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<strong>Piller</strong> innergedankliche respektive unausgesprochene<br />
„Büroregeln“, die besagen: Im Gegenüber den feinsinnigen<br />
Privatmenschen vermuten, Um die eigene Ersetzbarkeit<br />
wissen, Verkatert nichts erzählen oder Kollegialen Berührungen<br />
entgehen. Solche selbstauferlegten Regeln wirken<br />
in Kombination mit der Schaffung kleiner privater<br />
Nischen (Leeres Büroversteck) wie Überlebensstrategien<br />
gegen Monotonie und Risiken im Arbeitsalltag. Skizzen<br />
des Büroumfeldes in sparsamer Ausführung machen auf<br />
skurrile Details wie verwelkende Zimmerpflanzen, den<br />
obligatorischen Schokoladenweihnachtsmann oder auf<br />
das neben dem Monitor sitzende Teddy-Maskottchen aufmerksam.<br />
Gedanken über zwischenmenschliche Beziehungen und<br />
über Leben und Handeln des Chefs (Abb. 6: Fluch und<br />
Beschimpfung des Chefs – unkenntlich gemacht), über stereotype<br />
Verhaltensweisen von Kollegen (die in der Vorstellung<br />
auch außerhalb des Arbeitsplatzes stattfinden),<br />
über Tages- und Arbeitsabläufe, beengende Raumsituationen<br />
und billiges Mobiliar ergänzen das Portrait einer<br />
Büro-Alltagskultur. Nicht zuletzt entwickeln sich daraus<br />
flüchtig skizzierte Phantasien wie na, Hälfte des Lebens,<br />
trunken vor Küssen? (Abb. 4–7), Gedankenspiele über die<br />
arme Wurstverkäuferin, die den ganzen Tag kein Tageslicht<br />
sieht, ich aber sehe die Topfpflanze im Innenhof! oder ein<br />
Tagtraum vom eigenen Büro auf dem Rückweg vom Klo.<br />
Zudem verweisen in die Tischkante geritzte Erinnerungen<br />
(Fuck Kapitalism) an die political correctness von vor fünfzehn<br />
Jahren und Anliegen wie der in kafkaeske Textform<br />
gebrachte Versuch um eine Gehaltserhöhung oder der<br />
Kommentar Ich arbeite bis ich es mir leisten kann zu gehen<br />
auf <strong>Piller</strong>s persönliche Auseinandersetzung mit seiner zu<br />
diesem Zeitpunkt bestehenden Doppelexistenz zwischen<br />
Künstler- und Angestelltendasein.<br />
All diese Bekundungen erwachsen aus der Monotonie<br />
des alltäglichen Tuns heraus. Dadurch, dass sie in <strong>Piller</strong>s<br />
Notizen gesammelt und auf das Einzelne konzentriert<br />
wahrgenommen werden können, ergibt sich ein facettenreiches<br />
Porträt unserer Alltagskultur. Dabei deckt<br />
<strong>Peter</strong> <strong>Piller</strong> wohl auf, aber wertet oder verurteilt nicht,<br />
erfasst die Dinge vielmehr gänzlich unaufgeregt und vor<br />
allem humorvoll. Unweigerlich lösen seine Arbeiten ein<br />
Schmunzeln aus, wenn wieder einmal bewusst wird, wieviel<br />
Komik im Alltag und wie der Teufel im Detail stecken.<br />
Um mit Odo Marquard zu sprechen: „Komisch ist und<br />
zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige<br />
und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden<br />
lässt.“ 8 Beides findet sich in den Bürozeichnungen.<br />
<strong>Peter</strong> <strong>Piller</strong><br />
Es sind Einblicke in Bräuche und Verhaltensweisen, die<br />
spezifisch deutsch anmuten, aber gerade in der Bewusstmachung<br />
der Details allgemeinmenschliches Verhalten<br />
vielerorts kennzeichnen. Bei intensiver Betrachtung der<br />
Blätter ergeben sich immer neue Zusammenhänge, ohne<br />
dass dies von <strong>Piller</strong> vorgegeben wird. Subtil werden Veränderungen<br />
einer bestehenden Struktur erkennbar, die<br />
die „zehn Jahre später ängstlich gewordenen Kollegen“<br />
zu spüren bekommen. Überzeitliche Erzählstrukturen<br />
entstehen, hierbei bezieht der Betrachter seine eigenen<br />
Vorstellungen, Erfahrungen und auch kulturellen<br />
Hintergründe ein und ergänzt die lakonischen, augenblickshaften<br />
Protokolle um die je eigene Geschichte.<br />
Das Auf-sich-Zurückgeworfen-Sein eröffnet prekäre wie<br />
humorvolle Momente für eine kritische Reflexion des Alltäglichen<br />
und Banalen.<br />
Künstlerische Feldforschung<br />
Neben der analysierenden Beschäftigung mit den Bildwelten<br />
der Massenmedien und den Alltagsbeobachtungen<br />
im unmittelbaren Umfeld verschafft sich <strong>Piller</strong> durch<br />
mehrwöchige „Peripheriewanderungen“ einen ästhetisch<br />
forschenden Zugang zur Lebenswelt. Auch hierbei<br />
sind Monotonie und verspürte Langeweile stimulierende<br />
Merkmale für seine Entdeckungen. „Plätze der absoluten<br />
Unwichtigkeit“ (P.P.) werden zur Beobachtungsstation,<br />
dort erfolgen Feldforschung und Begehung eines Terrains<br />
mit Rückbesinnung auf den Menschen als Spezies und<br />
Individuum. Diese Vorgehensweise ist im wahrsten Sinne<br />
des Wortes ein Über-den-Rand-Hinausblicken und führte<br />
den Künstler bislang um Hamburg (1993 und 2001), das<br />
Ruhrgebiet (1996) und Bonn (2006) herum. 9 Hierbei entstanden<br />
Zeichnungen, schriftliche Notizen und Fotografien,<br />
womit er sein erkundendes Erfahren einer Welt- und<br />
Selbstaneignung wie in einem Tagebuch dokumentiert<br />
(Abb. 8 a+b). Die Spezifik der unterschiedlichen Darstellungsformen<br />
unterstreicht die Wirkung des jeweils visuell<br />
abzubildenden oder verbal zu beschreibenden Eindrucks.<br />
Die flüchtig skizzierten Zeichnungen kartieren territoriale<br />
Besonderheiten aus unterschiedlichen Perspektiven,<br />
umreißen vage die Grenzen der Schauplätze, umrahmen<br />
oder zeigen die Konturlinien der dort vorhandenen Dinge.<br />
In den vom Tonband abgenommenen schriftlichen Protokollen<br />
werden zunächst Ort, Bewegungsraum und zurückgelegte<br />
Distanz in Kilometerangaben exakt festgehalten.<br />
Daraus ergibt sich ein zeitlicher Rahmen, innerhalb dessen<br />
Detailbeobachtungen von Begebenheiten und Begegnungen<br />
sowie Gefühle, Gedanken und Atmosphärisches<br />
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