Albmagazin_Muensingen_2_2016
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Als dann die ersten hoch beladenen Erntewagen<br />
in die Städte fahren, werden spontane<br />
Freudenfeste gefeiert. Im ländlichen<br />
Raum werden zur Erinnerung an die große<br />
Not in den Dörfern oder auch an Wegkreuzungen<br />
auf freiem Feld Hungerlinden gepflanzt.<br />
Zur Erinnerung an die Hungersnot werden im Jahr 1817 an Wegkreuzungen Linden gepflanzt<br />
Gras, Rosskastanien, Sägemehl<br />
Dennoch steigen die Lebensmittelpreise<br />
ins Astronomische, zeitgenössische Aufzeichnungen<br />
sprechen von Preissteigerungen<br />
von bis zu 500 Prozent für Getreide,<br />
Brot oder Kartoffeln. Teilweise abenteuerlich<br />
anmutende Rezepte für Brotersatz aus<br />
gemahlenen Wurzeln und Rüben oder aus<br />
Mehl mit allerlei Streckmitteln wie Erbsen,<br />
Rosskastanien und Sägemehl kommen auf<br />
den Markt. Die Landbevölkerung versucht<br />
währenddessen, sich mit allem am Leben<br />
zu erhalten, was Wald und Feld noch hergeben.<br />
Von Suppen aus Gras, Kartoffeln<br />
und Klee wird berichtet, auch Hunde, Ratten<br />
und Mäuse werden verspeist.<br />
Die Hungerkrise setzt sich im Folgejahr<br />
fort. Um das schiere Überleben zu sichern,<br />
verkaufen die Bauern teilweise sogar ihre<br />
wenigen kleinen Felder, und dies zu jedem<br />
Preis, der geboten wird. Mancher große<br />
Grundbesitz in Württemberg hat in der<br />
Zeit seinen Ursprung. Angesichts der Nahrungsmittelpreise<br />
führt der Verkauf der<br />
meisten Güter aber schnell zu völliger Verarmung.<br />
In der Stadt Laichingen beträgt<br />
der Anteil der Armen im Frühjahr 1817<br />
rund 80 Prozent.<br />
Armen von der Alb und aus Oberschwaben,<br />
oft auch angelockt durch Werber, von Ulm<br />
aus auf der Donau in Richtung Russland.<br />
Rund 17 500 Württemberger wandern<br />
während der Krise 1816/1817 aus, etwa<br />
53 Prozent von ihnen nach Bessarabien,<br />
etliche auch weiter zum Kaukasus. Dort<br />
erhalten die Auswanderer weitgehende<br />
Freiheiten – verbunden mit der Erwartung,<br />
dass die Siedler helfen, den russischen<br />
Territorialanspruch auf diese Gebiete zu<br />
festigen.<br />
Die Wende zum Besseren zeichnet sich<br />
etwa zur Mitte des Jahres 1817 ab, als klar<br />
wird, dass eine gute Ernte zu erwarten ist.<br />
Frankensteins Geburt<br />
Auch in der Literatur hinterlässt diese<br />
Zeit ihre Spuren. So sitzen die englischen<br />
Schriftsteller Lord George Byron, John William<br />
Polidori, Percy Shelley und seine künftige<br />
Ehefrau Mary Wollstonecraft Godwin im<br />
Sommer 1816 in einer Villa am Genfer See<br />
und versuchen, sich ihren gemeinsamen<br />
Urlaub nicht durch Kälte und Dauerregen<br />
verderben zu lassen. Inspiriert von Gespenstererzählungen<br />
und den Naturereignissen<br />
ringsum treten sie mit Schauergeschichten<br />
in einen literarischen Wettstreit. Byron verarbeitet<br />
das Geschehen mit dunkler Poesie,<br />
Shelley schreibt „The Vampyre“, auch Polidori<br />
legt eine Vampir-Erzählung vor, Mary<br />
Wollstonecraft entwickelt die Geschichte<br />
von Frankenstein und seinem unglücklichen<br />
Monster. Es ist die Geburtszeit der<br />
modernen Horrorliteratur.<br />
Vulkanischer Feinstaub, der in der Atmosphäre<br />
treibt, ist noch viele Jahre später verantwortlich<br />
für außergewöhnlich prachtvolle<br />
Sonnenuntergänge in Rot-, Orange- und<br />
Grünschattierungen. Dies prägt die Landschaftsmalerei<br />
der Folgejahre und findet<br />
sich eindrücklich in den Werken etwa von<br />
Carl Spitzweg oder William Turner wieder.<br />
Die große Auswanderung<br />
Hunger, Armut und Ausweglosigkeit bewirken<br />
eine große Auswanderungswelle. Während<br />
die Menschen in den Einzugsgebieten<br />
des Neckars und des Rheins hauptsächlich<br />
nach Amerika auswandern, fahren die<br />
Eine weitere schwarze Wolkenwand kündigt neues Unheil an<br />
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