02/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Dossier<br />
damit befasste und die These «college<br />
starts at two» aufstellte. Dafür<br />
wurden Einzelbeispiele wie Fremdsprachenunterricht<br />
ab zwei als Beleg<br />
angeführt. Die gibt es immer. Die<br />
Pädagogin, Dokumentarfilmerin<br />
und Sachbuchautorin Donata<br />
Elschenbroich dagegen hat Dutzende<br />
von Frühförderungseinrichtungen<br />
und Kitas besucht. Ihr Resümee<br />
lautet: «Unseren Kindern, egal aus<br />
welchen Elternhäusern, wird heute<br />
so achtungsvoll begegnet wie in keiner<br />
Generation zuvor.» Warum<br />
reden wir nicht darüber?<br />
Sagen Sie es uns.<br />
Fragt man Erwachsene nach dem<br />
Zustand der Jugend, so hört man seit<br />
je überwiegend pessimistische Antworten.<br />
Befragt man sie hingegen<br />
danach, wie es ihren Kindern oder<br />
denen ihrer Bekannten geht, ist es<br />
umgekehrt. Aus Umfragen und Studien<br />
wissen wir auch, dass die Le <br />
benszufriedenheit von Kindern im<br />
deutschen Sprachraum sehr gross ist.<br />
Die Jugendforscher Hurrelmann<br />
und Albrecht etwa konstatieren in<br />
ihrer einschlägigen Arbeit von 2016:<br />
«Mit Stress können die meisten<br />
beeindruckend gut umgehen, auch<br />
wenn sie gerne jammern.»<br />
Hurrelmann spricht in der aktuellen<br />
Shell-Jugend-Studie aber auch von<br />
einer «Generation unter Druck». Demnach<br />
spiele insbesondere der unbe -<br />
rechenbar gewordene Arbeitsmarkt<br />
eine Rolle.<br />
Unstrittig ist, dass sich die Erwartungen<br />
an Arbeitnehmer verändert<br />
haben. Früher wurden Erduldung<br />
von Monotonie am Fliessband und<br />
Folgebereitschaft bei Anweisungen<br />
erwartet, heute Flexibilität und Selbständigkeit.<br />
Wieso sollte das einen<br />
zunehmenden Druck darstellen?<br />
Eben: weil Berechenbarkeit fehlt.<br />
Erwartungen und Anforderungen<br />
verändern sich, das war schon immer<br />
so. Zwischen 1950 und 1970 sind die<br />
meisten bäuerlichen Arbeitsplätze<br />
verschwunden und durch industrielle<br />
ersetzt worden. Stress bei der<br />
Arbeit gab es früher reichlich: Arbeiter<br />
litten unter schwerer körperlicher<br />
Belastung und den langen Arbeitszeiten.<br />
Wir idealisieren die Vergangenheit.<br />
Vati gehörte damals samstags<br />
noch dem Arbeitgeber, nicht der<br />
Familie.<br />
«Partnerschaftliche<br />
Erziehung ist eine<br />
gute Vorbereitung<br />
aufs Leben.»<br />
Heute sind Eltern dafür im Stress,<br />
weil sie alles allein schaffen müssen:<br />
Kinderbetreuung, Beruf, Haushalt. Das<br />
Los der heutigen Kleinfamilie?<br />
Dieser Topos wird überstrapaziert.<br />
Oft hört man dann noch die afrikanische<br />
Weisheit, dass es ein ganzes<br />
Dorf brauche, um ein Kind grosszuziehen.<br />
Oder den Hinweis, dass<br />
einem früher die Grossmutter zur<br />
Seite gestanden sei. Da werden das<br />
Dorf und die Grossfamilie idealisiert.<br />
Die meisten afrikanischen Dörfer<br />
sind keine Idyllen, und das Verhältnis<br />
zwischen den Generationen<br />
war früher oft angespannt. Die Mutter<br />
wünschte sich nichts sehnlicher,<br />
als von der bevormundenden Grossmutter<br />
in Ruhe gelassen zu werden.<br />
Gleichwohl boten feste Strukturen<br />
und verbindliche Werte auch Sicherheit.<br />
Heute ist alles offen. Birgt das<br />
neben vielen Vorteilen nicht auch die<br />
Gefahr, dass Orientierungslosigkeit<br />
uns überfordert?<br />
Was früher die Gesellschaft vorgab,<br />
dürfen oder müssen wir nun selbst<br />
herausfinden. Das erhöht zweifellos<br />
die Anforderungen an die Selbst <br />
organisierungs- und Selbststeuerungsfähigkeiten<br />
von Eltern und<br />
Kindern. Das ist psychische Arbeit<br />
und manchmal anstrengend. Es<br />
besteht das Risiko, dass manche<br />
Menschen diesem erhöhten Selbststeuerungsaufwand<br />
nicht gewachsen<br />
sind. Gerade jene, die nicht in einem<br />
verhandlungsorientierten Elternhaus<br />
aufgewachsen sind. Ein starrer<br />
Baum bricht im Wind, ein biegsamer<br />
nicht. Das macht doch deutlich, dass<br />
frühere «Sicherheiten» keine Leit <br />
linie für Erziehung mehr sein können.<br />
Die heute verbreitete partnerschaftliche<br />
oder demokratisierte<br />
Erziehung erachte ich dagegen als<br />
ganz gute Vorbereitung aufs Leben.<br />
Es heisst aber auch, sie führe zu verunsicherten<br />
Eltern.<br />
Sie mag mit manchen Verhaltensunsicherheiten<br />
verbunden sein; darüber,<br />
was nun erlaubt oder geboten<br />
ist. Unsicherheit kann aber auch<br />
produktiv sein, sie regt zum Nachdenken<br />
über unser Tun an. Bei all<br />
den Debatten über Verunsicherung,<br />
Überforderung und Druck drohen<br />
wir die eine historische Errungenschaft<br />
des Erziehungswandels aus<br />
den Augen zu verlieren: Sie besteht<br />
darin, dass wir die Gewalt aus dem<br />
Eltern-Kind-Verhältnis zurückgedrängt<br />
haben und kindbezogener<br />
erziehen. Allein dieser Vorteil wiegt<br />
alle eventuellen Nachteile auf.<br />
Zur Person<br />
Martin Dornes, 67, ist ein deutscher<br />
Soziologe, Psychologe und Psychotherapeut.<br />
Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen<br />
in den Bereichen Entwicklungspsychologie,<br />
Psychoanalyse, Sozialisationstheorie,<br />
Familienforschung, Eltern-Kind-Beziehung. Der<br />
Autor zahlreicher Sachbücher ist verheiratet<br />
und Vater eines erwachsenen Sohnes.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2017</strong>27