Wirtschaftszeitung_20022017
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LEBEN &WISSEN 27<br />
Frei durch die Luft fliegen: Schon zweimal<br />
hat sich der Hiltruper Hans Dietrich dieses<br />
Erlebnis gegönnt.<br />
Fotos: Tim Michutta<br />
Von wegen Ruhestand<br />
Der Hiltruper Hans Dietrich absolvierte mit 85 Jahren seinen zweiten Tandemsprung. „Ich suche immer<br />
wieder neue Herausforderungen und ruhe mich nicht auf früheren Erfolgen aus“, sagt er.<br />
Der 85.Geburtstag steht an. Während<br />
sich manche eine Kreuzfahrt,<br />
eine Tagesfahrt mit dem Bus oder<br />
einfach nur ein gemütliches Kaffeetrinken<br />
gönnen, springt Hans Dietrich<br />
aus Münster-Hiltrup aus einem<br />
Flugzeug. So ein Flirt mit der<br />
Schwerkraft ist ja auch viel aufregender<br />
als ein Kaffeekränzchen auf<br />
dem Boden der Tatsachen. Oder?<br />
Schmerzen imMeniskus? Egal! Diabetes?<br />
Egal? 85 Jahre alt? Egal! Und<br />
so springt Dietrich über seinen<br />
Schatten und aus 4000 Metern Höhe<br />
durch dieLuft. Dashat er auch schon<br />
zum 84. Geburtstag getan. Als Tandemsprung.<br />
Und es war Liebe auf<br />
den ersten Sprung. Eine Liebe, die<br />
süchtig machte. Deshalb tat er es<br />
jetzt zum85. Geburtstag wieder.Und<br />
widmete den Sprung seinem Urenkel.Die<br />
Fallhöhe ist unmissverständlich:4000Meter.Aus<br />
einem Flugzeug heraus<br />
über Sendenhorst. Zunächst<br />
über den Wolken, in<br />
ein nicht zu greifendes Nichts. Dort<br />
strahlt die Sonne in hellem Licht. „Das ist,<br />
als ob man neu geboren würde“,<br />
schwärmt Dietrich. Fest verbunden mit<br />
dem erfahrenen Tandem-Master Detlef<br />
Hater vomFallschirm-Sportclub Münster<br />
springt der 85-Jährige synchron in die<br />
Tiefe. Die Freifall-Geschwindigkeit ist rasant.<br />
Bei starkem Wind geht es urplötzlich<br />
mitten in ein dichtes Wolkenfeld hinein.<br />
„Das war verdammt kalt. Vor Frost<br />
brannte mein Gesicht“, berichtet Dietrich,<br />
der als ehemaliger Fremdenlegionär<br />
und Bergmann so einiges wegstecken<br />
kann. Eswar so kalt, dass seinem Tandem-Master<br />
mitten in der Luft sogar die<br />
Brille kaputt ging. Dietrich dachte derweil<br />
nur über die Kältenach: „Und überhaupt<br />
nicht darüber, was da unter mir<br />
ist.“<br />
Als es dem 85-Jährigen im Gesicht wärmer<br />
wurde, gaben die Wolken den Blick<br />
frei auf die Welt unter ihm. Wiesen, Äcker<br />
und Häuser im 360-Grad-Panorama:<br />
„Wir sausten nur noch hinunter. Mit 200<br />
Stundenkilometern der Erde entgegen.“<br />
In insgesamt 60 Sekunden. „Das sind<br />
aber gefühlte 30 Minuten“, sagt Dietrich.<br />
Ein Fallschirm-Tandemsprung mit freiem<br />
Fall raube einem völlig das Zeitgefühl.<br />
Und es kribbelt überall: „Das ist Adrenalin<br />
pur. Das brauche ich. Ein echtes Gefühl<br />
von grenzenloser Freiheit. Ich fühle<br />
mich wie ein Adler“, sagt der Hiltruper.<br />
„Deswegen mache ich es.“<br />
Unterwegs winkt er noch in die Kamera<br />
des mit abspringenden Fotografen Tim<br />
Michutta und versucht, ihm in der Luft<br />
die Hand zu reichen .Rund 50 Sekunden<br />
nach dem Sprung aus dem Flugzeug<br />
zieht sein Tandem-Master die Reißleine.<br />
Hans Dietrich gleitet am Fallschirm ruhig<br />
durch die Luft. Gut gelaunt betritt er<br />
unter dem Applaus seiner Familie und<br />
Freunde festen Boden.<br />
Beim Sprung dabei sind auch seine dunkelgelben<br />
„Glück“-Sportschuhe. Damit<br />
absolvierte der Halbwaise aus Niederschlesien<br />
schon rund 100Marathonläufe,<br />
wurde beim TuSHiltrup zum Kult-Läufer.<br />
So rannte erals 70-Jähriger amPersischen<br />
Golfbeim Dubai-Marathon mit als<br />
ginge esnur um den Hiltruper See. Und<br />
er bezwang auch die Sahara-Wüste. Mit<br />
Nylonstrümpfen als Schutz vor zu viel<br />
Sand in den Laufschuhen.<br />
In seinem Leben hat Dietrich so manche<br />
Abenteuer und Gefahren gemeistert. So<br />
überstand er als Kriegsgefangener in Indochina<br />
die bakterielle Ruhr. Was ist<br />
eigentlich sein Erfolgsgeheimnis? Der<br />
Hiltruper antwortet schnell und klar: „Ich<br />
habe mich nie auf früheren Erfolgen ausgeruht<br />
und suche immer neueHerausforderungen.<br />
Das hält fit. Auch weil ich mein<br />
Leben lang Sport mache.“ Mit 60 Jahren<br />
wagte ereinen Bungee-Sprung, mit 84<br />
den ersten Tandem-Fallschirmsprung.<br />
Geht da nicht irgendwann die Muffe?<br />
„Nein, ich habe gar keine Zeit, um Angst<br />
zu haben.“<br />
Peter Sauer<br />
Sekunden vor dem Absprung in das dichte Wolkenfeld. In diesem<br />
Moment hat die Maschine eine Höhe von 4000 Metern erreicht.