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LANGEOOG 2008 - Psychotherapeutenjournal

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Den Hauptteil des ersten Hessischen Heilberufetags<br />

bildeten die Vorträge von Prof.<br />

Dr. Dr. Eckard Nagel, Arzt und Philosoph<br />

sowie Geschäftsführender Direktor des<br />

Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften<br />

der Universität<br />

Bayreuth sowie von Dr. Ulrich Oesingmann,<br />

Präsident des Bundesverbandes<br />

der Freien Berufe.<br />

Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel:<br />

„Kontrolle ist gut, Vertrauen ist<br />

besser“<br />

Eckhard Nagel beschäftigte sich in seinem<br />

Vortrag, der vom Plenum mit großem Beifall<br />

aufgenommen wurde, mit der Verortung<br />

des Arztes im Kontext von Ökonomisierung,<br />

heilberuflichem Ethos und subjektiver Belastungserfahrung.<br />

Hierbei warf er einen differenzierten<br />

Blick auf Ökonomisierungsphänomene<br />

im Gesundheitssystem. Er sprach etwa<br />

Jürgen Hardt als Präsidenten der LPPKJP Hessen<br />

mit der Überlegung an, ob Wettbewerb<br />

als „Anreizsystem“ psychologisch betrachtet<br />

möglicherweise auch positive Aspekte aufweise.<br />

Er arbeitete in seinem Vortrag jedoch<br />

weiter heraus, dass die entscheidende Frage<br />

bei Reformen im Gesundheitswesen sei,<br />

welchen Stellenwert letztlich der Mensch<br />

hat: Wird er in der Arztpraxis als Patient oder<br />

Kunde behandelt? Stellt der Angestellte im<br />

Krankenhaus einen Mitarbeiter oder Humankapitel<br />

dar? Wird der Kollege von mir als<br />

Arzt oder Psychotherapeut auch als solcher<br />

angesehen oder eher als Konkurrent?<br />

Er verwies in diesem Zusammenhang auf<br />

einen bedeutsamen Unterschied zwischen<br />

einer christlich-jüdischen und einer angelsächsischen<br />

Geistestradition hin, der bis<br />

heute fundamental das Selbstverständnis<br />

der Heilberufe präge: Nämlich die für das<br />

christlich-jüdische Erbe charakteristische<br />

Hinwendung zum leidenden Menschen.<br />

Dieser Traditionsstrang habe – zusammen<br />

mit der innerhalb der Reformation und Aufklärung<br />

einhergehenden Fokussierung auf<br />

das Individuum – letztlich dazu geführt, dass<br />

Gesundheit ein „transzendentales Gut“, ein<br />

Menschenrecht, im Grundgesetz verankert<br />

wurde. Nagel machte auf eine mit dieser<br />

Tradition inkompatible, sehr problematischen<br />

Tendenz im aktuellen gesellschaftlichgesundheitspolitischen<br />

Diskurs aufmerksam:<br />

nämlich das Leid aus dem gesellschaftlichen<br />

Vokabular herauszudrängen.<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 1/<strong>2008</strong><br />

Diese Tendenz stelle für den mit dem Ethos<br />

der Hinwendung zum Menschen sozialisierten<br />

Arzt eine konflikthafte Belastung dar. Er<br />

stellte klar, dass das Heilen in erster Linie<br />

eine Beziehung sei. In Verbindung mit Beziehungsphänomen<br />

seien jedoch Kalküle, wie<br />

„Vertrauen ist gut Kontrolle ist besser“, wie<br />

sie etwa für die Qualitätssicherung in Produktionsprozessen<br />

typisch seien, kontraindiziert.<br />

Adäquater sei hier, diese Bauernweisheit<br />

umzudrehen, nämlich in eine Haltung: „Kontrolle<br />

ist gut, Vertrauen ist besser“.<br />

Dr. Ulrich Oesingmann: Keine<br />

„Discount-Mentalität“ und heilberufliche<br />

Dienstleistungen auf<br />

„Fastfood-Niveau“<br />

Ulrich Oesingmann machte in seinem<br />

Vortrag die gesamtgesellschaftliche Bedeutung<br />

der freien Berufe deutlich. Von 1992<br />

bis 2007 sei etwa ein stetiger Anstieg der<br />

Selbständigen innerhalb der freien Berufe<br />

zu verzeichnen, was für die wachsende<br />

Attraktivität dieser Erwerbs- und Berufsform<br />

spreche. Er verwies außerdem darauf, dass<br />

die freien Berufe 10% des gesamten Bruttoinlandsproduktes<br />

erwirtschafteten und<br />

der drittgrößte Ausbildungsplatzanbieter seien.<br />

Weiter führte er aus, dass das Selbstverständnis<br />

der freien Berufe sich immer noch<br />

an Idealen wie beispielsweise dem Hippokratischen<br />

Eid ausrichte und sich bei weitem<br />

nicht im Monetären erschöpfe, Er warnte<br />

deshalb vor einer „Vergewerblichung“. Eine<br />

„Discount-Mentalität“ und Dienstleistungen<br />

auf „Fastfood-Niveau“ könnten gerade die<br />

Heilberufe innerhalb der freien Berufe nicht<br />

wollen. Oesingmann verwies in diesem<br />

Zusammenhang auf besorgniserregende<br />

Entwicklungen in den Vereinigten Staaten,<br />

wo sogenannte „nurse practitioner“ in Supermärkten<br />

Patienten behandelten – und<br />

nur in Zweifels- und Ausnahmefällen ausgebildete<br />

Ärzte telefonisch zu Rate ziehen<br />

würden. Er rundete seinen Vortrag mit dem<br />

bekannten, programmatischen Zitat von<br />

Benjamin Franklin ab: „Wer die Freiheit aufgibt,<br />

um Sicherheit zu gewinnen, wird am<br />

Ende beides verlieren.“<br />

Abschlussdiskussion:<br />

„Sprechende Medizin“ darf<br />

nicht verschwinden<br />

In der abschließenden Podiums- und Plenumsdiskussion<br />

wurde auf den Missstand<br />

Hessen<br />

hingewiesen, dass „sprechende Medizin“ so<br />

gut wie nicht mehr bezahlt wird. Aktueller Anlass<br />

für die teils emotionalen und deutlichen<br />

Statements aus dem Plenum stellt der Beschluss<br />

dar, dass die EBM-Ziffern 35100 für<br />

die differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer<br />

Krankheitszustände und 35110<br />

für die verbale Intervention nicht mehr abgerechnet<br />

werden können. Dr. Michael Frank,<br />

Präsident der Hessischen Zahnärztekammer,<br />

nahm den Impuls aus dem Plenum auf<br />

und betonte, dass diese Veranstaltung des<br />

Hessischen Heilberufetags ja gerade die gesellschaftliche<br />

Diskussion bezüglich solcher<br />

Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem<br />

eröffnen möchte.<br />

Jürgen Hardt forderte in seinem entschiedenen<br />

und mit viel Applaus bedachten<br />

Statement die freien Heilberufe auf, politisch<br />

aktiv zu werden. Er plädierte zudem<br />

dafür, die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitssystem<br />

in gesamtgesellschaftlichen<br />

Entwicklungskontexten zu betrachten<br />

und bezog sich in diesem Zusammenhang<br />

auf den Sozialphilosophen Jürgen Habermas,<br />

der hellsichtig schon vor drei Dekaden<br />

vor der „Kolonialisierung der Lebenswelten“<br />

durch das „System“ warnte. Unter „System“<br />

fasst Habermas den bürokratischen Staat<br />

und den Markt zusammen. „Macht“ und<br />

„Geld“ sind im Kontext der Theorie von<br />

Habermas die Steuerungsmedien des „Systems“,<br />

die den Menschen eine von gemeinsamen<br />

kulturellen Werten und Normen<br />

zunehmend entbundene Handlungslogik<br />

aufzwingen. Diese Kolonialisierung habe<br />

das Gesundheitssystem erfasst, ja verätzt,<br />

so Hardt. Er hob weiter hervor, dass die<br />

fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitssystems<br />

nicht nur im Widerspruch<br />

zu den ethischen Prinzipien des Heilens<br />

der freien Heilberufe stehe; nein, es gehe<br />

vielmehr um einen „Widerstreit“! Und zwar<br />

um einen Widerstreit im Sinne des französischen<br />

Philosophen Jean-François Lyotard,<br />

der damit eine unaufhebbare Differenz<br />

im Diskurs der Lebens- und Denkformen<br />

bezeichnete. Diese sollten aber eben, wie<br />

Hardt unterstrich, nicht einfach nur politisch<br />

entschieden, sondern gesellschaftlich ausgehandelt<br />

werden – wofür dieser Heilberufetag<br />

als ein Anstoß fungieren solle.<br />

Auf dem Podium setzte sich der Patientenvertreter<br />

Jürgen Matzat, Psychologe und<br />

65<br />

Hessen

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