02/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Dossier<br />
>>> Eltern die Schuld zu geben,<br />
greift für den Jugendpsychiater zu<br />
kurz. Schulte-Markwort verweist auf<br />
ökonomische Zwänge, beispielsweise<br />
den Wandel von der Gross- hin<br />
zur Kleinfamilie, die Ratlosigkeit<br />
erzeuge, weil Mütter und Väter alles<br />
allein stemmen müssten.<br />
Der Psychiater führt aussterbende<br />
soziale Normen und Traditionen<br />
an, die zwar nicht über alle Zweifel<br />
erhaben gewesen seien, aber einem<br />
zumindest Orientierung gegeben<br />
hätten. «Früher gab es etwa noch die<br />
Sicherheit, dass man ein Leben lang<br />
bei seinem Arbeitgeber bleibt», sagt<br />
er. «Heute haben wir Zeitarbeitsverträge,<br />
sprechen von der Generation<br />
Praktikum. Kann sich so innere Stabilität<br />
entwickeln?»<br />
Auch Trägheit lässt uns ausbrennen<br />
Wir idealisierten die Vergangenheit,<br />
findet dagegen der Frankfurter Entwicklungspsychologe<br />
Martin Dornes<br />
(vgl. Interview auf Seite 26). Die<br />
Grossfamilie von früher habe keineswegs<br />
nur Unterstützung, sondern<br />
auch Bevormundung bedeutet.<br />
Zudem sei die Arbeitswelt nicht<br />
familienfreundlicher gewesen: «Die<br />
Arbeiter litten unter Monotonie,<br />
schwerer körperlicher Belastung und<br />
den langen Arbeitszeiten. Stress gab<br />
es reichlich, auch wenn nicht so viel<br />
darüber geredet wurde wie heute.»<br />
Diese Meinung vertritt auch Katrin<br />
Aklin. Sie ist Schulleiterin bei der<br />
Zürcher Stiftung OPA, die Jugendlichen<br />
mit sozialen Schwierigkeiten<br />
hilft, sich in den Arbeitsmarkt zu<br />
integrieren. «Wir haben das Gefühl,<br />
um die Welt stehe es schlecht, weil<br />
wir alles erfahren – auch das, was<br />
uns gar nicht betrifft», sagt sie. Da<br />
gebe es nur eines: bewusster konsumieren.<br />
«Beim Essen machen wir es<br />
auch so: Wir stopfen nicht alles in<br />
uns hinein, was verfügbar ist. Mit<br />
Informationen sollten wir genauso<br />
verfahren, auch das ist eine Frage<br />
der Disziplin.»<br />
Jugendexpertin Aklin coacht<br />
auch Erwachsene, die sie oft auf-<br />
Burnouts entstehen selten aus<br />
Überanstrengung. Häufiger ist<br />
Trägheit die Ursache.<br />
Und fehlende Zufriedenheit.<br />
grund eines Burnouts konsultieren.<br />
Den Grund für Stress und Überforderung<br />
sieht sie nicht in überhöhten<br />
Leistungsanforderungen, «es hapert<br />
eher an unserer Leistungsbereitschaft»,<br />
ist sie überzeugt. Aklin geht<br />
noch weiter: «Burnouts aufgrund<br />
von Überanstrengung sind deutlich<br />
seltener als Burnouts, die aus Trägheit<br />
entstehen.»<br />
Aklin spricht von einer Passivität,<br />
die Jugendliche und Erwachsene<br />
gleichermassen betreffe und ein<br />
Gefühl des Ausgeliefertseins erzeuge.<br />
«Es fehlt uns an Zufriedenheit»,<br />
sagt sie, «weil wir wahres Engagement<br />
einem oberflächlichen Verständnis<br />
von Erfolg geopfert haben.»<br />
Position beziehen, Unbequemlichkeiten<br />
aushalten, sich einsetzen,<br />
auch ohne Aussicht auf Belohnung<br />
– das alles sei heute unpopulär, weil<br />
anstrengend. «Wir gehen lieber<br />
dahin, wo alle applaudieren», sagt<br />
Aklin, «und leben das den Jungen<br />
vor.»<br />
In der Kindererziehung funktioniere<br />
diese Passivität aber nicht.<br />
Erziehung bedeute, Stellung zu nehmen,<br />
Vorbild zu sein, Reibungsfläche<br />
zu bieten. «Viele Eltern vermeiden<br />
Reibung», weiss Aklin, «weil sie<br />
Arbeit bedeutet. Sie ist aber eine<br />
wichtige Voraussetzung für die Entwicklung<br />
von Selbstwertgefühl. In<br />
Auseinandersetzungen entwickeln<br />
wir Fähigkeiten.»<br />
Nicht nur in der Schule, auch im<br />
Umfeld ihrer drei eigenen Kinder<br />
beobachte sie stattdessen, wie dem<br />
Nachwuchs Bequemlichkeit anerzogen<br />
werde. Man stelle Kindern lieber<br />
alles bereit, statt sie selbst machen<br />
zu lassen. «Dass dies auf eine niedrigere<br />
Belastungsgrenze hin- >>><br />
Literatur<br />
Schulte-Markwort, Michael: Burnout-<br />
Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere<br />
Kinder überfordert. Droemer Knaur,<br />
2016, 272 Seiten. Fr. 28.90<br />
Dornes, Martin: Die Modernisierung der<br />
Seele. Kind – Familie – Gesellschaft.<br />
Fischer Taschenbuch, 2012, 528 Seiten.<br />
Fr. 17.90<br />
Dornes, Martin: Macht der Kapitalismus<br />
depressiv? Über seelische Gesundheit<br />
und Krankheit in modernen<br />
Gesellschaften. Fischer Taschenbuch,<br />
2016, 160 Seiten. Fr. 23.90<br />
Links<br />
Zu viel Stress – zu viel Druck! Wie<br />
Schweizer Jugendliche mit Stress und<br />
Leistungsdruck umgehen. Juvenir-<br />
Studie 4.0, Jacobs Foundation, 2015.<br />
Online: www.juvenir.ch > Downloads ><br />
Juvenir 4.0<br />
Delgrande Jordan, Marina, und<br />
Eichenberger, Yvonne: Die psychische<br />
Gesundheit von Kindern und<br />
Jugendlichen im Schulalter<br />
(Detailauswertungen von Daten<br />
aus der HBSC-Studie 2014).<br />
Gesundheitsförderung Schweiz, 2016.<br />
Online: gesundheitsfoerderung.ch ><br />
Downloads > Bericht 6: Psychische<br />
Gesundheit über die Lebensspanne<br />
(Seite 58–69)<br />
22 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi