Corinne Wasmuht - Zeit Kunstverlag

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Straßenpflaster, farbig leuchtende Streifen, im oberen Feld technoide Formen. Aus dem Gewebe der Bildebenen taucht ein gigantischer Fingerabdruck auf, sowie Fragmente wie Hosen ohne Körper oder ein Schuh – Bekleidung, die die Bewegung eines Körpers suggerieren, ohne ihn zu zeigen. Dieses Bild ließe sich als Beitrag zum Datenschutz lesen, als Kritik des „gläsernen Menschen“, wäre da nicht der rätselhafte Titel HGO-R.O. Der erste Teil des Kürzels bezieht sich auf Héctor Germán Oesterheld, einen argentinischen Storyboard-Autor, der 1958 mit dem Science-Fiction-Comic „El Eternauta“ berühmt wurde. Die Geschichte handelt von der Begegnung des Autors mit einem Zeitreisenden, der in die Vergangenheit aufbricht, um die Menschen vor kommenden Katastrophen zu warnen. Als Mitglied einer linken Guerilla-Gruppe verschwindet der berühmte Schriftsteller 1976 in den Gefängnissen der Militär-Junta. Corinne Wasmuht widmet Oesterheld ein Bild, das über die historischen Vorfälle in Argentinien hinaus, noch von einer allgemeineren Form der Abwesenheit erzählt, von der zunehmenden Abwesenheit des Individuellen in einer komplexen modernen Welt. Dargestellt ist absolute Geschwindigkeit als Wahnzustand. Das Roadmovie hat keinen Anfang und kein Ende. Endlos erscheint der Abgrund, unter dem Asphalt liegt die Milchstraße, öffnen sich die endlosen Weiten unserer Galaxie. Raum und Zeit sind außer Kraft gesetzt in den Bildräumen von Corinne Wasmuht, Phantastik verschmilzt mit Hyperrealismus und Sampling. In den neueren Bildern der Künstlerin nähert sich das Mobiliar unserer Welt der Morphologie eines zerfressenen Schweißtuchs an. In ihrem langgezogenen Cinemascope-Format Barrier (Abb. 4) aus dem Jahre 2008 kontrastiert der hohe Grad der Auflösung des Realen mit dem Titel; „Barriere, Schranke“ meint eine Tür, die für so solide gehalten wird, dass sie den Eintritt verwehren kann. In der Wissenschaftsgeschichte „Die Ordnung der Dinge“ von Michel Foucault finden wir folgende Sätze über ein hermetisches System wie China, das sich gegen Einflüsse lange abgeschottet hat: „Für unser imaginäres System ist die chinesische Kultur (…) die am meisten hierarchisierte, die taubste gegenüber den Ereignissen der Zeit, (…). Wir denken an sie als eine Zivilisation von Deichen und Barrieren unter dem ewigen Gesicht des Himmels.“ 18 Womög- Corinne Wasmuht lich hat Corinne Wasmuht Bilder der „Verbotenen Stadt“ in Peking verarbeitet. Doch wäre es sicherlich zu kurz gegriffen, in Barrier einen Kommentar zum Wandel in der chinesischen Gesellschaft zu lesen. Viele Assoziationen sind möglich: Von der Hinfälligkeit privilegierter Refugien bis zum furchtbaren Ascheregen, der dem Atompilz folgt. Dem Betrachter steht es frei, die Gatter imaginär zu durchschreiten oder in die Tiefe zu blicken, wo das Universum aufscheint und die Bedeutung der Erde relativiert. Zeitreisende Die phantastische Literatur Südamerikas ist nicht zu verwechseln mit dem Ausschalten der Vernunft durch Drogen oder der „écriture automatique“, wie es die Surrealisten praktizierten. Der argentinische Dichter Luis Jorge Borges ist an Phänomenen wie der Inversion der Zeit interessiert, „ein Zustand, in dem wir uns der Zukunft erinnerten, von der Vergangenheit hingegen nichts wüssten oder sie notdürftig vorausahnten.“ 19 Oesterheld, der in den 1950er und 1960er Jahren zum Goldenen Zeitalter des Comic und der „Graphic Novel“ in Argentinien beiträgt, benutzt die Figur des Zeitreisenden, um auf Gefahren der Zukunft hinzuweisen. Inwiefern die vielfältig und relativ erlebte Zeit, wie die Literatur sie spiegelt, auch physikalisch nachweisbaren Raum-Zeit-Verhältnissen entspricht, darüber sind sich noch nicht einmal die Fachleute einig. Fakt ist, dass für Philosophen wie Physiker „die Zeit“ auch eine Kategorie des menschlichen Geistes ist. Die Malerei ist nicht nur ein geeignetes Medium, um die Grenzen der Gattung immer wieder selbst zu sprengen, sondern auch die Grenzen des Unvorstellbaren. Das Objektiv kann hyperrealistisch scharf gestellt werden, wir können die Unschärfe nutzen, das Bild wie ein Kaleidoskop aufsplitten oder Dinge verfremden. Den perspektivischen Tiefenraum in eine unendliche Schleife verwandeln können nur wenige. Corinne Wasmuht ist Expertin auf diesem Gebiet. Sie nutzt dabei nicht unmittelbar die Mittel der Fotografie oder des Films, um solche Effekte zu erreichen, sondern erforscht diese Räume über reproduzierte Medien mit den Mitteln der Malerei. Dabei gerät sie in die Kammern der Zwischenreiche, in denen wir wohnen, ohne es wahrhaben zu wollen. Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Realität sind in ihren Tafeln ineinan- 7
der verwoben wie die unterschiedlichen Fasern in einem feingesponnenen Garn. Science Fiction und die phantastische Literatur Südamerikas lassen sich als unsichtbare Matrix dieser Malerei denken. Corinne Wasmuht findet Bilder von dem, was uns permanent aus den Händen gleitet, Standbilder einer Reise nach innen als Spiegel äußerer Erfahrungen. Für Borges sind surreale und reale Erfahrungen nicht unterscheidbar. Die äußere, die historische, die transzendente Wirklichkeit versteht er als chaotisches Material, dessen sich der Geist bedient, um seine Gedankengebäude zu errichten. Traumbilder sind das Ergebnis solcher Transiträume. „Er begriff, dass die Aufgabe, den zusammenhanglosen und schwindelerregenden Stoff, aus dem die Träume sind, zu formen, die schwierigste ist, die ein Mann in Angriff nehmen kann, wenn er auch alle Rätsel der höheren und niederen Ordnung einschlösse: viel schwieriger als aus Sand ein Seil zu flechten und den antlitzlosen Wind in eine Münze zu prägen.“ 20 Carmela Thiele studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie, geboren 1962, arbeitet seit 1987 als Journalistin und Autorin. Sie hat zahlreiche Katalogbeiträge und Künstler- Monografien für das Kritische Lexikon der Gegenwartskunst verfasst. Letzte Buchveröffentlichungen: Schnellkurs Skulptur, Köln 1995, Neuaufl. 2008; Intellektuelles Petting, Georg Herold im Kontext der frühen 1980er Jahre, in: Georg Herold, What a life, Ausst.-Kat. Kunsthalle Baden-Baden (u.a.) 2005, Schnellkurs Zeichnung, Köln 2006. 8 Anmerkungen 1 Corinne Wasmuht im Gespräch mit der Autorin, November 2008 2 Veit Loers, Orbis tertius – Zu den Bildwelten von Corinne Wasmuht 2003-2004, in: Corinne Wasmuht, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, 2006, S. 57-61 3 Ebenda 4 Corinne Wasmuht im Gespräch mit Michael Krajewski, in: Kunst-Bulletin, Nr. 4, 03, S. 36-37 5 Ebenda 6 Corinne Wasmuht im Gespräch mit der Autorin, Januar 2009 7 Corinne Wasmuht: Ich bin längst balsamterpentinsüchtig, Ein Gespräch von Sven Drühl, in: Kunstforum International, Bd. 157, November/Dezember 2001, S. 239-247 8 Abbildung in: ars viva, 1996/97, Malerei, Ausst.-Kat. BDI, Köln 1996, S. 18 f. 9 Thomas Wagner, Gemusterte Bilder gemusterter Kröten, in: FAZ, 3.1.2003, Nr. 255, S. 38 10 Martin Engler, Corinne Wasmuht – Von Motiven und Räumen, in: Corinne Wasmuht, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, 2006, S. 5 11 Das Bild „Astronauten“ existiert in seiner ursprünglichen Farbigkeit nicht mehr. Es wurde im Juli 2003 während eines Brandes im Hamburger Bahnhof beschädigt. Trotz der sorgfältigen Restaurierung konnte der Originalzustand nicht wiederhergestellt werden. 12 Veit Loers, CTULHUS RUF, Vom New Age zum Poltergeist, in: Psychonauten, Kunst in Ekstase (hrsg. v. Veit Loers), in: Jahresring 55, Jahrbuch für Moderne Kunst, 2008, S. 12-35 13 Corinne Wasmuht im Gespräch mit der Autorin, November 2008 14 Vgl. Anm. 2, S. 58 15 Elsbeth Wiemann, Die Weltlandschaft, in: Die Entdeckung der Landschaft, Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, 2005, S. 22 16 Vgl. Zdenek Felix, Projektionen und Visionen - Zu den neuen Bildern von Corinne Wasmuht, in: Ausst.-Kat. Corinne Wasmuht, Friedrich Petzel Gallery, New York, 2008, S. 26f. 17 Zitiert nach: Susanne Titz, Picture Generation – Corinne Wasmuht und die anderen, in: Corinne Wasmuht, Malerei (hrsg. v. Matthias Winzen), Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 2003, S. 45 18 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1990, S.21 19 Jorge Luis Borges, Die Untersuchung des Werks von Herbert Quain, in: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, Der Erzählungen erster Teil, München 2000, S. 47 20 Jorge Luis Borges, Die kreisförmigen Ruinen, in: Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke, Der Erzählungen erster Teil, München 2000, S. 132 Fotohinweis Abb. 1 Achim Kukulies, Düsseldorf Abb. 2, 12, 13 Nic Tenwiggenhorn, Berlin Abb. 3, 4 Stefanie Seufert, Berlin Abb. 5–9 Corinne Wasmuht Abb. 10 Heinz Pelz, Karlsruhe Abb. 11 Jens Ziehe, Berlin Abb. 14 Günter Lepkowski, Berlin 5 Collage aus dem Ordner „Haare“, 1987-1999 29,7 x 21 cm 6 Collage aus dem Ordner „Es geht Alles“, 1987-1999 29,7 x 21 cm 7 Collage aus dem Ordner „Ornamente“, 1987-1999 29,7 x 21 cm 8 Collage aus dem Ordner „Kosmos“, 1987-1999 29,7 x 21 cm
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Seite 3 und 4: Aus Sand ein Seil flechten Carmela
Seite 5 und 6: Landschaft aus schematischen Darste
Seite 7: Es ergeben sich aber noch andere Di
Seite 11 und 12: KÜNSTLER KRITISCHES LEXIKON DER GE
Seite 13 und 14: Corinne Wasmuht [ 12 Bibliografie 1
Seite 15 und 16: 3 4
Seite 17 und 18: 10 11
Seite 19 und 20: 13 Menschen im Kunstlicht, 1999 Öl

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