02/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Erziehung & Schule<br />
«Wir raten den Eltern, ihren<br />
Kindern die Freiheit zu<br />
lassen, lernen zu können»,<br />
sagt Stefan Marcec.<br />
Die Hürde liegt hoch<br />
Mohamed ist ein grosser, schlaksiger<br />
Junge, seine kurzen Locken sind<br />
schwarz, sein Teint ist dunkel. Seine<br />
Familie kommt aus Somalia, die seines<br />
Banknachbarn aus Afghanistan.<br />
Montenegro, Portugal, Marokko,<br />
Rumänien: Die Programmteilnehmer<br />
stammen aus aller Herren Länder.<br />
Was sie eint, ist ein hohes intellektuelles<br />
Potenzial sowie ein<br />
Elternhaus, in dem weder Mutter<br />
noch Vater die deutsche Sprache in<br />
die Wiege gelegt bekommen haben<br />
– und die nur über bescheidene<br />
finanzielle Mittel verfügen. Letzteres<br />
muss per Steuerausweis nachgewiesen<br />
werden. «Bei uns bewerben sich<br />
immer wieder ausländische Eltern,<br />
die alles andere als bedürftig sind»,<br />
sagt Stefan Marcec, Lehrer am Gymnasium<br />
Unterstrass und operativer<br />
Leiter des Programms. Er betont, wie<br />
hoch die Hürden sind, um überhaupt<br />
aufgenommen zu werden.<br />
Jeden April kontaktiert Stefan<br />
Marcec Sekundarschulen im Raum<br />
Zürich, Winterthur und Dietikon.<br />
Lehrer, die vom Potenzial eines oder<br />
mehrerer ihrer Achtklässler überzeugt<br />
sind, können diese per Empfehlungsschreiben<br />
vorschlagen.<br />
Zumeist leben diese Schüler in der<br />
ersten oder zweiten Generation bei<br />
uns. Auch sie müssen ein Motivationsschreiben<br />
verfassen.<br />
Was folgt, ist ein stufenweise<br />
durchgeführtes Aufnahmeverfahren,<br />
welches ein schriftliches Assessment,<br />
die Erfassung von psychologischen<br />
und intellektuellen Fähigkeiten<br />
und Fertigkeiten sowie, in einem<br />
weiteren Schritt, ein ausführliches<br />
Aufnahmegespräch umfasst. Wer<br />
dann immer noch dabei ist, hat gute<br />
Chancen, ausgewählt zu werden.<br />
Zwei Mal pro<br />
Woche gibt es<br />
Förderunterricht.<br />
Essay, Abhandlung, Erörterung<br />
– das sind Textformen,<br />
die Neuntklässler<br />
kennen sollten, wenn<br />
sie eine Mittelschule<br />
besuchen wollen. An diesem Mittwochnachmittag<br />
stehen diese<br />
Begriffe an der Schultafel des Gymnasiums<br />
Unterstrass in Zürich.<br />
Karolina Zegars Blick schweift zwischen<br />
der Tafel und ihren Schülern<br />
hin und her. «Welche weiteren Wörter<br />
sind euch fremd?», fragt die Lehrerin<br />
in die Runde. Mohamed<br />
Axmed Macow schaut auf sein Blatt,<br />
steht auf, geht zur Tafel und schreibt<br />
«Metaebene». Mohamed ist ein<br />
guter Schüler, ein sehr guter sogar.<br />
Nur Deutsch macht ihm Probleme.<br />
Dass der 16-Jährige am Mittwochnachmittag<br />
zum Unterricht kommen<br />
muss, während alle anderen<br />
seiner Kollegen freihaben, stört ihn<br />
nicht. Im Gegenteil. Mohamed ist<br />
froh, einer von 26 Teilnehmern des<br />
Migrationsprojekts ChagALL zu<br />
sein.<br />
«Es ist erwiesen, dass junge Migranten,<br />
die aus bescheidenen finanziellen<br />
Verhältnissen stammen,<br />
wenig Chancen auf einen höheren<br />
Bildungsabschluss haben», sagt Jürg<br />
Schoch, Direktor des Gymnasiums<br />
Unterstrass. Unabhängig davon, wie<br />
begabt sie seien. Aus diesem Grund<br />
wurde 2008 das Programm ChagALL,<br />
Chancengerechtigkeit durch<br />
Arbeit an der Lernlaufbahn, ins<br />
Leben gerufen. Seither wurden 137<br />
begabte jugendliche Migrantinnen<br />
und Migranten neben ihrem Regelunterricht<br />
gecoacht und geschult.<br />
Mit dem Ziel, sie für die Aufnahmeprüfung<br />
an einem Gymnasium,<br />
einer Berufsmittelschule oder Fachmittelschule<br />
fit zu machen. Träger<br />
des Programms ist – ebenso wie für<br />
das Gymnasium Unterstrass – der<br />
Verein für das Evangelische Lehrerseminar<br />
Zürich, finanziert wird es<br />
durch zwei Stiftungen.<br />
Mitra drohte Zwangsverheiratung<br />
Haben die Schüler den Sprung ins<br />
Programm geschafft, werden sie<br />
zusammen mit ihren Eltern an einem<br />
Informationsabend über den Verlauf,<br />
die Rechte und Pflichten im Programm<br />
informiert und gebeten,<br />
einen Ausbildungsvertrag zu unterschreiben.<br />
Erst danach gelten die<br />
Jugendlichen als aufgenommen.<br />
«Wir raten den Eltern, ihren Kindern<br />
die Freiheit zu lassen, lernen zu<br />
können», sagt Stefan Marcec. Das<br />
heisst, weniger auf die jüngeren<br />
Geschwister aufpassen oder im elterlichen<br />
Geschäft mithelfen – dafür<br />
mehr Zeit zum Lernen zu haben. «In<br />
der Regel sind diese Eltern sehr einsichtig<br />
und stolz auf ihre Kinder.»<br />
So wie Mutter und Vater von Mitra<br />
Karimi, 18 Jahre alt und >>><br />
«Das Elternhaus<br />
ist entscheidend»<br />
Kinder von Migranten sind an<br />
Gymnasien unterdurchschnittlich<br />
vertreten – weil sie häufig in<br />
sozioökonomisch benachteiligten<br />
Familien aufwachsen, sagt<br />
Bildungsforscher Urs Moser.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Herr Moser, welche Chancen haben junge<br />
Migranten an Schweizer Schulen?<br />
Das kommt darauf an, wie gut sie von<br />
ihren Eltern unterstützt werden können.<br />
Kinder von Akademikern haben unabhängig<br />
von ihrer kulturellen Herkunft<br />
54 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi