

zur Kleinfamilie, die Ratlosigkeit<br />

erzeuge, weil Mütter und Väter alles<br />

allein stemmen müssten.<br />

Der Psychiater führt aussterbende<br />

soziale Normen und Traditionen<br />

an, die zwar nicht über alle Zweifel<br />

erhaben gewesen seien, aber einem<br />

zumindest Orientierung gegeben<br />

hätten. «Früher gab es etwa noch die<br />

Sicherheit, dass man ein Leben lang<br />

bei seinem Arbeitgeber bleibt», sagt<br />

er. «Heute haben wir Zeitarbeitsverträge,<br />

sprechen von der Generation<br />

Praktikum. Kann sich so innere Stabilität<br />

entwickeln?»<br />

Auch Trägheit lässt uns ausbrennen<br />

Wir idealisierten die Vergangenheit,<br />

findet dagegen der Frankfurter Entwicklungspsychologe<br />

Martin Dornes<br />

(vgl. Interview auf Seite 26). Die<br />

Grossfamilie von früher habe keineswegs<br />

nur Unterstützung, sondern<br />

auch Bevormundung bedeutet.<br />

Zudem sei die Arbeitswelt nicht<br />

familienfreundlicher gewesen: «Die<br />

Arbeiter litten unter Monotonie,<br />

schwerer körperlicher Belastung und<br />

den langen Arbeitszeiten. Stress gab<br />

es reichlich, auch wenn nicht so viel<br />

darüber geredet wurde wie heute.»<br />

Diese Meinung vertritt auch Katrin<br />

Aklin. Sie ist Schulleiterin bei der<br />

Zürcher Stiftung OPA, die Jugendlichen<br />

mit sozialen Schwierigkeiten<br />

hilft, sich in den Arbeitsmarkt zu<br />

integrieren. «Wir haben das Gefühl,<br />

um die Welt stehe es schlecht, weil<br />

wir alles erfahren – auch das, was<br />

uns gar nicht betrifft», sagt sie. Da<br />

gebe es nur eines: bewusster konsumieren.<br />

«Beim Essen machen wir es<br />

auch so: Wir stopfen nicht alles in<br />

uns hinein, was verfügbar ist. Mit<br />

Informationen sollten wir genauso<br />

verfahren, auch das ist eine Frage<br />

der Disziplin.»<br />

Jugendexpertin Aklin coacht<br />

auch Erwachsene, die sie oft auf-<br />

Burnouts entstehen selten aus<br />

Überanstrengung. Häufiger ist<br />

Trägheit die Ursache.<br />

Und fehlende Zufriedenheit.<br />

grund eines Burnouts konsultieren.<br />

Den Grund für Stress und Überforderung<br />

sieht sie nicht in überhöhten<br />

Leistungsanforderungen, «es hapert<br />

eher an unserer Leistungsbereitschaft»,<br />

ist sie überzeugt. Aklin geht<br />

noch weiter: «Burnouts aufgrund<br />

von Überanstrengung sind deutlich<br />

seltener als Burnouts, die aus Trägheit<br />

entstehen.»<br />

Aklin spricht von einer Passivität,<br />

die Jugendliche und Erwachsene<br />

gleichermassen betreffe und ein<br />

Gefühl des Ausgeliefertseins erzeuge.<br />

«Es fehlt uns an Zufriedenheit»,<br />

sagt sie, «weil wir wahres Engagement<br />

einem oberflächlichen Verständnis<br />

von Erfolg geopfert haben.»<br />

Position beziehen, Unbequemlichkeiten<br />

aushalten, sich einsetzen,<br />

auch ohne Aussicht auf Belohnung<br />

– das alles sei heute unpopulär, weil<br />

anstrengend. «Wir gehen lieber<br />

dahin, wo alle applaudieren», sagt<br />

Aklin, «und leben das den Jungen<br />

vor.»<br />

In der Kindererziehung funktioniere<br />

diese Passivität aber nicht.<br />

Erziehung bedeute, Stellung zu nehmen,<br />

Vorbild zu sein, Reibungsfläche<br />

zu bieten. «Viele Eltern vermeiden<br />

Reibung», weiss Aklin, «weil sie<br />

Arbeit bedeutet. Sie ist aber eine<br />

wichtige Voraussetzung für die Entwicklung<br />

von Selbstwertgefühl. In<br />

Auseinandersetzungen entwickeln<br />

wir Fähigkeiten.»<br />

Nicht nur in der Schule, auch im<br />

Umfeld ihrer drei eigenen Kinder<br />

beobachte sie stattdessen, wie dem<br />

Nachwuchs Bequemlichkeit anerzogen<br />

werde. Man stelle Kindern lieber<br />

alles bereit, statt sie selbst machen<br />

zu lassen. «Dass dies auf eine niedrigere<br />

Belastungsgrenze hin- >>><br />

Literatur<br />

Schulte-Markwort, Michael: Burnout-<br />

Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere<br />

Kinder überfordert. Droemer Knaur,<br />

2016, 272 Seiten. Fr. 28.90<br />

Dornes, Martin: Die Modernisierung der<br />

Seele. Kind – Familie – Gesellschaft.<br />

Fischer Taschenbuch, 2012, 528 Seiten.<br />

Fr. 17.90<br />

Dornes, Martin: Macht der Kapitalismus<br />

depressiv? Über seelische Gesundheit<br />

und Krankheit in modernen<br />

Gesellschaften. Fischer Taschenbuch,<br />

2016, 160 Seiten. Fr. 23.90<br />

Links<br />

Zu viel Stress – zu viel Druck! Wie<br />

Schweizer Jugendliche mit Stress und<br />

Leistungsdruck umgehen. Juvenir-<br />

Studie 4.0, Jacobs Foundation, 2015.<br />

Online: www.juvenir.ch > Downloads ><br />

Juvenir 4.0<br />

Delgrande Jordan, Marina, und<br />

Eichenberger, Yvonne: Die psychische<br />

Gesundheit von Kindern und<br />

Jugendlichen im Schulalter<br />

(Detailauswertungen von Daten<br />

aus der HBSC-Studie 2014).<br />

Gesundheitsförderung Schweiz, 2016.<br />

Online: gesundheitsfoerderung.ch ><br />

Downloads > Bericht 6: Psychische<br />

Gesundheit über die Lebensspanne<br />

(Seite 58–69)<br />

22 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Burnout – was heisst das?<br />

Definition Burnout gilt als umgangssprachliche<br />

Bezeichnung für die<br />

Erschöpfungsdepression.<br />

Symptome Kinder und Jugendliche,<br />

die davon betroffen sind, ziehen<br />

sich häufig zurück, wirken dabei<br />

antriebslos und haben kein Interesse<br />

mehr an Hobbys oder Freunden. Viele<br />

klagen über Kopfschmerzen oder<br />

Schlaflosigkeit. Jugendliche sind<br />

oft gereizt und übellaunig, jüngere<br />

Kinder können durch Spielunlust,<br />

verstärkte Trennungsangst oder<br />

Bauchweh auffallen. Halten solche<br />

Symptome über Wochen an, ist<br />

der Rat einer Fachperson hilfreich;<br />

besonders dann, wenn das Gespräch<br />

mit dem Kind keine Besserung<br />

bringt. Dann helfen Elternberatungsstellen<br />

weiter.<br />

Unterschied Die Symptome, welche<br />

die Erschöpfungsdepression mit<br />

sich bringt, treten auch bei der<br />

klassischen Depression auf. Die<br />

Krankheitsbilder sind allerdings nicht<br />

zu verwechseln: Die Erschöpfungsdepression<br />

entsteht, wie der Name<br />

schon sagt, aus der Erschöpfung<br />

heraus, bei der klassischen<br />

Depression ist die Erschöpfung eine<br />

Folge der Krankheit.<br />

Zahlen Über die Häufigkeit des<br />

Burnouts im Kindes- und Jugendalter<br />

gibt es kaum Daten. Der Jugendpsychiater<br />

und Buchautor Michael<br />

Schulte-Markwort schätzt, dass etwa<br />

drei bis fünf Prozent aller Kinder und<br />

Jugendlichen davon betroffen sind,<br />

meist Teenager. «Es gibt allerdings<br />

viele Hinweise darauf, dass die<br />

Altersgrenze sinkt», sagt Schulte-<br />

Markwort.<br />

Anfälligkeit Meist habe er es mit<br />

leistungsorientierten Mädchen zu<br />

tun, die an ihrem Perfektionismus<br />

zerbrächen, sagt Schulte-Markwort.<br />

Allerdings beanspruchten Knaben<br />

auch seltener Hilfe: «Sie sind oft<br />

nicht so redefähig und -willig wie<br />

Mädchen.»<br />

Generell, so der Jugendpsychiater,<br />

treffe Burnout Jugendliche an Gymnasien<br />

häufiger als Altersgenossen,<br />

die eine Schule mit niedrigerem Leistungsprofil<br />

besuchen. Es ist zudem<br />

bekannt, dass Kinder aus Scheidungsfamilien<br />

ein erhöhtes Risiko<br />

für psychische Erkrankungen haben.<br />

Gilt das auch fürs Burnout? «Mein<br />

Befund lässt den Schluss leider zu»,<br />

sagt Schulte-Markwort.<br />

Laut dem Jugendpsychiater sind<br />

auch Kinder aus armutsgefährdeten<br />

Familien und solche mit Mobbin g-<br />

erfahrungen anfälliger für Erschöpfungsdepressionen.<br />

Bild: Gabrielle Duplantier / plainpicture<br />

24 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Für etwas brennen, sich<br />

mit einer Sache identifizieren,<br />

bietet den besten Schutz<br />

gegen Stress und Burnout.<br />

>>> ausläuft, liegt nahe», findet<br />

Aklin. Mit Verständnis dürften<br />

Jugendliche jedenfalls nicht rechnen,<br />

weder in der Schule noch auf<br />

dem Arbeitsmarkt. Auch da fehle es<br />

nämlich am Willen, sich ernsthaft<br />

mit Kindern auseinanderzusetzen.<br />

Mit der Folge, dass auf der Strecke<br />

bleibe, wer seinen Knoten nicht im<br />

Alleingang löse.<br />

Rasender Stillstand<br />

Jugendliche mit lückenhaftem Leistungsausweis<br />

oder Brüchen im<br />

Lebenslauf hätten es zunehmend<br />

schwerer, weiss Aklin: «Arbeitgeber<br />

hätten am liebsten Nachwuchs nach<br />

Konfektion. Einen jungen Menschen<br />

einzustellen, den man noch etwas<br />

unter die Fittiche nehmen muss, der<br />

dafür aber Entwicklungspotenzial<br />

hat, kommt für die meisten nicht<br />

infrage. Es bedeutet zu viel Aufwand.»<br />

Was fehle, seien Erwachsene, die<br />

wirklich Lust hätten, Jugendliche zu<br />

begleiten – mit Herz, Standhaftigkeit<br />

und der nötigen Ausdauer.<br />

Paradoxerweise, glaubt Aklin, sei es<br />

diese fehlende Hingabe, das Leben<br />

auf Sparflamme, das uns ausbrennen<br />

lasse: «Wir horten unsere Energie,<br />

um sie darauf zu verwenden, dem<br />

nächstbesten Vorteil hinterherzujagen.<br />

Das erzeugt keine Befriedigung,<br />

sondern Unruhe.»<br />

«Rasender Stillstand», nennt<br />

Jugendarbeiter Daniele Gasparini<br />

das Phänomen. In der sogenannten<br />

Leistungsgesellschaft bedeute Leistung<br />

zu einem grossen Teil das taktische<br />

Abwägen von Optionen, die<br />

kaum mehr zu überblicken seien.<br />

Die «Multioptions-Kultur», sagt<br />

Gasparini, sei anstrengend, vor<br />

allem für Jugendliche. Manche lassen<br />

sich von ihren Verführungen<br />

aber viel weniger stressen, weiss der<br />

Jugendexperte: «Es sind jene, die<br />

ihre Aufmerksamkeit einer be -<br />

stimm ten Sache verschrieben ha -<br />

ben.» Jugendliche, die, um die Metapher<br />

aufzugreifen, brennen für<br />

etwas. Ihr Engagement trifft dabei<br />

freilich nicht immer die Vorstellungen<br />

der Eltern.<br />

«Bei uns gehören etwa die Sprayer<br />

zu den Glücklichsten», sagt Salome<br />

Gasparini, die zusammen mit<br />

ihrem Vater Daniele die Jugendarbeit<br />

einer Zürcher Seegemeinde<br />

koordiniert. «Graffitikunst ist zwar<br />

mitunter illegal, aber offensichtlich<br />

sinnstiftend: Sie verlangt Hingabe<br />

und den Zusammenhalt als Gruppe.»<br />

So spende die Peergroup ihren<br />

Mitgliedern Kraft und Zufriedenheit,<br />

mache sie weniger anfällig für<br />

Nebengeräusche. Das gelte auch für<br />

die Fankultur im Sport, «früher auch<br />

in der Musik», sagt Salome Gasparini,<br />

«aber diese Subkulturen sind<br />

weitgehend ausgestorben».<br />

Die Identifikation mit einer<br />

Bewegung oder Sache, sind Vater<br />

und Tochter Gasparini überzeugt,<br />

sei ein wirksamer Schutzmechanismus<br />

gegen Stress und Burnout.<br />

Bloss: Sich richtig ins Zeug zu legen<br />

für etwas, das sei bei den meisten<br />

Jungen nicht mehr gefragt. «Sie halten<br />

uns damit den Spiegel vor»,<br />

sagen die Jugendarbeiter, «wir<br />

Erwachsenen haben ja auch keine<br />

Visionen.»<br />

Wohin des Weges?<br />

Ja: Wir driften selbst auf dem Meer<br />

der Möglichkeiten. Stellt sich die<br />

Frage, was uns als Kompass dienen<br />

soll. Normen und Werte, die Korsett<br />

und Wegweiser zugleich waren,<br />

haben wir so weit hinterfragt, dass<br />

die meisten ihre Gültigkeit verloren<br />

haben. Man kann das beängstigend<br />

finden oder befreiend. Was bedeutet<br />

es für unsere Kinder? «Jede Generation<br />

sieht sich vor neue, bisher unbekannte<br />

Herausforderungen gestellt»,<br />

sagt der Jugendpsychiater Alain Di<br />

Gallo. «Sicher haben allerdings<br />

Geschwindigkeit und Frequenz der<br />

Veränderungen in der letzten Dekade<br />

zugenommen, und damit die<br />

Gefahr von Verunsicherung und<br />

Identitätskrisen.»<br />

Dass solche Stresssymptome und<br />

möglicherweise sogar damit verbundene<br />

psychische Störungen bei<br />

Jugendlichen zunehmen, sei jedoch<br />

eine Vermutung, die wir durchaus<br />

kritisch hinterfragen sollten, findet<br />

Di Gallo. «Die Adoleszenz ist eine<br />

Lebensspanne des Umbruchs, der<br />

Öffnung und Krisen und war schon<br />

immer mit Zukunftsängsten verbunden.»<br />

Wie können wir Kindern helfen,<br />

sie zu bewältigen? «Am wichtigsten<br />

erscheint mir, Vertrauen in ihre Entwicklung<br />

zu zeigen, ihre Stärken zu<br />

fördern und sie in ihren Schwächen<br />

zu unterstützen», sagt Di Gallo.<br />

«Dazu gehört auch das Setzen von<br />

Grenzen. Lernen bedeutet nicht<br />

immer Vergnügen. Es fordert Durchhaltewillen<br />

und Verzicht.»<br />

>>><br />

Virginia Nolan<br />

war als Teenager davon überzeugt, dass<br />

die Welt da draussen auf sie warte. Die<br />

Rechnung ging zwar nicht immer auf – ihren<br />

Optimismus hat sich die Autorin trotzdem<br />

bewahrt. Heutigen Jugendlichen wünscht sie<br />

mehr Abenteuerlust statt Zukunftsangst.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>25


«Wir idealisieren<br />

die Vergangenheit»<br />

Die Klage über Leistungsdruck ist fast so alt wie die Menschheit selbst, sagt Martin<br />

Dornes. Der Entwicklungspsychologe über Schulreformen, Förderwahn und warum Kinder<br />

und Eltern heute nicht mehr Stress haben als früher. Interview: Virginia Nolan<br />

Herr Dornes, Sie bestreiten, dass Kinder<br />

und Eltern unter Druck stehen.<br />

Warum?<br />

Leistungsdruck wird seit Jahrzehnten<br />

immer wieder vorgebracht und<br />

als Grund sowohl für Unzufriedenheit<br />

in der Schule und im Stu dium<br />

angeführt als auch für die angebliche<br />

Zunahme seelischer Erkrankungen,<br />

zunehmende Ju gendgewalt, Alkoholkonsum,<br />

Computersucht und so<br />

weiter. Offenkundig handelt es sich<br />

dabei um einen Universalschlüssel,<br />

der beliebig einsetzbar ist.<br />

Was macht Sie da so sicher?<br />

Wir hatten es bereits früher mit an ­<br />

geblich zunehmend erschöpften<br />

Kindern und Erwachsenen zu tun.<br />

Die dokumentierte Verbreitung der<br />

vegetativen Dystonie, später auch<br />

Stresssyndrom genannt, betrug<br />

Anfang der 1960er-Jahre 30 bis 50<br />

Prozent, was alle heutigen Burnout-<br />

Ziffern in den Schatten stellt. Als<br />

Ursache galt, wie übrigens schon<br />

1890 für die später als Erschöpfungsdepression<br />

umschriebene Neurasthenie,<br />

die «Hochtourenzivilisation»<br />

mit ihren vielfältigen Anforderungen<br />

in Arbeit und Freizeit. Eine<br />

Hamburger Studie von 1958 ergab,<br />

dass 61 Prozent aller 10- bis 11-Jährigen<br />

mindestens ein psychopathologisches<br />

Symptom wie Kopfschmerzen,<br />

Einschlafstörungen, Übelkeit<br />

oder Zähneknirschen aufwiesen. Die<br />

Zeitdiagnose lautete: wachsender<br />

Verkehr und Strassenlärm, vom<br />

Wiederaufbau erschöpfte Mütter<br />

und «neue» Medien – damals amerikanische<br />

Comic-Hefte. An unseren<br />

Schulen orteten Soziologen bereits<br />

1978 «extremen Leistungsdruck».<br />

Gerade was die Schule betrifft, gibt<br />

es aber Anhaltspunkte dafür, dass<br />

die Leistungsanforderungen nicht<br />

gestiegen sind.<br />

«Die Anforderungen<br />

an schulische<br />

Leistungen sind<br />

nicht gewachsen.»<br />

Zum Beispiel?<br />

Wenn in Deutschland heute 50 Prozent<br />

eines Jahrgangs Abitur machen<br />

– zu meiner Zeit waren es 10 Prozent<br />

– und die durchschnittliche Ab ­<br />

schlussnote in den letzten 15 Jahren<br />

mit jedem Jahrgang besser geworden<br />

ist, liegt der Gedanke an gelockerte<br />

Leistungsanforderungen nahe.<br />

Denk bar ist auch, dass heute zu viele<br />

Kinder das Gymnasium besuchen,<br />

die dafür nicht die notwendigen<br />

Voraussetzungen mitbringen und<br />

sich deshalb überfordert fühlen.<br />

Der Stress beginnt nicht erst im Gymnasium.<br />

Experten wie der Kinderarzt<br />

Herbert Renz-Polster monieren, dass<br />

schon die Primarschule vom Lernort<br />

zum Arbeitsmarktzulieferer verkomme.<br />

Das halte ich für eine typische Nost<br />

algiethese. Sie impliziert, dass die<br />

Schule früher ein Lernort war und<br />

es heute nicht mehr ist. Wann hat<br />

die Schule denn diesen Glorienschein<br />

des Lernorts verloren? Dass<br />

wirtschaftliche und wettbewerbs ­<br />

orientierte Interessen die Schullandschaft<br />

dominieren, ist eine der vielen<br />

Halbwahrheiten, die über die Schule<br />

zirkulieren. Die meisten Schulreformen<br />

der letzten 40 Jahre sind<br />

nicht von der Wirtschaft gefordert,<br />

sondern von Politikern implementiert<br />

worden – und zwar meist unter<br />

dem Vorzeichen der Emanzipation,<br />

des Nachteilsausgleichs, der Förderung<br />

Benachteiligter, der Inklusion.<br />

Richtig ist, dass die Bedeutung qualifizierter<br />

Schulabschlüsse zugenommen<br />

hat und das Anliegen der Eltern,<br />

ihr Kind solle Abitur beziehungsweise<br />

die Matura machen.<br />

Was mitunter im viel diskutierten<br />

Förderwahn gipfelt.<br />

Die Verschulung der Kindheit durch<br />

übertriebene Förderung wird seit<br />

mindestens 35 Jahren diskutiert.<br />

Schon 1981 schrieb der US-Psychologe<br />

David Elkind ein Buch, das sich<br />

26 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

damit befasste und die These «college<br />

starts at two» aufstellte. Dafür<br />

wurden Einzelbeispiele wie Fremdsprachenunterricht<br />

ab zwei als Beleg<br />

angeführt. Die gibt es immer. Die<br />

Pädagogin, Dokumentarfilmerin<br />

und Sachbuchautorin Donata<br />

Elschenbroich dagegen hat Dutzende<br />

von Frühförderungseinrichtungen<br />

und Kitas besucht. Ihr Resümee<br />

lautet: «Unseren Kindern, egal aus<br />

welchen Elternhäusern, wird heute<br />

so achtungsvoll begegnet wie in keiner<br />

Generation zuvor.» Warum<br />

reden wir nicht darüber?<br />

Sagen Sie es uns.<br />

Fragt man Erwachsene nach dem<br />

Zustand der Jugend, so hört man seit<br />

je überwiegend pessimistische Antworten.<br />

Befragt man sie hingegen<br />

danach, wie es ihren Kindern oder<br />

denen ihrer Bekannten geht, ist es<br />

umgekehrt. Aus Umfragen und Studien<br />

wissen wir auch, dass die Le ­<br />

benszufriedenheit von Kindern im<br />

deutschen Sprachraum sehr gross ist.<br />

Die Jugendforscher Hurrelmann<br />

und Albrecht etwa konstatieren in<br />

ihrer einschlägigen Arbeit von 2016:<br />

«Mit Stress können die meisten<br />

beeindruckend gut umgehen, auch<br />

wenn sie gerne jammern.»<br />

Hurrelmann spricht in der aktuellen<br />

Shell-Jugend-Studie aber auch von<br />

einer «Generation unter Druck». Demnach<br />

spiele insbesondere der unbe -<br />

rechenbar gewordene Arbeitsmarkt<br />

eine Rolle.<br />

Unstrittig ist, dass sich die Erwartungen<br />

an Arbeitnehmer verändert<br />

haben. Früher wurden Erduldung<br />

von Monotonie am Fliessband und<br />

Folgebereitschaft bei Anweisungen<br />

erwartet, heute Flexibilität und Selbständigkeit.<br />

Wieso sollte das einen<br />

zunehmenden Druck darstellen?<br />

Eben: weil Berechenbarkeit fehlt.<br />

Erwartungen und Anforderungen<br />

verändern sich, das war schon immer<br />

so. Zwischen 1950 und 1970 sind die<br />

meisten bäuerlichen Arbeitsplätze<br />

verschwunden und durch industrielle<br />

ersetzt worden. Stress bei der<br />

Arbeit gab es früher reichlich: Arbeiter<br />

litten unter schwerer körperlicher<br />

Belastung und den langen Arbeitszeiten.<br />

Wir idealisieren die Vergangenheit.<br />

Vati gehörte damals samstags<br />

noch dem Arbeitgeber, nicht der<br />

Familie.<br />

«Partnerschaftliche<br />

Erziehung ist eine<br />

gute Vorbereitung<br />

aufs Leben.»<br />

Heute sind Eltern dafür im Stress,<br />

weil sie alles allein schaffen müssen:<br />

Kinderbetreuung, Beruf, Haushalt. Das<br />

Los der heutigen Kleinfamilie?<br />

Dieser Topos wird überstrapaziert.<br />

Oft hört man dann noch die afrikanische<br />

Weisheit, dass es ein ganzes<br />

Dorf brauche, um ein Kind grosszuziehen.<br />

Oder den Hinweis, dass<br />

einem früher die Grossmutter zur<br />

Seite gestanden sei. Da werden das<br />

Dorf und die Grossfamilie idealisiert.<br />

Die meisten afrikanischen Dörfer<br />

sind keine Idyllen, und das Verhältnis<br />

zwischen den Generationen<br />

war früher oft angespannt. Die Mutter<br />

wünschte sich nichts sehnlicher,<br />

als von der bevormundenden Grossmutter<br />

in Ruhe gelassen zu werden.<br />

Gleichwohl boten feste Strukturen<br />

und verbindliche Werte auch Sicherheit.<br />

Heute ist alles offen. Birgt das<br />

neben vielen Vorteilen nicht auch die<br />

Gefahr, dass Orientierungslosigkeit<br />

uns überfordert?<br />

Was früher die Gesellschaft vorgab,<br />

dürfen oder müssen wir nun selbst<br />

herausfinden. Das erhöht zweifellos<br />

die Anforderungen an die Selbst ­<br />

organisierungs- und Selbststeuerungsfähigkeiten<br />

von Eltern und<br />

Kindern. Das ist psychische Arbeit<br />

und manchmal anstrengend. Es<br />

besteht das Risiko, dass manche<br />

Menschen diesem erhöhten Selbststeuerungsaufwand<br />

nicht gewachsen<br />

sind. Gerade jene, die nicht in einem<br />

verhandlungsorientierten Elternhaus<br />

aufgewachsen sind. Ein starrer<br />

Baum bricht im Wind, ein biegsamer<br />

nicht. Das macht doch deutlich, dass<br />

frühere «Sicherheiten» keine Leit ­<br />

linie für Erziehung mehr sein können.<br />

Die heute verbreitete partnerschaftliche<br />

oder demokratisierte<br />

Erziehung erachte ich dagegen als<br />

ganz gute Vorbereitung aufs Leben.<br />

Es heisst aber auch, sie führe zu verunsicherten<br />

Eltern.<br />

Sie mag mit manchen Verhaltensunsicherheiten<br />

verbunden sein; darüber,<br />

was nun erlaubt oder geboten<br />

ist. Unsicherheit kann aber auch<br />

produktiv sein, sie regt zum Nachdenken<br />

über unser Tun an. Bei all<br />

den Debatten über Verunsicherung,<br />

Überforderung und Druck drohen<br />

wir die eine historische Errungenschaft<br />

des Erziehungswandels aus<br />

den Augen zu verlieren: Sie besteht<br />

darin, dass wir die Gewalt aus dem<br />

Eltern-Kind-Verhältnis zurückgedrängt<br />

haben und kindbezogener<br />

erziehen. Allein dieser Vorteil wiegt<br />

alle eventuellen Nachteile auf.<br />

Zur Person<br />

Martin Dornes, 67, ist ein deutscher<br />

Soziologe, Psychologe und Psychotherapeut.<br />

Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen<br />

in den Bereichen Entwicklungspsychologie,<br />

Psychoanalyse, Sozialisationstheorie,<br />

Familienforschung, Eltern-Kind-Beziehung. Der<br />

Autor zahlreicher Sachbücher ist verheiratet<br />

und Vater eines erwachsenen Sohnes.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>27


Erfolg ist Kopfsache<br />

Für Schulstress gibt es viele Gründe. Einer der häufigsten ist die Angst vor Prüfungen. Der Lernforscher<br />

Josef Meier hat eine Methode entwickelt, die Schülern hilft, Druck und Nervosität abzubauen. Sie heisst<br />

stressreduziertes Lernen (SRL) und erzielt vielversprechende Resultate. Text: Virginia Nolan<br />

hielt Vorträge. Heute wird SRL in 17<br />

Ländern Europas sowie in Südafrika<br />

unterrichtet. Die Ausbildung wird<br />

im Fernstudium absolviert. In der<br />

Schweiz gibt es bisher zwei Multiplikatoren,<br />

Pädagogen aus der Erwachsenenbildung.<br />

In der Volksschule ist<br />

SRL noch nicht an gekommen.<br />

Das kennt wohl jeder:<br />

Man hat sich tagelang<br />

auf eine Prüfung<br />

vorbereit, und<br />

im entscheidenden<br />

Moment ist das Gelernte weg.<br />

Für Stress in der Schule gibt es<br />

viele Gründe, Prüfungsangst ist<br />

einer der häufigsten, weiss Josef<br />

Meier, der als Englischlehrer an verschiedenen<br />

Schulstufen unterrichtete<br />

und heute an der Universität<br />

Augsburg zu innovativen Lern- und<br />

Mentaltechniken forscht. Aus seiner<br />

Erfahrung als Lehrer weiss er zu gut,<br />

wie Nervosität den Lernerfolg be -<br />

einträchtigt: «Immer wieder berichteten<br />

Eltern, wie ihre Kinder viel für<br />

Prüfungen gelernt und dann aus<br />

Stress versagt hätten.» Für die Kinder<br />

führe der Frust auf Dauer zu<br />

Motivationsproblemen.<br />

Meier wollte helfen. Aus dem<br />

Sport mit Mentaltechniken vertraut,<br />

fing er an, Entspannungsmethoden,<br />

Atemtechniken, Visualisierungen<br />

und Konzentrationsübungen in der<br />

Schule anzuwenden. Er entwickelte<br />

seine eigene Methode, das stressreduzierte<br />

Lernen (SRL). Über ein<br />

Jahr lang testete er sie an Schulen.<br />

Mit Erfolg: «Die Kinder waren<br />

entspannter und konnten sich besser<br />

konzentrieren.» Meier begann, Kollegen<br />

in seiner Methode anzuweisen,<br />

stellte Lernmaterial zusammen,<br />

In der Entspannung dreht das<br />

Gehirn auf<br />

Wünschenswert wäre es, denn Forschungsresultate<br />

sprechen für die<br />

Methode. Um deren Wirksamkeit zu<br />

prüfen, hat Meier eine Untersuchung<br />

durchgeführt, an der sich 70 deutsche<br />

Schulklassen beteiligten. Durch<br />

das internationale Lehrernetzwerk<br />

LTE konnte er seine Studie auf 15<br />

weitere europäische Länder ausweiten.<br />

Fast 10 000 Schüler haben teilgenommen.<br />

Erste Resultate der noch<br />

unveröffentlichten Analyse geben<br />

Meier recht: In Deutschland etwa<br />

sagten 56 Prozent der Schüler, sie<br />

seien vor jedem Test nervös. Nach<br />

dem Unterricht mit SRL gab mehr<br />

als ein Drittel dieser Betroffenen an,<br />

sich vor Prüfungen viel entspannter<br />

zu fühlen. In Spanien war es sogar<br />

mehr als jeder zweite Schüler.<br />

Der Schlüssel zum Erfolg liegt im<br />

Alphazustand, einem Bewusstseinszustand,<br />

wie er in Tagträumen,<br />

vor dem Einschlafen oder beim<br />

Übergang zum Wachwerden eintritt.<br />

Dabei bewegen sich die Gehirnwellen<br />

mit etwa 7 bis 14 Hertz. «Dann<br />

lernen wir am effizientesten», sagt<br />

Meier. «Nicht umsonst fällt uns die<br />

Lösung für ein Problem oft beim<br />

28 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Aufwachen ein.» Im Alphazustand<br />

wird der Balken, welcher linke und<br />

rechte Gehirnhälfte verbindet,<br />

durchlässiger für Informationen.<br />

Die linke Gehirnhälfte ist laut Wissenschaft<br />

eher zuständig für die<br />

logischen, sich wiederholenden Prozesse<br />

und beherrscht die Konzentration<br />

aufs Detail, die rechte hat<br />

eine überschauende Funktion. Der<br />

Alphazustand lässt uns von den spezifischen<br />

Arbeitsweisen beider Ge ­<br />

hirnhälften profitieren. Stressreduziertes<br />

Lernen soll Schülern helfen,<br />

sich in diesen Zu stand zu versetzen.<br />

«Die meisten Schüler atmen<br />

falsch»<br />

Zum Beispiel mit Entspannungsmusik.<br />

Dabei legen die Schüler den<br />

Kopf auf den Tisch, die Lehrerin gibt<br />

An weisungen zur Atmung, nimmt<br />

die Klasse mit auf eine Fantasiereise,<br />

erzählt vom Meeresrauschen am<br />

Strand. Diese Übung sei vor Prüfungen<br />

sinnvoll, sagt Meier, aber es empfehle<br />

sich auch, in der Schule den<br />

Tag damit zu beginnen. Selbst die<br />

Quirligsten kämen so zur Ruhe.<br />

«Die meisten Schüler atmen<br />

falsch», weiss er auch. Verbreitet sei<br />

der Irrglaube, tiefes Einatmen trage<br />

zur Entspannung bei. «Das Gegenteil<br />

ist der Fall», sagt Meier, beim<br />

Herunterfahren gehe es um tiefes<br />

Ausatmen. Das will gelernt sein.<br />

Meier plädiert dafür, Entspannungstechniken<br />

in den Alltag einzubauen,<br />

denn sie gelingen nur durch Üben.<br />

Etwa innerliches Rückwärtszählen:<br />

Neulinge fangen bei 30 an, Geübte<br />

bei 15, um sich zu beruhigen.<br />

Mit dem Daumen in der Luft eine<br />

Acht nachzeichnen, von links nach<br />

rechts, dann umgekehrt – auch das<br />

ist eine von Meiers Kurzübungen,<br />

welche die Konzentration auf eine<br />

einzige Sache und so die Entspannung<br />

fördern. «Vor Prüfungen helfen<br />

sie, gelassener an die Sache zu<br />

gehen», sagt Meier. Er habe seine<br />

Schüler stets ermutigt, sich beim<br />

Test ein paar Minuten für Entspannungstechniken<br />

zu nehmen. «Das<br />

ist keine verlorene Zeit, es zahlt sich<br />

zehnfach aus, wenn man so gar nicht<br />

erst ins Haspeln gerät.»<br />

SRL vermittelt auch Techniken,<br />

Gelerntes besser abrufen zu können;<br />

etwa mithilfe von Visualisierungen.<br />

Ein Beispiel: Lehrpersonen lassen<br />

Schüler zu Prüfungsthemen Mindmaps<br />

erstellen und fordern sie am<br />

Prüfungstag auf, sich diese in Erinnerung<br />

zu rufen. So holen die Schüler<br />

gedanklich wieder hervor, was sie<br />

sich bereits einmal notiert haben.<br />

Das sei ein wirksamer Trick, um<br />

Blackouts vorzubeugen, sagt Meier.<br />

Eine weitere Baustelle im Kampf<br />

gegen Stress und Nervosität ist die<br />

emotionale Negativspirale, in die<br />

Schüler vor einem Test oft geraten.<br />

«Erwachsene kennen das auch», sagt<br />

Meier, «wir malen uns am Morgen<br />

aus, wie schlecht das Gespräch mit<br />

dem Vorgesetzten laufen wird, und<br />

stellen am Abend erleichtert fest,<br />

dass alles halb so wild war. Diese<br />

Erkenntnis sollten wir verinnerlichen<br />

– und beim nächsten Mal als<br />

Wegweiser abrufen.»<br />

Vom Leistungssport lernen<br />

Wer sich das Versagen einrede, müsse<br />

damit rechnen, dass es auch eintrete.<br />

«Umgekehrt», sagt Meier, «lässt<br />

sich Erfolg durch positives Denken<br />

ein Stück weit programmieren.» Der<br />

Lernforscher arbeitet dafür mit Affirmationen,<br />

positiven Bildern und<br />

Glaubenssätzen, die Schülern helfen,<br />

mit mehr Zuversicht an die Prüfungssituation<br />

heranzutreten.<br />

Diese Art mentales Training sei<br />

im Leistungssport gang und gäbe,<br />

sagt Meier. So spielten etwa Skispringer<br />

ihren Absprung zunächst<br />

in Gedanken durch, und Messgeräte<br />

hätten ergeben, dass diese Visualisierungen<br />

körperlich spürbar seien:<br />

Die Muskeln führten exakt die Be ­<br />

wegungen aus, die sie später beim<br />

Absprung vollzögen. «Was im Sport<br />

üblich ist», findet Meier, «sollte endlich<br />

auch in der Schule ankommen.»<br />

Mehr Infos auf: www.e-f-l.net<br />

Im nächsten Heft:<br />

Richtig streiten<br />

Bilder: Caterina Sansone / plainpicture, iStockphoto<br />

Hausaufgaben, Handykonsum, Drogen: Was bringt<br />

Eltern in Rage? Worüber streiten sie mit ihren<br />

Kindern? Und wie streitet man richtig? Drei Familien<br />

berichten. Und der Experte weiss Rat, wie sich<br />

Konflikte vermeiden lassen. In der März-Ausgabe.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>29


Monatsinterview<br />

«Wir sind auf die Eltern<br />

angewiesen»<br />

In jedem Kanton gibt es Schulpsychologische Dienste. Ihr Angebot steht Kindern und<br />

Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung. Doch was sind<br />

das für Fälle, bei denen Schulpsychologen hinzugezogen werden? Schulpsychologin<br />

Ruth Etienne Klemm über ihre Arbeit, auffällige Schüler und überforderte Eltern.<br />

Interview: Evelin Hartmann Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo<br />

Ein schön restauriertes Stadthaus<br />

im Zürcher Kreis 6. Im 3. Stock<br />

befinden sich die Räume des<br />

Schulpsychologischen Dienstes<br />

Waidberg. Im Gang eine Spielecke,<br />

im Büro der Schulpsychologin eine<br />

Sandkiste mit Sandspielzeug. Ruth<br />

Etienne Klemm lächelt, streicht über<br />

den Rock ihres Kostüms, setzt sich.<br />

Vor ihr auf dem Tisch liegen<br />

ausgebreitet Unterlagen. Sie hat sich<br />

gut vorbereitet auf das Gespräch mit<br />

der Journalistin.<br />

Frau Etienne Klemm, als Schulpsychologin<br />

arbeiten Sie mit Lehrpersonen,<br />

Schulleitern, der Schulpflege und<br />

Eltern eng zusammen. Mit welchen<br />

Sorgen kommen Eltern zu Ihnen?<br />

Wenn sich Eltern an den Schulpsychologischen<br />

Dienst wenden, geht<br />

es immer um Schwierigkeiten ihrer<br />

Kinder in der Schule und mit dem<br />

Lernen. Sie machen sich Sorgen, dass<br />

ihr Kind schulisch nicht recht vom<br />

Fleck kommt, denken, dass ihr Kind<br />

vom Lehrer nicht «richtig» gesehen,<br />

in seinen Fähigkeiten und seinem<br />

Bemühen nicht richtig eingeschätzt<br />

wird, oder sie sagen, dass sich das<br />

Kind in der Klasse nicht wohlfühlt.<br />

Was heisst das konkret?<br />

Machen wir ein Beispiel: Ein Kind<br />

ist in der 6. Klasse und möchte an<br />

die Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium<br />

gehen. Die Eltern sind überzeugt,<br />

dass diese Schule genau das<br />

Richtige für ihr Kind ist. Die Lehrpersonen<br />

hingegen sehen einige<br />

Schwierigkeiten beim Lernen und<br />

bei der Arbeitshaltung. Dann kann<br />

es sein, dass die Eltern mit der Idee<br />

«Manche Eltern<br />

delegieren ihre<br />

Träume an die<br />

Kinder. Und<br />

überfordern sie.»<br />

was? Ist diese Schwierigkeit den<br />

Lehrpersonen auch in den vorangegangenen<br />

Schuljahren aufgefallen?<br />

Wurden Massnahmen, wie spezielle<br />

Lese- oder Rechtschreibtrainings,<br />

ergriffen? Mit welchem Erfolg? Falls<br />

nicht, kann das Kind von uns abgeklärt<br />

werden. Dies muss natürlich<br />

sehr sorgfältig erfolgen, damit nicht<br />

der Verdacht aufkommt, die Eltern<br />

wollten dem Kind nur einen Vorteil<br />

verschaffen.<br />

Haben Sie ein weiteres Beispiel für<br />

uns?<br />

Ein anderes Mal haben mich Eltern<br />

kontaktiert, die der Meinung waren,<br />

ihr 8-jähriger Sohn sei sehr begabt<br />

und langweile sich im Unterricht. Sie<br />

hatten im Familienrat darüber<br />

gesprochen, ob der Junge vielleicht<br />

eine Klasse überspringen sollte. Er<br />

sei so lernbegierig und die Eltern<br />

wollten, dass er sich die Freude am<br />

Lernen erhält. Ich bin dann auf die<br />

Lehrerin zugegangen, die im Grunde<br />

gleicher Meinung war. Der Bub<br />

sei auf der kognitiven und sozialen<br />

Ebene sehr weit. Sie war sich aber<br />

nicht sicher, ob er auch schon von<br />

der emotionalen Reife in eine vierte<br />

Klasse passen würde.<br />

Wie sind Sie vorgegangen?<br />

zu uns kommen, ihr Sohn, ihre Tochter<br />

habe eine Rechtschreibschwäche,<br />

für die sie einen Nachteilsausgleich<br />

erwirken möchten. Das würde be ­<br />

deuten, dass das Kind zusätzliche<br />

Zeit bekommt oder gewisse Hilfsmittel,<br />

zum Beispiel einen Rechtschreibeduden,<br />

bei der Prüfung<br />

verwenden darf.<br />

Und der Schulpsychologische Dienst<br />

geht dem nach.<br />

Wir kontaktieren die Schule, die das<br />

Kind besucht. Hat man dort bereits Ich habe die ganze Familie zu Ge ­<br />

etwas unternommen, und, wenn ja, sprächen eingeladen. Ich woll­ >>><br />

«Ich bedaure<br />

Jugendliche, die<br />

sich durchs Gymi<br />

quälen, weil sie<br />

für diese<br />

Schulform nicht<br />

geeignet sind»,<br />

sagt Ruth<br />

Etienne Klemm.<br />

30 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


31


Monatsinterview<br />

>>> te ihre Sicht gut kennenlernen Mit welchen Problemen kommen<br />

und habe einen IQ-Test mit dem<br />

Jungen und projektive Verfahren<br />

(Sandspiele, Zeichnungen) durchgeführt.<br />

Wir haben über mögliche Konfliktsituationen<br />

und Hürden in der<br />

zukünftigen Klasse gesprochen und<br />

sie probehalber auch ein bisschen<br />

durchgespielt: «Was kannst du in<br />

einem solchen Fall machen?» «Was<br />

tust du normalerweise?» Nach so<br />

Lehrperson auf Sie zu?<br />

Häufig geht es bei ihren Anfragen<br />

um sehr unruhige Kinder, die den<br />

Unterricht stören, laut sind, dem<br />

Stoff nicht folgen können. Oder sie<br />

haben den Eindruck, sie könnten sie<br />

nicht genügend fördern, die grosse<br />

Regelklasse wäre kein adäquater<br />

Rahmen für deren besondere<br />

Bedürfnisse. Sie vermuten beispielsweise<br />

einem Gespräch kann man die sozialen<br />

und emotionalen Möglichkeiten<br />

und Fähigkeiten des Kindes besser «Viele Eltern haben<br />

einschätzen.<br />

Und welchen Eindruck hatten Sie von den Kopf nicht frei,<br />

dem Jungen?<br />

um sich mit<br />

Er war auf eine sympathische, herzige<br />

Weise noch ein junger Schulbub. ihren Kindern zu<br />

Also hatte die Lehrerin ihn richtig eingeschätzt?<br />

beschäftigen.»<br />

Auf jeden Fall! Gemeinsam haben<br />

wir dann eine Gewichtung vorgenommen.<br />

Seine kognitive und seine<br />

soziale Seite waren sehr stark ausgeprägt,<br />

und er hatte bereits ein gutes<br />

emotionales Fundament. Er war<br />

nicht jemand, den man leicht verunsichern<br />

konnte, so dass wir alle den<br />

Eindruck hatten, ein Versuch würde<br />

sich lohnen, trotz aktuell noch fehlender<br />

Reife.<br />

Also hat er eine Klasse übersprungen<br />

…<br />

… und hat es gut gemacht. Heute ist<br />

er am Gymnasium und zufrieden.<br />

ein ADHS und erhoffen sich,<br />

nach einer Abklärung besser zu wissen,<br />

was mit dem Kind los ist. Zum<br />

einen wollen sie das Unterrichtsklima<br />

verbessern, zum anderen dem<br />

Schüler, der Schülerin helfen.<br />

Und wenn die Eltern einer Abklärung<br />

nicht zustimmen?<br />

Das respektieren wir. In einem solchen<br />

Fall würde ich mit der Lehrperson<br />

ihre Fragen besprechen. Je<br />

nachdem könnte es dann sein, dass<br />

ich mir im Rahmen eines allgemeinen<br />

Schulbesuchs in der Klasse einen<br />

Eindruck von der Gesamtdynamik<br />

mache und die Lehrperson berate.<br />

Dabei schauen Sie sich natürlich das<br />

entsprechende Kind an. Angenommen,<br />

sie haben den gleichen Eindruck wie<br />

Die Schulpsychologischen Dienste<br />

die Lehrperson.<br />

Dann würde ich das auch so kommunizieren.<br />

Schulpsychologische Dienste sind öffentliche<br />

Zusammen mit der<br />

Beratungsstellen. Ihr Angebot steht Kindern und Lehrperson würden wir überlegen,<br />

Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen<br />

wie wir die Eltern für eine Zusammenarbeit<br />

kostenlos zur Verfügung. Schulpsychologen<br />

gewinnen und welche<br />

und Schulpsychologinnen führen Abklärungen<br />

weiteren Massnahmen dem Kind<br />

durch, beraten bei Lernschwierigkeiten, bei<br />

helfen könnten, dem Unterricht besser<br />

Verhaltensauffälligkeiten oder bei schulischen<br />

zu folgen.<br />

Laufbahnfragen und empfehlen unterstützende<br />

Welche Massnahmen könnten das<br />

Massnahmen. In allen Kantonen gibt es<br />

sein?<br />

Schulpsychologische Dienste. Informationen und In manchen Fällen hilft es bereits,<br />

Kontaktadressen auf www.schulpsychologie.ch. einen ruhigeren Sitzplatz auszuwäh-<br />

len. Es gibt auch Kopfhörer, die den<br />

Geräuschpegel in der Klasse dämpfen.<br />

Das hilft vielen, sich besser zu<br />

konzentrieren. Andere brauchen<br />

ganz detaillierte Arbeitsanweisungen,<br />

Vorgaben anhand eines Ablaufschemas,<br />

an das sie sich halten können.<br />

Wenn das nicht reicht, brauchen<br />

wir die Eltern mit im Boot. Dann<br />

wird ein gemeinsames Gespräch mit<br />

der Lehrperson, der Schulleitung<br />

und den Eltern vorgeschlagen.<br />

Gibt es eine Instanz, die bestimmen<br />

kann, dass ein Kind von einer Schulpsychologin,<br />

einem Schulpsychologen<br />

abgeklärt wird?<br />

Ja, die Schulpflege. Aber wir versuchen<br />

alles, um solch eine «Zwangsmassnahme»<br />

zu vermeiden. Wir sind<br />

auf die Kooperation der Eltern angewiesen<br />

– sie kennen das Kind am<br />

besten. So ein Fall ist mir zum Glück<br />

noch nicht begegnet. In der Regel<br />

arbeiten alle Seiten sehr gut zusammen.<br />

Zum Wohl des Kindes.<br />

In vielen Gemeinden wurden die<br />

Kleinklassen aufgelöst und die Kinder<br />

mit speziellem Förderbedarf in die<br />

Regelklassen integriert. Inwiefern hat<br />

dies Ihre Arbeit verändert?<br />

Sie sprechen das neue Volksschulgesetz<br />

an. Mit ihm hat es einen Paradigmawechsel<br />

gegeben: von der<br />

Separation zur Integration. Grundsätzlich<br />

ist zu sagen, dass die Klassenzusammensetzung<br />

dadurch heterogener<br />

geworden ist und das Lernen<br />

individualisierter, was eine grosse<br />

Herausforderung für die Lehrpersonen,<br />

aber auch für uns Psychologen<br />

darstellt. Lag der Fokus bisher vor<br />

allem auf den Schwierigkeiten des<br />

Kindes, berücksichtigen wir nun<br />

auch stärker als bisher das Umfeld<br />

des Kindes, die Interaktionen und<br />

alles, was das Mitmachen im Unterricht<br />

beim Kind fördert beziehungsweise<br />

hindert.<br />

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene<br />

hat sich in den letzten Jahren einiges<br />

verändert.<br />

Oh ja. Die Anforderungen an die<br />

Familien sind gestiegen. Viele Eltern<br />

arbeiten heute sozusagen 150 Pro-<br />

32 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Monatsinterview<br />

zent, sind stark belastet und haben<br />

den Kopf nicht frei. Einige sind auch<br />

am Wochenende zu müde, um sich<br />

wirklich mit ihren Kindern zu be ­<br />

schäftigen, auseinanderzusetzen,<br />

und sind dann auch nicht in der<br />

Lage, eine klare Erziehungshaltung<br />

einzunehmen. Sie geben nach, wo<br />

sie nicht nachgeben sollten. Andererseits<br />

haben wir heute viele Familien<br />

mit Migrationshintergrund<br />

beziehungsweise Flüchtlinge, die<br />

unsere Kultur und unser Schulsystem<br />

kaum kennen. Deshalb wird<br />

vieles heute an die Schule delegiert,<br />

wie das Einüben von Regeln oder das<br />

Schenken von Zuwendung und Aufmerksamkeit.<br />

Können Sie uns einen solchen Fall<br />

schildern?<br />

Ich bin einmal im Fall eines kleinen<br />

Erstklässlers zugezogen worden, der<br />

die ganze Klasse aufgemischt hat.<br />

Zwei Lehrer, die Schulleitung, der<br />

Schulpflegepräsident, die Logopädin,<br />

die Eltern und ich sassen zusammen<br />

am runden Tisch. Die Lehrer<br />

haben den Bub als absoluten Störenfried<br />

beschrieben, der nie aufpassen<br />

könne, nichts arbeite, ständig die<br />

anderen Kinder ablenke und nun für<br />

«In der Schule ein<br />

Störenfried, daheim<br />

das liebste Kind.<br />

Das kommt vor.»<br />

den Unterricht untragbar geworden<br />

sei. Die Eltern haben ihren Ohren<br />

nicht getraut. Daheim sei er das<br />

liebste Kind, spiele gerne, helfe Mutter<br />

und Vater. Es war, als hätten wir<br />

von zwei verschiedenen Kindern<br />

gesprochen.<br />

Was haben Sie unternommen?<br />

Wir hatten zwei komplett unterschiedliche<br />

Bilder von ein und demselben<br />

Kind vor uns. Ich wollte diese<br />

beiden Bilder zusammenbringen. Ich<br />

schlug vor, den Buben, der bereits<br />

vom Unterricht ausgeschlossen war,<br />

für einen Monat wieder die Schule<br />

besuchen zu lassen mit der Auflage,<br />

dass Vater oder Mutter ihn begleiteten.<br />

Ich würde nach einer Woche<br />

einen Unterrichtsbesuch machen.<br />

Ich war beeindruckt von dem, was<br />

ich sah. Der Junge hat seine Mutter<br />

permanent auf Trab gehalten, sie<br />

musste ihm ständig hinterherspringen:<br />

«Sei jetzt still», «das musst du<br />

tun», «du darfst jetzt nicht sprechen,<br />

das stört», «setz dich hin und nimm<br />

den Bleistift …»<br />

Wollten die Eltern die Realität nicht<br />

sehen?<br />

Sie konnten die Realität einer Schulklasse<br />

nicht sehen. Die Lehre­ >>><br />

«Wir versuchen<br />

Druck zu<br />

vermeiden,<br />

setzen auf die<br />

Kooperation mit<br />

den Eltern», sagt<br />

Ruth Etienne<br />

Klemm. «Sie<br />

kennen ihr Kind<br />

am besten.»<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>33


Monatsinterview<br />

>>> rin hat 20 Kinder zu betreuen<br />

und nicht ein einziges. Sie ist darauf<br />

angewiesen, dass die Kinder sich an<br />

gemeinsame Regeln halten, dass sie<br />

mehr oder weniger aufpassen, wenn<br />

sie sie dazu auffordert, dass sie zuhören<br />

und das Gefühl entwickeln, ein<br />

Teil einer grösseren Gruppe zu sein.<br />

Der Bub durfte in der Klasse bleiben.<br />

Er hat eine zusätzliche Förderung<br />

bekommen, und die Eltern waren<br />

motiviert, ihrerseits mitzuhelfen,<br />

dass der Junge bleiben konnte.<br />

Die von Ihnen genannten Beispiele<br />

betreffen Primarschüler. Ist Ihre Mitarbeit<br />

bei Oberstufenschülern nicht<br />

mehr gefragt?<br />

Oh doch. Auf der Oberstufe treffen<br />

wir oft noch immer auf die gleichen<br />

Probleme – verschärft durch Schulmüdigkeit<br />

und Pubertätsschwierigkeiten.<br />

Ein grosses Ziel bei diesen<br />

Schülern ist immer, alles daran zu<br />

setzen, dass sie ihren Schulabschluss<br />

machen können, damit sie eine Lehre<br />

oder eine verkürzte Lehre mit<br />

Attest beginnen können. Oft werden<br />

sie auch durch verschiedene Brückenangebote<br />

zusätzlich unterstützt,<br />

damit sie ihren Weg in den ersten<br />

Arbeitsmarkt finden.<br />

«Eltern treibt die<br />

Sorge um, ihre<br />

Kinder könnten<br />

einmal keinen<br />

guten Beruf lernen.»<br />

Was beschäftigt Mütter und Väter<br />

heute am meisten?<br />

Ich denke die Sorge, ihre Kinder<br />

könnten einmal keinen guten Beruf<br />

lernen, den sozialen Aufstieg nicht<br />

schaffen oder vom gesellschaftlichen<br />

Abstieg bedroht sein, ist etwas, das<br />

viele schon sehr früh umtreibt. Eltern<br />

wollen, dass ihre Kinder bestmöglich<br />

geschult und gefördert werden, um<br />

später sichere Jobs zu finden und<br />

gutes Geld zu verdienen. Das baut<br />

eine Menge Druck auf, nicht nur bei<br />

den Kindern, sondern auch in der<br />

Schule. Wir Schulpsychologen versuchen<br />

immer wieder zu helfen,<br />

diesen Stress abzubauen.<br />

Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?<br />

Mir ist es wichtig, zu verstehen, warum<br />

Eltern selber so viel Stress haben<br />

und Stress machen. Die eigene Ge ­<br />

schichte spielt massiv in die Erziehung<br />

hinein – auch die der eigenen<br />

Schulkarriere. Manche kennen diesen<br />

Leistungsdruck aus dem eigenen<br />

Elternhaus. Andere kommen vielleicht<br />

aus einem Land, wo die gesellschaftlichen<br />

und wirtschaftlichen<br />

Bedingungen keine höhere Schulbildung<br />

zuliessen. Ihre Träume delegieren<br />

sie nun an ihre Kinder. Wieder<br />

andere fürchten den globalen Wettbewerb<br />

und denken: Einschulung je<br />

früher, je besser. So argumentierte<br />

einmal ein Vater, der seine Tochter<br />

unbedingt mit knapp sechs Jahren<br />

Evelin Hartmann, stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi, im<br />

Gespräch mit der Zürcher Schulpsychologin Ruth Etienne Klemm.<br />

Zur Person<br />

einschulen lassen wollte, damit, dass<br />

in anderen Ländern die Kinder auch<br />

so früh in die Schule kommen.<br />

«Zeigen Sie breites<br />

Interesse für die<br />

Lebenswelt Ihres<br />

Kindes.»<br />

Was können Sie tun?<br />

Ich versuche Überzeugungsarbeit zu<br />

leisten, dass ein guter Schulstart für<br />

die Kinder entscheidend ist. Gekappte<br />

Kindergartenjahre zahlen sich<br />

selten aus. Im Gegenteil! Wenn die<br />

Kinder schulreif sind, dann sind sie<br />

ausgerüstet für Neues und können<br />

vom Unterricht profitieren – und<br />

übrigens nicht nur sie, sondern alle<br />

rundherum auch.<br />

Dr. phil. Ruth Etienne Klemm ist Schulpsychologin im Schulpsychologischen<br />

Dienst der Stadt Zürich sowie Mutter von zwei erwachsenen Kindern – einer<br />

Tochter und einem Sohn.<br />

34 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Viele Eltern sind sehr präsent, wenn<br />

es um Tests, Prüfungen und so weiter<br />

geht. Setzen sie damit die falschen<br />

Signale?<br />

Die einseitige Gewichtung der Leistung<br />

ist etwas sehr Kontraproduktives.<br />

Eine Faustregel für die Eltern<br />

lautet: Zeigen Sie breites Interesse<br />

für die Lebenswelt Ihres Kindes.<br />

Und da gehört ganz vieles dazu, die<br />

anderen Kinder, die Freunde, die<br />

Schule, ihr Familienalltag, die<br />

gemeinsamen Ausflüge. Dafür<br />

braucht es aber Zeit, die in vielen<br />

Familien heute oft fehlt. Darunter<br />

kann die Beziehung zwischen Eltern<br />

und Kindern leiden. Für die Kinder<br />

und ihre Entwicklung ist es aber<br />

wichtig, eine gute Beziehung zu<br />

ihren Eltern leben, pflegen und entwickeln<br />

zu können. Wenn es dann<br />

aber um den Übertritt ans Gym ­<br />

nasium oder die Sekundarschule<br />

geht, spielen Noten doch eine wichtige<br />

Rolle.<br />

Auch hierzulande wollen immer mehr<br />

Eltern ihre Kinder am Gymi sehen.<br />

Über diese Entwicklung sind wir<br />

Schulpsychologinnen und Schulpsychologen<br />

nicht glücklich. Ich bedaure<br />

die überforderten Kinder, die sich<br />

durchs Gymnasium quälen, weil sie<br />

für diese Schulform nicht geeignet<br />

sind. Für viele Schüler ist ein Sekundarschulabschluss<br />

mit anschliessendem<br />

Lehrabschluss die viel bessere<br />

Grundausbildung und ein gutes<br />

Fundament. Die Erfahrung zeigt,<br />

dass über den Erfolg und die Freude<br />

an dem, was man erreicht hat, die<br />

Lust wächst, weiter zu lernen. Ich<br />

sage Eltern oft: Wenn es uns gelingt,<br />

dass Ihr Kind eine gute Schulkar riere<br />

macht, bei der es glücklich und<br />

zufrieden ist und viel lernt, wird es<br />

seinen Weg machen.<br />

>>><br />

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Kolumne<br />

Kämpfen Sie für sich selbst,<br />

nicht gegen Ihren Mann!<br />

Ein Familienvater trinkt, zieht sich zurück, wirkt depressiv. Seine Familie leidet darunter.<br />

Die siebenjährige Tochter fühlt sich allein und ausgeschlossen. Seine Frau bittet Jesper Juul<br />

um Rat – und bekommt eine Antwort, die sie vor eine grundlegende Entscheidung stellt.<br />

Jesper Juul<br />

ist Familientherapeut und Autor<br />

zahlreicher internationaler Bestseller<br />

zum Thema Erziehung und Familien.<br />

1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />

nach dem Schulabschluss zur See, war<br />

später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />

und Barkeeper. Nach der<br />

Lehrerausbildung arbeitete er als<br />

Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />

und bildete sich in den Niederlanden<br />

und den USA bei Walter Kempler zum<br />

Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />

leidet Juul an einer Entzündung der<br />

Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />

Rollstuhl.<br />

Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />

Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />

Ehe geschieden.<br />

Mein Mann und ich<br />

sind seit acht Jahren<br />

verheiratet<br />

und haben eine<br />

siebenjährige,<br />

wunderbare Tochter. Als ich ihn<br />

kennenlernte, hat er oft getrunken.<br />

Das wurde mit der Zeit zu einer festen<br />

Gewohnheit. Alkohol war ein<br />

Begleiter jeder Auseinandersetzung.<br />

Er arbeitet vorwiegend nachmittags<br />

und abends. Seine Präsenz zu<br />

Hause beschränkt sich meist auf den<br />

Sonntag. Erst wenn sein Schlafbedürfnis<br />

gedeckt ist, hat er für die<br />

Tochter etwas Zeit, die er am liebsten<br />

in der Wohnung verbringt. Ich muss<br />

oft intervenieren, damit es zu einer<br />

gemeinsamen Aktivität kommt.<br />

Dann schaut er mit ihr eine Kindersendung,<br />

oder wir essen zusammen.<br />

Die Rollenaufteilung in der Familie<br />

ist klassisch: Der Mann bringt das<br />

Geld nach Hause, die Frau steht hinterm<br />

Herd und erzieht die Kinder.<br />

Damit bin ich nicht einverstanden.<br />

Ich bin anders erzogen worden, fügte<br />

mich aber zum Wohl des Kindes.<br />

Nach Jahren musste ich feststellen,<br />

dass mein Mann depressiv ist. Er<br />

hat das auch zugegeben, nachdem er<br />

Es braucht immer zwei<br />

Personen, um eine destruktive<br />

Beziehung zu schaffen.<br />

über Selbstmordgedanken gesprochen<br />

hatte.<br />

Ich arbeite, habe promoviert und<br />

bin total erschöpft. Wir haben auch<br />

finanzielle Probleme. Und alles, was<br />

mit unserer Tochter zu tun hat, re gle<br />

ich im Alleingang. Unterstützung<br />

bekomme ich gar keine – und zwar<br />

seit Anfang an. Die Kommunikation<br />

zwischen mir und meinem Mann ist<br />

momentan auf ein Telefongespräch<br />

reduziert.<br />

Unsere Tochter spürt die Frustration<br />

und Nervosität meinerseits und<br />

ist unglücklich, dass sie wenig von<br />

ihrem Papa hat. Sie vermisst seine<br />

Aufmerksamkeit und leidet darunter.<br />

Seit einem Jahr ist sie sehr weinerlich,<br />

fühlt sich oft von Kindern<br />

ausgeschlossen, sagt öfters, sie habe<br />

einen schlechten Tag und sei traurig.<br />

Sie hat keine Strategie entwickelt,<br />

um nach einem Ersatz oder Ausweg<br />

zu suchen, wenn sie ausgeschlossen<br />

wird. Sonst gibt sie gern den Ton an,<br />

das liegt in ihrem Temperament.<br />

Allerdings kann sie nicht diplomatisch<br />

sein.<br />

Eigentlich fühlen wir uns beide<br />

ausgeschlossen, nicht wahrgenommen.<br />

Unsere Bedürfnisse werden<br />

gar nicht erkannt. Ich bewege mich<br />

in einem Teufelskreis.<br />

Ich habe Hilfe gesucht, gehe zur<br />

Kindertherapeutin meiner Tochter<br />

und kann in Gesprächen etwas von<br />

meinem Frust erkennen, begründen<br />

und verstehen. Auch das Verhalten<br />

meiner Tochter spreche ich an, da<br />

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />

36 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


sie mir gegenüber seit Jahren grob<br />

ist. Und ich habe vor, mit meinem<br />

Mann bei unserem Hausarzt seine<br />

Depression und Behandlungsmöglichkeiten<br />

zu besprechen.<br />

Ich habe über eine Trennung<br />

nachgedacht. Aber ich befürchte,<br />

dass es dann gar keinen Austausch<br />

mehr zwischen Tochter und Vater<br />

gibt. Anderseits bietet eine glückliche<br />

Mutter wohl mehr Halt als eine<br />

überforderte und unglückliche, die<br />

keinen Ausweg sieht. Wie sehen Sie<br />

das, Herr Juul?<br />

Werden Sie für Ihre Tochter ein<br />

weibliches Vorbild, das sich weigert,<br />

ein Opfer zu sein. Sie muss das<br />

sehr bald lernen.<br />

Antwort von Jesper Juul<br />

Vielen Dank für Ihr Vertrauen und<br />

die ehrliche, direkte Art, mit welcher<br />

Sie Ihre Familiensituation schildern;<br />

das ist für mich und auch für viele<br />

andere Familien, die mit ähnlichen<br />

Problemen kämpfen, hilfreich. Es<br />

gibt aber eine wesentliche Information,<br />

die ich Ihrem Brief nicht entnehmen<br />

kann: Lieben Sie Ihren<br />

Mann? Ich frage das deshalb: Sollten<br />

Sie es nicht tun, ist es für mich<br />

schwer vorstellbar, woher Sie die<br />

Energie und das Durchhaltevermögen<br />

nehmen werden, um die nächsten<br />

drei bis fünf Jahre zu überstehen,<br />

unabhängig davon, welche Entscheidung<br />

Sie treffen.<br />

Ich bin überzeugt davon, dass der<br />

Schmerz Ihrer Tochter Ihnen schon<br />

gezeigt hat, dass Sie ihr keinen<br />

Gefallen damit getan haben, die<br />

Leere Ihrer Ehe über so viele Jahre<br />

hinweg zu erdulden. Sie beide sind<br />

der Dynamik zum Opfer gefallen,<br />

welche vom inkompetentesten Mitglied<br />

der Familie, Ihrem Mann, definiert<br />

wird.<br />

Es braucht immer zwei Personen,<br />

um eine destruktive Beziehung zu<br />

schaffen, und in Ihrem Fall haben<br />

Sie Ihrem Mann die Macht gegeben,<br />

die er jetzt hat. Es ist, als ob Sie ihm<br />

die Autoschlüssel in die Hand drücken<br />

und ihn darum bitten würden,<br />

mit Ihnen allen betrunken zu fahren.<br />

Vor einem moralischen Richter<br />

verliert der Alkoholisierte immer,<br />

aber im richtigen Leben sind Sie beide<br />

gleichermassen verantwortlich,<br />

und nur Ihre Tochter ist das Opfer.<br />

Ich hebe dies in der Hoffnung<br />

hervor, dass Sie damit anfangen werden,<br />

Ihre wertvolle Energie dafür zu<br />

verwenden, für sich selber zu kämpfen<br />

und nicht gegen ihn. Je länger Sie<br />

so weitermachen wie bisher, je<br />

schuldiger wird er sich fühlen, und<br />

Schuld macht ihn durstig. Wenn es<br />

Ihnen gelingt, die Verantwortung<br />

für sich selber und Ihre Tochter zu<br />

übernehmen, könnte es ihn dazu<br />

inspirieren, die Verantwortung für<br />

sein Leben zu übernehmen.<br />

Wenn es wahr ist, dass er seit vielen<br />

Jahren unter einer starken De ­<br />

pression leidet, hat er den de struktivsten<br />

Weg, damit umzugehen,<br />

gewählt, nämlich zu einem introvertierten,<br />

unverantwortlichen, selbstzerstörerischen<br />

Mann und Vater zu<br />

werden. Ich sage bewusst «gewählt»,<br />

weil es andere Möglichkeiten gab,<br />

zum Beispiel den Schmerz mit<br />

Ihnen zu teilen oder professionelle<br />

Hilfe in Anspruch zu nehmen.<br />

Diese schlechte Wahl war in der<br />

Hinsicht ansteckend, als Sie und<br />

Ihre Tochter seine Strategie kopiert<br />

haben. Ihnen und der Zu kunft Ihrer<br />

Tochter zuliebe und um möglicherweise<br />

eine sinnvolle Partnerschaft zu<br />

schaffen, müssen Sie jetzt verantwortlich<br />

werden und eine der folgenden<br />

Entscheidungen treffen:<br />

1. Wenn Ihre Liebe für ihn erschöpft<br />

ist, schulden Sie es Ihnen beiden,<br />

sich von ihm scheiden zu lassen.<br />

Die ersten Monate, nachdem Sie<br />

und Ihre Tochter ausgezogen sind,<br />

werden zeigen, ob er sich emotional<br />

als Teilzeitvater qualifizieren<br />

möchte. Der erste Schritt ist, mit<br />

dem Trinken aufzuhören.<br />

2. Wenn Sie ihn immer noch lieben,<br />

so wie er ist, müssen Sie von ihm<br />

verlangen, dass er zur Kur geht<br />

und trocken wiederkommt. Solange<br />

er an einem Programm teilnimmt,<br />

geben Sie ihm alle Unterstützung,<br />

welche sein Betreuer<br />

vorschlägt. Denken Sie nie, dass<br />

Ihre Liebe ihn heilen kann. Nur er<br />

selber kann sich heilen, und Sie<br />

können ihn in den folgenden<br />

Monaten und Jahren dabei unterstützen.<br />

Wenn Ihr Hausarzt ihn<br />

als klinisch depressiv diagnostiziert<br />

und ihm Antidepressiva verschreibt,<br />

muss er am selben Tag<br />

mit dem Trinken aufhören und<br />

nicht warten, bis er sich weniger<br />

depressiv fühlt. Sie und Ihre Tochter<br />

müssen in Bezug auf Ihren<br />

Umgang miteinander realistische<br />

Erwartungen haben. Sehr oft<br />

erzeugen Antidepressiva ein mattes<br />

Gefühlsleben.<br />

Ganz gleich, welche Entscheidung<br />

Sie treffen, für Ihre Tochter wird es<br />

das Geschenk ihres Lebens sein.<br />

Nicht nur die Beziehung zu ihrem<br />

Vater wird viel klarer, Sie bekommt<br />

auch in Ihnen ein weibliches Vorbild,<br />

das sich weigert, ein Opfer zu sein.<br />

Sie muss das sehr bald lernen.<br />

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />

in Zusammenarbeit mit<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>37


Erziehung & Schule<br />

Wie geflüchtete Kinder und Jugendliche<br />

unsere Schulen bereichern<br />

Jeder dritte Geflüchtete, der nach Europa kommt, ist allein unterwegs und minderjährig.<br />

Viele von ihnen sind schulpflichtig. Welche Folgen hat das für unser Bildungssystem? Eltern<br />

befürchten überquellende Schulklassen, in denen kaum noch jemand Deutsch spricht,<br />

Lehrpersonen einen Qualitätsverlust ihres Unterrichts. In ihrem Buch «Die Flüchtlinge sind da!»<br />

widmet sich unsere Autorin dem Thema Zuwanderung in unseren Schulen und der Frage,<br />

wie wir diese pädagogische Herausforderung bewältigen können.<br />

Text und Bilder: Katharina Blass<br />

Koch, Dachdecker, Ärztin –<br />

die Berufswünsche der<br />

jungen Flüchtlinge sind so<br />

verschieden wie ehrgeizig.<br />

Ein Montagvormittag in<br />

der Berufs-, Fach-, und<br />

Fortbildungsschule<br />

(BFF) in Bern. Die zugewanderten<br />

Jugendlichen<br />

sind in ein Brückenangebot eingebunden<br />

– ein bis zwei Jahre zwischen<br />

Regelschule und Berufslehre.<br />

Gerade haben sie Deutschunterricht,<br />

aber weil eine Journalistin zu<br />

Gast ist, darf sich jeder erst einmal<br />

vorstellen.<br />

Ausser Nuur aus Somalia sind da<br />

noch Abdulqadir, auch aus Somalia,<br />

Rahel aus Eritrea, Neslihan aus der<br />

Türkei, Yanik aus Spanien und<br />

Ro shan aus Sri Lanka. Sie alle sind<br />

seit einem bis drei Jahren in der<br />

Schweiz und zwischen 16 und 18<br />

Jahre alt. Sie wollen Automobilfach-<br />

mann, Koch, Informatiker, Dachdecker,<br />

Altenpflegerin und Ärztin<br />

werden. Eigentlich sind es 16 Schüler,<br />

für sechs Unterrichtsstunden in<br />

der Woche wird die Klasse jedoch<br />

halbiert, um intensiver Deutsch lernen<br />

zu können.<br />

Heute geht es um «damals und<br />

jetzt». Deutschlehrer Daniel Graf<br />

stellt die Zeit ohne Computer und<br />

Smartphone der jetzigen Zeit gegenüber.<br />

«Wo hättest du lieber gelebt?»,<br />

fragt er Neslihan. «Ich hätte lieber<br />

früher gelebt, weil ich gern in der<br />

Natur bin und es heute in den Städten<br />

kaum noch Platz dafür gibt»,<br />

sagt die Türkin. Sie spricht sehr gut<br />

Deutsch, obwohl sie erst anderthalb<br />

Jahre in der Schweiz lebt. Sie hat<br />

eine Vorlehre als Pharmaassistentin<br />

gemacht, später möchte sie Medizin<br />

studieren. «Das ist nicht unmöglich,<br />

aber ein sehr langer Weg», sagt<br />

Graf.<br />

Diesen Eindruck von motivierten<br />

und engagierten Schülerinnen<br />

und Schülern erhält, wer sich in ein<br />

Klassenzimmer setzt und dem<br />

Unterricht folgt.<br />

Wer aber länger mit Lehrerinnen<br />

und Lehrern spricht, bekommt die<br />

andere Seite der Einwanderungs-<br />

38 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Brückenangebot:<br />

Zwischen<br />

Regelschule und<br />

Berufslehre<br />

lernen die jungen<br />

Flüchtlinge Deutsch.<br />

debatte zu hören. «Wir sind überfahren<br />

worden.» «Wir wissen nicht,<br />

was wir tun sollen.» So tönt es aus<br />

vielen Lehrerzimmern im Land.<br />

Plötzlich sind die Flüchtlinge da<br />

– und niemand ist vorbereitet. Es<br />

gibt zu wenige Lehrpersonen, keine<br />

Ressourcen für Deutschunterricht<br />

oder nicht genügend Geld für Freizeitangebote.<br />

Einen Lehrplan zur<br />

Integration der Neuankömmlinge<br />

hat niemand, und überhaupt fragen<br />

sich viele, was Integration genau<br />

bedeuten soll. Alle Beteiligten sind<br />

mit einer neuen Situation konfrontiert:<br />

Lehrer wissen nicht genau, wie<br />

sie mit den traumatisierten Schülern<br />

umgehen sollen. Eltern machen<br />

sich Sorgen, dass das Niveau in den<br />

Klassen absinkt.<br />

Schätzungen zufolge reisten 2015<br />

rund 10 000 minderjährige Flüchtlinge,<br />

davon 3000 schulpflichtige, in<br />

die Schweiz ein. Zum Vergleich: Das<br />

sind 45 Prozent mehr als 2014. Die<br />

Entwicklung schürt viele Ängste<br />

und Vorurteile in der Gesellschaft.<br />

Gleichzeitig ist das aber auch eine<br />

riesige Chance für das gesamte Bildungssystem<br />

und alle Teilnehmer,<br />

weil die Schulen sich verändern<br />

müssen und werden. Nicht nur<br />

zugunsten der Zugewanderten, sondern<br />

auch zugunsten aller Schweizerinnen<br />

und Schweizer.<br />

Wir alle müssen endlich die<br />

Qualität, Sinnhaftigkeit und Gestaltung<br />

des Bildungssystems, vor allem<br />

aber der Schulen und ihrer Lehrpläne<br />

hinterfragen. Nur hier werden<br />

die Grundlagen für ein späteres<br />

Erwerbsleben und somit der langfristigen<br />

Integration aller >>><br />

Integration braucht Zeit. Aber<br />

die Zugewanderten sitzen jetzt<br />

in den Klassenzimmern.<br />

Wir müssen rasch anpacken!<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>39


Erziehung & Schule<br />

>>> Zugewanderten gelegt. Ihr<br />

Erfolg ist entscheidend. Es müssen<br />

Projekte und Initiativen entstehen,<br />

Wirtschaft – also Ausbildungsbetriebe<br />

– und Schule müssen besser<br />

zu sammenarbeiten. Und das<br />

kommt nicht nur den Flüchtlingen<br />

zugute. Allerdings braucht das Zeit,<br />

und wir können nicht so lange warten,<br />

denn die Zugewanderten sitzen<br />

jetzt in den Klassen. Wir müssen<br />

jetzt anpacken! Wir alle werden<br />

neue Menschen und fremde Kulturen<br />

kennenlernen.<br />

Die Lehrpersonen, aber auch die<br />

Schülerinnen und Schüler, die in<br />

der Schweiz gross geworden sind,<br />

werden sich im Unterricht mit den<br />

Folgen von Krieg und Vertreibung<br />

auseinandersetzen und vielleicht<br />

auch in ihrer Freizeit spüren, wie<br />

wichtig eine funktionierende<br />

Demokratie und ein Leben in Freiheit<br />

und Frieden sind.<br />

Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments<br />

und Intoleranz sind keine<br />

latenten Schwingungen mehr, sondern<br />

werden im Unterricht, am<br />

Stammtisch, im Parlament, in den<br />

Medien thematisiert werden. Davon<br />

können alle – vom Erstklässler bis<br />

zum Bundesrat – nur profitieren.<br />

Zurück in der Berufs-, Fach- und<br />

Fortbildungsschule in Bern. Die BFF<br />

hat zwölf Klassen im Brückenangebot.<br />

Vor wenigen Jahren waren es<br />

nur sechs. «Den grössten Anteil<br />

machen Schüler aus Eritrea aus»,<br />

sagt die Klassenlehrerin, die an ­<br />

onym bleiben möchte, im Gespräch<br />

nach dem Unterricht. Rund 30 Prozent.<br />

Bisher waren die Klassen sehr<br />

gemischt, vom Fami liennachzug bis<br />

zum Di plo matensohn erhielten sie<br />

Deutschunterricht.<br />

Neuerdings kommen vor allem<br />

geflüchtete Afghanen und Syrer<br />

dazu. Obwohl Einwanderung und<br />

Integration in der Schweiz schon<br />

lange Teil der Kultur- und Bildungsgeschichte<br />

sind, stehen auch hier die<br />

Lehrerinnen und Lehrer neuen Problemen<br />

gegenüber. Das grösste<br />

davon ist der hohe Anteil an unbegleiteten<br />

minderjährigen Flüchtlingen.<br />

Manche Flüchtlinge waren<br />

seit Monaten, oft auch<br />

seit Jahren allein unterwegs.<br />

Allein im Kanton Bern sei die Zahl<br />

seit 2015 von 100 auf 500 angestiegen.<br />

«Sie sind seit Monaten, manchmal<br />

auch seit Jahren allein unterwegs<br />

gewesen», erzählt die Klassenlehrerin.<br />

Es falle ihnen sehr schwer, sich<br />

plötzlich wieder einer Autoritätsperson<br />

unterzuordnen. Ausserdem<br />

müssten sie soziale Kompetenzen<br />

wie zum Beispiel Pünktlichkeit neu<br />

lernen. «Sie waren lange auf sich<br />

gestellt, und plötzlich ist da wieder<br />

jemand, in dessen Obhut sie sind.<br />

Einige Minderjährige brauchen lange,<br />

um sich daran zu gewöhnen»,<br />

sagt die Klassenlehrerin. Trotzdem<br />

seien sie immer noch Kinder.<br />

Ebenfalls verändert habe sich der<br />

administrative Part: «Man ist immer<br />

in Kontakt mit vielen verschiedenen<br />

Institutionen, nicht mehr mit den<br />

Eltern.»<br />

Auch später reichen die Bedingungen<br />

im sozialen und administrativen<br />

Umfeld der zugewanderten<br />

Jugendlichen weit in den Schulalltag<br />

hinein. «Erst sind sie in Aufnahmeeinrichtungen<br />

untergebracht,<br />

und wenn sie volljährig werden,<br />

sind sie plötzlich doch wieder auf<br />

sich gestellt», sagt die Klassenlehrerin.<br />

Sie erzählt von einem Schüler,<br />

der von einem auf den anderen Tag<br />

in einer Wohngemeinschaft mit<br />

Vielen Geflüchteten<br />

fällt es am Anfang<br />

schwer, sich wieder<br />

einer Autoritätsperson<br />

unterzuordnen.<br />

40 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


zwei anderen Flüchtlingen lebte.<br />

Der Schüler fragte sie um Rat, als er<br />

seinen Schlüssel verloren hatte. «Ich<br />

habe ein bisschen gebraucht, bis ich<br />

verstanden habe, dass es nicht um<br />

den Wohnungsschlüssel, sondern<br />

um den zu seinem Zimmer ging.»<br />

Die Vorstellung, der Schüler<br />

schliesse sein Zimmer ab, wenn er<br />

die Wohnung verlasse, habe ihr Sorgen<br />

bereitet. Deshalb soll die Schule<br />

den jungen Leuten nicht nur den<br />

Weg ins Berufsleben bereiten, sondern<br />

vor allem auch ein Schutzraum<br />

sein. Darin sind sich die meisten<br />

Lehrerinnen und Lehrer einig.<br />

Die Schülerinnen und Schüler,<br />

die die Brückenangebote in An ­<br />

spruch nehmen, hätten mit 16 bis<br />

22 Jahren ein «schönes Alter», sagt<br />

die Lehrerin, denn die meisten würden<br />

verstehen, dass sie nun ein neues<br />

Leben beginnen können. Das<br />

motiviere sie sehr, nicht nur zu lernen,<br />

sondern auch sich zu integrieren.<br />

Und das sollten wir, die gesamte<br />

Gesellschaft, fördern.<br />

>>><br />

Einige gute Förderprogramme, die jungen<br />

Migranten und Migrantinnen einen besseren<br />

Zugang zu unserem Bildungssystem<br />

ermöglichen sollen, gibt es hierzulande<br />

bereits. Eines davon heisst ChagALL, vorgestellt<br />

in unserer Reportage auf Seite 52.<br />

Katharina Blass<br />

arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.<br />

Nach der Veröffentlichung ihres Buches<br />

«Die Flüchtlinge sind da» bekam sie<br />

unzählige E-Mails von Flüchtlingsgegnern<br />

mit Beschimpfungen und Beleidigungen.<br />

Ihr Fazit: Alles richtig gemacht, Botschaft<br />

ist angekommen.<br />

Buchtipp<br />

Armin Himmelrath, Katharina<br />

Blass: Die Flüchtlinge sind da!<br />

– Wie zugewanderte Kinder und<br />

Jugendliche unsere Schulen<br />

verändern – und verbessern<br />

hep-Verlag, Bern 2016, 200 Seiten,<br />

Fr. 19.20, E-Book Fr. 15.90<br />

Unsere<br />

Mediadaten:<br />

www.fritzundfraenzi.ch<br />

Info-Abend:<br />

20. März<br />

«Ihr Aus- und Weiterbildungsinstitut<br />

IKP:<br />

wissenschaftlich – praxisbezogen<br />

– anerkannt»<br />

Dr. med. Y. Maurer<br />

Dipl. Partner-,<br />

Paar- u. Familienberater(in)<br />

IKP<br />

Ganzheitliche systemische Psychologie:<br />

Lösungs- und ressourcenorientierte<br />

Beratung rund um<br />

Beziehungsprobleme. Dauer: 3 Jahre,<br />

SGfB-anerkannt. Optional mit eidg. Dipl.<br />

Seit 30 Jahren anerkannt<br />

Ausbildung<br />

Seniorenbetreuung<br />

Infos unter www.ibk-berufsbildung.ch<br />

Kinderbetreuung –<br />

ein Beruf mit Zukunft!<br />

Der Beruf «Fachperson Betreuung, Fachrichtung Kinderbetreuung»<br />

hat in den vergangenen Jahren einen Riesenaufschwung erlebt.<br />

Obwohl sich die Zahl der Kindertagesstätten dank finanzieller<br />

Unterstützung des Bundes vervielfacht hat, bleibt das Angebot an<br />

offenen Ausbildungsplätzen ungenügend: nicht alle Schulabgängerinnen,<br />

die diesen Weg einschlagen möchten, finden eine Lehrstelle.<br />

Das bke bietet deshalb eine private, schulisch organisierte Ausbildung<br />

mit einem musisch-kreativen Schwerpunkt. Mit Kindern<br />

arbeiten verlangt vielseitige, neugierige und verständnisvolle<br />

Betreuungspersonen, und der Beruf FaBe bietet vielfältige<br />

und interessante Anschlussmöglichkeiten.<br />

Informationen zu Aus- und Weiterbildung finden Sie auf www.bke.ch


In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />

Erziehung & Schule<br />

Schreiben zu Hause:<br />

die Schrift im Alltag entdecken<br />

Zu Hause sammeln Kinder erste Erfahrungen mit der Schrift, die für den Schreiberwerb<br />

in der Schule bedeutend sind. Der Familienalltag bietet Kindern viele informelle Anlässe,<br />

um die Welt der Schrift zu entdecken. Text: Johanna Oeschger<br />

Schatzsuche<br />

Ein Hinweis – ein Satz, ein Wort, ein<br />

Symbol – auf einem Zettel führt zum<br />

ersten Posten, an dem ein weiterer Hinweis<br />

versteckt ist. Dieser führt zum<br />

nächsten Posten usw. Alternative: eine<br />

Schatzkarte zeichnen und beschriften.<br />

Zuerst suchen die Kinder, dann die<br />

Eltern!<br />

«Verkäuferlis»<br />

Als (Schreib-)Vorbereitung zum beliebten<br />

«Verkäuferlispiel» können die<br />

Waren im Einkaufsladen beschriftet<br />

werden – etwa mit Artikelbezeichnung,<br />

Preis, Aktionen. Schreibanfänger können<br />

die Wörter von Originalverpackungen<br />

oder Prospekten abschreiben oder<br />

ausschneiden.<br />

Familienkalender<br />

Bei einigen Familien hängt zu Hause ein<br />

gemeinsamer Kalender, in dem Geburtstage,<br />

Musikstunden, Ferien und andere<br />

wichtige Termine festgehalten werden.<br />

Neue Einträge können gemeinsam<br />

notiert werden.<br />

Hintergrund<br />

Für das Schreibenlernen ist der<br />

Umgang mit der Schrift im Elternhaus<br />

wesentlich. Unter dem<br />

Begriff «Family Literacy» hat die<br />

Schreibforschung die Wirksamkeit<br />

von familiären Lese- und<br />

Schreibaktivitäten mehrfach aufgezeigt.<br />

Unterstützend ist, wenn<br />

Kinder die Schrift als etwas<br />

Selbstverständliches und Bedeutungsvolles<br />

erleben. Werden Kinder<br />

in motivierenden Alltagssituationen<br />

zum Lesen und<br />

Schreiben angeregt, finden sie<br />

einen persönlichen Zugang dazu<br />

und können ihre Kompetenzen allmählich<br />

sichern und erweitern.<br />

Wunschmenü<br />

Für einen besonderen Anlass, zum Beispiel<br />

einen Geburtstag oder Feiertag,<br />

dürfen die Kinder ihr Wunschmenü<br />

zusammenstellen und aufschreiben.<br />

Anschliessend geht es ans gemeinsame<br />

Einkaufen (Einkaufsliste schreiben)<br />

und Kochen (Rezept lesen). Ein feines<br />

Essen, das allen am Tisch schmeckt, ist<br />

die beste Bestätigung für den eigenen<br />

Schreiberfolg.<br />

App-Tipp<br />

Capt’n Sharky: erste Buchstaben<br />

Auf dem Piratenschiff mit Capt’n Sharky lösen Kinder viele kleine<br />

Buchstabenrätsel. Die App eignet sich für Kinder ab Vorschulalter<br />

und ist für iOS und Android erhältlich. Kosten: Fr. 1.–.<br />

Johanna Oeschger<br />

ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />

unterrichtet Deutsch und Englisch<br />

auf der Sekundarstufe II und arbeitet als<br />

Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />

Bild: iStockphoto<br />

42 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Kolumne<br />

Liebe ist seltsam<br />

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />

Michèle Binswanger<br />

Die studierte Philosophin<br />

ist Journalistin und Buchautorin.<br />

Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen,<br />

ist Mutter zweier Kinder<br />

und lebt in Basel.<br />

Manche Gedanken kreuzen so unpassend im Bewusstsein<br />

auf, wie ein Clown auf einer Beerdigung. Neulich<br />

polterte meine bald 16-jährige Tochter nachts die Treppe<br />

herauf, und als ich sie im Gang abfing, fiel sie mir in<br />

die Arme. «Es geht mir schlecht!», sagte sie. Sie hatte<br />

Bier getrunken, ihr war übel geworden,, und sie dachte, sie müsse sterben.<br />

«Kann man nichts tun?», heulte sie. Ich streichelte ihr den Kopf und<br />

musste lächeln. Man kann nichts tun, dachte ich. Aber wenigstens baut<br />

sich der Alkohol schnell ab. Wart nur, bis du dich zum ersten Mal verliebst.<br />

Das dachte ich vielleicht deshalb, weil ich in diesen Tagen meine Tagebücher<br />

aus meinen Teenagertagen wieder gelesen hatte. Sie handeln von<br />

nichts anderem als der Liebe. Wenn wir lieben, dann sind wir in gewisser<br />

Weise genau das: Clowns auf einer Beerdigung. So schrieb ich damals:<br />

«Was immer Liebe ist, sie macht einen lächerlich. Man richtet seine<br />

Aufmerksamkeit auf einen Mittelpunkt, den es gar nicht gibt: Wie und<br />

wann sehe ich ihn wieder? War er einfach nett und es steckt nichts dahinter?<br />

Soll ich ihn zum Essen einladen? Warum ruft er nicht an? Sehe ich<br />

ihn heute? Oder morgen? All diese Fragen. Wie hätte ich reagieren sollen,<br />

als er mich berührte? Ihn ebenfalls berühren? Nichts ist schrecklicher als<br />

die Vorstellung, ich könnte jemandem lästig sein. Aber ich will, ich muss,<br />

ich kann nicht anders. Eine lächerliche Figur.»<br />

Aber dann: Ist es nicht die der Liebe eigene Dramaturgie, die das<br />

Leben überhaupt erst lebenswert macht?<br />

«Ich finde keine Worte für das, was ich mit X habe. Wir sind in den<br />

Bergen. Die Zeit ist unbestimmt, wir könnten mit unseren Fahrrädern<br />

zum See hinauf fahren, X könnte zur Tür hineinkommen und wir könnten<br />

Sex haben, ich könnte dabei schwanger werden oder wir könnten<br />

auch zu Mittag essen. Oder nichts von alledem, alles könnte auch erst<br />

morgen geschehen oder morgen könnte es auch regnen. Wieso macht<br />

einem der Verlauf der Zeit Angst? Alles ist vergänglich, auch die Liebe.<br />

Oftmals schweigen wir uns einfach an. Wir schlafen zusammen, dann<br />

liegen wir da und sehen uns an, ab und zu lacht der eine oder andere,<br />

lächelt, wir küssen uns und schweigen. Gestern jedoch brachte ich nach<br />

langem Schweigen drei Worte zusammen. ‹Liebe ist seltsam›, sagte ich.<br />

‹Wieso?›<br />

Ich erwog, ihn zu fragen, ob er glaube, im Paradies sei es auch so<br />

schön. Dann fragte ich mich, wie man in dieser Welt überhaupt auf so<br />

einen Gedanken kommen könne. Eben. Liebe ist seltsam.»<br />

Liebe ist seltsam, das stimmt. «Wie Flipperkugeln werden wir auf eine<br />

Reise geschickt, von der wir höchstens wissen, dass sie enden wird. Doch<br />

wozu? Ich versuche das, was mir durch die Hände fliesst wie Sand, zu fassen,<br />

ihm einen Namen zu geben, den Namen dessen, den ich liebe.»<br />

Die wahre Schönheit der Liebe besteht darin, sie zu verschenken – ob<br />

einem Mann, einer Frau, einem Kind, einer Fremden. So dachte ich, und<br />

als die Tochter eingeschlafen war, schloss ich leise die Zimmertür.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>43


Elterncoaching<br />

Mein Kind trödelt!<br />

«Bist du immer noch nicht weiter? Jetzt beeil dich!» Wenig bringt<br />

Eltern so sehr auf die Palme wie Kinder, die trödeln. Warum kann sich die<br />

Tochter nicht einfach anziehen und an den Frühstückstisch kommen?<br />

Warum bleibt der Sohn schon wieder stehen und hängt seinen Gedanken<br />

nach, anstatt endlich vorwärtszumachen?<br />

Fabian Grolimund<br />

ist Psychologe und Autor («Mit<br />

Kindern lernen»). In der Rubrik<br />

«Elterncoaching» beantwortet<br />

er Fragen aus dem Familienalltag.<br />

Der 37-Jährige ist verheiratet<br />

und Vater eines Sohnes, 4,<br />

und einer Tochter, 1. Er lebt<br />

mit seiner Familie in Freiburg.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

www.biber-blog.com<br />

Als wir bei einem<br />

Eltern-Kind-Seminar<br />

zum Thema Lernen<br />

Eltern und Kinder<br />

getrennt voneinander<br />

befragt haben, was sie am meisten<br />

nervt, stand das Trödeln bei den<br />

Eltern weit oben. Für die Kinder war<br />

dies keine Überraschung. Sie wussten,<br />

dass ihre Tagträume und ihre<br />

Langsamkeit die Eltern störten –<br />

schliesslich hörten sie den ganzen<br />

Tag «Beeil dich!», «Mach vorwärts!»,<br />

«Bist du immer noch nicht weiter?!».<br />

Die Eltern jedoch überraschte die<br />

Antwort der Kinder auf die Frage,<br />

was für sie das Schlimmste überhaupt<br />

sei. Die Mehrzahl sagte: Das<br />

ständige Hetzen und Drängen der<br />

Eltern. Erst durch diese Rückmeldung<br />

wurde den Eltern bewusst, wie<br />

sehr ihr ständiges Antreiben die<br />

Kinder beim Lernen unter Druck<br />

setzt, ihnen unbeschwerte Momente<br />

stiehlt und sie aus dem Spiel herausreisst.<br />

Wir haben also auf der einen Seite<br />

Eltern, die ihren Tagesplan im<br />

Kopf haben, auf die Uhr schielen<br />

und dafür sorgen müssen, dass die<br />

Kinder, die zum Träumen und<br />

Trödeln neigen, flüchten sich<br />

vermehrt in Tagträume, wenn sie<br />

unter Druck gesetzt werden.<br />

Kinder rechtzeitig in der Schule<br />

oder beim Sport sind. Auf der anderen<br />

Seite stehen die Kinder, die im<br />

Moment leben, den Augenblick<br />

geniessen und sich in etwas vertiefen<br />

möchten. Wie können Familien<br />

in diesem Punkt zueinander finden?<br />

Das Kind unterstützen<br />

Der oft geäusserte Vorschlag, die<br />

Eltern sollen die Kinder früher<br />

wecken, damit sie am Morgen nicht<br />

hetzen müssen, bringt wenig. Meist<br />

dauert dann alles noch etwas länger.<br />

Doch auch das ständige Antreiben<br />

nützt herzlich wenig. In den<br />

letzten Jahren habe ich vielen Eltern<br />

die Frage gestellt: «Was passiert,<br />

wenn Sie Ihr Kind dazu drängen,<br />

sich zu beeilen? Wird es dadurch<br />

langsamer oder schneller?» Die<br />

allermeisten Eltern antworteten:<br />

Mein Kind wird noch langsamer.<br />

Mir scheint, dass Kinder, die zum<br />

Träumen und Trödeln neigen, sich<br />

vermehrt in Tagträume flüchten,<br />

wenn sie von aussen unter Druck<br />

gesetzt werden. Sie blenden die fordernde<br />

Welt, die gestressten Eltern,<br />

den vollen Terminkalender aus, um<br />

einen Moment der Ruhe zu finden.<br />

Mein Vorschlag wäre daher: Hören<br />

Sie auf, «Beeil dich!» zu sagen.<br />

Wenn Sie möchten, können Sie es<br />

mit mehr Struktur versuchen – dies<br />

hilft verträumten Kindern, sich<br />

nicht zu verlieren. Hat ein jüngeres<br />

Kind beispielsweise Mühe, sich<br />

morgens zügig anzuziehen, können<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

44 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Sie einen Parcours mit seinen Kleidern<br />

legen: die Unterhose neben das<br />

Bett, das T-Shirt auf die Türschwelle,<br />

die Socken in den Gang, die<br />

Hosen in die Küche. Ihr Kind be -<br />

wegt sich vom Zimmer zum Frühstück,<br />

während es sich anzieht.<br />

Bei älteren Kindern kann eine<br />

Playlist mit einer fixen Abfolge von<br />

Songs helfen. Schalten Sie morgens<br />

die Liste mit den Lieblingsliedern<br />

Ihres Kindes ein. Das erste Lied darf<br />

es im Bett hören, die nächsten drei<br />

unter der Dusche, das fünfte beim<br />

Abtrocknen, das sechste beim<br />

Anziehen. Kinder lassen sich lieber<br />

sanft von ihren Lieblingsliedern aus<br />

der Tür begleiten als von genervt<br />

hervorgepressten Kommentaren.<br />

Das Kind schützen<br />

Manchmal bleibt Ihnen als Eltern<br />

eines langsamen Kindes nichts weiter<br />

übrig, als es vor dem Tempo und<br />

dem Druck der Welt zu bewahren.<br />

Manche Eltern von Träumerkindern<br />

berichten, dass ihre Kinder bereits<br />

in der Primarschule mehrere Stunden<br />

für die Hausaufgaben aufwenden.<br />

Diese Kinder sind oft so schulmüde,<br />

dass sie während dieser<br />

Hausaufgabenmarathons kaum<br />

etwas zustande bringen. Dafür entwickeln<br />

sie eine immer grössere<br />

Aversion gegen das Lernen. Es fehlt<br />

ihnen an Freizeit und Erholungsräumen.<br />

Die dringend benötigten Pausen<br />

nehmen sie sich dann immer<br />

mehr während des Unterrichts,<br />

indem sie sich ausklinken, träumen<br />

und aus dem Fenster schauen.<br />

Ich empfehle Ihnen in diesem<br />

Fall, die Zeit für die Hausaufgaben<br />

zu begrenzen. Reden Sie mit der<br />

Lehrperson, schildern Sie ihr, wie<br />

lange Ihr Kind für die Aufgaben<br />

braucht. Fast alle Lehrpersonen sind<br />

offen für diesen Vorschlag: Das<br />

Kind macht 10 Minuten Hausaufgaben<br />

pro Schuljahr (zum Beispiel 40<br />

Minuten in der vierten Klasse).<br />

Hat es in dieser Zeit konzentriert<br />

gearbeitet, darf es die Hausaufgaben<br />

abbrechen. Sie als Eltern schreiben<br />

ins Hausaufgabenheft: «Hat 40<br />

Minuten konzentriert gearbeitet.»<br />

Meist arbeiten die Kinder konzentrierter<br />

und schneller, wenn das<br />

Pensum reduziert wird. Viele packt<br />

der Ehrgeiz, in dieser Zeit möglichst<br />

viel zu schaffen. Ihr Kind arbeitet<br />

noch besser, wenn Sie die Hausaufgaben<br />

gemeinsam planen, Ihr Kind<br />

die Arbeitszeiten mit kurzen Pausen<br />

unterbrechen darf und Sie ihm wirksame<br />

Lernstrategien vermitteln.<br />

Vom Kind lernen<br />

Schliesslich möchte ich Ihnen vorschlagen,<br />

von Ihrem Kind zu lernen<br />

– und sich damit selbst etwas Gutes<br />

zu tun. Vertieft sich Ihr Kind gerne<br />

in ein Spiel? Beobachtet es jeden<br />

Käfer auf dem Weg? Ist es ihm egal,<br />

wenn der Einkauf etwas länger dauert<br />

und Sie den Bus verpassen? Ob<br />

Sie darauf gestresst reagieren oder<br />

diese Momente mit Ihrem Kind<br />

geniessen können, hängt stark davon<br />

ab, was Sie sich vornehmen.<br />

Wenn Sie Ziele wie «Einkaufen»<br />

oder «Geschirrspüler einräumen»<br />

im Kopf haben, werden Kinder mit<br />

ihren Plänen, ihrem Spiel und ihrem<br />

eigenen Kopf zu einem Hindernis<br />

auf dem Weg zu Ihrem Ziel. Hindernisse<br />

frustrieren und ärgern uns. Je<br />

stärker Sie sich einem bestimmten<br />

Zeitplan verpflichtet fühlen, desto<br />

grösser der Frust – und desto mehr<br />

stellen sich die Kinder quer.<br />

Darf ich Ihnen ein Experiment<br />

vorschlagen? Setzen Sie sich nächste<br />

Woche an zwei Nachmittagen das<br />

Ziel, Zeit mit Ihren Kindern zu verbringen<br />

und sich auf deren Rhythmus<br />

einzulassen. Dabei gilt: Alles<br />

kann, nichts muss. Betrachten Sie es<br />

als Bonus, wenn Sie in dieser Zeit<br />

auch einkaufen oder die Wohnung<br />

aufräumen können. Fragen Sie sich<br />

am Ende dieser Nachmittage: Wie<br />

habe ich mich gefühlt? Wie war die<br />

Stimmung zwischen mir und den<br />

Kindern? Was haben wir gemacht?<br />

Vielleicht bemerken Sie, dass Sie<br />

genauso gut vorankommen, dabei<br />

aber weniger Stress empfinden. Wir<br />

Lassen Sie sich öfter mal auf<br />

den Rhythmus Ihres Kindes<br />

ein und geniessen Sie es, selbst<br />

langsamer zu werden.<br />

Erwachsenen leben nach der Uhr.<br />

Sich einmal auf den Rhythmus des<br />

Lebens einzulassen und die Dinge<br />

dann zu tun, wenn es sich richtig<br />

anfühlt, kann befreiend wirken.<br />

Kurztipps für den Umgang mit langsamen<br />

und verträumten Kindern:<br />

• Verzichten Sie darauf, Ihr Kind zur<br />

Eile anzutreiben. Meist werden die<br />

Kinder dadurch noch langsamer.<br />

• Geben Sie dem Kind mehr Struktur,<br />

indem Sie mit ihm planen oder<br />

feste Abläufe einüben.<br />

• Schützen Sie Ihr Kind vor Überforderung.<br />

Begrenzen Sie die Hausaufgabenzeit<br />

in Kooperation mit<br />

der Lehrperson. Es ist wichtiger,<br />

dass Ihr Kind lernt, kurze Phasen<br />

konzentriert zu arbeiten als alles<br />

fertig zu machen.<br />

• Achten Sie gerade bei trödelnden<br />

Kindern darauf, dass Sie die Hausaufgaben<br />

durch kurze Pausen (5<br />

Minuten) unterbrechen. Bewusste<br />

Pausen reduzieren das Bedürfnis,<br />

sich Pausen zu stehlen, indem man<br />

aus dem Fenster schaut und vor<br />

sich hinträumt.<br />

• Lassen Sie sich öfter mal auf den<br />

Rhythmus des Kindes ein und<br />

geniessen Sie es, selbst langsamer<br />

zu werden und das Leben bewusster<br />

wahrzunehmen.<br />

In der nächsten Ausgabe:<br />

Wie kann ich meinem Kind helfen,<br />

selbständiger zu werden?<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>45


Erziehung & Schule<br />

Tim, 6 Jahre alt, will bei seinen<br />

Gross eltern leben. Darf er das?<br />

Welche Rechte haben Kinder, wenn Eltern sich trennen? Was ist der Unterschied zwischen<br />

Selbstbestimmungsrecht und Mitwirkungsrecht eines Kindes? Und wie können Eltern Kinder<br />

unterstützen, ihre Rechte wahrzunehmen? Unsere Autorin kennt die Antworten. Text: Sandra Hotz<br />

Die Eltern des 6-jährigen<br />

Tim und der<br />

11-jährigen Lisa sind<br />

seit einigen Monaten<br />

getrennt. Der Vater<br />

ist ausgezogen und lebt in der gleichen<br />

Stadt mit seiner neuen Partnerin.<br />

Sie erwartet ein Kind. Die Eltern<br />

vereinbaren, dass die Kinder wie<br />

bisher einen Wochentag vom Vater<br />

betreut werden und bei diesem wohnen;<br />

zusätzlich sollen sie jedes zweite<br />

Wochenende bei ihm verbringen.<br />

Vom Gericht zu seinen Vorstellungen<br />

des künftigen Lebensmittelpunkts<br />

befragt, sagt Tim, dass er bei<br />

seinen Grosseltern auf dem Lande<br />

leben möchte. Die 11-jährige Lisa,<br />

die eine Lese- und Rechtschreibstörung<br />

hat und deswegen auch unter<br />

Schulproblemen leidet, würde gerne<br />

die Schule wechseln und daher beim<br />

Vater wohnen. Die Mutter würde es<br />

hingegen vorziehen, mit Lisa eine<br />

Therapie zu beginnen.<br />

Welche Rechte haben Kinder,<br />

wenn sich ihre Eltern trennen?<br />

Haben Kinder etwas zu ihrer Schule<br />

oder zu möglichen Therapien zu<br />

sagen? Kann ein Kind Einfluss auf<br />

sein alltägliches persönliches<br />

Lebensumfeld, Familie, Schule und<br />

Gesundheit, nehmen?<br />

Persönlichkeitsrechte des Kindes<br />

Die Gesetzeslage unterscheidet dabei<br />

zwischen dem Selbstbestimmungsrecht<br />

und den Mitwirkungsrechten<br />

des Kindes. Beides zählt zu den Persönlichkeitsrechten<br />

des Kindes.<br />

Kann ein Kind in einer Sache selbst<br />

entscheiden, muss es weder die<br />

Eltern dazu fragen, noch müssen<br />

diese das Kind rechtlich vertreten.<br />

Das Kind hat die alleinige Entscheidungsmacht.<br />

In diesen Fällen kann<br />

von einem Selbstbestimmungsrecht<br />

des Kindes gesprochen werden.<br />

Zwei gesetzlich geregelte Beispiele<br />

in der Schweiz sind:<br />

Minderjährige entscheiden ab dem<br />

16. Lebensjahr über Fragen der<br />

religiösen Zugehörigkeit selbst<br />

(Art. 303 Abs. 3 ZGB).<br />

Urteilsfähige Kinder müssen zu<br />

ihrer Adoption zustimmen (Art.<br />

265 Abs. 2 ZGB).<br />

Allgemein entscheiden Minderjährige<br />

höchstpersönliche Lebensangelegenheiten<br />

selbst, sofern sie urteilsfähig<br />

sind (Art. 19c ZGB). Das<br />

heisst: Dann, wenn sie imstande<br />

sind, zu beurteilen, welches die<br />

Konsequenzen ihrer Entscheidung<br />

bzw. Handlung sind, entscheiden sie<br />

etwa über Eingriffe in ihren Körper<br />

(Operation, Therapie, ein Piercing).<br />

Wirkt das Kind in irgendeiner<br />

Weise an einem behördlichen Verfahren<br />

oder einer Entscheidung mit,<br />

wird es beispielsweise über die möglichen<br />

Folgen einer Scheidung oder<br />

eines Schulwechsels informiert,<br />

dazu an gehört und äussert es sich<br />

auch tatsächlich zur Sache wie etwa<br />

Lisa zum Schulwechsel, kann von<br />

Das Mitwirkungsrecht sollte<br />

bei Entscheiden zum<br />

Lebensumfeld die Regel sein.<br />

Mitwirkungsrechten des Kindes ge -<br />

spro chen werden. Mitwirken heisst<br />

so viel wie aktiv teilnehmen, sich<br />

beteiligen und möglicherweise auch<br />

mitbestimmen. Es bedeutet jedenfalls,<br />

dass das Kind informiert und<br />

angehört wird (sofern es das will)<br />

und seine Äusserungen ernst<br />

genommen werden. Gleichbedeutend<br />

mit Mitwirken bzw. Mitwirkungsrechten<br />

sind die Fremdwörter<br />

Partizipieren oder Partizipationsrechte.<br />

Für Mitwirkungsrechte ist nach<br />

schweizerischem Recht grundsätzlich<br />

keine Urteilsfähigkeit von Kindern<br />

nötig, für Selbstbestimmungsrechte<br />

hingegen schon. Um selbst<br />

bestimmen zu können, werden entsprechende<br />

verstandes- und willensmässige<br />

Fähigkeiten vorausgesetzt<br />

(Alter, Reife, kognitive Fähigkeiten).<br />

Das Selbstbestimmungsrecht eines<br />

Kindes bleibt deshalb grundsätzlich<br />

die Ausnahme. Normalerweise wird<br />

ein Kind durch seine Eltern vertreten.<br />

46 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Bild: Chris Adams / Westend61 / Plainpicture<br />

Das Mitwirkungsrecht des Kindes<br />

sollte hingegen die Regel sein, wenn<br />

es um Entscheide zu seinem persönlichen<br />

Lebensumfeld (vor allem<br />

Familie, Schule und Gesundheit)<br />

geht. Mitwirkungs- und Selbstbestimmungsrechte<br />

sind Persönlichkeitsrechte<br />

und untrennbar mit der<br />

Person verbunden, das gilt auch<br />

beim Kind.<br />

Nur ausnahmsweise wird es nicht<br />

zur Mitwirkung kommen: Ein Säugling<br />

kann nicht aktiv mitwirken,<br />

aber trotzdem kann er rechtlich ein<br />

Erbe erwerben. Die Mitwirkung<br />

fehlt hingegen zu Unrecht, wenn<br />

beispielsweise Mutter und Bruder<br />

die 11-jährige Lisa beeinflussen,<br />

sodass sie ihren Wunsch nach einem<br />

In einem Scheidungsverfahren<br />

sieht das schweizerische Recht<br />

die Kindesanhörung vor.<br />

Schulwechsel nicht äussert. Die Mitwirkung<br />

fehlt auch dann, wenn der<br />

Wunsch von Tim, zu seinen Grosseltern<br />

zu ziehen, ignoriert wird.<br />

Mitwirkungsrecht ist ein<br />

internationales Kinderrecht<br />

Das Mitwirkungsrecht des Kindes<br />

ist mit Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention<br />

(1989) seit dem Jahre<br />

1997 ein international verbindliches<br />

Kinderrecht in der Schweiz: Das<br />

Recht des Kindes, sich frei zu äussern,<br />

nach Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention<br />

umfasst das Recht auf<br />

Berücksichtigung seiner Meinung<br />

und das Recht, Einfluss auf das persönliche<br />

Lebensumfeld nehmen zu<br />

können. Das Recht gilt für alle Arten<br />

von gerichtlichen oder behördlichen<br />

Verfahren, die das Kind direkt oder<br />

indirekt in seinen Lebensbelangen<br />

betreffen.<br />

In Umsetzung von Art. 12 UN-<br />

Kinderrechtskonvention sieht das<br />

schweizerische Recht z. B. die Anhörung<br />

im Scheidungsverfahren vor.<br />

Die Anhörung bezweckt die Re -<br />

spektierung der Persönlichkeitsrechte<br />

der Kinder. Ziel der Anhörung der<br />

Kinder in einem Scheidungsverfahren<br />

ist es, dass die entscheidungsbefugten<br />

Personen einen persönlichen<br />

Eindruck davon erhalten, wie die<br />

Kinder ihre Situation sehen und welche<br />

Bedeutung die beiden Elternteile<br />

für die Kinder haben.<br />

Ebenso sollen die Kinder die<br />

Gelegenheit erhalten, sich über ihre<br />

Wünsche und ihre Bedürfnisse zu<br />

äussern und mit einer unabhängigen<br />

Person über ihre momentane Situation<br />

der Trennungsphase der Eltern<br />

zu reden.<br />

Die Kindesanhörung dient dem<br />

Kindeswohl. Das Kindeswohl zu<br />

achten, bedeutet aber auch, dass eine<br />

richterliche Behörde nicht jedem<br />

Wunsch eines Kindes nachkommen<br />

muss, denn es kann beispielsweise<br />

sein, dass die Grosseltern im Falle<br />

des 6-jährigen Tim völlig ungeeignet<br />

sind, ihn bei sich aufzunehmen, aus<br />

gesundheitlichen Gründen etwa.<br />

Der Wunsch des Kindes ist legitim<br />

Können Kinder in einem rechtlichen<br />

oder behördlichen Verfahren mitwirken,<br />

so bringen sie die Perspektive<br />

von Kindern ein, die Erwachsenen<br />

nicht unbedingt zugänglich ist.<br />

Das Mitwirkungsrecht umfasst >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>47


Erziehung & Schule<br />

Kinder schätzen es sehr, wenn<br />

sie im Gespräch eine aktive<br />

Rolle einnehmen können.<br />

Alle Kinder haben Menschenrechte<br />

Kinder in aller Welt sind Träger und Trägerinnen von<br />

Menschenrechten. Kein Mensch, keine Behörde<br />

und kein Staat darf Kinderrechte verweigern.<br />

Kinderrechte sind zu schützen und anzuerkennen.<br />

Jedes Kind hat das<br />

Recht auf Leben,<br />

Recht auf Gesundheit,<br />

Recht auf Schutz,<br />

Recht auf eine eigene Meinung (das ist die<br />

Mitwirkung),<br />

Recht auf Bildung,<br />

Recht auf eine gewaltfreie Erziehung,<br />

um nur einige der UN-Kinderrechtskonvention<br />

(www.unicef.ch > So helfen wir > Kinderrechte)<br />

aufzuzählen.<br />

Wenn uns interessiert, wie die Kinderrechte in der<br />

Schweiz besser umgesetzt werden können und<br />

was wir tun können, um diese zu stärken, sollten<br />

wir nicht vergessen, dass die Rechte der Kinder<br />

längst nicht überall eingehalten werden. In einigen<br />

Ländern gibt es kein sauberes Wasser, keine<br />

Schulen, müssen Kinder arbeiten, werden sie früh<br />

verheiratet oder als Kindersoldaten eingesetzt.<br />

>>> je doch die Pflicht der zuständigen<br />

Behörde, sich mit dem Wunsch<br />

von Tim auseinanderzusetzen: Wie<br />

war die Beziehung zu den Grosseltern<br />

in der Vergangenheit? Möchte<br />

Tim vielleicht«nur» den ständigen<br />

Streitereien der Eltern entfliehen<br />

oder einem Loyalitätskonflikt ausweichen?<br />

Welche Möglichkeiten<br />

gäbe es, dass Tim trotzdem bei seinen<br />

Grosseltern wohnen könnte?<br />

Mit der Mitwirkung von Kindern<br />

erhöht sich aber auch deren Be ­<br />

reitschaft, einen Entschluss, der von<br />

den Entscheidungsträgern getroffen<br />

wird, zu akzeptieren. Kinder schätzen<br />

es im Gespräch allgemein, wenn<br />

sie eine aktive Rolle übernehmen<br />

können. Sie möchten als Person in<br />

ihrem gesamten Lebensumfeld<br />

wahrgenommen werden und nicht<br />

nur als ein «Problemfall».<br />

Fortschritt erreicht<br />

Die Anerkennung von Mitwirkungsrechten<br />

und Kinderrechten hat in<br />

den letzten Jahrzehnten unbestreitbar<br />

Fortschritte gemacht. Der rechtliche<br />

Schutz von Kindern bleibt aber<br />

trotz neuer normativer Vorgaben<br />

und praxisorientierter Standards in<br />

der Schweiz uneinheitlich und ist auf<br />

gewisse Sachbelange beschränkt.<br />

Zudem hinkt die Umsetzung im Alltag<br />

noch hinterher, und der Bekanntheitsgrad<br />

der Mitwirkungsrechte<br />

lässt teilweise noch zu wünschen<br />

übrig.<br />

Eine im 2013 publizierte Studie<br />

zum Ländervergleich in Europa in<br />

Sachen Jugendstrafrecht attestiert<br />

der Schweiz und Schottland etwa<br />

eine sehr gute Berücksichtigung der<br />

Mitwirkung von Jugendlichen. Die<br />

Umsetzung der Mitwirkungsrechte<br />

von Kindern ist im Alltag jedoch vor<br />

allem in Schulbelangen noch verbesserungsfähig.<br />

Auch eine Befragung von 50 Mitgliedern<br />

erstinstanz licher Gerichte<br />

in der Romandie aus dem Jahre 2012<br />

zeigt, dass vor allem Kinder in<br />

«hochstrittigen» Fällen angehört<br />

werden und solche, die 10 Jahre oder<br />

älter sind. Darüber hinaus wird erst<br />

rund jedes hundertste Kind in einem<br />

gerichtlichen oder behördlichen<br />

Verfahren in der Schweiz durch eine<br />

Verfahrensvertreterin oder einen<br />

Verfahrensvertreter professionell<br />

unterstützt.<br />

Eine Studie aus dem Jahre 2011,<br />

welche die Kindesschutzsysteme<br />

untersuchte, kommt unter anderem<br />

zum Schluss, dass die Mitwirkung<br />

der Gesamtfamilie und eine unabhängige<br />

Kontrollinstanz in der<br />

Schweiz hilfreich sein könnten.<br />

Zwei jüngere EU-Studien aus<br />

dem Jahre 2015 (ohne Berücksichtigung<br />

der Schweiz) kommen zum<br />

Schluss, dass noch Handlungsbedarf<br />

besteht, dass die Schutzbestimmungen<br />

bei Kindern noch zu wenig be ­<br />

kannt sind, den Erwachsenen an der<br />

erforderlichen Kompetenz fehlt und<br />

dass gewisse Gruppen von Kindern<br />

noch weniger Möglichkeiten zur<br />

Mitwirkung haben.<br />

Was können Eltern tun?<br />

Eltern können ihre Kinder unterstützen,<br />

die Mitwirkungsrechte wahrzunehmen.<br />

Sie können zum Beispiel<br />

dazu beitragen, dass ihr Kind die<br />

Informationen, die zu seiner Meinungsbildung<br />

nötig sind, in einer<br />

verständlichen Weise erhält. Sie können<br />

dazu beitragen, dass ihre Kinder<br />

schon am Familientisch lernen mitzuwirken.<br />

Ferner ist sicherzustellen, dass<br />

alle Personen, die das Kind in einem<br />

Verfahren informieren, anhören,<br />

begleiten und vertreten, eine positive<br />

Grundhaltung gegenüber den<br />

Kindern haben und eine entsprechende<br />

Schulung (Grundkenntnisse<br />

in Recht, Kenntnisse der Kinderpsychologie)<br />

aufweisen.<br />

Zusätzlich sollte eine unabhängige<br />

Ombudsstelle oder -person in der<br />

Schweiz als Anlaufsstelle für Kinderrechte<br />

errichtet werden und sicherstellen<br />

können, dass die Kinderrechte<br />

durchgesetzt werden. Eine solche<br />

Institution wäre auch in Gesetzgebungsverfahren<br />

zu Kinderrechten<br />

einzubeziehen. Ihr käme auch Koordinationsfunktion<br />

zu.<br />

Sandra Hotz<br />

ist Juristin und Co-Leiterin des Projekts<br />

«Kinder fördern. Eine interdisziplinäre<br />

Studie zum Umgang mit ADHS» am Institut<br />

für Familienforschung und -beratung der<br />

Universität Freiburg. Sie beschäftigt sich<br />

mit Kinderrecht und Fragen der<br />

Selbstbestimmung von Patienten.<br />

>>><br />

48 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Stiftung Elternsein<br />

Ein gefährliches Vorbild für Populisten<br />

Ellen Ringier über US-Präsident Donald Trump und die Folgen seiner Politik.<br />

Bild: Vera Hartmann / 13 Photo<br />

Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />

die Stiftung Elternsein.<br />

Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />

Hätte ich Kinder im «erziehungsfähigen<br />

Alter» (meine sind bald 24 und 26 Jahre<br />

alt), glauben Sie mir, ich hätte die grösste<br />

Mühe, ihnen zu erklären, warum ein<br />

Mann, der nicht nur alle gängigen Regeln<br />

eines friedlichen Zusammenlebens mit<br />

Bedacht verletzt, sondern dem freien Handel,<br />

dem freien Personenverkehr eine<br />

Ende machen will, Präsident des mächtigsten<br />

Landes der Welt werden konnte!<br />

Donald Trump hat Frauen, Behinderte,<br />

Mexikaner, Muslime und Journalisten beleidigt und ist<br />

dennoch oder gerade deswegen Präsident der USA<br />

geworden! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er mit<br />

diesen Pauschalverunglimpfungen, mit dem Schüren<br />

von Ängsten, mit der Emotionalisierung eines jeden<br />

Sachverhalts, mit reinem Populismus ungestraft davonkommen,<br />

geschweige denn gewählt würde!<br />

Populistisch, so die Definition, ist eine Politik, die<br />

mit scheinbar einfachen Lösungen die Gunst der Bevölkerung<br />

zu gewinnen versucht. Dabei stützt sich der<br />

Populismus auf Ressentiments, häufig auf Fremdenfeindlichkeit.<br />

Eine der beliebten politischen Forderungen<br />

von Populisten lautet: Um Arbeitslosigkeit abzuwehren,<br />

dürfen keine Ausländer mehr ins Land oder<br />

sind Ausländer aus dem Land auszuweisen. Damit lassen<br />

sich alle die Menschen mobilisieren, die – aus welchen<br />

Gründen auch immer – um ihre Arbeit fürchten.<br />

Dabei spielt es dem Populisten keine Rolle, dass die<br />

Wirtschaft ohne Ausländer zusammenbrechen würde …<br />

«Grenze zu, Ausländer raus = Arbeitsplatzsicherung<br />

des Inländers!» Als ob es Globalisierung, Digitalisierung<br />

und andere Entwicklungen nicht gäbe, die für die<br />

Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht werden können!<br />

«Willkürlich ausgewählte Feindbilder für aktuelle<br />

Situationen und gesellschaftliche Probleme verantwortlich<br />

zu machen, verschafft ein stellvertretendes Ventil<br />

und sorgt für politisch gewollte Radikalisierungen. Die<br />

Folgen sind Hass, Gewalt und Vernichtung», so zu lesen<br />

in einer Kolumne eines Freundes aus Österreich.<br />

In Europa stehen in diesem Jahr wichtige Wahlen an,<br />

und es machen sich in zahlreichen Ländern Populisten<br />

ans Werk, die ihrem Volk mit radikal einfachen Lösun-<br />

gen auf Kosten von Minderheiten, wie Grenzschliessungen,<br />

Feindbilder zum Abschuss freigeben. Bloss keine<br />

differenzierten Angebote, die der Gesellschaft etwas<br />

abverlangen könnten! Die Erziehungsmaxime, dass man<br />

etwas leisten muss, um etwas zu bekommen («Es gibt<br />

nichts Gutes, ausser man tut es!»), kommt mir angesichts<br />

mancher grossmundiger Wahlversprechen reichlich<br />

antiquiert vor …<br />

Unsere jungen Erwachsenen werden im angebrochenen<br />

Jahr in wichtigen, richtungsweisenden politischen<br />

Fragen zur Urne gerufen.Werden sie sich dann daran<br />

erinnern,<br />

• dass unser Wohlstand auf offenen Grenzen beruht und<br />

dass eine wachsende Wirtschaft auf freien Personenund<br />

Warenverkehr angewiesen ist,<br />

• dass unsere Vorfahren jahrhundertelang für die Freiheiten<br />

von heute gekämpft haben, dass Hektoliter von<br />

Blut junger Männer auf den Schlachtfeldern Europas<br />

vergossen wurden, um religiöse und politische Diktate<br />

zu beseitigen,<br />

• dass die multilateralen Verträge, mithin die garantierte<br />

Handels-, die Niederlassungsfreiheit unserem Kontinent<br />

mit einigen wenigen Ausnahmen immerhin 70<br />

Jahre Frieden gebracht haben und vor allem<br />

• dass das Schüren von Emotionen und Angst, den<br />

schlechtesten Ratgebern überhaupt, zu Hass und<br />

Gewalt und in letzter Konsequenz gar zu Vernichtung<br />

führen kann?<br />

Haben wir Eltern, die wir eine Generation des ungebrochenen<br />

Konsums sind, unsere Jugend auf härtere Zeiten,<br />

wie sie unsere Eltern und Grosseltern kannten, vorbereitet?<br />

Oder wird die junge Generation, auf einen ungebrochenen<br />

Konsum fixiert, zwangsweise den Versprechen<br />

der Populisten erliegen müssen?<br />

STIFTUNG ELTERNSEIN<br />

«Eltern werden ist nicht schwer,<br />

Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />

Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />

Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein an. Sie<br />

richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern und<br />

Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen Eltern,<br />

Kindern, Lehrern und die Vernetzung der eltern- und<br />

erziehungsrelevanten Organisationen in der deutschsprachigen<br />

Schweiz. Die Stiftung Elternsein gibt das Schweizer<br />

ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus. www.elternsein.ch<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>49


Erziehung & Schule<br />

«Mama, mir ist langweilig!»<br />

Das Leben vieler Kinder ist von morgens bis abends durchgetaktet. Jede freie Minute<br />

ist verplant; sich zu langweilen ist verpönt. Völlig zu unrecht, sagen Experten.<br />

Wer sich die Zeit nimmt, nichts zu tun, entwickelt besonders kreative Ideen. Ein Plädoyer<br />

für mehr Langeweile. Text: Marion Heidelberger<br />

«Langeweile ist keine<br />

Zeitverschwendung,<br />

im Gegenteil: Sie bildet.»<br />

Marion Heidelberger, 49, ist<br />

Vize präsidentin des LCH, seit 30 Jahren<br />

als Primarlehrerin tätig und Mutter von<br />

zwei Söhnen, 21 und 22.<br />

Sandi Mann und Rebekah<br />

Cadman haben vor drei<br />

Jahren an einer Tagung in<br />

England eine Studie zum<br />

Thema «Fantasie und Tagträume»<br />

vorgestellt: Bei dieser<br />

waren 40 Versuchspersonen eine<br />

Viertelstunde mit der Aufgabe ge ­<br />

langweilt worden, Nummern aus<br />

einem Telefonbuch abzuschreiben.<br />

Ohne ersichtlichen Grund, als völlig<br />

sinnlose Aufgabe.<br />

Offenbar hatte diese monotone<br />

Tätigkeit eine erstaunliche Wirkung<br />

auf die Fantasie der Versuchspersonen.<br />

Als diese nämlich im Anschluss<br />

ans Telefonnummern abschreiben<br />

einen Kreativitätstest machen mussten,<br />

sprudelten die Ideen nur so aus<br />

ihnen heraus. Die gelangweilten<br />

Teilnehmenden waren viel kreativer<br />

als diejenigen in der Vergleichsgruppe.<br />

Diese haben den gleichen Kreativitätstest<br />

absolviert, mussten aber<br />

vorher nicht sinnlos Telefonnummern<br />

abschreiben.<br />

Offenbar mag unser Gehirn keine<br />

lang anhaltenden, monotonen Ar ­<br />

beiten. Wenn von aussen keine neuen<br />

Reize oder Eindrücke kommen,<br />

erschafft es sich selbst welche. Durch<br />

diese Form von Langeweile entsteht<br />

im Gehirn ein erhöhtes Potenzial an<br />

Kreativität. Das Gehirn «freut» sich<br />

Organisieren Sie langweilige<br />

Situationen für Ihr Kind – damit<br />

fördern Sie seine Fantasie.<br />

auf die neue Aufgabe und gibt sein<br />

Bestes. Deshalb schnitten die ge ­<br />

langweilten Versuchspersonen beim<br />

Kreativitätstest besser ab.<br />

Der Druck steigt stetig<br />

Diese Ergebnisse belegen eindrücklich,<br />

dass Langeweile nichts Schlechtes<br />

ist und sich positiv auf das kreative<br />

Potenzial auswirkt. Offenbar<br />

beflügelt Langeweile die Fantasie.<br />

Warum hat sie dann trotzdem einen<br />

so schlechten Ruf?<br />

Der Druck in der Arbeitswelt<br />

steigt stetig, die Belastungen nehmen<br />

für jeden Einzelnen laufend zu.<br />

Als erfolgreich gilt, wer immer be ­<br />

schäftigt ist oder wenigstens be ­<br />

schäftigt aussieht. Diese Einstellung<br />

hat sich längst auf das Freizeitverhalten,<br />

die Familie und die Kinder<br />

übertragen.<br />

Familienagenden quillen über,<br />

wer den Kindern ständig Programm<br />

bietet, meint, das Beste für sein Kind<br />

zu tun. Auch die Schule kann sich<br />

dieser Entwicklung nicht entziehen.<br />

Es gibt Lehrpersonen, die eine<br />

Woche lang Hasen im Schulzimmer<br />

züchten, mit der Klasse mit dem<br />

Velo um den Zürichsee fahren, tags<br />

darauf bei der ETH Roboter ausleihen,<br />

um Programmierexperimente<br />

durchzuführen, und nebenbei noch<br />

einen Film drehen und eine Schülerzeitung<br />

schreiben.<br />

Langeweile ist Wegbereiter für<br />

die Fantasie<br />

Die Resultate des eingangs erwähnten<br />

Experiments decken sich mit<br />

50 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

meiner fast 30-jährigen Erfahrung<br />

als Primarlehrerin: Langeweile<br />

braucht es, hin und wieder. Langeweile<br />

aushalten muss man lernen. In<br />

unserer digitalisierten, schnelllebigen<br />

Zeit mehr denn je. Aus der Langeweile<br />

entspringen viele kreative<br />

Ideen; sie ist der Wegbereiter für die<br />

Fantasie. Und Fantasie braucht es für<br />

das psychische Wohlbefinden und<br />

einen erfolgreichen Spracherwerb.<br />

Das freie Spiel ist für die gesunde<br />

Entwicklung eines Kindes die wichtigste<br />

Fördermassnahme. Im freien<br />

Spiel lernt das Kind mit Hilfe seiner<br />

Fantasie aus wenig etwas Spannendes<br />

zu machen. Diese Fantasie entsteht<br />

aber nur, wenn Langeweile<br />

vorausgeht. Erst aus langweiligen<br />

Situationen entsteht Kreativität, entstehen<br />

gute Ideen zum Spielen. Egal<br />

ob mit sich selbst, mit einem Spielkameraden<br />

oder einer erwachsenen<br />

Person: Das Eintauchen in die eigene<br />

Fantasiewelt braucht Zeit, will<br />

geübt sein und geht nie auf Knopfdruck.<br />

Die Familienagenda entrümpeln<br />

Auch beim Spracherwerb spielt das<br />

freie Spiel eine wichtige Rolle.<br />

Obwohl jedes Kind sein eigenes<br />

Tempo hat, gelingen den meisten<br />

Kindern mit etwa zwei Jahren bereits<br />

längere Sätze, und mit vier Jahren<br />

können sich die meisten Kinder verständlich<br />

ausdrücken. Dann bleiben<br />

nochmals etwa acht Jahre Zeit bis zur<br />

korrekten Verwendung der Sprache<br />

nach unseren Grammatikregeln.<br />

Und genau dieses Üben passiert, vor<br />

allem in der Zeit bis Mitte Unterstufe,<br />

im freien Spiel, in der Interaktion<br />

mit gleichaltrigen Spielpartnerinnen<br />

oder in der Auseinandersetzung mit<br />

sich selbst.<br />

Der Spracherwerb ist kein be -<br />

wusster Lernprozess. Für den<br />

Sprach erwerb ist es wichtig, dass<br />

Kinder aktiv sprechen, ihre Kommunikation<br />

selber gestalten. Nur so<br />

können die notwendigen Verknüpfungen<br />

im Gehirn entstehen. Um<br />

sich die sprachlichen Reize und<br />

Anzeige<br />

Fantasie fördert das psychische<br />

Wohlbefinden und den<br />

erfolgreichen Spracherwerb.<br />

An regungen zu holen, die die Kinder<br />

in der jeweiligen Phase ihrer<br />

Sprachentwicklung benötigen,<br />

braucht es unendlich viel Übung.<br />

Und genau dies bietet das Rollenspiel.<br />

Und was heisst das nun konkret<br />

für die Freizeitgestaltung in der<br />

Familie?<br />

Entrümpeln Sie Ihre Familien -<br />

agenda. Bieten Sie Ihrem Kind<br />

immer wieder Zeit und Raum für<br />

Langeweile. Insbesondere sehr aktive<br />

Kinder, mit einem enormen<br />

Bedürfnis nach Bewegung, brauchen<br />

Langeweile, um herauszufinden,<br />

was ihnen guttut, um zur Ruhe<br />

zu kommen, um sich zu spüren.<br />

Organisieren Sie bewusst langweilige<br />

Situationen für Ihr Kind und fördern<br />

Sie damit die Fantasie. Gönnen<br />

Sie Ihren Kindern bildschirmfreie<br />

Zeiten und verfallen Sie nicht aus<br />

einer falschen Motivation heraus in<br />

Hyperaktivismus.<br />

Langeweile kann man üben<br />

Das Gleiche gilt für die Schule. Ich<br />

lasse meinen Kindern in der Unter-<br />

K’WERK<br />

K’Werk Zürich | Bildschule 4–16<br />

Kursprogramm und Anmeldung<br />

www.kwerk-zürich.ch<br />

Das K’Werk ist eine Bildschule für<br />

Kinder und Jugendliche von 4–16 Jahren.<br />

K’ steht für Kinder, Kurse, Kunst,<br />

Kreativität, Kultur, Kontinuität.<br />

stufe immer wieder Zeit, um sich mit<br />

sich selbst zu beschäftigen, stelle<br />

Freiräume mit offenen Aufgabenstellungen<br />

zur Verfügung. Der Lehrplan<br />

sieht solche inszenierten «Langeweilezeiten»<br />

vor. Selbstverständlich werden<br />

diese mit zunehmendem Alter<br />

weniger durch Rollenspiele gefüllt.<br />

Ab der zweiten Klasse beispielsweise<br />

durch das Erfinden von Geschichten<br />

oder offene Aufgaben im kreativen<br />

Bereich. Manchmal sind Papier<br />

und Bleistift wirkungsvoller als die<br />

neueste App auf dem iPad.<br />

Viele Kinder tun sich anfangs<br />

schwer damit, aber Langeweile aushalten<br />

und Geduld haben, bis daraus<br />

Kreativität entsteht, kann man üben.<br />

Es fühlt sich mit der Zeit gut an. Das<br />

ist Motivation genug, es erneut auszuprobieren<br />

und auszuhalten.<br />

Nein, früher war nicht alles besser.<br />

Und ich habe auch nichts gegen<br />

iPad, Hunderobotor und andere<br />

digitale Spielsachen. Aber ich mag<br />

ebenso Eile mit Weile, Briobahn und<br />

Schere, Leim und Papier. Langeweile<br />

ist keine Zeitverschwendung. Im<br />

Gegenteil. Langeweile bildet.<br />

ICICI<br />

Ausstellung «Bauplatz Kreativität»<br />

der Bildschulen Schweiz:<br />

17. März – 2.April <strong>2017</strong><br />

Räffelstrasse 10, Zürich Binz<br />

Februar <strong>2017</strong>51


Erziehung & Schule<br />

Eine Chance<br />

für Mohamed<br />

Ob man ans Gymnasium kommt oder nicht, entscheidet die Herkunft. Das ist leider<br />

auch in der Schweiz noch immer so. Das Programm ChagALL soll für mehr<br />

Chancengleichheit sorgen. Junge, begabte Migrantinnen und Migranten werden<br />

dabei für eine höhere Schullaufbahn fit gemacht. Eine Erfolgsgeschichte.<br />

Text: Evelin Hartmann Bilder: Roshan Adihetty / 13 Photo<br />

52 52 <br />

Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Für eine bessere<br />

Konzentration:<br />

Mohamed (rechts)<br />

und die anderen<br />

Teilnehmer lernen<br />

Übungen zur<br />

Entspannung.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Februar <strong>2017</strong>53


Erziehung & Schule<br />

«Wir raten den Eltern, ihren<br />

Kindern die Freiheit zu<br />

lassen, lernen zu können»,<br />

sagt Stefan Marcec.<br />

Die Hürde liegt hoch<br />

Mohamed ist ein grosser, schlaksiger<br />

Junge, seine kurzen Locken sind<br />

schwarz, sein Teint ist dunkel. Seine<br />

Familie kommt aus Somalia, die seines<br />

Banknachbarn aus Afghanistan.<br />

Montenegro, Portugal, Marokko,<br />

Rumänien: Die Programmteilnehmer<br />

stammen aus aller Herren Länder.<br />

Was sie eint, ist ein hohes intellektuelles<br />

Potenzial sowie ein<br />

Elternhaus, in dem weder Mutter<br />

noch Vater die deutsche Sprache in<br />

die Wiege gelegt bekommen haben<br />

– und die nur über bescheidene<br />

finanzielle Mittel verfügen. Letzteres<br />

muss per Steuerausweis nachgewiesen<br />

werden. «Bei uns bewerben sich<br />

immer wieder ausländische Eltern,<br />

die alles andere als bedürftig sind»,<br />

sagt Stefan Marcec, Lehrer am Gymnasium<br />

Unterstrass und operativer<br />

Leiter des Programms. Er betont, wie<br />

hoch die Hürden sind, um überhaupt<br />

aufgenommen zu werden.<br />

Jeden April kontaktiert Stefan<br />

Marcec Sekundarschulen im Raum<br />

Zürich, Winterthur und Dietikon.<br />

Lehrer, die vom Potenzial eines oder<br />

mehrerer ihrer Achtklässler überzeugt<br />

sind, können diese per Empfehlungsschreiben<br />

vorschlagen.<br />

Zumeist leben diese Schüler in der<br />

ersten oder zweiten Generation bei<br />

uns. Auch sie müssen ein Motivationsschreiben<br />

verfassen.<br />

Was folgt, ist ein stufenweise<br />

durchgeführtes Aufnahmeverfahren,<br />

welches ein schriftliches Assessment,<br />

die Erfassung von psychologischen<br />

und intellektuellen Fähigkeiten<br />

und Fertigkeiten sowie, in einem<br />

weiteren Schritt, ein ausführliches<br />

Aufnahmegespräch umfasst. Wer<br />

dann immer noch dabei ist, hat gute<br />

Chancen, ausgewählt zu werden.<br />

Zwei Mal pro<br />

Woche gibt es<br />

Förderunterricht.<br />

Essay, Abhandlung, Erörterung<br />

– das sind Textformen,<br />

die Neuntklässler<br />

kennen sollten, wenn<br />

sie eine Mittelschule<br />

besuchen wollen. An diesem Mittwochnachmittag<br />

stehen diese<br />

Begriffe an der Schultafel des Gymnasiums<br />

Unterstrass in Zürich.<br />

Karolina Zegars Blick schweift zwischen<br />

der Tafel und ihren Schülern<br />

hin und her. «Welche weiteren Wörter<br />

sind euch fremd?», fragt die Lehrerin<br />

in die Runde. Mohamed<br />

Axmed Macow schaut auf sein Blatt,<br />

steht auf, geht zur Tafel und schreibt<br />

«Metaebene». Mohamed ist ein<br />

guter Schüler, ein sehr guter sogar.<br />

Nur Deutsch macht ihm Probleme.<br />

Dass der 16-Jährige am Mittwochnachmittag<br />

zum Unterricht kommen<br />

muss, während alle anderen<br />

seiner Kollegen freihaben, stört ihn<br />

nicht. Im Gegenteil. Mohamed ist<br />

froh, einer von 26 Teilnehmern des<br />

Migrationsprojekts ChagALL zu<br />

sein.<br />

«Es ist erwiesen, dass junge Migranten,<br />

die aus bescheidenen finanziellen<br />

Verhältnissen stammen,<br />

wenig Chancen auf einen höheren<br />

Bildungsabschluss haben», sagt Jürg<br />

Schoch, Direktor des Gymnasiums<br />

Unterstrass. Unabhängig davon, wie<br />

begabt sie seien. Aus diesem Grund<br />

wurde 2008 das Programm ChagALL,<br />

Chancengerechtigkeit durch<br />

Arbeit an der Lernlaufbahn, ins<br />

Leben gerufen. Seither wurden 137<br />

begabte jugendliche Migrantinnen<br />

und Migranten neben ihrem Regelunterricht<br />

gecoacht und geschult.<br />

Mit dem Ziel, sie für die Aufnahmeprüfung<br />

an einem Gymnasium,<br />

einer Berufsmittelschule oder Fachmittelschule<br />

fit zu machen. Träger<br />

des Programms ist – ebenso wie für<br />

das Gymnasium Unterstrass – der<br />

Verein für das Evangelische Lehrerseminar<br />

Zürich, finanziert wird es<br />

durch zwei Stiftungen.<br />

Mitra drohte Zwangsverheiratung<br />

Haben die Schüler den Sprung ins<br />

Programm geschafft, werden sie<br />

zusammen mit ihren Eltern an einem<br />

Informationsabend über den Verlauf,<br />

die Rechte und Pflichten im Programm<br />

informiert und gebeten,<br />

einen Ausbildungsvertrag zu unterschreiben.<br />

Erst danach gelten die<br />

Jugendlichen als aufgenommen.<br />

«Wir raten den Eltern, ihren Kindern<br />

die Freiheit zu lassen, lernen zu<br />

können», sagt Stefan Marcec. Das<br />

heisst, weniger auf die jüngeren<br />

Geschwister aufpassen oder im elterlichen<br />

Geschäft mithelfen – dafür<br />

mehr Zeit zum Lernen zu haben. «In<br />

der Regel sind diese Eltern sehr einsichtig<br />

und stolz auf ihre Kinder.»<br />

So wie Mutter und Vater von Mitra<br />

Karimi, 18 Jahre alt und >>><br />

«Das Elternhaus<br />

ist entscheidend»<br />

Kinder von Migranten sind an<br />

Gymnasien unterdurchschnittlich<br />

vertreten – weil sie häufig in<br />

sozioökonomisch benachteiligten<br />

Familien aufwachsen, sagt<br />

Bildungsforscher Urs Moser.<br />

Interview: Evelin Hartmann<br />

Herr Moser, welche Chancen haben junge<br />

Migranten an Schweizer Schulen?<br />

Das kommt darauf an, wie gut sie von<br />

ihren Eltern unterstützt werden können.<br />

Kinder von Akademikern haben unabhängig<br />

von ihrer kulturellen Herkunft<br />

54 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

gute Chancen, eine höhere Schullaufbahn<br />

zu durchlaufen.<br />

Es kommt demnach immer auf den<br />

Bildungshintergrund der Eltern an?<br />

Unter anderem. Von Bedeutung können<br />

auch finanzielle Mittel sein, die für zu ­<br />

sätzliche Förderung, beispielsweise Prüfungsvorbereitung,<br />

eingesetzt werden,<br />

oder die Kenntnisse des Bildungssystems.<br />

Sprechen wir von den Migranten, deren<br />

Eltern keinen höheren Bildungsabschluss<br />

und keine finanziellen Mittel haben.<br />

Ihnen fehlt oft die Unterstützung von zu<br />

Hause. Ihre Eltern haben oftmals wenig<br />

Zeit, meist mangelt es ihnen an Deutschkenntnissen.<br />

Sprachliche Defizite können<br />

auch dazu führen, dass das Potenzial und<br />

der Wille der Kinder, eine höhere Schule<br />

zu besuchen, übersehen werden.<br />

Helfen da Programme wie das Migrantenförderprogramm<br />

ChagALL weiter?<br />

Sehr sogar, weil die Jugendlichen ein Ziel<br />

vor Augen haben: den Übertritt in die<br />

Mittelschule. Und es treffen dabei zwei<br />

wesentliche Erfolgsfaktoren aufeinander,<br />

die Schüler sind hochmotiviert, und die<br />

Betreuung im Programm ist ausreichend<br />

und effektiv.<br />

ChagALL richtet sich an kognitiv sehr<br />

starke Jugendliche. Was muss auf einer<br />

breiteren Ebene passieren, um alle Migrantenkinder<br />

fördern zu können?<br />

Jede durchdachte und gut ausgeführte<br />

Fördermassnahme hilft und ist wertvoll.<br />

Natürlich wäre es darüber hinaus wichtig,<br />

dass alle Kinder neben ihrer Herkunftssprache<br />

auch frühest möglich Deutsch<br />

lernen.<br />

Demnach ist eine totale Chancengleichheit<br />

nie erreichbar.<br />

Im Sinne, dass jedes Kind sein Potenzial<br />

optimal nutzen kann, leider nein. Der<br />

Staat kann nicht ab Geburt eines Kindes<br />

Sprachförderung verordnen. Vielen<br />

Eltern fällt es zudem schwer, ihr Kind in<br />

ein Förderprogramm zu schicken, wenn<br />

es noch so jung ist. Dies hat nicht zwingend<br />

etwas mit der Nationalität zu tun.<br />

Urs Moser<br />

ist seit 1999 Mitglied der Geschäftsleitung<br />

des Instituts für Bildungsevaluation der<br />

Universität Zürich sowie Mitglied der<br />

nationalen Projektleitung für Pisa-Studien.<br />

Er ist Vater zweier Teenager.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>55


Erziehung & Schule<br />

>>> Schülerin des Gymnasiums<br />

Unterstrass. Als sie 12 Jahre alt war,<br />

sind ihre Eltern mit ihr aus Afghanistan<br />

geflohen. Das Mädchen sollte<br />

zwangsverheiratet werden. Heute<br />

lebt die Familie in Zürich, der Vater<br />

arbeitet als Logistiker, die Mutter ist<br />

Hausfrau. Beide sprechen nur ge ­<br />

brochen Deutsch.<br />

Das sind schlechte Startbedingungen<br />

im Schweizer Bildungssystem.<br />

Und doch, an ihrer Sekundarschule<br />

gehörte Mitra zu den<br />

Klas senbesten. «Aber den Sprung<br />

ans Gymnasium hätte ich nie alleine<br />

geschafft», ist sie sich sicher. Nach<br />

bestandener Aufnahme ins Programm<br />

fuhr sie jeden Mittwochnachmittag<br />

und Samstagmorgen<br />

zum Extra-Unterricht, wurde in<br />

Mathematik, Deutsch und Französisch<br />

sowie Geometrie geschult.<br />

Zwei Lehrpersonen arbeiten im Programm<br />

jeweils zusammen, eine<br />

Gymnasial- und eine Sekundarkraft.<br />

«Zusätzlich vermittle ich regelmässig<br />

Konzentrations- und Entspannungsübungen,<br />

erkläre, wie man<br />

sich und seine Arbeit bestmöglich<br />

organisiert», ergänzt Stefan Marcec.<br />

Die Motivation ist gross<br />

«Das Programm ist sehr anspruchsvoll<br />

und erfordert ein hohes Mass an<br />

Motivation und Durchhaltewillen»,<br />

betont Karolina Zegar. Die Lehrerin<br />

hatte 2012 von ChagALL gelesen und<br />

sich beworben. «Hier wird den Schülern<br />

vermittelt: Ihr habt eine reale<br />

Chance, wenn ihr euch anstrengt.<br />

Das hat mir damals keiner mit auf<br />

den Weg gegeben», erinnert sich die<br />

gebürtige Polin. Sie will es heute als<br />

Lehrperson anders machen.<br />

«Euer Job ist es, eure Fehler zu<br />

analysieren. Deshalb schreibe ich<br />

euch die korrekte Lösung immer an<br />

den Rand», sagt sie und schaut in die<br />

fragenden Gesichter ihrer Schüler.<br />

In Deutsch haben sie fast alle Schwächen.<br />

Das sei normal. «Grundsätzlich<br />

sind die Motivation und die<br />

Leistungsbereitschaft sehr hoch.<br />

Nur haben wir seit ein paar Jahren<br />

immer wieder Motivationsprobleme<br />

bei einzelnen Schülern. Das war zu<br />

Beginn des Projekts nicht so», erinnert<br />

sich Karolina Zegar. Warum das<br />

so ist, wisse sie nicht. In den ersten<br />

Jahren nach Projektstart waren es 12<br />

bis 14 Teilnehmer pro Schuljahr, nun<br />

sind es 24 bis 26 Teilnehmer, die<br />

jedes Jahr aufgenommen werden.<br />

Die Regeln sind streng<br />

Valeria Casty hat den Sprung ans<br />

Gymnasium mittlerweile geschafft.<br />

Ihr Vater, ein Spanier, kam mit 13<br />

Jahren in die Schweiz, ihre Mutter<br />

mit 28. Sie stammt aus Kolumbien,<br />

hatte dort studiert. Ihr Vater ist Telematiker.<br />

Beide Eltern sprechen heute<br />

gut Deutsch. Warum also kam<br />

Valeria zu ChagALL? «Ich glaube, in<br />

meinem Jahrgang hatte es noch freie<br />

Plätze», erklärt sie. Benachteiligt ist<br />

sie also nicht – oder nicht so wie die<br />

anderen Teilnehmer. Trotzdem ist sie<br />

sicher, dass sie die spezielle Förderung<br />

nötig hatte. «In Deutsch war ich<br />

schwach.»<br />

Die 17-Jährige erinnert sich noch<br />

gut daran, wie es war, jeden Mittwochmittag<br />

in den Bus Richtung<br />

Unterstrass zu steigen, wenn alle<br />

anderen ihrer Kolleginnen freihatten<br />

und nach Hause konnten.<br />

Natürlich versuche man Motivationstiefs<br />

im Projekt aufzufangen,<br />

unterstützend zur Seite zu stehen.<br />

Aber die Regeln seien streng, sagt<br />

Programmleiter Stefan Marcec. Man<br />

erwarte absolute Pünktlichkeit. Und<br />

wer mehr als einmal unentschuldigt<br />

fehle, werde abgemahnt. Dass vereinzelt<br />

Schüler vorzeitig ausscheiden,<br />

weil sie zum Beispiel eine Lehrstelle<br />

gefunden haben, komme vor.<br />

«Warum tust du dir diesen Stress<br />

an?», sei Valerie manchmal von<br />

ihren ehemaligen Mitschülern ge ­<br />

fragt worden, die nach der Schule<br />

eine Ausbildung begonnen hatten.<br />

«Heute beneiden sie mich», sagt die<br />

Gymnasiastin. Eine KV-Ausbildung<br />

wäre für sie nichts gewesen. «Ich<br />

möchte unbedingt Lehrerin werden.»<br />

Hat sie als ehemalige Pro­<br />

Französisch ist<br />

ein beliebtes<br />

Fach. Deutsch<br />

bereitet vielen<br />

mehr Probleme.<br />

«Ihr habt eine reale Chance,<br />

wenn ihr euch anstrengt.<br />

Das hat mir damals keiner<br />

mit auf den Weg gegeben.»<br />

56 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

grammteilnehmerin einen Sonderstatus<br />

am Gymnasium? «Nein, ich<br />

falle nicht auf», sagt sie. Ihre Eltern<br />

haben einen ähnlichen Bildungshintergrund<br />

wie die anderen Eltern und<br />

können ihr beim Lernen helfen, sie<br />

bei ihrer Berufswahl beraten.<br />

Damit ist sie die grosse Ausnahme.<br />

Viele Eltern von Programmteilnehmern<br />

können nicht einmal die<br />

Schulbücher zahlen, geschweige<br />

denn Unterstützung bei den Hausaufgaben<br />

bieten. Daher ist für Schülerinnen<br />

wie Mitra das Folgeprogramm<br />

ChagALL+ so wichtig. «Das<br />

erste halbe Jahr nach Übertritt an die<br />

Mittelschule haben die Schüler weiterhin<br />

jeden Samstagvormittag<br />

Unterricht», erklärt Stefan Marcec,<br />

unterricht beendet. Er klappt sein<br />

Heft zu. Jetzt geht’s weiter mit Französisch,<br />

danach mit Mathematik.<br />

Am Abend, wenn seine vier jüngeren<br />

Geschwister schlafen oder fernsehen,<br />

wird er lernen. Mohamed hat<br />

ein grosses Ziel: ein Ingenieurstudium<br />

an der ETH Zürich. Er wäre<br />

der erste in seiner Familie.<br />

Evelin Hartmann<br />

>>><br />

um Unterrichtsstoff aufzuholen, Fragen<br />

stellen zu können. Und auch<br />

danach gebe es auf Wunsch Förderstunden.<br />

Kommen die meisten Programmteilnehmer<br />

zu ihm an die<br />

Schule? «Nein, viele streben einen<br />

Abschluss an der Berufs- beziehungsweise<br />

Fachmittelschule an»,<br />

sagt der Gymnasiallehrer.<br />

Letztendlich schaffen rund 80<br />

Prozent der ChagALL-Teilnehmer<br />

den Übertritt an die gewünschte<br />

Schule und bis zu 70 Prozent von<br />

ihnen den angestrebten Abschluss.<br />

Eine Quote, auf die man stolz ist am<br />

Gymnasium Unterstrass.<br />

Mohamed hofft, einer von denen<br />

zu sein, die es schaffen. Nach einer<br />

Dreiviertelstunde ist der Deutschist<br />

selbst Migrantin und hat manchmal<br />

Mühe, ihrer vierjährigen Tochter zu folgen,<br />

die jetzt schon besser Schwiizerdütsch<br />

spricht, als sie selbst jemals lernen wird.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>57


dend.<br />

><br />

«Ich bin mit zwei Müttern<br />

gross geworden»<br />

«Ein Kind verdient<br />

Mutter und Vater»<br />

(«Regenbogenfamilien»,<br />

Heft 12/16 / 1/17)<br />

Psychologie & Gese lschaft<br />

Regenbogenfamilien –<br />

und wie geht es den Kindern?<br />

Mu ter, Vater, Kind ist heute längst nicht die einzige Variante einer Familie. Auch viele<br />

gleichgeschlechtliche Paare wünschen sich Kinder. Wie erfüllen sich diese Paare ihren<br />

Kinderwunsch? Und wie entwickeln sich Kinder in Regenbogenfamilien? Neue<br />

Forschungsergebnisse aus den USA scha fen nun eindeutig Klarheit. Text: Nathalie Meuwly<br />

Diese Kinder entwickeln<br />

sich vergleichbar mit Kindern,<br />

die mit Mu ter und Vater<br />

aufwachsen.<br />

nach dem Wohlbefinden von Kin-<br />

Gleichgeschlechtliche Paare sto sen<br />

jedoch auf gro se Hürden, we n sie dern in Regenbogenfamilien.<br />

personen. So reicht die reine Anwe-<br />

zu überwinden.<br />

der Beziehung, welche eine emotionale<br />

Sicherheit vermittelt, entscheihen.<br />

Immerhin wird in Zukunft die<br />

etra und Nicole sind seit<br />

schlechtlichen P aren gewährt. Das<br />

beide wünschen sich ein<br />

schlechtliche Eltern und deren Kin-<br />

Glück mit einem Kind teilen. Beide<br />

ste lt zum Beispiel sicher, dass Kin-<br />

Schweiz leben. Der nationale Dach-<br />

Eltern entwickeln sich vergleichbar<br />

schätzt, dass bis zu 30 0 Kinder in Waisenrente oder im Tre nungsfa l Vater aufwachsen.<br />

Anspruch auf Unterhalt haben.<br />

traditione le Familienbild mit Mutter,<br />

Vater und<br />

behalten. Im folgenden Text richten<br />

Kindern.<br />

ihren Kinderwunsch realisieren<br />

einig: Ein Kind braucht für eine<br />

gesunde Entwicklung tragfähige<br />

und verlä sliche Beziehungen zu<br />

den Eltern oder anderen Bezugs-<br />

aus, damit sich Kinder gut entwi-<br />

Der Zugang zur Adoption und<br />

In-vitro-Fertilisation ist nur für<br />

heterosexue le Ehep are vorgese-<br />

Stiefkindadoption auch gleichge-<br />

sieben Jahren ein P ar,<br />

Aus psychologischer Sicht ist zu<br />

Familie gründen. Auch der den dringend notwendigen<br />

Andreas und Simon wo len ihr<br />

P are sind beispielhaft für viele<br />

auch die aktue le Forschungslage:<br />

Regenbogenfamilien, die in der<br />

verband Regenbogenfamilien<br />

mit Kindern, die mit Mu ter und<br />

aufwachsen. Regenbogenfamilien<br />

personen ergeben stets da selbe<br />

erweitern also nebst Patchworkbogenfamilien<br />

ist es wichtig, die<br />

rechtlichen Aspekte im Auge zu<br />

wir den Fokus aber auf die Frage<br />

P<br />

Kind und möchten eine<br />

einer solchen Familienkonste lation<br />

familien sowie Einelternfamilien das<br />

möchten. Zum einen mü sen Entscheidungen<br />

getroffen werden, wie<br />

beispielweise wer von beiden Partwandt<br />

ist. Au serdem gilt es in der<br />

nern biologisch mit dem Kind ver-<br />

Schweiz viele rechtliche Hinderni se<br />

bedeutet: Fortan erhalten gleichge-<br />

rechtlichen Schutz, der für heterosexue<br />

le Familien selbstverständlich<br />

ist. Die neue Gesetzesbestimmung<br />

der, die in Regenbogenfamilien aufwachsen,<br />

im Todesfa l Anspruch auf<br />

Für das Verständnis von Regen-<br />

50 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

In der Psychologie ist man sich<br />

senheit von Bezugspersonen nicht<br />

ckeln kö nen. Vielmehr ist die Art<br />

Auf die Art der Beziehung<br />

kommt es an<br />

erwarten, da s gleichgeschlechtliche<br />

P are ihren Kindern diese Art von<br />

Beziehung bieten kö nen. Dies zeigt<br />

Kinder mit gleichgeschlechtlichen<br />

Umfragen bei Eltern und Lehr-<br />

Bild: Kinder, die mit zwei Mü tern<br />

oder zwei Vätern aufwachsen, unterscheiden<br />

sich in ihrer emotionalen<br />

Entwicklung nicht. Sie sind gleich<br />

Bild: Hero Images / plainpicture<br />

glücklich, gleich ängstlich und<br />

haben auch kein grö seres oder kleineres<br />

Risiko, verhaltensauffä lig zu<br />

werden oder psychische oder somatische<br />

Symptome zu entwickeln als<br />

Kinder, die mit Mu ter und Vater<br />

aufwachsen. Auch bezüglich der<br />

kognitiven Entwicklung gibt es keine<br />

Unterschiede. Kinder zeigen dasselbe<br />

Lernverhalten in der Schule<br />

und sind sozial ähnlich eingebunden.<br />

Selbst in Inte ligenztest schneiden<br />

sie gleich ab.<br />

Auch Fachpersonen schätzen in<br />

Beobachtungen von Adoptiveltern<br />

den Umgang mit den Kindern gleich<br />

Zusammenfa send ka n festgehal-<br />

also keine andere Entwicklung zu<br />

ten werden, da s positive Elterntender<br />

sind für die Entwicklung<br />

da s die gleichgeschlechtlichen<br />

Kind-Beziehungen weitaus bedeu-<br />

eines Kindes als das Geschlecht oder<br />

die sexue le Orientierung der Eltern.<br />

Eine kürzlich publizierte repräsentative<br />

Studie, die 20 1 bis 2012 in<br />

den USA durchgeführt wurde,<br />

kommt zum selben Ergebnis. In dieser<br />

Studie konnte sichergeste lt wertre<br />

ung meist aktiver sind als heterosexue<br />

le biologische Väter.<br />

den, da s die zufä lig ausgewählten<br />

Elternp are a le seit der Geburt des<br />

ein. Kinde reagieren gleich auf ihre<br />

beider Eltern ist vergleichbar. Inter-<br />

der gleichgeschlechtlichen Adoptiveltern<br />

sogar als feinfühliger eingeschätzt<br />

als das Verhalten von heterosexue<br />

len Adoptiveltern.<br />

Kindes zusammen waren und das<br />

Kind gemeinsam aufzogen. Zudem<br />

Alter von 6 bis 17 Jahren einen sogenannten<br />

Zwi ling in der Vergleichs-<br />

für die Ergebni se zu e reichen.<br />

ha te jedes untersuchte Kind im<br />

Eltern, und auch die K operation<br />

stichprobe mit identischem Alter<br />

e santerweise wir das Verhalten und sozioökonomischem Hinter-<br />

Für die Kinder von Nicole und<br />

grund, um eine hohe Au sagekraft<br />

Petra oder Andreas und Simon ist<br />

erwarten als die der Nachbarskinder<br />

mit Mu ter und Vater. Der einzige<br />

erwartete Unterschied kö nte sein,<br />

werden. So haben mehrere Studien<br />

Elternp are Kinderbetre ung und<br />

Hausarbeit ausgeglichener aufteilen<br />

gezeigt, da s beide gleichgeschlechtlichen<br />

Elternteile in der Kinderbe-<br />

Werden die Kinder nicht gehänselt?<br />

Andreas und Simon sorgen sich, da s<br />

ihr Kind in der Schule gehänselt werden<br />

kö nte, und nehmen sich<br />

Zwei Mamis oder zwei Papis<br />

zu haben, kann bedeuten,<br />

dass das Kind ausgelacht wird.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 51<br />

Ein schönes Bild mit zwei Männern und einem Baby auf dem Bett. Darauf<br />

ein Text: «Gleichgeschlechtliche Elternteile sind meist aktiver in der<br />

Kinderbetreuung als heterosexuelle Väter.»<br />

Als aktiver Hetero-Vater und Freund von vielen aktiven Hetero-Vätern<br />

fühle ich mich ehrlich gesagt etwas vor den Kopf gestossen. Was soll<br />

diese «angeblich wissenschaftliche Aussage» in einem derartigen Beitrag<br />

beziehungsweise in einem wissenschaftlichen Text? Das ist doch nicht<br />

wirklich erforschbar, oder?! Das ist verallgemeinernd. Und zudem können<br />

sich zwei Väter logischerweise intensiver um ein Kind kümmern als nur<br />

einer. Wo bleibt aber die Mutter oder im umgekehrten Fall der Vater? Und<br />

genau hier geht es mir zu weit: Ein Kind verdient Mutter und Vater, die es<br />

ja auch gemeinsam zeugen. Homo-Paare können Kinder haben, wenn sie<br />

sie selbst zeugen.<br />

Hat das Fritz+Fränzi-Team wohl den Mut, eine derartige Stellungnahme<br />

von mir zu drucken? Bin gespannt … Es mag konservativ klingen,<br />

aber in unserer toleranten und liberalen Gesellschaft gilt ja die Meinungsfreiheit.<br />

Grundsätzlich finde ich viele Berichte von euch super!<br />

Philippe Recher, Zizers (per Mail)<br />

«Der Grundbaustein einer<br />

gesunden Gesellschaft»<br />

(«Regenbogenfamilien», Heft 12/16 / 1/17)<br />

Vielen Dank für die vielen wertvollen Beiträge in Ihrem Magazin. Zum<br />

Artikel «Regenbogenfamilien» möchte ich anmerken, dass die Trias Vater,<br />

Mutter, Kind der Grundbaustein einer gesunden Gesellschaft ist und<br />

jedes Kind ein Recht auf Vater und Mutter hat.<br />

Gleichgeschlechtliche<br />

Elternteile sind meist<br />

aktiver in der<br />

Kinderbetre ung als<br />

heterosexuelle Väter.<br />

«Vieles wird schöngeredet»<br />

(«Regenbogenfamilien», Heft 12/16 / 1/17)<br />

Ich bin ein grosser Fan Ihrer Zeitschrift, danke für die vielen<br />

wertvollen Beiträge! – Nun ist mir der Artikel über Regenbogenfamilien<br />

aufgefallen. Es ist sehr wichtig, dass darüber<br />

geschrieben wird, wie es Kindern in gleichgeschlechtlichen<br />

Haushalten geht.<br />

Ich bin selber mit zwei Müttern gross geworden (meine<br />

Mutter hat sich nach der Trennung mit meinem Vater für eine<br />

Frauenbeziehung entschieden), und ich muss sagen, dass ich<br />

es nicht einfach fand, im Gegenteil. Ich habe mich immer<br />

wieder geschämt dafür, mich nicht getraut, meine Mutter als<br />

lesbisch zu erwähnen, wenn Freundinnen nach Hause kamen.<br />

Und ich habe eine ziemliche Verwirrung bezüglich meiner<br />

eigenen Weiblichkeit und Sexualität davongetragen, die bis<br />

heute anhält. Meine Mutter ist und war eher ein männlicher<br />

Typ, mein Vater hingegen nicht unbedingt der starke Mann.<br />

Das alles hat sicher zu meiner Prägung und zu meinem<br />

Selbstwertgefühl beigetragen.<br />

Es gab auch Zeiten, da konnte ich das Lesbischsein<br />

meiner Mutter gut akzeptieren. Es ist ja auch jetzt eher «in»,<br />

so etwas gut zu finden. Ich finde es schwierig, dass ich das<br />

Gefühl habe, das Ganze kritisch zu sehen, sei nicht gern<br />

gesehen oder gehört. Was mich bei Ihrem Artikel stört, ist,<br />

dass vieles schöngeredet wird und ich kaum auf ein<br />

kritisches Wort stosse – das ist wohl politisch unkorrekt. Ich<br />

würde mir sehr wünschen, dass es mal jemand wagt,<br />

kritischer auf dieses Thema zu blicken. Selbst im Internet bei<br />

Recherchen stosse ich kaum auch auf kritische Stimmen.<br />

Mich würde es interessieren, wie es den (jungen)<br />

Erwachsenen geht, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern<br />

oder Partnern der Eltern gross geworden sind.<br />

Und ja – wenn es ums Wohl des Kindes geht, sind sicher<br />

zwei gleichgeschlechtliche, gesunde, reflektierte Eltern<br />

besser als Mutter und Vater, die sich dauernd streiten. Ich<br />

finde die gesamte Thematik sehr komplex. Vielleicht können<br />

Sie ja mal ausführlicher darüber berichten.<br />

Dorothea Reichen-Wetzler, Reichenbach (per Mail)<br />

Marla Meier (per Mail)<br />

58 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Monatsinterview<br />

Fallschirm aus dem Flugzeug sprinzeln<br />

geschlagen.<br />

selbständig werden un die Welt<br />

Erste in Luzern, die bereits mit<br />

Da haben Sie recht. Die Tatsache,<br />

Sie haben uns gelehrt, da s es im<br />

Strumpfhosen ihrer Kinder selbst<br />

physische Widerstandsfähigkeit,<br />

Verwandtschaft immer Päckchen<br />

mit feinen, wei sen synthetischen<br />

gen la sen kö nen – ich hä te auf<br />

Frau Ringier, Ihre Mutter stammt aus<br />

einer Londoner Bankiersfamilie, Ihr<br />

Vater war ein Pelzgro shändler aus<br />

der I nerschweiz. Zur damaligen Zeit<br />

keine alltägliche Kombination.<br />

da s meine Mu ter Ausländerin war<br />

– und noch dazu aus einer so weltoffenen<br />

Stadt kam –, war das Prägendste<br />

in meiner Kindheit. Während<br />

die anderen Mü ter die wo lenen<br />

dieser kleinen Holzbüchsen wurde<br />

strickten, schickte unsere Londoner<br />

Strumpfhosen. Und ansta t in einer<br />

ich in einem marineblauen Kinder­<br />

dern umhergefahren.<br />

wagen mit gro sen gefederten Rä ­<br />

Ihre Mu ter war sehr o fen, weltgewandt,<br />

kultiviert, während Ihr Vater als<br />

sehr bodenständig und diszipliniert<br />

galt. Führte diese Diskrepanz nicht zu<br />

Spannungen in der Familie?<br />

Eigenartigerweise haben sich meine<br />

getroffen, da gab es ni eine Diffe­<br />

samten Familie war, da s wir Teil<br />

Eltern in der Erziehung absolut dieser Gese lschaft sind. Meine es oft Situationen, in denen ich<br />

renz. Es gab das elterliche Macht­<br />

ich hier blo s lebend durch?» Das<br />

tionierten, wie die Eltern das von<br />

Eltern standen immer im Austausch<br />

wort, und wir drei Schwestern funk­<br />

einem verlangten. Ein Auflehnen gab<br />

es nicht. Andererseits war unseren<br />

sehen ko nten. Ich war bestimmt die<br />

18 Jahren in Leningrad und Moskau<br />

war. Natürlich ha ten diese Reisen<br />

immer einen erzieherischen Hintergrund:<br />

Mein Vater war ein Inte lektue<br />

ler, ihm ging Lernen über alles.<br />

Von Ihrem Gro svater stammt der<br />

Satz: «Im Leben geht es immer darum,<br />

anderen Menschen eine Chance zu In welchen Situationen haben Ihre<br />

geben.» Sind Sie durch ihn der soziale Eltern Sie darin bestärkt, weiterzumachen,<br />

nicht aufzugeben?<br />

und engagierte Mensch geworden, der<br />

Sie heute sind?<br />

Kindergeburtstagen hat meine Mut­<br />

Meine Eltern sind mit uns oft Berg­<br />

Die Grundüberzeugung unserer ge ­<br />

gedacht habe: «O Gott, wie komme<br />

merte sich um sie, ein Weihnachts­<br />

Skifahren ist noch ein anderes Bei­<br />

Steilhang gekommen weil ich mich<br />

ter jedes Jahr aus der Nachbarschaft<br />

Eltern sehr wichtig, da s wir schne l<br />

mit ihren Mitarbeitern, man küm­<br />

geld war obligatorisch. Zu meinen<br />

serkopf eingeladen. Ihm hat es bei<br />

uns gefa len, und wir haben das nicht<br />

hinterfragt. Er gehört einfach dazu.<br />

Ein indisches Sprichwort lautet:<br />

«Solange die Kinder klein sind, gib<br />

ihnen Wurzeln, wenn sie älter werden,<br />

gib ihnen Flügel.» Was haben Ihre<br />

Eltern in dieser Hinsicht getan?<br />

Leben eine gewi se Demut braucht<br />

und Resilienz. Eine psychische und<br />

Dinge auch mal auszuhalten. Und<br />

sie haben mir die Fähigkeit mitgegeben,<br />

übera l zurechtzukommen.<br />

Sie hä ten mich irgendwo mit einem<br />

jedem Fleckchen dieser Erde Wur­<br />

steigen gegangen. Ich bin bis Schwierigkeitsgrad<br />

sechs gekle tert. Da gab<br />

spiel. Ich bin jedes Mal durch den<br />

getraut habe, mich talwärts zu lehnen.<br />

Wer Angst hat, lehnt sich<br />

Jetzt<br />

mitmachen<br />

ww.fritzundfraenzi.ch/<br />

leserumfrage<br />

Do sier<br />

72<br />

Léni (l.) und ihre<br />

Schwester Finnja.<br />

Trotz der schweren<br />

Krankheit haben die<br />

Zwi linge ihre Nähe<br />

zueinander nicht<br />

verloren.<br />

Do sier<br />

Leserbriefe<br />

«Ich bin<br />

beeindruckt»<br />

(Monatsinterview mit Ellen<br />

Ringier, Heft 12/16 / 1/17)<br />

«Disziplin war alles.<br />

Und Sport»<br />

Im Dezember wird E len Ringier 65 Jahre alt. Die Präsidentin der Stiftung Elternsein,<br />

Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi, schaut auf ihr bewegtes Leben<br />

zurück, erzählt, welchen Namen unser Magazin ursprünglich hä te tragen so len. Und<br />

ve rät ihren Herzenswunsch. Text: Evelin Hartmann und Nik Niethammer Bilder: Maurice H as / 13 Photo<br />

«Ic hä te auf<br />

jedem Fleckchen<br />

dieser Welt Wurzeln<br />

schlagen können.»<br />

auch einen Jungen mit einem Was­ ><br />

36 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Fr. 7.50 1/November 2016<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 37<br />

Liebe Frau Ringier<br />

Ich habe gerade Ihr Interview im Magazin gelesen und<br />

bin beeindruckt. Als Familienmanagerin und Lehrerin<br />

schätze ich das Heft sehr. Ich habe fest auf einen<br />

Lottogewinn gehofft, um eine eigene Stiftung zu<br />

gründen, das hat leider nicht geklappt ;-)<br />

Herzlichen Dank dafür, dass Sie Energie und Geld für<br />

so ein wichtiges Thema einsetzen.<br />

Anja Bernet (per Mail)<br />

«Leider fehlt die Brücke<br />

zu Kindern, die sterben<br />

müssen»<br />

«Léni, bitte bleib!», Heft 12/16 / 1/17)<br />

Erziehung & Schule<br />

« Léni, bitte bleib!»<br />

Sie war ein lebenslustiges, ein starkes Kind. Dann kam<br />

der Tag, an dem Léni wegen Halsschmerzen zum Arzt<br />

musste. Seine Diagnose war unvorstellbar: Krebs.<br />

Es begann eine unerträgliche Leidensgeschichte.<br />

Ihre Mu ter erzählt. Text: Léda Forgó Bilder: Charlo te Schreiber, privat<br />

72 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Mit grosser Freude habe ich den Artikel über Léni gelesen. Als<br />

ebenfalls betroffene Mutter eines an einem Hirntumor erkrankten<br />

Kindes habe ich den Artikel mit Interesse gelesen und uns an<br />

so vielen Stellen wiedererkannt. Leider ist bei uns die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass dieses Weihnachten das letzte sein wird mit<br />

der ganzen Familie, sehr viel grösser als die Chance, dieses auch<br />

nächstes Jahr noch gemeinsam zu feiern. Weshalb ich auch sehr<br />

interessiert war am Artikel über den Umgang mit dem Tod.<br />

Ich finde es sehr schade, dass darin nicht die Brücke geschlagen<br />

wurde zu den Kindern, die sterben müssen. Da ja auch im<br />

Artikel von den vielen Kindern erzählt wurde, die man während<br />

der Therapien kennenlernt und die auf ihrem Weg sterben. Auch<br />

auf unserem Weg haben wir diverse Kinder kennengelernt, die die<br />

Welt schon wieder verlassen mussten.<br />

Ich hätte mir einfach gewünscht, dass man den Tod nicht<br />

immer nur im Zusammenhang mit alten Menschen thematisiert.<br />

Es sterben doch auch ganz viele Mamis und Papis von kleinen<br />

Kindern oder eben auch Kinder.<br />

Erziehung & Schule<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 73<br />

Jesper Juul<br />

Wie Mü ter e scha fen,<br />

an sich zu denken<br />

Ein Tag bei der KESB<br />

Wie die Behörde<br />

arbeitet –<br />

eine Reportage<br />

Leserumfrage<br />

Fr. 7.50 12/Dezember 2016 1/Januar <strong>2017</strong><br />

Karin Suter (per Mail)<br />

«Das Engagement<br />

lohnt sich»<br />

(November-Heft 11/16,<br />

Dezember-Heft 12/16 / 1/17)<br />

Kinder und Karriere<br />

Fabian Grolimund<br />

Mein Kind ist<br />

ein Angeber<br />

Léni wi l leben<br />

Eine Mutter kämpft<br />

um das Leben ihrer<br />

krebskranken Tochter<br />

Die Lüge von<br />

der Vereinbarkeit<br />

Was Eltern<br />

wissen müssen<br />

Sexualität<br />

Liebe Frau Ringier<br />

Das ElternMagazin vom Dezember und auch vom<br />

November hat mir grosse Freude bereitet beim Lesen.<br />

Ich gebe die beiden Exemplare meinem Sohn weiter, er<br />

hat ja zwei Kinder. Ich hoffe, dass er das Heft abonniert<br />

und dafür in seinem Freundeskreis Werbung macht. Es<br />

hat so spannende und interessante Artikel, vielseitig und<br />

offen, ehrlich und aktuell. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem<br />

riesigen Engagement und Ihrem grossartigen Einsatz. Ja,<br />

Frau Ringier, man sieht es an Ihrer Ausstrahlung an: Das<br />

Engagement befriedigt sie, ist zwar anstrengend, aber es<br />

lohnt sich. Schön so!<br />

Elisabeth Staffelbach (per Mail)<br />

«Weiter so!»<br />

Bild: Li nea Lar son / plainpicture<br />

10 Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

(«Dossier Sexualität»,<br />

«Léni, bitte bleib!», Heft 12/16 / 1/17)<br />

Wenn die<br />

Sexualität<br />

erwacht<br />

Erforschen Kinder die Welt, gehört der eigene Körper dazu. Doch<br />

viele Eltern wissen nicht, wie sie der erwachenden Sexualität<br />

ihrer Kinder begegnen so len. Keinesfalls mit Schweigen, raten<br />

Experten. Ein entspannter Umgang mit Sex und eine frühe<br />

Aufklärung begünstigen die körperliche Entwicklung der Kinder.<br />

Text: Claudia Marinka und Claudia Landolt<br />

Bilder: Linnea Lar son, Sian Davey, Ruth Erdt<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember 2016 / Januar <strong>2017</strong> 1<br />

Ich habe das neuste ElternMagazin in einem Zug durchgelesen.<br />

Ein grosses Kompliment zu dieser Ausgabe!<br />

Die verschiedenen Artikel zum Thema «Sexualität» fand ich<br />

gerade aus Elternsicht ausgesprochen gut, offen und persönlich<br />

ermutigend.<br />

Der persönliche und ergreifende Bericht über die Krebserkrankung<br />

von Léni hat mich enorm berührt.<br />

Als Familienvater bin ich immer auf der Suche nach solch<br />

spannenden und inspirierenden Artikeln. Weiter so!<br />

Heinrich Schaffner (per Mail)<br />

>>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>59


Do sier<br />

Do sier<br />

«Alle, Frauen und Männer,<br />

zahlen den Preis»<br />

(Dossier «Die Lüge von der<br />

Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />

Die Lüge von<br />

der Vereinbarkeit<br />

Wer Kinder hat und Ka riere machen möchte, zahlt einen hohen<br />

Preis – besonders als Frau. Mü te reiben sich auf zwischen<br />

Familie und Beruf. Denn die viel zitierte Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf bedeutet vor allem eins: ganz viel Stress.<br />

Eine Entmystifizierung. Text: Siby le Sti lhart Bilder: Jan von Ho leben<br />

10 November 2016 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November 2016 1<br />

Der Titel hat mich sehr angesprochen, und ich war erfreut, dass es<br />

endlich jemand wagt, darüber zu schreiben. Leider war ich von dem<br />

Artikel schon nach Kurzem sehr enttäuscht bzw. verärgert.<br />

Wie schon so oft in Zeitungsartikeln und auch in Ihrem Artikel ist<br />

unter anderem die Rede davon, dass die Hausarbeit und Kinderbetreuung<br />

nach wie vor in der Verantwortung der Frau liegt. Das stelle<br />

ich in keiner Art und Weise in Frage. Was mich aber sehr stört, ist,<br />

dass mit keinem Wort erwähnt ist, dass umgekehrt genau auch<br />

immer noch der allergrösste Teil der Verantwortung für die Erwerbsarbeit<br />

bei den Männern liegt. Sie kommen in Ihrem Artikel auf<br />

durchschnittlich 68 Stunden Arbeitsaufwand bei einer Mutter, die<br />

auch einer Erwerbsarbeit nachgeht, und erwähnen dann noch kurz<br />

zum Schluss, dass das durchschnittliche Arbeitspensum eines<br />

Mannes doch auch beachtliche 70 Stunden pro Woche beträgt, was<br />

ja eigentlich so nebenbei noch höher ist als das der Frauen.<br />

Die Elternzeitschrift Fritz+Fränzi bietet eine wirklich tolle<br />

Plattform für ein solches Thema, aber bitte berücksichtigen Sie in<br />

Ihrem Artikel die Geschlechter in gleichem Mass. Frauen möchten<br />

Anerkennung für ihre geleistete Arbeit – wir Männer möchten sie<br />

auch! Und möchten Sie tatsächlich beiden Geschlechtern gerecht<br />

werden, so hören Sie bitte auf, Frauen nur als Opfer von Männern zu<br />

sehen und Männer nur als Täter an Frauen! Eine Möglichkeit wäre<br />

zum Beispiel, den Fokus voll auf unser System zu richten, dann würde<br />

vielleicht gerechter sichtbar, was wir alle, Männer und Frauen, für<br />

einen Preis für unser System bezahlen, und so könnten wir vielleicht<br />

gemeinsam an einer gerechteren Zukunft für beide Geschlechter<br />

arbeiten. Wie wärs?!<br />

Mit freundlichen Grüssen von einem zu vereinbaren versuchenden<br />

Mann und Vater.<br />

Peter Meienberg, Basel (per Mail)<br />

«Danke für den genialen<br />

Artikel»<br />

(Dossier «Die Lüge von der<br />

Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />

Herzlichen Dank für den genialen Artikel von Frau Stillhart. Sie spricht<br />

mir so sehr aus dem Herzen und gibt mir das Gefühl, nicht alleine mit<br />

diesem Problem dazustehen. Bewundernswert ist auch ihre<br />

Konsequenz, im eigenen Leben das Paradoxon zu lösen!<br />

«Sie decken nur die<br />

halbe Lüge auf»<br />

(Dossier «Die Lüge von der<br />

Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />

Als Akademiker mit einem Betreuungspensum (zwei<br />

Söhne, 10 und 12) von 50 Prozent bin ich enttäuscht<br />

darüber, dass Sie nur die halbe Lüge aufdecken. Ist es ein<br />

Relikt der abgeflauten Emanzipationsbewegung oder in<br />

den Köpfen der Männer noch nicht angekommen: Der<br />

zweite Teil der Lüge ist doch, dass Frauen mehr betroffen<br />

wären als Männer. Bereinigt man die Statistik bezüglich<br />

des Ausbildungsstandes, haben Frauen heute nach der<br />

«Babypause» bessere Karten als Männer, die zugunsten<br />

der Kinderbetreuung ihr Pensum über die gleiche Zeit<br />

und in gleichem Ausmass reduziert haben. Eine<br />

Fortsetzung einer begonnenen Karriere nach 10 Jahren<br />

Pause? Ein neuer Arbeitgeber, weil nun doch wieder<br />

mehr Zeit vorhanden wäre? Für Männer deutlich<br />

schwieriger, und deshalb, weil bekannt ist, dass Frauen<br />

nach der Babypause leichter wieder reinkommen, diese<br />

Lücke im Lebenslauf sogar Ansprüche bei der Arbeitslosenkasse<br />

generiert (bis zum 12.Lebensjahr des letzten<br />

Kindes!) und Mann auf diese Vorteile nicht zurückgreifen<br />

kann, getrauen sich viele Männer nicht, den Karrieresuizid<br />

zu vollziehen.<br />

Artikel wie der Ihre, der darauf abzielt, die Situation<br />

der Frau zu pathologisieren und sie als diejenige<br />

glorifiziert, die sich teilen muss und dabei verliert, sind<br />

genauso kontraproduktiv wie die Behauptung, Männer<br />

hätten kein Interesse an der Betreuung eigener Kinder<br />

(ja, Sie haben richtig gelesen, ein Klischee, das durch die<br />

Realität längst überholt ist). Tatsache ist, dass BetreuungsZEIT<br />

Zeit braucht und diese Zeit nicht auf den<br />

Bäumen wächst, sondern jeder für sich entscheiden<br />

muss, ob er Teile seiner 24 Stunden pro Tag in Karriere<br />

oder Kinder investiert. Dazu gibt es die weitere Auswahl<br />

zwischen aufwendigeren Karrieren, welche geschlechtsunabhängig<br />

wenig Betreuungszeit erlauben<br />

und evtl. an ein hohes Mass an Erfahrung gebunden sind,<br />

welche ja im Kinderzimmer nicht gemacht werden kann,<br />

und Karrieren, die weniger spektakulär verfolgt werden<br />

können.<br />

Unterstützung durch die Medien wird für die Väter<br />

wichtig. Für die Mütter war es in den letzten Jahrzehnten<br />

sicher auch sehr bedeutend. Aber heute ist das Thema<br />

ausgelutscht und es gibt Neues.<br />

Mei-Lin Blum (per Mail)<br />

G. Umenhofer (per Mail)<br />

60 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Leserbriefe<br />

«Aus einer anderen Welt»<br />

(Dossier «Die Lüge von der<br />

Vereinbarkeit», Heft 11/2016)<br />

Fritz und Fränzi (rechts)<br />

Lehmann im Alter von<br />

sechs Jahren.<br />

Ich habe in der November-Ausgabe den Artikel zur<br />

Vereinbarkeit gelesen. Von der Juristin Salome, der<br />

Ökonomin Sabine, Nadin, der Politologin, und ihren<br />

Männern, den Vätern. Wie hin- und hergerissen diese<br />

Frauen sind und sich dann für ihre Kinder entscheiden.<br />

Wie schwierig es doch ist, und wie teuer die Kinderbetreuung<br />

ist. Über die Erwartungen und das unfaire<br />

Verhalten anderer.<br />

Ich frag mich nur, was sagt die alleinerziehende<br />

Mutter von zwei Kindern? Die Verkäuferin, Coiffeuse,<br />

Servicefachangestellte, welche vom Mindestlohn allein<br />

zwei Kinder grosszieht. Ohne Vater, Mann, Freund. Was<br />

sagen die Frauen, die keine Wahl haben? Die eine Miete<br />

von 1500 Franken und die Krankenkassenprämie von<br />

650 Franken pro Monat bezahlen?<br />

Die Frauen, die 80 bis 100 Prozent arbeiten und an<br />

jedem Handballspiel, jedem Konzert und Elternabend<br />

dabei sind? Leiden die auch unter Burnout? Sind<br />

überlastet, übermüdet? Nein, denn sie haben keine Zeit,<br />

keine Wahl! Wieso kommt keine von diesen Frauen in<br />

diesem Artikel vor?<br />

Den Grundgedanken dieses Artikels finde ich gut. Gut<br />

recherchiert und leicht zu lesen.<br />

Nur die Beispiele sind aus einer anderen Welt.<br />

Valeria. S. (per Mail)<br />

«Ihr habt euch um<br />

Welten verbessert»<br />

«Fritz und Fränzi<br />

gibt es wirklich»<br />

Mit Freude lese ich Ihren Elternratgeber Fritz+Fränzi. Unsere<br />

Kinder bringen dieses tolle Magazin regelmässig von der Schule<br />

nach Hause.<br />

Mit grossem Interesse habe ich auch das Interview mit Frau<br />

Ellen Ringier gelesen. Auch wie sie auf den Namen gekommen ist.<br />

Als es Ihr Magazin neu gab, haben mich viele Leute angesprochen,<br />

einige haben mir sogar ein Heft mitgebracht.<br />

Wir sind zweieiige Zwillinge, geboren 1973! Und heissen Fritz<br />

und Fränzi! Ich wollte Ihnen das mal mitteilen, ja, es gibt uns<br />

wirklich! Ich weiss natürlich auch, dass diese Namen nicht mehr<br />

in Mode sind. Daher freut es mich umso mehr, dass es dieses<br />

Magazin mit unserem Namen immer noch gibt.<br />

Fränzi und Fritz Lehmann, Grindelwald (per Mail)<br />

Ihr habt euch inhaltlich und auch das Layout um Welten<br />

verbessert. Einfach super. Habe zur Geburt unserer<br />

Tochter 2008 ein Jahresabo von einem Bekannten<br />

erhalten. Mir hat es nicht gefallen, und dies nicht nur, weil<br />

mein Kind im «falschen Alter» war für dieses Magazin.<br />

Nun hat mir Fritz+Fränzi im vergangenen Jahr wirklich<br />

sehr gut gefallen! Super Artikel. Die ADHS-Reihe war<br />

super.<br />

Judith Müller, Gossau (per Mail)<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Ihre Meinung ist uns wichtig! Was machen wir gut?<br />

Was könnten wir besser machen? Lassen Sie es uns<br />

wissen! Sie erreichen uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch<br />

oder Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich.<br />

Und natürlich auch über Twitter: @fritzundfraenzi<br />

oder Facebook: www.facebook.com/fritzundfraenzi.<br />

Kürzungen behält sich die Redaktion vor.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>61


Ernährung & Gesundheit<br />

Erste Hilfe<br />

bei Zahnunfällen<br />

Selbst Bagatellunfälle an den Zähnen können Komplikationen nach sich ziehen.<br />

Deshalb ist es wichtig, schnell und richtig zu handeln. Text: Petra Seeburger<br />

Die achtjährige Jessica<br />

hat bei einem Sturz<br />

mit dem Velo ihr<br />

Kinn heftig am Lenker<br />

angeschlagen.<br />

«Sie hat sich die Lippe aufgebissen,<br />

was stark geblutet hat», erzählt ihre<br />

Mutter, «und zwei Vorderzähne<br />

waren auch draussen!» Die Eltern<br />

fuhren sofort in die Notfallstation.<br />

Als die Wunde versorgt war, sprach<br />

der Notfallarzt mit einem Zahnarzt,<br />

weil Jessica vorne schon bleibende<br />

Zähne hat. Die ausgeschlagenen<br />

Zähne hatte der Vater in Milch eingelegt<br />

und mitgenommen. Der<br />

Zahnarzt konnte sie so direkt wieder<br />

einsetzen.<br />

Jessicas Eltern haben bei der Erstversorgung<br />

ihrer Tochter alles richtig<br />

gemacht: die Wunde mit einer<br />

Mullbinde abgepresst und die Zähne<br />

in eine «physiologische», also körperähnliche<br />

Lösung gelegt. Durch<br />

eine falsche Handhabung wäre die<br />

Oberflächenstruktur der Zähne<br />

kaputtgegangen, was ein Wiedereinsetzen<br />

verunmöglicht hätte. Jessicas<br />

wieder eingesetzte Zähne werden<br />

noch für einige Zeit mit einer Schie-<br />

ne stabil gehalten. Wie es aussieht,<br />

wird sie keine Langzeitfolgen davontragen.<br />

Ausgeschlagene bleibende Zähne<br />

richtig behandeln<br />

«Grössere Kinder, die wegen eines<br />

Zahnunfalls mit bleibenden Zähnen<br />

in den Notfall kommen, sind meistens<br />

mit dem Velo gestürzt oder im<br />

Schwimmbad ausgerutscht», sagt<br />

Zahnarzt Hubertus van Waes von<br />

der Klinik für Kieferorthopädie und<br />

Kinderzahnmedizin in Zürich und<br />

Leiter der Zürcher Schulzahnklinik.<br />

Wenn bei einem Unfall bleibende<br />

Zähne ausgeschlagen werden, gilt es,<br />

richtig zu handeln: «Sofort zum<br />

Zahnarzt gehen», sagt van Waes.<br />

«Wenn möglich sollten die Zähne<br />

noch am Unfallort wieder eingesetzt<br />

werden.» Falls das nicht geht, den<br />

Zahn in Milch oder in einem Plastiksäcklein<br />

mit etwas Speichel transportieren.<br />

Auf keinen Fall Alkohol<br />

oder Desinfektionsmittel dafür verwenden<br />

und den Zahn auch nicht<br />

einfach in die Hosentasche stecken.<br />

Kann ein Zahn replantiert werden,<br />

wird er rund zwei Wochen mit einer<br />

Wegen möglicher Folgeschäden<br />

sind Zahnunfälle immer<br />

der Versicherung zu melden.<br />

Schiene fixiert. Den Rest erledigt die<br />

Natur.<br />

Zu Zahnunfällen bei kleineren<br />

Kindern kommt es oft, weil sie stolpern,<br />

fallen und gegen eine Kante<br />

schlagen. Typisch sind gemäss van<br />

Waes auch «Knochenbrüche im<br />

Gesicht und ausgeschlagene Zähne».<br />

Je nach Unfall können sich die<br />

Zähne auch lockern, verschieben<br />

oder werden hineingeschlagen.<br />

Bei herausgeschlagenen Milchzähnen<br />

ist ein Artzbesuch nicht am<br />

gleichen Tag nötig, denn diese werden<br />

nicht wieder eingesetzt, da dies<br />

die bleibenden Zähne beim Durchbrechen<br />

behindern könnte. Mit<br />

einer Zahnlücke wegen ausgeschlagener<br />

Milchzähne haben Kinder<br />

keine Probleme, weiss van Waes.<br />

62 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


«Sie können sich gut anpassen.» Die<br />

obere Frontreihe sei kein Problem,<br />

bei der unteren Frontreihe könne es<br />

vorkommen, dass ein Kind lisple.<br />

«Bei einer Spange setzen wir deshalb<br />

manchmal einen Ersatzzahn ein.»<br />

Sind Milchzähne jedoch verschoben,<br />

muss man sofort zum Zahnarzt,<br />

damit der Zahn an seine Position<br />

zurückgeschoben werden kann,<br />

so Hubertus van Waes. «Dies ist nur<br />

gleichentags möglich.» Hat ein Kind<br />

starke Schmerzen oder kann nicht<br />

mehr beissen, gilt das ebenfalls.<br />

Zahnunfälle seien immer der Versicherung<br />

zu melden, betont van<br />

Waes, denn Folgeschäden sehe man<br />

oft erst Jahre später. «Die obligatorische<br />

Grundversicherung deckt bei<br />

Kindern die entstehenden Kosten.»<br />

Kinder und Jugendliche<br />

gut überwachen<br />

Zahnverletzungen selber bluten<br />

kaum. Wird aber die Zunge oder die<br />

Lippe verletzt, blutet es stark. Die<br />

Wunden müssen mit Kompressen<br />

oder sauberen Tüchern bedeckt und<br />

komprimiert werden. Brüche der<br />

Mittelgesichtsknochen sind laut Professor<br />

Martin Rücker, Direktor der<br />

Klinik für Mund-, Kiefer- und<br />

Gesichtschirurgie am Universitätsspital<br />

Zürich, bei Kindern selten.<br />

«Die Knochenhaut ist dicker und der<br />

Knochen noch weicher.» Beim Sturz<br />

aufs Kinn, was häufig bei Velo-, Roller-<br />

oder Rollschuhunfällen passiere,<br />

könne aber durchaus zum Beispiel<br />

der Gelenkfortsatz des Unterkiefers<br />

brechen.<br />

Abhängig vom Bruchverlauf<br />

kommt eine konservative – in erster<br />

Linie mit weichem Essen entlastende<br />

– oder eine operative Behandlung<br />

in Frage. Endoskopisch unterstützte<br />

Techniken erlauben hier Operationen<br />

ohne äusserlich sichtbare Narben.<br />

«Je früher ein solcher Bruch<br />

operativ versorgt wird, desto besser»,<br />

sagt Martin Rücker.<br />

Der leitende Arzt der Klinik,<br />

Harald Essig, erklärt, dass sie in diesem<br />

Bereich mit computerassistierter<br />

Chirurgie arbeiteten. So könne<br />

er die Operation simulieren und<br />

Implantate massanfertigen. «Fehlt<br />

ein Zahn, kann er zunächst provisorisch<br />

und dann nach Abschluss des<br />

Wachstums definitiv ersetzt werden<br />

– also bei Mädchen allerfrühestens<br />

mit etwa 16 Jahren, bei Jungen zwei<br />

Jahre später.» Kieferchirurg Rücker<br />

empfiehlt, alle Kinder mit Verletzungen<br />

im Mundbereich auch hinsichtlich<br />

eines Schädel-Hirn-Traumas<br />

zu überwachen und je nach<br />

Sturz abzuklären, ob die Halswirbelsäule<br />

verletzt sei. Und: «Bei offenen<br />

Wunden braucht es eine Impfung<br />

gegen Wundstarrkrampf.»<br />

Wo Gefahren lauern<br />

Als Risikosportarten nennt Rücker<br />

zuerst Fussball. «Es ist eine häufige<br />

Sportart, man bekommt schnell einmal<br />

einen Ellbogen ins Gesicht.»<br />

Ebenfalls weit oben rangieren Pferdeunfälle.<br />

Harald Essig erklärt:<br />

«Wenn Pferde den Kopf schnell drehen,<br />

kann dies sehr heftig sein.»<br />

Risikobehaftet sind auch Eishockey,<br />

Boxen, Mountainbiken oder «aggressive»<br />

Mannschftssportarten wie<br />

Rugby. «Bei diesen Sportarten tragen<br />

heute aber alle einen Schutz», sagt<br />

Harald Essig. «Idealerweise wird<br />

dieser individuell von einem Spezialisten<br />

angepasst.»<br />

Doch Zahnarzt van Waes und die<br />

beiden Kiefer chirurgen relativieren<br />

diese Gefahren, denn die meisten<br />

Zahnunfälle passieren im normalen<br />

Alltag.<br />

Petra Seeburger<br />

ist Intensivpflegefachfrau, Journalistin und<br />

Kommunikationsspezialistin. Sie arbeitet<br />

seit über 30 Jahren im Gesundheitswesen.<br />

Herausgeschlagene Zähne<br />

muss man in Milch oder<br />

Speichel transportieren.<br />

Was zu tun ist …<br />

… bei Unfällen mit bleibenden Zähnen<br />

Abgebrochene Zähne: Je mehr abgebrochen ist,<br />

desto dringender die Behandlung.<br />

Gelockerte Zähne: Behandlung dringend, der<br />

Zahn muss eventuell fixiert werden.<br />

Verschobene Zähne: Behandlung dringend, der<br />

Zahn sollte an seinen Platz gerückt werden.<br />

Hineingeschlagene Zähne: Dringende<br />

Behandlung, den Zahn an seine Position<br />

zurückbringen.<br />

Herausgeschlagene Zähne: Sofort zum Zahnarzt!<br />

Dort wenn möglich Zahn replantieren. Zahn am<br />

besten in einer Zahnrettungsbox in Milch oder<br />

Speichel transportieren. Zahn bei sichtbarer<br />

Verschmutzung kurz unter fliessendem Wasser<br />

abspülen, auf keinen Fall abreiben.<br />

… bei Unfällen mit Milchzähnen<br />

Abgebrochene Zähne: Innert Tagen zum Zahnarzt.<br />

Gelockerte Zähne: Behandlung ist nicht dringend.<br />

Verschobene Zähne: Möglichst sofort zum<br />

Zahnarzt, damit der Zahn wieder an seinen Platz<br />

gedrückt werden kann.<br />

Herausgeschlagene Zähne: Ausgeschlagene<br />

Milchzähne werden nicht replantiert, innert Tagen<br />

zum Zahnarzt gehen.<br />

Hineingeschlagene Zähne: Behandlung ist selten<br />

nötig, aber Zahnarzt informieren wegen hohem<br />

Folgeschäden-Risiko für bleibenden Zahn!<br />

… in jedem Fall<br />

Jeden Zahnunfall sofort dem Zahnarzt melden.<br />

– Was ist passiert, wann, wie, wo?<br />

– Alter des Kindes?<br />

– Milch- oder bleibende Zähne betroffen?<br />

Zahnunfälle immer der Versicherung melden!<br />

Auch Bagatellunfälle können Komplikationen<br />

nach sich ziehen.<br />

Quelle und weitere Informationen:<br />

www.dent.uzh.ch > Für Patienten > Downloads ><br />

Merkblätter – Schulzahnpflege – Kinder ><br />

Zahnunfälle<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>63


Psychologie & Gesellschaft<br />

Können Kinder zur<br />

Rechenschaft gezogen werden?<br />

Verursachen Kinder mutwillig einen Schaden, können sie von Gesetzes<br />

wegen haftbar gemacht werden. Was Eltern über das Thema Haftung und<br />

Urteilsfähigkeit von Kindern wissen müssen. Text: Susan Edthofer<br />

«Ein Schadenfall<br />

kann die Zukunft<br />

eines Kindes schwer<br />

beeinträchtigen.»<br />

Kinder treiben manchmal auch Unfug.<br />

Meistens verläuft alles harmlos. Doch was<br />

passiert, wenn sie mutwillig etwas kaputt<br />

machen oder jemandem wehtun? In der<br />

Zeitschrift «Beobachter» wird dies am Beispiel<br />

eines neunjährigen Jungen erläutert: Ein Knabe<br />

spielte in einer Scheune mit Streichhölzern und entfachte<br />

einen Brand. Er wurde als urteilsfähig befunden, da<br />

Kinder in diesem Alter wissen sollten, dass das Spielen<br />

mit Streichhölzern gefährlich ist. Eltern sind also nicht<br />

immer für das Handeln ihres Kindes verantwortlich.<br />

Dass Kinder von Gesetzes wegen als urteilsfähig gelten,<br />

sobald sie die Folgen ihres Tuns abschätzen können, ist<br />

vielen Eltern kaum oder zu wenig bewusst.<br />

Haftung aufgrund von Urteilsfähigkeit<br />

Eltern haften laut Gesetz für ihre minderjährigen Kinder,<br />

wenn sie ihre Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen<br />

haben. Ist etwas passiert, wird also erst einmal geklärt,<br />

ob Eltern auf ihr Kind aufgepasst haben. Im folgenden<br />

Beispiel stellte sich die Frage, ob der Vater seiner Aufsichtspflicht<br />

nachgekommen ist, als er seinen beiden<br />

Kleinkindern beim Schlitteln zuschaute. Obwohl er<br />

dabei war, konnte er nicht verhindern, dass seine Kinder<br />

eine Frau rammten, die sich beim Sturz verletzte. Das<br />

Gericht entschied zugunsten des Vaters.<br />

Haben Eltern ihre Aufsichtspflicht erfüllt, müssen sie<br />

rechtlich gesehen nicht für einen Schaden aufkommen.<br />

Das bedeutet, dass das Kind einen vorsätzlich oder fahrlässig<br />

zugefügten Schaden selber berappen muss. Die<br />

Geschädigten wenden sich natürlich trotzdem eher an<br />

die Eltern als an die Kinder oder Jugendlichen. Zum<br />

Beispiel wenn beim Nachbarhaus die Fensterscheibe zu<br />

Bruch ging, obwohl dort nicht Fussball gespielt werden<br />

darf. Um das Verhältnis zu den Nachbarn nicht zu trüben,<br />

kommen Eltern meist für den Schaden auf, auch<br />

wenn sie ihre Aufsichtspflicht nicht vernachlässigt<br />

haben.<br />

Damit das Kind aus einem solchen Vorfall etwas<br />

lernt, sollte es miteinbezogen werden und vom Brief an<br />

die Haftpflichtversicherung bis zur Entschuldigung bei<br />

Susan Edthofer ist Redaktorin<br />

im Bereich Kommunikation<br />

den Nachbarn am Prozess teilnehmen. von Pro Juventute.<br />

Meistens muss noch ein Selbstbehalt beglichen<br />

werden. Durch die Mithilfe beim<br />

Gärtnern oder Autoputzen bekommt das Kind Gelegenheit,<br />

eine Dummheit wieder in Ordnung zu bringen.<br />

Mit Schulden ins Erwachsenenleben starten<br />

Komplizierter wird es bei hohen Schadenssummen. In<br />

der Regel haben Kinder nicht genügend Geld, um für<br />

grössere Schäden aufzukommen. Im Härtefall werden<br />

sie erst dann belangt, wenn sie selber verdienen. Ein<br />

leichtsinnig herbeigeführter Schadenfall kann die<br />

Zukunft eines jungen Menschen also nachhaltig beeinträchtigen.<br />

Wichtig ist, dass Eltern ihre Kinder über<br />

diese Rechtslage und die Auswirkungen aufklären.<br />

Was Eltern tun können – vier Tipps<br />

Nehmen Sie Ihre Aufsichtspflicht wahr. Rechtlich gesehen müssen<br />

Sie in einem solchen Fall nicht für einen Schaden aufkommen, den<br />

Ihr Kind verursacht hat.<br />

Machen Sie Ihr Kind darauf aufmerksam, dass es für eine vorsätzliche<br />

und mutwillige Tat gesetzlich bestraft und zur Kasse gebeten<br />

werden kann.<br />

Damit das Kind aus einem Vorfall etwas lernt, lassen Sie es am Brief<br />

an die Haftpflichtversicherung und an der Entschuldigung bei den<br />

Nachbarn teilhaben.<br />

Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, eine Dummheit durch eine<br />

Gegenleistung in Ordnung zu bringen, zum Beispiel durch Mithilfe<br />

beim Gärtnern oder Autoputzen.<br />

Pro Juventute Elternberatung<br />

Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von<br />

Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder<br />

online (www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag,<br />

zur Erziehung stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen keine<br />

Kosten an. In den Elternbriefen finden Eltern Informationen für den<br />

Erziehungsalltag. Das Thema Haftung und Urteilsfähigkeit wird im Extrabrief<br />

«Geld und Konsum im Familienalltag» behandelt.<br />

Mehr Infos: www.projuventute.ch<br />

64 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Februar-Verlosung<br />

1 × 3 Nächte im Märchenhotel<br />

für 2 Erwachsene und 2 Kinder<br />

im Wert von Fr. 1 950.–*<br />

Bilder: ZVG<br />

Die steile Standseilbahn erschliesst die autofreie Sonnenterrasse<br />

Braunwald im Glarnerland. Im Märchenhotel fesseln die Direktorin<br />

oder der Direktor die Kleinen jeden Abend mit einem Märchen. Ende<br />

2016 sind moderne Familienzimmer und neue Familiensuiten entstanden,<br />

darunter die doppelstöckige Suite «1001 Nacht» mit eigener<br />

Rutschbahn und Whirlpool auf der Privatterrasse. Bei Reservationen<br />

ab zwei Nächten schenken ausgewählte Glarner Unterkünfte –<br />

darunter das Märchenhotel – ihren Gästen die ÖV-An- und -Rückreise.<br />

* Familienzimmer für 2 Erwachsene und 2 Kinder bis 12 Jahre,<br />

einlösbar zwischen Sonntag und Freitag.<br />

Mehr Infos:<br />

www.maerchenhotel.ch<br />

www.braunwald.ch<br />

www.glarnerland.ch<br />

Wettbewerbsteilnahme auf www.fritzundfraenzi.ch/verlosung<br />

Teilnahmeschluss: 5. März <strong>2017</strong> / Teilnahme per SMS: Stichwort FF MH an 959 senden (30 Rp./SMS)<br />

Viel Geschmack, viele Vitamine.<br />

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ab 4 Jahren bei ihrer<br />

körperlichen und<br />

geistigen Entwicklung.<br />

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Februar <strong>2017</strong>65<br />

4 OHNE LACTOSE<br />

Bitte lesen Sie<br />

den Packungstext.<br />

0317


Digital & Medial<br />

Meine Daten gehören mir!<br />

Ein Leben ohne Internet ist heute nicht mehr denkbar. Wie können wir schon Kindern<br />

beibringen, ihre Daten online zu schützen? «Seid Abenteurer unter fremden Namen!»<br />

und zehn weitere Tipps von Sicherheitsexperte Martin Hellweg. Text: Bianca Fritz<br />

Datenschutz ist ein<br />

furchtbar unangenehmes<br />

Thema. Viele<br />

haben aufgehört,<br />

sich mit Sicherheitshinweisen<br />

und -tipps zu beschäftigen.<br />

Weil diese endlos und widersprüchlich<br />

erscheinen und einem<br />

unweigerlich das Gefühl geben, dass<br />

man das Internet sich und seinen<br />

Kindern am besten verbieten sollte.<br />

Umso erstaunlicher, dass gerade<br />

Sicherheitsexperte Martin Hellweg,<br />

der seine Daten so leidenschaftlich<br />

schützt wie kaum ein Zweiter, beim<br />

Treffen mit Fritz+Fränzi Handy und<br />

Laptop immer griffbereit hat. «Ich<br />

will den Menschen nicht den Spass<br />

verderben», betont er. «Ich will sie<br />

aber darauf aufmerksam machen,<br />

dass im Internet wirklich jeder eine<br />

öffentliche Person ist.»<br />

Normalerweise berät Hellweg<br />

Firmen oder Prominente, die Opfer<br />

einer digitalen Attacke wurden oder<br />

sich davor schützen wollen. Heute<br />

aber bricht er seine Tipps für Eltern<br />

herunter. «Je früher wir Kindern ein<br />

paar praktische Verhaltensregeln für<br />

das digitale Leben beibringen, umso<br />

besser», sagt er. Denn die Komplexität<br />

des digitalen Lebens ist bei Kin-<br />

dern noch überschaubar. Behörden<br />

oder Geheimdienste haben an dem,<br />

was Kinder tun, noch kein grosses<br />

Interesse. «Darum kann man zu -<br />

nächst auf einige wenige Dinge<br />

fokussieren und diese Kindern spielerisch<br />

nahebringen», sagt Hellweg.<br />

Seine zehn Tipps für Kinder und<br />

Eltern – plus ein Spezialtipp für die,<br />

die langsam erwachsen werden:<br />

1. Seid Abenteurer unter<br />

fremden Namen!<br />

Es muss Kindern Spass machen,<br />

erfundene Namen anzunehmen und<br />

im Internet zu nutzen wie in einer<br />

Abenteuergeschichte. «Es gibt häufig<br />

keinen Grund, seinen echten Namen<br />

zu benutzen», sagt Hellweg. Die<br />

grossen Datenkraken wissen so zwar<br />

anhand der Geräte, die wir nutzen,<br />

wer da grad aktiv ist – aber jemand,<br />

der uns in Google nachschaut, kann<br />

uns nicht mehr so leicht auschecken.<br />

Das gilt zum Beispiel für den Arbeitgeber,<br />

bei dem sich der Jugendliche<br />

für eine Lehrstelle bewirbt.<br />

Sichere Passwörter haben mehr<br />

als zwölf Zeichen und tragen<br />

niemals den Namen des Kindes.<br />

2. Anwendungen nicht<br />

miteinander verknüpfen<br />

Anwendungen sollte man niemals<br />

verknüpfen. Es sieht immer so harmlos<br />

aus und ist so herrlich bequem,<br />

wenn ein neues Programm anbietet:<br />

Loggen Sie sich mit Ihrem Facebook-Profil<br />

ein. Hellweg aber warnt:<br />

«Was nicht dort steht ist: Sie erlauben<br />

uns damit, Ihre Daten abzusaugen<br />

und mit Ihnen Werbung zu machen.»<br />

Darum: Für die neue Anwendung<br />

einen der zugelegten Fantasienamen<br />

mit einem neuen Passwort benutzen.<br />

3. Sichere Passwörter …<br />

… haben mehr als zwölf Zeichen,<br />

haben nichts mit Geburtstagen oder<br />

dem Namen vom Sprössling zu tun,<br />

werden regelmässig aktualisiert und<br />

sind niemals, wirklich niemals dieselben<br />

für mehrere Konten. Wie soll<br />

man sich so viele komplexe Codes<br />

merken? Hellweg hat eine spannende<br />

Methode gefunden: Man stellt<br />

sich drei Fragen, davon eine, die sich<br />

auf die jeweilige Applikation, die<br />

Bild: iStockphoto<br />

66 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Benutzen wir<br />

im Internet<br />

Fantasienamen,<br />

kann man uns<br />

weniger gut<br />

nachspionieren.<br />

man öffnen will, bezieht. Zum Beispiel:<br />

Was ist meine Lieblingsfarbe? Antwort:<br />

Gelb.<br />

Was ist mein Lieblingstier? Antwort:<br />

Nashorn.<br />

Was ist der erste Buchstabe der Applikation,<br />

die dieses Passwort öffnen<br />

soll, und wie viele Buchstaben hat<br />

der Name der Applikation? Antwort<br />

etwa für Twitter: T und 7.<br />

Nun hängt man die ersten beiden<br />

Antworten zusammen. Das ergibt:<br />

GelbNashorn. Die dritte Antwort<br />

fügt man an der Stelle ihrer Zahl ein,<br />

hier also der siebten Stelle. Das ergibt<br />

«GelbNaT7shorn», ein schwierig<br />

zu knackendes Passwort, das<br />

noch sicherer wird, wenn man an<br />

einer festen Stelle auch noch ein Sonderzeichen<br />

einfügt oder z. B. für<br />

jedes a ein @, und würde dann so<br />

heissen: «GelbN@T7shorn».<br />

Die ersten paar Male muss man<br />

beim Bilden des Passworts noch<br />

nachdenken – aber bald geht es von<br />

selbst. Man muss sich kein einziges<br />

Passwort mehr merken, nur die drei<br />

Fragen, und hat dennoch für jedes<br />

Konto ein komplett neues Passwort.<br />

Und: Will man die Passwörter nach<br />

ein paar Monaten wechseln, so legt<br />

man sich einfach neue Fragen zu.<br />

4. Browse auch mal anonym!<br />

Was wir im Internet machen, sagt<br />

viel über uns aus. Die klar auf uns<br />

zugeschnittene Werbung, nachdem<br />

wir ein Produkt gegoogelt haben, ist<br />

das eine. Problematischer wird es,<br />

wenn Datenkraken diese Infos etwa<br />

an Versicherungen oder Banken verkaufen.<br />

Plötzlich gibt es dann keine<br />

Zusatzversicherung mehr, weil mein<br />

Kind sich für Risikosportarten interessiert<br />

oder ständig schwere Krankheiten<br />

googelt. Bringen Sie also<br />

Ihrem Kind bei, zwei Browser zu<br />

nutzen – den regulären für ungefährliche<br />

Anfragen und einen anonymen<br />

Browser für sensible Themen. Hellweg<br />

empfiehlt den Torbrowser: www.<br />

torproject.org.<br />

5. Lerne zu löschen!<br />

Gerade Jugendliche sammeln gerne<br />

Apps auf ihrem Smartphone. >>><br />

Datenriesen verkaufen diese Infos<br />

über unser Netzverhalten weiter.<br />

Das kann problematisch werden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>67


Digital & Medial<br />

Ausgerechnet die Lieblings-App<br />

unserer Kinder, WhatsApp,<br />

ist des Datenschützers Alptraum.<br />

>>> Hinter fast jeder App steckt<br />

auch eine Anmeldung zu einem<br />

Internetkonto. Je grösser der Speicher<br />

des Smartphones, umso grösser<br />

die Gefahr, dass nie aussortiert wird.<br />

Jede dieser Apps aber sammelt<br />

Daten. Machen Sie es sich also zur<br />

Gewohnheit, alle paar Monate mit<br />

Ihrem Kind dessen Apps durchzugehen<br />

und zu fragen: «Was benutzt<br />

du noch?» Was nicht gebraucht wird,<br />

wird gelöscht. Wichtig: Zuerst das<br />

Konto löschen – das geht meist<br />

innerhalb der App. Erst dann die<br />

App runterwerfen. Dasselbe gilt<br />

übrigens auch für Programme auf<br />

dem PC.<br />

6. Sorgenkind WhatsApp<br />

Für Datenschützer wie Martin Hellweg<br />

ist ausgerechnet die Lieblings-<br />

App aller Jugendlichen ein Alptraum.<br />

WhatsApp ist so aufgebaut,<br />

dass es ohne den Zugriff auf alle<br />

Nummern im Telefonbuch nicht<br />

nutzbar ist. Und alle Daten laufen<br />

über Server fern der Heimat, die<br />

nicht dem Schweizer Datenschutz<br />

unterliegen. Ausserdem gehört das<br />

Netzwerk zu Facebook – und dass<br />

dieses Megaunternehmen mit den<br />

undurchdringlichen Datenschutzerklärungen<br />

die wertvollen Daten aus<br />

den scheinbar privaten Unterhaltungen<br />

nutzt, wissen wir spätestens, seit<br />

uns die Zustimmung zur Weiterleitung<br />

der WhatsApp-Daten an Facebook<br />

abgenötigt wurde. Sicherheitsexperte<br />

Hellweg empfiehlt daher<br />

ganz klar, auf die sicherere Variante<br />

Threema umzusteigen und dies auch<br />

allen Freunden zu raten. «Gerade bei<br />

Kindern ist der Zeitpunkt perfekt,<br />

weil sie sich in WhatsApp noch nicht<br />

etabliert haben. Threema kann das<br />

Gleiche, speichert aber die Kontaktdaten<br />

nicht bei sich. Und wer Whats-<br />

App schon hat, kann ja zunächst<br />

beide Messenger parallel nutzen –<br />

bis endlich alle die Notwendigkeit<br />

erkannt haben.» Hellweg gibt übrigens<br />

jedem Freund, der Threema<br />

installiert, einen Drink aus – das<br />

wirkt.<br />

7. GPS ausschalten<br />

Viele Apps möchten über die Position<br />

des Handys Bescheid wissen.<br />

Beispiel Instagram: Wenn man es der<br />

App erlaubt, erstellt sie im Hintergrund<br />

eine Karte, die zeigt, wo welches<br />

Foto aufgenommen wurde. Und<br />

zwar auf die Hausnummer genau.<br />

Wer also oft zu Hause fotografiert,<br />

verrät auch seine Privatadresse. Was<br />

für Einbrecher besonders dann<br />

spannend ist, wenn plötzlich Ferienfotos<br />

live gepostet werden … Also:<br />

GPS-Nutzung nur den Apps erlauben,<br />

die diese auch wirklich brauchen<br />

– zur Navigation zum Beispiel.<br />

Oder GPS ganz ausschalten und nur<br />

anmachen, wenn man es gerade<br />

braucht. Das spart auch Akku.<br />

8. Bist du es wirklich?<br />

Wenn jemand nach Informationen,<br />

Bildern oder gar Geld fragt, ist<br />

immer Skepsis angebracht. Selbst<br />

wenn die Nachricht vom Handy oder<br />

von der E-Mail-Adresse eines Freundes<br />

kommt. Handys können gestohlen<br />

und Mailkontos gehackt sein.<br />

Was hilft, ist die Bitte um einen kurzen<br />

Videochat. Oder man ruft auf<br />

dem Festnetz an, um nachzufragen.<br />

9. Gegen unerwünschte<br />

Einblicke …<br />

… hat Martin Hellweg ein einfaches<br />

Mittel: Kamera überdecken. Die<br />

Webcam an seinem Laptop ist mit<br />

einem kleinen Klebepunkt blockiert,<br />

den er nur abnimmt, wenn er die<br />

Kamera gerade benutzt. So kann ihn<br />

niemand in seiner Wohnung sehen,<br />

wenn er ihn nicht sehen soll – denn<br />

für Hacker ist das Aktivieren der<br />

Kamera ein Leichtes. Auch beim<br />

Smartphone braucht es ein Bewusstsein<br />

dafür, dass dieses jederzeit spicken<br />

und die Bilder verbreiten könnte.<br />

Eine Klapphülle schützt vor dem<br />

ständigen Blick der Frontkamera,<br />

und wenn das Handy mit der<br />

Rückenkamera auf dem Tisch liegt<br />

oder in der Tasche bleibt, gibt das<br />

ebenfalls nur langweilige Bilder.<br />

10. Die erste eigene<br />

E-Mail-Adresse<br />

Diese sollte laut Martin Hellweg<br />

nicht von einem Gratisanbieter sein.<br />

Denn diese leben vom Auswerten<br />

der Informationen, die sie aus den<br />

privaten E-Mails ziehen und an grosse<br />

Anbieter verkaufen. Dazu werden<br />

sie immer wieder von Hackern<br />

geknackt, die damit Schlimmes<br />

anstellen können. Um das zu verhindern,<br />

reserviert man sich für wenig<br />

Geld eine eigene Domain, z. B. mit<br />

VornameNachname.ch, und richtet<br />

dort E-Mail-Adressen ein, also zum<br />

Beispiel Rolf@RolfMuster.ch. «Eine<br />

Webseite muss man nicht aufschalten<br />

– aber später wird der Jugendliche<br />

dankbar sein, wenn er eine seriöse<br />

Visitenkarte im Netz aufbauen<br />

möchte und die passende Domain<br />

schon besitzt», sagt Hellweg.<br />

11. Spezialtipp: Tu nur, was du<br />

nicht lassen kannst!<br />

Wird aus dem Kind ein Jugendlicher,<br />

wird es immer wichtiger, an die eigene<br />

Zukunft zu denken. Bei Erwachsenen<br />

ist dies der erste Tipp, den<br />

Hellweg gibt: Bei allem Handeln<br />

abwägen, ob das digitale Risiko und<br />

die möglichen Kosten in einem<br />

gesunden Verhältnis zum Nutzen<br />

stehen. «Es ist manchmal erschreckend,<br />

dass wir für einen digitalen<br />

Kick bereit sind, uns eine mögliche<br />

Zukunft zu ruinieren», sagt Hellweg.<br />

Hier sieht er aber auch eine der<br />

grössten Herausforderungen für die<br />

Eltern – und deshalb steht der Tipp<br />

hier zum Schluss: Wie macht man<br />

Jugendlichen klar, dass ihr Handeln<br />

im Internet wie ein digitales Tattoo<br />

68 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Urlaub auf Familisch<br />

Mit der Nr. 1 für Familienferien<br />

ist? Das Bikinibild zu posten, mag<br />

sich für den Moment cool anfühlen<br />

und Komplimente einbringen. Aber<br />

das Bild kann einen auch ein Leben<br />

lang begleiten und ist potenziell für<br />

jeden sichtbar. Also fragen Sie Ihr<br />

Kind doch mal: «Würdest du dieses<br />

Bild auch im Grossverteiler platzieren,<br />

wo es dein Leben lang aufhängt?»<br />

>>><br />

Diese Tipps stellen nur eine Auswahl dar. Wenn<br />

aus Kindern Erwachsene werden, werden nach<br />

und nach immer mehr Sicherheitstipps wichtig.<br />

52 hat Martin Hellweg in seinem Buch zusammengefasst:<br />

Martin Hellweg: Safe Surfer. 52 Tipps zum<br />

Schutz Ihrer Privatsphäre im Digitalen Zeitalter.<br />

Econ, 2014. 190 Seiten, rund 18 Franken.<br />

GEWINNEN SIE EIN ELTERNSEMINAR<br />

MIT MARTIN HELLWEG!<br />

Am Freitag, 7. April <strong>2017</strong>, von 16 bis 19 Uhr gibt<br />

Martin Hellweg in Zürich gemeinsam mit dem<br />

Rechtsexperten Matthias Schwaibold einen<br />

Workshop für Eltern zur Internetsicherheit von<br />

Kindern. Hier können auch individuelle Bedenken<br />

und Probleme angesprochen werden. Und das<br />

Buch «Safe Surfer» gibt es noch obendrauf.<br />

Fritz+Fränzi verlost 15 Karten für den Workshop<br />

(im Wert von je 80 Franken für einen Elternteil<br />

oder 120 Franken für ein Elternpaar). Teilnahme<br />

auf www.fritzundfraenzi.ch/datenschutzseminar.<br />

Wer kein Glück hatte, kann auch Tickets kaufen<br />

auf: www.vbodyguard.com/elternseminar.<br />

Alphotel<br />

Familotel Kleinwalsertal<br />

• 52 moderne Familienzimmer und Suiten<br />

• Hallenbad u. Kinderplanschbereich mit 30 °C<br />

• Tägl. Kinder- u. Babybetreuung (auch samstags)<br />

• Serviertes 4-Gang-Wahlmenü mit Salatbuffet<br />

Inkl. AI alkoholfrei ab € 1.610 (CHF 1’726)*<br />

z. B. vom 17.04.–20.05.<strong>2017</strong><br />

www.alphotel.at, Tel.: +43 5517 5449<br />

Das Alphotel Hirschegg Hotelbetriebsgesellschaft mbH, Schlössleweg 6, A-6992 Hirschegg<br />

Hotel Kaiserhof H. u. I. Kuppelhuber GmbH & Co. KG, Nr. 78, A-6622 Berwang<br />

Weiss Christian e. U., Holzleiten 86, A-6416 Obsteig<br />

Sailer Hotels GmbH, St. Margarethen 643, A-6473 Wenns<br />

Kaiserhof<br />

Familotel Tiroler Zugspitzarena<br />

• Direkt im Wander- u. Almengebiet gelegen<br />

• Tägl. Kinder- u. Babybetreuung (66 Std./Wo.)<br />

• Wellness- & Spa-Bereich mit Pools u. Saunen<br />

• Ruhige Panoramalage mit Bergblick-Zimmern<br />

Inkl. AI alkoholfrei ab € 1.617 (CHF 1’731)*<br />

z. B. vom 15.06.–08.07.<strong>2017</strong><br />

www.kaiserhof.at, Tel.: +43 5674 8285<br />

Lärchenhof<br />

Familotel Tirol<br />

• Grosse Outdoorspielplätze, Lama-Trekking<br />

• 8 Std. Kinderbetreuung täglich (ausser Sa.)<br />

• Ponyreiten, Traktorfahren, Angeln, Klettern ...<br />

• Hallenbad, Wellness, Kosmetik, Massagen<br />

Inkl. AI alkoholfrei ab € 1.610 (CHF 1’726)*<br />

z. B. vom 01.04.–22.04.<strong>2017</strong><br />

www.laerchenhof.com, Tel.: +43 5264 8234<br />

Sailer & Stefan<br />

Familotel Pitztal<br />

• 4 Themenspielplätze, 4 Spielzimmer<br />

• Riesen-Spielhalle, Badeparkanlage u. v. m.<br />

• 35 Std./Wo. Baby- u. Kinderbetreuung<br />

• Frühling & Herbst: 2 Kinder bis 10 Jahre gratis<br />

Inkl. AI alkoholfrei ab € 1.519 (CHF 1’629)*<br />

z. B. vom 20.5.–01.07. und vom <strong>02</strong>.09.–05.11.<strong>2017</strong><br />

www.sailer-und-stefan.at, Tel.: +43 5414 87215<br />

* Preis pro Woche für 2 Erwachsene und 1 Kind unter 16 Jahren im Familienappartement (2-Raum).<br />

CHF = Richtwert. Die Abrechnung erfolgt in Euro zum Tageskurs.<br />

Jetzt Katalog<br />

gratis anfordern!<br />

Zur Person<br />

Martin Hellweg, geboren 1967, gründete<br />

2007 den Virtual Bodyguard – eine Firma,<br />

die sich auf den Schutz der Privatsphäre<br />

spezialisiert hat. Privat bereist er die Welt<br />

und macht Musik.<br />

www.familotel.com/frfr<br />

Schöne-Ferien-Beratung<br />

+49 8075 91490<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>69<br />

Familotel AG I Vorstand: Michael Albert<br />

Halfinger Strasse 4 I D-83123 Amerang I Tel. +49 8075 9149-0


Schützen Sie Ihre<br />

Kinder vor gefährdenden<br />

Inhalten?<br />

Bei der Altersfreigabe von Büchern, Filmen<br />

oder Computerspielen gibt es teilweise<br />

erhebliche Unterschiede. Von Medium zu<br />

Medium. Von Kanton zu Kanton. Ein kurzer<br />

Einblick. Text: Michael In Albon<br />

Bild: Swisscom<br />

Bei Kinder- und Jugendbüchern<br />

fehlen verbindliche<br />

Vorgaben für die<br />

Altersempfehlung. Deshalb<br />

gilt in der Branche<br />

das Alter der Hauptperson einer Ge -<br />

schichte als gängiger Richtwert. Da -<br />

neben berücksichtigen Verlage für<br />

ihre Einstufung oft noch Handlung,<br />

Sprache, Thema und Komplexität<br />

des Buches.<br />

Für welche Altersstufe ein Kinofilm<br />

freigegeben wird, prüft die<br />

Schweizerische Kommission Ju -<br />

gendschutz (filmrating.ch). Sie<br />

unterscheidet dabei die Stufen 0, 6,<br />

10, 12, 16 und 18 Jahre. Das klingt<br />

eindeutiger, als es in der Realität ist.<br />

Denn über die Altersempfehlungen<br />

von Kinofilmen setzen sich viele<br />

Kinobetreiber hinweg. So kann es<br />

sein, dass ein Film in St. Gallen und<br />

Luzern für Vierjährige zugelassen<br />

ist, in Bern für Sechsjährige und in<br />

Zürich erst für Achtjährige.<br />

Und bei Computerspielen? Hier<br />

gilt die Pan-European Game Information<br />

(PEGI), welche auch die<br />

wichtigsten Spielkonsolenhersteller<br />

wie Sony und Nintendo unterstützen.<br />

Die Symbole des PEGI-Einstufungssystems<br />

sind auf der Vorderund<br />

der Rückseite der Verpackung<br />

aufgedruckt und unterscheiden die<br />

Altersgruppen 3, 7, 12, 16 und 18.<br />

Sie weisen darauf hin, ob ein Spiel<br />

nach Gesichtspunkten des Jugendschutzes<br />

für eine Altersgruppe ge -<br />

eignet ist oder nicht. Aber auch hier<br />

ist Vorsicht geboten: Die Freigabe in<br />

der Schweiz erfolgt nach dem PEGI-<br />

System, auf einer in Deutschland<br />

produzierten Spiele-DVD kann aber<br />

die Alterseinstufung der USK<br />

(Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle)<br />

mit einer anderen Empfehlung<br />

daherkommen.<br />

Altersfreigabe ist kein Gütesiegel<br />

Ein Freigabe-Label bedeutet lediglich<br />

«schadet nicht»; zusätzliche<br />

inhaltliche Kriterien erhalten Eltern<br />

damit nicht. Nur ist es mit der<br />

Altersklassifizierung nicht getan.<br />

Das wissen Eltern meist aus Erfahrung:<br />

Jedes Kind entwickelt sich<br />

individuell, hat seinen eigenen Charakter.<br />

So hält manchmal ein dreijähriges<br />

Kind die Spannung einer<br />

Geschichte besser aus als ein sechsjähriges.<br />

Oder ein Zehnjähriger ist<br />

überfordert, wo ein Gleichaltriger<br />

unterfordert ist – beim selben Buch,<br />

Film oder Computergame.<br />

Inhaltliche Kriterien sind also<br />

nötig, um ein Produkt für Kinder<br />

oder Jugendliche als geeignet und<br />

gut zu bezeichnen. Bei allen Medien.<br />

Gut ist, wenn ein Produkt Themen<br />

aufgreift, mit denen sich Kinder und<br />

Jugendliche identifizieren können.<br />

Themen, die ihre Welt betreffen und<br />

Kinder und Jugendliche bereichern.<br />

Auch Geschichten, die Mut machen,<br />

sind wichtig. Und solche, die Emotionen<br />

ansprechen und Fragen be -<br />

antworten, die Kinder und Jugendliche<br />

gerade umtreiben.<br />

Für Sie als Eltern heisst das weiterhin:<br />

Interessieren Sie sich für die<br />

Welt Ihrer Kinder – für ihre Bücher,<br />

Filme, Computerspiele. Fragen Sie<br />

nach und sprechen Sie darüber. Und<br />

machen Sie sich selbst ein Bild.<br />

Haben Sie Zweifel? Dann legen Sie<br />

das Produkt noch ein, zwei Jahre in<br />

den Schrank. Erziehen Sie Ihre Kinder<br />

zu wohlwollend kritischen Geistern.<br />

Und erleben Sie zusammen,<br />

wie man Inhalte kritisch hinterfragt<br />

und beurteilt. Immer wieder.<br />

Michael In Albon<br />

Michael In Albon ist Beauftragter<br />

Jugendmedienschutz und Experte<br />

Medienkompetenz von Swisscom.<br />

Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />

Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />

digitalen Medien im Familienalltag.<br />

swisscom.ch/medienstark<br />

70 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Digital & Medial<br />

«Oh nein, das frisst unser Papier auf!»<br />

Ein Faxgerät ist für ein 7-jähriges Kind in der<br />

heutigen Zeit halt ein Mysterium.<br />

Tweet von @neufelich<br />

Sind Tiere gut für Kinder?<br />

Das Videointerview<br />

Unser Redaktionshund Sukhi weiss, warum es<br />

für Familien ganz besonders wichtig ist, sich die<br />

Anschaffung eines Haustieres gut zu überlegen.<br />

Er selbst hat nämlich früher einer Familie gehört und<br />

Fritz+Fränzi-<br />

App laden,<br />

starten, diese Seite<br />

scannen und<br />

das Video-Interview<br />

sehen.<br />

wurde dann weggegeben, als er für die Kinder nicht mehr so interessant war. Und<br />

weil er sie heute noch vermisst, darf er unsere kleine Videoserie präsentieren.<br />

Wir haben David Naef vom Schweizer Tierschutz STS und vom Kinderclub KRAX<br />

getroffen und ihm neun Fragen zum Thema Haustiere und Familie gestellt. Von der<br />

Frage, ob Tiere überhaupt wichtig sind für Kinder, bis hin zur Frage, wie man den<br />

Tod eines Haustiers verarbeiten kann. Das Interview lief als Serie auf unserer<br />

Facebook-Seite www.facebook.com/fritzundfraenzi. Jetzt kann das ganze<br />

Interview in unserer App angesehen werden.<br />

Bilder: ZVG<br />

Jugend an die Kamera!<br />

Jugendliche, die sich fürs Filmemachen oder<br />

einfach für spannende neue Produk tionen<br />

von Gleichaltrigen interessieren, sind<br />

bei den Jugendfilmtagen vom 15. bis zum<br />

19. März in Zürich eine wichtige Adresse.<br />

Bei diesem Event handelt es sich um das<br />

bedeutendste Kurzfilmfestival für junge<br />

Filmschaffende der Schweiz. An allen Tagen<br />

wird es spannende Kurzfilmvorführungen<br />

geben, ausserdem finden Workshops und<br />

Ateliers statt, in denen die Jugendlichen<br />

gegen einen kleinen Kostenbeitrag das<br />

Film handwerk und die richtige Präsen tation<br />

ihrer Filme erlernen können. Das Highlight<br />

ist natürlich die Preisverleihung, bei<br />

der auch das Publikum mitbestimmen<br />

darf. Anmeldung zu den Workshops und<br />

weitere Infos zum diesjährigen Programm<br />

auf jugendfilmtage.ch.<br />

Serious Game:<br />

Der Datenschutz-Praktikant<br />

Wer nutzt eigentlich unsere Daten, was sollte man heraus geben<br />

und was eher nicht? Im neuen Computerspiel DATAK wird der<br />

Spieler als Praktikant des Stadtpräsidenten eingestellt, er soll ihn<br />

bei Entscheidungen in Sachen Datenschutz unterstützen. Dabei<br />

helfen ihm diverse Youtube-Stars mit Sicherheitstipps – und<br />

natürlich das eigene Gespür. Die Aufgaben sind ganz schön knifflig,<br />

denn alle Daten einfach zu verweigern, macht unbeweglich und<br />

wird teuer. Wir wurden schon nach drei Tagen im Amt wieder vor<br />

die Tür gesetzt – wie lange halten Sie durch? Wie lange Ihre<br />

Kinder? Das Spiel soll ohne Zeigefinger sensibilisieren und wird<br />

von der Plattform jugendundmedien.ch unterstützt. rts.ch/datak<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>71


Service<br />

Vielen Dank<br />

an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />

Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsoren<br />

Dr. iur. Ellen Ringier<br />

Walter Haefner Stiftung<br />

Credit Suisse AG<br />

Rozalia Stiftung<br />

UBS AG<br />

Georg und Bertha<br />

Schwyzer-Winiker Stiftung<br />

UBS AG<br />

Impressum<br />

17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />

Herausgeber<br />

Stiftung Elternsein,<br />

Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />

www.elternsein.ch<br />

Präsidentin des Stiftungsrates:<br />

Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />

Tel. 044 400 33 11<br />

(Stiftung Elternsein)<br />

Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />

ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />

Redaktion<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />

n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />

Verlag<br />

Fritz+Fränzi,<br />

Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />

Tel. 044 277 72 62,<br />

info@fritzundfraenzi.ch,<br />

verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />

www.fritzundfraenzi.ch<br />

Business Development & Marketing<br />

Leiter: Tobias Winterberg,<br />

t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />

Anzeigen<br />

Administration: Dominique Binder,<br />

d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />

Tel. 044 277 72 62<br />

Art Direction/Produktion<br />

Partner & Partner, Winterthur<br />

Bildredaktion<br />

13 Photo AG, Zürich<br />

Korrektorat<br />

Brunner AG, Kriens<br />

Auflage<br />

(WEMF/SW-beglaubigt 2015)<br />

total verbreitet 103 920<br />

davon verkauft 17 206<br />

Preis<br />

Jahresabonnement Fr. 68.–<br />

Einzelausgabe Fr. 7.50<br />

iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />

Abo-Service<br />

Galledia Verlag AG Berneck<br />

Tel. 0800 814 813, Fax 058 344 92 54<br />

abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />

Für Spenden<br />

Stiftung Elternsein, 8008 Zürich<br />

Postkonto 87-447004-3<br />

IBAN: CH40 0900 0000 8744 7004 3<br />

Inhaltspartner<br />

Institut für Familienforschung und -beratung<br />

der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />

und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />

Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation / Forum<br />

Bildung / Elternnotruf / Pro Juventute /<br />

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik<br />

Zürich / Schweizerisches Institut für Kinderund<br />

Jugendmedien<br />

Stiftungspartner<br />

Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />

Zürich / Schweizerische Vereinigung der<br />

Elternorganisationen / Marie-Meierhofer-Institut<br />

für das Kind / Schule und Elternhaus Schweiz /<br />

Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter<br />

und Väter SVAMV / Kinderlobby Schweiz /<br />

kibesuisse Verband Kinderbetreuung Schweiz<br />

DIE GRATIS-KREDITKARTE.<br />

3000<br />

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Bis 28.2.<strong>2017</strong> beantragen und<br />

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anfordern unter 044 439 40 27 oder in Ihrer<br />

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Buchtipps<br />

Der exakte<br />

Situationsplan<br />

der beiden<br />

Detektivinnen<br />

zum Mord im<br />

Internat.<br />

Eine heisse<br />

Spur für<br />

Kommissar<br />

Maroni<br />

Mit seinen<br />

Rätselbild-<br />

Krimis war Jürg<br />

Obrist jahrelang im Schülermagazin<br />

Spick vertreten. Im neusten Buch<br />

über Kommissar Maroni laden<br />

40 Minikrimis zum genauen<br />

Hinschauen und Miträtseln ein.<br />

dtv, 2016, Fr. 19.90, ab 8 Jahren<br />

Rätsel lösen, Geheimnisse lüften – nichts<br />

ist spannender! Neben Krimiserien für<br />

Kinder machen auch andere Formate<br />

kleineren und grösseren Spürnasen Lust<br />

aufs Zweifeln, Rätseln und Mitfiebern.<br />

Endlich ein richtiger Fall!<br />

Zwei Schülerinnen und ihr Detektivbüro.<br />

Miranda Lux –<br />

Denken heisst<br />

Zweifeln oder<br />

warum jede<br />

Geschichte zwei<br />

Seiten hat<br />

Als Mitglied des<br />

Zweifelwerks ist<br />

Miranda Lux Verschwörungen und<br />

falschen Wahrheiten auf der Spur.<br />

Die skurrilen Charaktere werden von<br />

Oliver Schlick mit so viel Witz<br />

geschildert, dass grösster Lesespass<br />

garantiert ist.<br />

Ueberreuter, 2016, Fr. 23.90,<br />

ab 12 Jahren<br />

Bilder: ZVG<br />

Schuluniformen und Ge ­<br />

heimgänge, heimliche<br />

Mitternachtspartys in den<br />

Schlafsälen, eine Französischlehrerin,<br />

die Mamsell<br />

genannt wird – ein Wiedersehen<br />

mit alten Bekannten. Aber: Was<br />

einen in die Welt von «Hanni und<br />

Nanni» und Enid Blytons weiteren<br />

britischen Internatsgeschichten<br />

zurückkatapultiert, wird in «Mord<br />

ist nichts für junge Damen» mit<br />

einer Prise Sherlock Holmes und<br />

Agatha Christie gewürzt. Denn<br />

Hazel Wong und Daisy Wells, Schülerinnen<br />

des ehrenvollen Mädcheninstituts<br />

Deepdean im England der<br />

1930er-Jahre, betreiben ein Detektivbüro.<br />

Bisher hatten sie allerdings<br />

leider nie einen richtigen Fall zu<br />

lösen, bis Hazel eines Abends die<br />

Leiche von Miss Bell findet – die<br />

kurz darauf wie vom Erdboden verschluckt<br />

ist! Unter Umgehung aller<br />

strengen Internatsregeln lösen die<br />

beiden den Fall. Eine Lehrperson<br />

nach der anderen gerät ins Visier<br />

der Mädchen, die nicht merken,<br />

dass Gefahr von ganz oben droht …<br />

Autor Robin Stevens lehnt sich<br />

lustvoll an bekannte Schul- und Kriminalgeschichten<br />

an. Trotzdem<br />

weht in «Mord ist nichts für junge<br />

Damen» auch ein neuer Wind.<br />

Denn während bei Enid Blyton<br />

Schülerinnen aus dem Ausland als<br />

Exotinnen kritisch beäugt werden,<br />

ist hier Hazel, die aus Hongkong<br />

kommt, selbst die Erzählerin der<br />

Geschichte und kann ihren Gefühlen<br />

und Erlebnissen eine eigene<br />

Stimme geben.<br />

Robin Stevens:<br />

Mord ist nichts für<br />

junge Damen.<br />

Knesebeck, 2016,<br />

Fr. 19.90,<br />

ab 11 Jahren<br />

Kellerkind<br />

Nürnberg, 1828:<br />

Ein unbekannter<br />

junger Mann<br />

taucht auf dem<br />

Marktplatz auf. Wo<br />

kommt er her?<br />

Kristien Dieltiens<br />

erzählt packend und aus einer<br />

ungewohnten Perspektive die<br />

Geschichte von Kaspar Hauser neu.<br />

Urachhaus, 2016, Fr. 28.90,<br />

ab 14 Jahren<br />

Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />

Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />

Instituts für Kinder- und<br />

Jugendmedien SIKJM.<br />

Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />

weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Februar <strong>2017</strong>73


Eine Frage – drei Meinungen<br />

Ich möchte mit meinen Kindern, 5 und 7, ein Tischgebet sprechen.<br />

Mein Mann kann mit Religion überhaupt nichts anfangen, meint,<br />

ich beeinflusse meine Kinder religiös. Wie soll ich mich verhalten?<br />

Deborah, 44, Langenthal BE<br />

Nicole Althaus<br />

Religion sitzt tiefer, als man<br />

vermutet. Das merkt man<br />

spätestens, wenn mit den<br />

eigenen Kindern plötzlich das<br />

Bedürfnis nach Ritualen<br />

wieder hochkommt. Ich gehe<br />

in Anbetracht der Religionsmüdigkeit<br />

Ihres Mannes<br />

davon aus, dass Ihre Kinder<br />

nicht getauft sind und Sie auf weitere kirchliche Rituale<br />

verzichten werden. Da wird ein Tischgebet, das ja in<br />

erster Linie Ausdruck der Dankbarkeit ist, umgekehrt<br />

Ihren Mann auch nicht umbringen. Der erste Satz muss<br />

ja nicht unbedingt mit «Lieber Gott» beginnen.<br />

Tonia von Gunten<br />

Ich erachte es als eine wertvolle<br />

Aufgabe der Eltern,<br />

ihren Kindern die eigenen<br />

wichtig erscheinenden Werte<br />

mit auf den Weg zu geben.<br />

Tun Sie, was Sie für richtig<br />

halten! Solange in der Familie<br />

jeder seine eigene Meinung<br />

äussern darf, ist alles in Ordnung:<br />

Sie wollen am Tisch beten – Ihr Mann will es<br />

nicht. Also beten Sie! Was mich noch<br />

interessieren würde: Was wollen denn die Kinder?<br />

Peter Schneider<br />

Die Vorstellung Ihres<br />

Mannes, man könne es mit<br />

gebührender Vorsicht vermeiden,<br />

seine Kinder zu<br />

beeinflussen, ist nachgerade<br />

niedlich. Und die neue Panik<br />

von Ungläubigen vor jedweder<br />

Frömmigkeit steht der<br />

alten Panik der Gläubigen vor<br />

dem Gottseibeiuns fast schon in nichts mehr nach.<br />

Also: Wenn Ihnen ein Tischgebet wichtig ist, dann<br />

beten Sie mit Ihren Kindern. Ihr Mann kann ja seinerseits<br />

dazu säuerlich schweigen und dadurch seinen ihm<br />

als Beeinflussungsberechtigtem zustehenden Anteil<br />

neutralisierender Gegenbeeinflussung leisten. Und in<br />

zwanzig Jahren sehen Sie dann, wer gewonnen hat.<br />

Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin und<br />

Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag».<br />

Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir eltern» und<br />

hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.ch» initiiert<br />

und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter von zwei<br />

Kindern, 16 und 12.<br />

Tonia von Gunten, 43, ist Elterncoach, Pädagogin<br />

und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />

Programm, das frische Energie in die Familien<br />

bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />

stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />

und Mutter von zwei Kindern, 10 und 7.<br />

Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />

Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />

andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />

für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />

ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />

der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />

erwachsenen Sohnes.<br />

Haben Sie auch eine Frage?<br />

Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />

74 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Ruf Lanz<br />

Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) kämpft für tiergerechte Gesetze und ihren konsequenten Vollzug.<br />

Unterstützen Sie uns dabei mit Ihrer Spende: Postkonto 87-700700-7. Danke!

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