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Wo das Chaos die Ordnung ist - Literaturmachen

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Z e i t u n g f ü r r e P O r t A g e n<br />

Zum frühstück Sauerkrautsaft<br />

Eine ganz besondere Spielart der Reportage <strong>ist</strong><br />

der so genannte Selbstversuch. Ein Reporter begibt<br />

sich dabei me<strong>ist</strong> in eine mehr oder minder<br />

unangenehme oder gefährliche Situation und<br />

hält seine Erlebnisse in einem Text fest. So hat<br />

beispielsweise ein Reporter des SZ-Magazins<br />

während des letzten Oktoberfestes jeden Tag<br />

an der immergleichen Stelle im Bierzelt gesessen<br />

und dabei höchst skurrile Beobachtungen<br />

und Bekanntschaften gemacht. Der Schauspieler<br />

und Ex-MTV-Moderator Chr<strong>ist</strong>ian Ulmen<br />

hat sich für <strong>das</strong>selbe Magazin ein einwöchiges<br />

Schweigegelübde auferlegt.<br />

Die Reihe solcher Experimente ließe sich fortsetzen.<br />

Wir tun <strong>die</strong>s. Denn einige der Schüle-<br />

Das Holzschild, <strong>das</strong> am Rande der Heilbronner<br />

Straße, gegenüber der Haltestelle Eckartshaldenweg<br />

zwischen giftgrünen Sträuchern hervorlugt,<br />

fällt kaum auf. Die Autofahrer sind zu<br />

schnell, um <strong>die</strong> violetten Buchstaben auf blätternder<br />

Farbe wahrzunehmen, <strong>die</strong> Konzerte,<br />

rinnen und Schüler der Projektklasse 11b haben<br />

sich <strong>die</strong>ser Form der Reportage angenommen.<br />

Sie haben sich für einen Tag in den Rollstuhl<br />

gesetzt, auf vegane Ernährung umgestellt oder<br />

sich einem einwöchigen Heilfasten unterzogen,<br />

inklusive morgendlichem Sauerkrautsaft-<br />

Trinken. Und zwar aus dem wichtigsten Beweggrund,<br />

der einen Reporter antreibt: Neugierde.<br />

Doch Neugierde kann auch an Orte führen, <strong>die</strong><br />

fernab solcher Selbstkasteiung liegen. Zu den<br />

Stuttgarter Wagenhallen zum Beispiel, <strong>die</strong> sich<br />

in den letzten Jahren zu einem subkulturellen<br />

Zentrum der Stadt gemausert haben. Oder an<br />

jene zahlreichen Stellen, an denen silberfarbene<br />

Leihfahrräder auf ihre Nutzer warten. Das<br />

Themenspektrum der Reportagen <strong>ist</strong> auch in<br />

<strong>die</strong>sem Jahr sehr breit gefächert. Die Schüle-<br />

Biergartenabende im Sommer oder kleinere<br />

Auftritte ankündigen. Die Straßenbahninsassen<br />

sind me<strong>ist</strong>ens zu weit entfernt und <strong>die</strong> Passanten<br />

bestehen größtenteils aus Mitarbeitern<br />

der Versicherung gleich um <strong>die</strong> Ecke, <strong>die</strong> entweder<br />

schon im Morgengrauen mit verschlafenen<br />

n- o 03<br />

unterricht im Dialog – Literaturhaus Stuttgart und eberhard-Ludwigs-gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009<br />

Carla Schürjann<br />

<strong>Wo</strong> <strong>das</strong> <strong>Chaos</strong> <strong>die</strong> <strong>Ordnung</strong> <strong>ist</strong><br />

Eine Begegnung mit den Wagenhallen des Stuttgarter Nordareals.<br />

Die Wagenhallen bieten den Künstlern viel Platz für ausgefallene Projekte.<br />

rinnen und Schüler haben sich <strong>die</strong>se Themen<br />

selbst ausgesucht, selbstständig recherchiert<br />

und umgesetzt.<br />

Unser Dank gilt allen Einrichtungen, Institutionen<br />

und Privatpersonen, <strong>die</strong> sich als Interview-<br />

partner zur Verfügung gestellt und einen Blick<br />

hinter ihre Kulissen gestattet haben. Besonders<br />

hervorheben möchten wir an <strong>die</strong>ser Stelle den<br />

Radiosender bigFM. Zum Ende des Schuljahres<br />

haben wir gemeinsam <strong>das</strong> Studio und <strong>die</strong> Redaktion<br />

von bigFM besichtigt und interessante<br />

und kurzweilige Einblicke in <strong>die</strong> Arbeit eines<br />

Radiosenders erhalten.<br />

Jetzt wünschen wir viel Spaß beim Blättern<br />

und Lesen!<br />

Katharina Dargan (Lehrerin)<br />

und Tilman Rau (Dozent)<br />

Gesichtern zur Arbeit eilen, oder aber sich zielstrebig<br />

bei Abenddämmerung zurück nach Hause<br />

begeben.<br />

Wer <strong>das</strong> Schild mit all seinen versteckten Hinweisen<br />

und Informationen wahrnimmt, <strong>die</strong><br />

Treppen und den mit Kies bestreuten Weg hinab<br />

läuft, der trifft auf keinen <strong>die</strong>ser Menschen.<br />

Denn hier scheint der Alltag jegliche Bedeutung<br />

zu verlieren. Am besten, man lässt ihn auf<br />

der Straße zurück und versucht gar nicht erst,<br />

ihn mit <strong>die</strong>sem Ort bekannt zu machen. Vielmehr<br />

trifft man auf ein Sammelsurium zusammengetragener<br />

und neu verwerteter Dinge, <strong>die</strong><br />

kreuz und quer verteilt ihren Platz einnehmen.<br />

Hier <strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>Chaos</strong> <strong>die</strong> <strong>Ordnung</strong>. Und inmitten<br />

<strong>die</strong>ses <strong>Chaos</strong> tauchen <strong>die</strong> altbekannten Wagenhallen<br />

des Nordbahnhof-Areals auf; <strong>die</strong> großen<br />

Gebäude aus roten Backsteinen und den spitzen<br />

Glasdachplatten, <strong>die</strong> einen an <strong>die</strong> Zeit der<br />

Industrialisierung erinnern. Das sind sie also,<br />

<strong>die</strong> Wagenhallen, <strong>die</strong> schon so viele Verwandlungen<br />

erlebten und deren Zukunft und Bedeutung<br />

für <strong>die</strong> kommende Zeit noch in den Sternen<br />

steht.<br />

Früher hatten <strong>die</strong> Wagenhallen eine ganz andere<br />

Bedeutung als heute: Sie wurden zum<br />

Unterstellen von Loks der Königlich Württem-<br />

bergischen Eisenbahn genutzt. Während des<br />

Krieges wurden in ihnen Flugzeuge repariert<br />

und Jahre später, nach einer Modernisierung,<br />

wurden dort <strong>die</strong> Busse des Regionalverkehrs<br />

der SSB gewartet. Irgendwann standen sie<br />

dann leer, <strong>die</strong> Hallen, bis sie von einer handvoll<br />

Künstler neu entdeckt wurden.<br />

Fortsetzung auf Seite 2


Seite 2 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 3<br />

Fortsetzung von Seite 1<br />

Diese Entdeckung war für jene Künstler <strong>die</strong><br />

große Hoffnung auf <strong>die</strong> Möglichkeit, ihr Leben<br />

in ähnlicher Weise weiterleben und ihren Beruf<br />

weiterführen zu können. Denn ihre Ateliers<br />

und <strong>Wo</strong>hnungen in den alten Posthäusern am<br />

hinteren Ende des Nordbahnhofviertels sollten<br />

Opfer geplanter Bauaufträge werden: den Kunstschaffenden<br />

drohte der Rauswurf.<br />

Da kam <strong>die</strong> Neuentdeckung der ungenutzten<br />

Industriefläche wie gerufen. Es gründete sich<br />

eine Initiative von 17 Architekten und Künstlern,<br />

<strong>die</strong> sich bei der Stadt für <strong>die</strong> Nutzung jener<br />

Fläche bewarb. Nachdem der erste Versuch<br />

mangels eines geeigneten, finanzkräftigen<br />

Konzepts scheiterte, schaltete sich ein gewisser<br />

Jürgen Karle, Schrott- und Metallhändler des<br />

inneren Nordbahnhof-Areals, ein. Er brauchte<br />

einerseits Lagerfläche für seine Schätze – damit<br />

verbunden auch jemanden, der darauf aufpasste;<br />

andererseits konnte er nun <strong>die</strong> restliche<br />

Fläche an eben <strong>die</strong>se Künstler vermieten. Bald<br />

wurde <strong>die</strong> Vereinigung offiziell von der Stadt<br />

anerkannt und der Kunstverein „Wagenhallen<br />

e.V.“ ins Leben gerufen. Das alles geschah im<br />

Frühling des Jahres 2004.<br />

Durch <strong>die</strong>se neue Vereinigung von Künstlern<br />

entstand nach und nach eine neue Kunstszene<br />

in Stuttgart, deren Bedeutung und Vielfalt in<br />

den letzten Jahren immer weiter zugenommen<br />

hat. Die Hallen <strong>die</strong>nen längst nicht mehr nur<br />

als Nutzfläche im Sinne von Ateliers und Aufbewahrung,<br />

sondern werden ganz konkret als<br />

Schauplätze vieler Inszenierungen, Konzerte,<br />

oder anderer Auftritte genutzt. Neben Ausstellungen<br />

finden auch Tango- und Theaterabende<br />

in den Räumen statt. Kleine Bars für Sommerabende<br />

und Sport-Spiele, sowie Theateraufführungen<br />

im Freien sorgen für mehr Publikum.<br />

Auch <strong>die</strong> offiziellen Kulturinstitutionen haben<br />

den Charme und <strong>das</strong> Potenzial des Geländes<br />

entdeckt: Räume werden vermietet, Inszenierungen<br />

in Auftrag gegeben; seit einigen Jahren<br />

wirken <strong>die</strong> Künstler der Wagenhallen auch<br />

an Kulturprojekten wie der „Langen Nacht der<br />

Museen“ mit.<br />

Künstler wie Stefan Bonbaci (44) und Chr<strong>ist</strong>of<br />

„Paper“ Blattmacher (36). Stefan absolvierte<br />

<strong>das</strong> Gymnasium und ging danach zur Staatlichen<br />

Akademie der Bildenden Künste auf der<br />

Weißenhofsiedlung in Stuttgart-Nord. Nach Beendigung<br />

seines Studiums entdeckte auch er<br />

iMPreSSuM<br />

Bulletin <strong>ist</strong> der aktuelle Werkstattbericht der<br />

Werkstatt für Reportage am Eberhard-Ludwigs-<br />

Gymnasium Stuttgart. Das Gesamtprojekt<br />

„Unterricht im Dialog – Schreibwerkstätten<br />

im Deutschunterricht“ wird vom Literaturhaus<br />

Stuttgart in Kooperation mit dem Landesin-<br />

stitut für Schulentwicklung und den Seminar-<br />

einrichtungen für Lehrerinnen und Lehrer in<br />

Baden-Württemberg durchgeführt.<br />

Auflage 750 Exemplare.<br />

<strong>die</strong> Wagenhallen für sich und richtete sich dort<br />

ein Atelier ein. Neben seinen eigenen Kreationen<br />

hilft er bei der Verwirklichung von Inszenierungen<br />

anderer Künstler mit. Nun mag sich<br />

<strong>die</strong> Frage stellen, ob <strong>das</strong> denn zum Leben reiche.<br />

Diese Frage muss er mit Nein beantworten.<br />

Seit einigen Jahren unterrichtet er Kunst und<br />

Kunstgeschichte an verschiedenen Schulen und<br />

an der Akademie am Killesberg. Klar spiele <strong>das</strong><br />

Geld eine Rolle in seinem Leben, meint er, jedoch<br />

eine ganz andere als vielleicht für einen<br />

„Normalbürger“: „Ohne Geld komme ich nicht<br />

an meine Materialien. Und wie soll ich meine<br />

Ideen verwirklichen, ohne Finanzierung?“,<br />

fragt er und reibt sich <strong>die</strong> schmutzigen Hände.<br />

Sein Gesicht <strong>ist</strong> gezeichnet von tiefen Falten<br />

und seine Augen sehen müde aus. Er <strong>ist</strong> gerade<br />

dabei, seinem Freund oder Kollegen zu helfen –<br />

<strong>die</strong>se Unterscheidung scheint es hier nicht zu<br />

geben, denn hier kennt jeder jeden, und wer<br />

Hilfe braucht, dem wird geholfen.<br />

Seit vier Stunden versuchen <strong>die</strong> beiden, eine<br />

Installation für einen Tanzauftritt der etwas<br />

anderen Art aufzubauen. Die Tanzperfor-<br />

Der riesige Rock <strong>die</strong>nt als Dekoration für <strong>die</strong><br />

Tanzperformance „Umgestülpt“<br />

Dozent – Tilman Rau<br />

Verantwortliche Lehrerin – Katharina Dargan<br />

redaktion <strong>die</strong>ser Ausgabe<br />

Tilman Rau und Katharina Dargan<br />

Layout – Jochen Starz – starz engineering<br />

Copyright – Die Rechte für <strong>die</strong> einzelnen<br />

Beiträge (Text und Bild) liegen bei den<br />

Autorinnen und Autoren, für <strong>die</strong> Gesamtausgabe<br />

beim Literaturhaus Stuttgart.<br />

Die Fotos wurden, wenn nicht anders benannt,<br />

von den Autorinnen und Autoren gemacht.<br />

mance „Umgestülpt“ soll hier nächste <strong>Wo</strong>che<br />

stattfinden und wie immer läuft es nicht nach<br />

Plan. „Hier <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Kunst der Improvisation gefragt“,<br />

erklärt Stefan und schaut nachdenklich<br />

auf den weißen Rock aus Fallschirmleinen<br />

hinab. Die Aufgabe <strong>ist</strong> es, <strong>die</strong>sen riesigen<br />

Rock an <strong>die</strong> Decke der Halle zu befördern, so<strong>das</strong>s<br />

es später aussieht, als schwebe ein Zelt<br />

in der Luft. Der Rock <strong>ist</strong> an dem einen Ende<br />

mit einem Strick befestigt, der amateurhaft<br />

über ein Rad an der Decke gespannt wurde.<br />

Improvisation <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Spezialität von Chr<strong>ist</strong>of<br />

„Paper“ Blattmacher, der eigentlich Techniker<br />

im Bereich des Filmbaus <strong>ist</strong>. „Paper <strong>ist</strong> bekannt<br />

für seine Spezialeffekte“, witzelt Stefan und<br />

klopft seinem Freund auf <strong>die</strong> Schulter. Dieser<br />

kniet auf dem Boden und bastelt an dem Reifen<br />

des Rocks herum. Seine Zunge schiebt sich über<br />

<strong>die</strong> Lippen, der Mund <strong>ist</strong> leicht geöffnet – in<br />

<strong>die</strong>ser Form bleiben seine Gesichtszüge, bis „Paper“<br />

<strong>die</strong> Lösung für sein Problem gefunden hat,<br />

dann entspannt es sich wieder. Er fährt sich mit<br />

der Hand durchs Haar und beäugt kritisch <strong>die</strong><br />

Installation. „Das <strong>ist</strong> zu instabil“, sagt er dann.<br />

„Also noch mal von vorn“, schließt Stefan und<br />

zieht sich wieder <strong>die</strong> Handschuhe an.<br />

Mittlerweile <strong>ist</strong> es halb neun und draußen wird<br />

es dunkel. Die zwei sind müde, wollen aber noch<br />

nicht aufgeben. In ihren Gesichtern spiegelt<br />

sich ihr Bedürfnis wider, <strong>die</strong>ses Werk ideegetreu<br />

umzusetzen. Man sieht ihnen an, <strong>das</strong>s sie<br />

ihren Beruf als Berufung sehen – als Traum, der<br />

nichts oder kaum etwas mit Geld zu tun hat,<br />

sondern mit der Suche nach dem eigentlichen<br />

Selbst und dessen Verwirklichung. Auch steht<br />

hier <strong>die</strong> Zeit nicht im Verhältnis zur Le<strong>ist</strong>ung,<br />

sie <strong>ist</strong> nur da und vergeht – mal schneller, mal<br />

langsamer.<br />

Fragt sich, wie viel Zeit noch bleibt, bis <strong>die</strong> Stadt<br />

ihre Bulldozer auf <strong>die</strong> Wagenhallen loslässt. Die<br />

Baupläne für eine neue Schule und <strong>die</strong> Verlegung<br />

der Fernwärme im Nordbahnhof-Areal sind<br />

gemacht. Langsam aber sicher machen sich Zeichen<br />

einer größeren Baustelle breit. Wie genau<br />

alles laufen wird, wissen <strong>die</strong> Bauarbeiter selbst<br />

noch nicht, nur, <strong>das</strong>s erstmal <strong>die</strong> alten Rohre<br />

rausgeholt und verlegt werden müssen. Dann<br />

wird man weiter sehen. Bis dahin beleben <strong>die</strong><br />

Künstler noch <strong>das</strong> Gebiet als „Gespenster der<br />

Wagenhallen“. Was aus ihnen und ihrer Arbeit<br />

wird, wenn sie den Baggern Platz machen müssen,<br />

bleibt offen.<br />

Kontakt – Erwin Krottenthaler<br />

Literaturhaus Stuttgart, Boschareal,<br />

Breitscheidstraße 4, D-70174 Stuttgart<br />

Tel. 0711/220 21 741, Fax 0711/220 21 748<br />

info@literaturhaus-stuttgart.de<br />

www.literaturhaus-stuttgart.de<br />

Besuchen Sie auch <strong>die</strong> Seite für junge<br />

Literatur des Literaturhauses Stuttgart<br />

www.literaturmachen.de<br />

Bulletin erscheint mit freundlicher<br />

Unterstützung der robert Bosch<br />

Stiftung gmbH Stuttgart.<br />

Jakob Hermle<br />

Jeder zehntel Millimeter<br />

muss stimmen<br />

Auf <strong>die</strong> Feinheiten kommt es an – ein Besuch bei einem Stuttgarter Geigenbauer<br />

Die geigenbauerwerkstatt <strong>ist</strong> sehr still. Beim<br />

Betreten des Ladens von Antoine Muller spürt<br />

man, wie ungewöhnlich er <strong>ist</strong>. in dem Laden<br />

geht jedes gefühl von großstadt verloren.<br />

Diese neue, beschauliche umgebung <strong>ist</strong> so<br />

anders, als es der rege Verkehr, der regen,<br />

der graue Himmel und <strong>die</strong> Kälte draußen eben<br />

noch waren. Der kleine, angenehm warme,<br />

eher dunkle Verkaufsraum und <strong>die</strong> Violinen<br />

und Celli hinter dem Ladentisch in einem<br />

großen glasschrank, von denen sofort mein<br />

Blick angezogen wurde, vermitteln eine nostalgische,<br />

ehrfurchtsvolle Stimmung und alles<br />

kommt einem plötzlich noch viel stiller vor.<br />

Es war der 23. Januar 2009. Die Werkstatt war<br />

noch um vieles faszinierender als der Verkaufsraum.<br />

Auf den Werkbänken lagen allerlei Werkzeuge,<br />

wie feine Schnitzmesser und Klingen,<br />

Feilen und andere Werkzeuge, <strong>die</strong> man sonst<br />

vor allem zur künstlerischen Bearbeitung von<br />

Holz benutzen würde. Aber <strong>die</strong> Werkzeuge waren<br />

nicht <strong>das</strong> Wesentliche, sondern <strong>die</strong> reparaturbedürftigen<br />

oder halbfertigen Violinen und Celli.<br />

Überall hingen an den Wänden entlang, direkt<br />

unter der Decke, fertig gebaute oder fertig reparierte<br />

Violinen, abholbereit für <strong>die</strong> Kunden. In<br />

der Werkstatt fand ich Antoine Muller und zwei<br />

seiner Angestellten. Wir begrüßten uns und begannen<br />

mit dem Interview.<br />

Herr Muller <strong>ist</strong> in Luxemburg geboren und aufgewachsen<br />

und spielte als Kind mit Bege<strong>ist</strong>erung<br />

Klavier und Viola. Mit 14 Jahren entschied er<br />

sich, Geigenbauer zu werden, was sich dann als<br />

<strong>die</strong> richtige Entscheidung erwies. Die Ausbildung<br />

zum Geigenbauer <strong>ist</strong> eine handwerkliche Ausbildung<br />

und dauert drei Jahre im Betrieb, dort hat<br />

man Berufsschulunterricht und Ausbildung im<br />

Betrieb parallel. Er schloss <strong>die</strong> Ausbildung mit einer<br />

Gesellenprüfung ab und arbeitete dann drei<br />

Jahre lang als Geselle in Helsinki, danach noch<br />

weitere zwei Jahre in Paris. Als ihm angeboten<br />

wurde, <strong>die</strong> Werkstatt zu übernehmen, in der er<br />

heute arbeitet, absolvierte er <strong>die</strong> Me<strong>ist</strong>erprüfung<br />

und übernahm den Betrieb. Das war 1994. Ohne<br />

zu überlegen bestätigte er, <strong>das</strong>s er den Beruf des<br />

Geigenbauers wieder ergreifen würde und sehr<br />

zufrieden mit seinem Beruf sei.<br />

Im weiteren Verlauf des Interviews lernte ich<br />

sehr viel über den Geigenbau. Für den Bau einer<br />

Geige rechnet man durchschnittlich 200 Arbeitsstunden<br />

für eine einzige Person, es darf an einer<br />

Geige nämlich nie mehr als eine Person gearbeitet<br />

haben. Die Hölzer, <strong>die</strong> man zum Bau so einer<br />

Geige benötigt, sind eigentlich immer Fichte für<br />

<strong>die</strong> Decke der Instrumente und Ahorn für den<br />

Boden, allerdings kann <strong>das</strong> Bodenholz bei Cello<br />

und Bratsche auch mal aus Pappel sein. Andere<br />

Hölzer werden nie verwendet, da <strong>das</strong> Klangergebnis<br />

dann alles andere als der Klang einer Geige,<br />

Bratsche oder eines Cellos wäre. Diese Hölzer<br />

holt sich der Geigenbauer natürlich nicht mit<br />

einer Axt, Bäume fällend aus dem Wald, sondern<br />

er bezieht sie von so genannten Tonholzhändlern,<br />

spezialisierten Sägewerken, <strong>die</strong> speziell<br />

für den Bau von Streichinstrumenten <strong>das</strong> Holz<br />

beschaffen und aufarbeiten, es auf besondere<br />

Weise schneiden und lagern, so<strong>das</strong>s man daraus<br />

<strong>die</strong> Instrumente so bauen kann, wie man es sich<br />

vorstellt. Die sehr verschiedenen und me<strong>ist</strong>ens<br />

auch sehr schönen Farbtöne erhalten <strong>die</strong> Instrumente<br />

allerdings nicht vom Holz selbst, sondern<br />

von Naturharzpigmenten in den Lacken, mit denen<br />

man es einerseits zum Schutz, andererseits<br />

fürs Aussehen bearbeitet. Vielleicht hat sich ja<br />

auch schon mal jemand gefragt, wie eigentlich<br />

<strong>die</strong> Geige dem enormen Druck der Saiten standhält.<br />

Die sind nämlich so stark über dem Steg<br />

gespannt (sonst würden sie ja auch nicht schnell<br />

genug schwingen können, um einen Ton zu erzeugen),<br />

<strong>das</strong>s auf einer Geige ungefähr 30 Kilogramm<br />

lasten, auf einem Cello sogar 50 Kilogramm.<br />

Das Geheimnis liegt einfach darin, <strong>das</strong>s<br />

<strong>die</strong> Decke der Geige nach außen gewölbt <strong>ist</strong>. So<br />

kann sie nicht einbrechen. Dennoch würde sie<br />

auf Dauer nachgeben, wäre da nicht der so genannte<br />

Stimmstock. Der Stimmstock, oder auch<br />

Stimme, steht wie ein Stützpfeiler zwischen Boden<br />

und Decke der Geige. So stützt er vom Boden<br />

aus <strong>die</strong> ja ohnehin schon sehr robuste Decke zusätzlich,<br />

so<strong>das</strong>s <strong>die</strong> Konstruktion in sich stabil<br />

bleibt und nie ohne überlastende äußere Einwirkung<br />

brechen wird. Ohne den Stimmstock und<br />

den Bassbalken, ein vertikal in <strong>die</strong> Geigendecke<br />

eingepasster „Balken“, würde <strong>die</strong> Geige allerdings<br />

auch sehr schwach klingen.<br />

Bei all den Konstruktionsregeln muss man nämlich<br />

natürlich immer noch darauf achten, <strong>das</strong>s<br />

der Klang der Geige ein Guter wird, schließlich<br />

<strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>die</strong> eigentliche Schwierigkeit und <strong>das</strong> ei-<br />

Den Unterschied zwischen einer industriell<br />

gefertigten und einer per Hand<br />

hergestellten Geige kann man hören.<br />

gentliche Ziel. Daher muss man beim Bau einer<br />

Geige jeden Teil der Konstruktion so fein wie<br />

möglich ausarbeiten, denn fast alles an der Geige<br />

<strong>ist</strong> klangbestimmend: Die ständig variierenden<br />

Eigenschaften des Holzes, <strong>die</strong> Umrisse und Wölbungen,<br />

sowie <strong>die</strong> Stärkenverteilung im Korpus,<br />

einschließlich Platzierung und Gestaltung der F-<br />

Löcher sind sehr entscheidend. Der Stimmstock,<br />

<strong>die</strong> Ausformung des Stegs, <strong>die</strong> Wahl der Saiten<br />

und der Geigenhals sind nicht weniger wichtig.<br />

Für den außenstehenden Betrachter, sogar für<br />

den durchschnittlichen Geigenspieler, sind all<br />

<strong>die</strong>se Einzelheiten und Unterschiede nicht erkennbar.<br />

Für den normalen Menschen sieht jede<br />

Geige bis auf Farbe und natürlich Größe genau<br />

gleich aus. Bei <strong>die</strong>sen Unterschieden handelt<br />

es sich auch nur um zehntel Millimeter. Jetzt<br />

könnte man sich natürlich fragen: Warum gibt<br />

es dann heutzutage nicht <strong>die</strong> perfekte Geige, in<br />

allem vollkommen, <strong>die</strong> man dann maschinell in<br />

Massenproduktion herstellt? Man hat <strong>die</strong> Geige<br />

doch jetzt Jahrhunderte lang erforscht? Die Antwort<br />

<strong>ist</strong>: Man weiß, <strong>das</strong>s es nicht funktionieren<br />

wird, man weiß aber nicht, wieso.<br />

Antonio Stradivari baute zu seiner Zeit Geigen,<br />

<strong>die</strong> heute noch zu den Besten der Welt gehören.<br />

Also haben natürlich einige Geigenbauer versucht,<br />

Geigen herzustellen, <strong>die</strong> genauso gut wie<br />

<strong>die</strong> Stradivaris waren, indem sie seine Geigen<br />

auf den zehntel Millimeter genau kopierten. Die<br />

Ergebnisse aber waren enttäuschend. Als ob Geigen<br />

einzigartig seien. Das <strong>ist</strong> auch der Grund,<br />

warum industriell hergestellte Billiginstrumente<br />

aus China keine hochwertigen Geigen sein können.<br />

„Die wirklich billigen Instrumente von dort<br />

sind me<strong>ist</strong>ens so beschaffen, <strong>das</strong>s man sie nicht<br />

sinnvoll spielen kann, <strong>das</strong>s sie kein gutes Werkzeug<br />

für Musiker sind“, erklärt Antoine Muller.<br />

„Um sie so herzurichten, <strong>das</strong>s sie brauchbar sind,<br />

müsste man ein Vielfaches von ihrem ursprünglichen<br />

Wert investieren, insofern <strong>ist</strong> es in der<br />

Regel rausgeschmissenes Geld.“<br />

Antoine Muller baut Violinen, Violas und Celli,<br />

also <strong>das</strong> komplette Streichquartett, wozu der<br />

Kontrabass nicht zählt. Bögen werden in der<br />

Regel nicht von Geigenbauern, sondern von Bogenbauern<br />

hergestellt, dennoch repariert Muller<br />

Bögen. Im Gegensatz zu vielen anderen Geigenbauern<br />

baut Herr Muller normalerweise keine<br />

h<strong>ist</strong>orischen Instrumente, wie zum Beispiel <strong>die</strong><br />

Barockvioline, <strong>die</strong> nach einer anderen Bauweise<br />

gebaut wird als <strong>die</strong> heute gängigen Instrumente.<br />

Er hat aber schon mal welche gebaut.<br />

Ansonsten nimmt Muller natürlich auch, oder<br />

sogar überwiegend Restaurationen an Instrumenten<br />

vor. Bei seinen Instrumenten besteht<br />

vor allem bei den kleineren Geigengrößen für<br />

Kinder <strong>die</strong> Möglichkeit, ein Instrument nicht<br />

gleich zu kaufen, sondern vorerst zu mieten,<br />

was er selbst auch für Geigenanfänger empfiehlt,<br />

<strong>die</strong> sich ihrer Sache noch nicht ganz sicher sind.<br />

Antoine Muller, dessen Werkstatt sich im Stuttgarter<br />

Osten an der Kreuzung von Achalmstraße<br />

und Hausmannstraße befindet, spielt heute<br />

noch Kammermusik auf der Bratsche, zeitweise<br />

auch in Orchester.


Seite 4 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 5<br />

Später Dienstagnachmittag im Calwer-Eck-Bräu<br />

in der Stuttgarter Innenstadt. Die Gaststätte,<br />

<strong>die</strong> mit dem Titel „Erste Stuttgarter Lokalbrauerei“<br />

wirbt, <strong>ist</strong> zu <strong>die</strong>ser Zeit wie jeden Tag gut<br />

besucht. Es herrscht eine gemütliche Stimmung<br />

und der typische Geruch von schwäbischer Küche<br />

hängt in der Luft. Wer hier einkehren will,<br />

sollte allerdings schon <strong>Wo</strong>chen vorher einen<br />

Platz reservieren. Denn hierher kommt man<br />

nicht nur wegen des guten Essens, sondern vielmehr<br />

wegen des einzigartigen Biers. Immerhin<br />

handelt es sich hier nicht nur um ein normales<br />

Lokal, sondern vielmehr um eine Hausbrauerei.<br />

Stuttgarts kleinste, um genau zu sein. Das<br />

Calwer-Eck-Bräu war ganz vorne mit dabei, als<br />

es darum ging, seinen Gästen etwas ganz Besonderes<br />

zu bieten, etwas, <strong>das</strong> nicht in jeder<br />

Gaststätte angeboten wird.<br />

Klaus Schöning, damaliger Besitzer des Calwer-<br />

Eck-Bräus, eröffnete <strong>die</strong> Gaststätte am 24. April<br />

1987. Zur damaligen Zeit war in den me<strong>ist</strong>en<br />

Stuttgarter Gaststätten eine me<strong>ist</strong> einseitige<br />

Gästestruktur zu finden. Also war es <strong>das</strong> Ziel,<br />

ein Lokal zu etablieren, welches ein Anlaufpunkt<br />

für keine bestimmte Zielgruppe, sondern<br />

für jedes Alter und jede Stimmungslage war. Ein<br />

voller Erfolg, wie sich bald herausstellen sollte.<br />

Und auch heute, mehr als 20 Jahre später, <strong>ist</strong><br />

<strong>das</strong> Calwer-Eck-Bräu immer noch ein gastronomischer<br />

Dauerbrenner. Noch jetzt, wie auch damals<br />

schon, können <strong>die</strong> Gäste <strong>das</strong> Brauen des<br />

hauseigenen Bieres hautnah miterleben. Allein<br />

eine Glastür trennt <strong>die</strong> Brauerei vom Lokal. Verantwortlich<br />

für <strong>die</strong> Brauerei im Calwer-Eck <strong>ist</strong><br />

Braume<strong>ist</strong>er Jürgen Hartl, der bereits seit acht<br />

Jahren hier tätig <strong>ist</strong>. Mit einem weiteren Mitarbeiter<br />

in der Brauerei <strong>ist</strong> er zuständig für den<br />

täglichen Nachschub an frischem Gerstensaft.<br />

Und <strong>das</strong> am Calwer-Eck gebraute Bier wird auch<br />

nicht, wie so viele Biere, erst durch halb Deutschland<br />

transportiert, sondern fast ausschließlich<br />

in der eigenen Gaststätte ausgeschenkt. Nur<br />

ein kleiner Teil wird an zwei Gaststätten in der<br />

Region geliefert. Arbeitszeiten ab 6 Uhr in der<br />

Frühe für einen Lokalbrauer mögen dem einen<br />

oder anderen ungewöhnlich vorkommen. Es <strong>ist</strong><br />

aber tatsächlich so, <strong>das</strong>s ein sogenannter Sud,<br />

aus dem später um <strong>die</strong> 40 Hektoliter, also 4000<br />

Liter Calwer-Eck-Bräu gewonnen werden, um<br />

<strong>die</strong> 14 Stunden in Anspruch nehmen kann. Und<br />

zuständig hierfür <strong>ist</strong> im Calwer-Eck Bierbrauer<br />

Jürgen Hartl.<br />

Eine anstrengende Arbeit, <strong>die</strong> sich aber voll<br />

auszahlt - dank dem hauseigenen Bier kann <strong>das</strong><br />

Calwer-Eck auf viele Stammgäste zählen. Und<br />

Benedict Ohnemüller<br />

gastronomischer Dauerbrenner<br />

mit einzigartigem Bier<br />

Ein Besuch in Stuttgarts kleinster Brauerei, dem Calwer-Eck-Bräu<br />

auch der Braume<strong>ist</strong>er selbst trinkt sein eigenes<br />

Bier immer noch am liebsten. Denn dank 100%iger<br />

Handarbeit beim Brauen und wechselnder<br />

Rohstoffe variiert der Geschmack des Bieres<br />

von Tag zu Tag.<br />

Insgesamt werden ungefähr 130 Sud in der Lokalbrauerei<br />

hergestellt, <strong>das</strong> sind also 4800 Hektoliter<br />

im Jahr. Eine beachtliche Summe, wenn<br />

man bedenkt, <strong>das</strong>s es Calwer-Eck-Bräu nur in<br />

drei Gaststätten zu kaufen gibt. Ausgeschenkt<br />

wird übrigens nur im 0,2- und 0,3-Liter-Glas,<br />

dadurch hat der Gast auch immer ein frisches<br />

Bier vor sich. Wer bei <strong>die</strong>sen vergleichsweise<br />

kleinen Gläsern Nachschubsorgen hat, kann beruhigt<br />

sein: Denn im Calwer-Eck wird dem Gast<br />

so lange automatisch immer ein frisches Bier<br />

gebracht, bis er den Bierdeckel auf <strong>das</strong> Glas legt<br />

und damit signalisiert: „Genug für heute...“<br />

Wer doch lieber selbst Hand anlegen möchte,<br />

bestellt einfach einen „Pitcher“ – einen frisch<br />

gezapften 1,5-Liter-Krug zum selbst einschenken.<br />

Außer den ganzjährig gebrauten Bieren, wie<br />

dem Calwer-Eck-Pils oder dem Hefeweizen,<br />

werden zu verschiedenen Anlässen auch Saisonbiere<br />

gebraut, wie z.B. <strong>das</strong> Volksfestbier,<br />

Maibock, Sommerbier, Weihnachtsbier und<br />

Schwarzbier. Aber egal welche Sorte, immer<br />

gilt <strong>das</strong> Motto: Qualität statt Quantität. Wer<br />

alkoholfreies Bier sucht, wird im Calwer-Eck<br />

allerdings nicht fündig werden; aufgrund der<br />

komplizierten Braumethode wäre hierfür der<br />

Aufwand zu groß.<br />

Normalerweise steigt in der Gastronomie der<br />

Bierumsatz im Sommer immer kräftig an. Im<br />

Calwer-Eck-Bräu hingegen wird, auch wegen<br />

eines fehlenden Biergartens und ständig wechselnder<br />

Saisonbiere, zwischen Oktober und Dezember<br />

deutlich mehr Bier als im Sommer verkauft.<br />

Die vier Grundstoffe des Bieres sind auch hier<br />

Wasser, Malz, Hopfen und Hefe. Dabei <strong>ist</strong> Wasser<br />

mit mehr als 90% der Hauptbestandteil des<br />

Bieres. Im Calwer-Eck wird untypischerweise<br />

normales Leitungswasser verwendet, <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en<br />

Brauereien nutzen dagegen me<strong>ist</strong> qualitativ<br />

hochwertigeres Quellwasser. Der bei weitem<br />

größte Anteil des Wassers jedoch wird auch zum<br />

Reinigen und Kühlen verwendet, doch konnten<br />

hier in den letzten Jahren der Umwelt zuliebe<br />

deutliche Einsparungen erzielt werden. Wurden<br />

früher bis zu 25 Hektoliter, also 2500 Liter<br />

Frischwasser für <strong>die</strong> Produktion eines Hektoliters<br />

Bier benötigt, so sind es heute nur noch<br />

5 Hektoliter Frischwasser. Die Hefe bezieht <strong>das</strong><br />

Calwer-Eck von größeren Brauereien, der Hopfen<br />

hingegen kommt aus der Hallertau in Bay-<br />

ern. Reste, <strong>die</strong> nach dem Brauvorgang übrig<br />

bleiben, <strong>die</strong>nen als nährstoffreiches Tierfutter<br />

und werden abends in <strong>die</strong> Wilhelma ausgeliefert.<br />

Ein auch deutlich sichtbarer Unterschied<br />

zwischen dem Bier vom Calwer-Eck-Bräu und<br />

dem Bier industrieller Brauereien, wie Öttinger<br />

oder Hofbräu, besteht wohl darin, <strong>das</strong>s im<br />

Calwer-Eck ausschließlich unfiltriertes, also naturtrübes<br />

Bier produziert wird. Und auch hierin<br />

kann man sich von anderen Gaststätten, <strong>die</strong><br />

ausschließlich Bier von großen Brauereien verkaufen,<br />

deutlich unterscheiden. Natürlich <strong>ist</strong><br />

<strong>das</strong> Brauen relativ kleiner Biermengen wie im<br />

Calwer-Eck im Zweifel teurer als <strong>die</strong> Herstellung<br />

in Großbrauereien, und <strong>die</strong>ser Kostennachteil<br />

kann auch dadurch nicht vollständig ausgeglichen<br />

werden, <strong>das</strong>s der Aufwand für Transportkosten<br />

und für den von den Herstellern und<br />

Händlern kalkulierten Gewinn entfällt. Dafür<br />

sind <strong>die</strong> Gäste aber gerne bereit, für ein Glas<br />

Bier aus der Hausbrauerei ein paar Cent mehr<br />

zu bezahlen.<br />

Braume<strong>ist</strong>er Jürgen Hartl <strong>ist</strong> zuständig<br />

für <strong>die</strong> Qualität des hauseigenen Bieres.<br />

Daher hat sich <strong>die</strong> Idee, den Gästen ein kühles<br />

Bier aus der hauseigenen Brauerei zu servieren,<br />

inzwischen schon zu einem richtigen Markt<br />

entwickelt. Im Internet werden heute schon<br />

schlüsselfertige Hausbrauereien angeboten.<br />

Für eine kleine Brauerei mit einer Jahreskapazität<br />

von 500 Hektolitern, <strong>die</strong> ca. 40 m² Platz<br />

benötigt, müssen rund 100.000 Euro in <strong>die</strong><br />

Anlagentechnik investiert werden. Und wer<br />

Kahle Wände, von denen der Putz bereits ab-<br />

bröckelt. Akten und Ordner, <strong>die</strong> sich auf den<br />

Regalen dicht an dicht reihen und sich über<br />

dem alten Holzschreibtisch mit passendem<br />

Holzstuhl verteilen. So sahen <strong>die</strong> Büros der Zentralen<br />

Stelle der Landesjustizverwaltung zur<br />

Aufklärung nationalsozial<strong>ist</strong>ischer Verbrechen<br />

aus, als Kurt Schrimm sie <strong>das</strong> erste Mal betrat.<br />

„Es sieht aus wie vor hundert Jahren. Und sehen<br />

Sie? Es durfte noch geraucht werden“, stellt<br />

er mit einem kleinen Schmunzeln fest. Auf dem<br />

Schreibtisch steht neben der Schreibmaschine<br />

ein alter Aschenbecher aus dickem Glas. Auch<br />

gab es bis vor neun Jahren keinen PC im Haus,<br />

nur Karteien. Karteien, <strong>die</strong> unendliches Leid<br />

beinhalten: <strong>die</strong> grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus.<br />

Eines <strong>die</strong>ser Verbrechen sollte im „Ulmer Einsatzkommando-Prozess“<br />

gesühnt werden, doch<br />

während des Prozesses entdeckte man eine Gesetzeslücke,<br />

<strong>die</strong> zur Gründung der Zentralen<br />

Stelle führte. Es gab damals Hinweise auf weitere<br />

Verbrechen <strong>die</strong>ser Art. Unter anderem in<br />

Konzentrationslagern in vom ehemaligen Deutschen<br />

Reich besetzten Ländern.<br />

Da aber ein Staatsanwalt nur für einen lokalen<br />

Bereich zuständig <strong>ist</strong>, konnten Verbrechen,<br />

besonders Massenverbrechen, <strong>die</strong> außerhalb<br />

Deutschlands stattfanden, nicht verfolgt werden.<br />

Daher wurde im Jahr 1958 <strong>die</strong> Zentrale<br />

Stelle gegründet. Ihr Zuständigkeitsbereich<br />

erstreckt sich über alle Länder der Welt. Ihre<br />

Aufgabe <strong>ist</strong> es, überall dort zu ermitteln, wo<br />

Verbrechen begangen wurden oder wohin <strong>die</strong><br />

Täter geflohen sind.<br />

Für <strong>die</strong> Bundesrepublik besteht eine Wiedergutmachungspflicht.<br />

Diese verpflichtet sie, eine<br />

Straftat für <strong>die</strong> noch lange leidenden Opfer zu<br />

rächen.<br />

Trotzdem wird der Justiz immer wieder vorgeworfen,<br />

sie hätte zu wenig gegen <strong>die</strong> NS-Verbrechen<br />

getan. „Das Ausland sieht <strong>das</strong> aber ganz<br />

anders“, sagt der Leiter der Zentralen Stelle,<br />

Kurt Schrimm, und fügt hinzu: „Normalerweise<br />

ermitteln <strong>die</strong> Siegermächte, und nicht der Verlierer<br />

gegen sich selbst.“<br />

Doch <strong>das</strong> Ziel der Ermittlungen <strong>ist</strong> nicht unbedingt<br />

<strong>die</strong> Bestrafung der Verbrecher. So sagte<br />

eine alte Jüdin, <strong>die</strong> von Polen nach Amerika<br />

geflohen war, zu Kurt Schrimm einmal: „Auf<br />

<strong>die</strong>sen Tag habe ich gewartet.“ Egal ob ein Täter<br />

gefasst wird oder nicht, Hauptsache <strong>die</strong> Menschen<br />

zeigen Interesse an den vielen grausamen<br />

Taten und ihren Opfern.<br />

sich eine solche Hausbrauerei in <strong>die</strong> Gaststätte<br />

stellt, macht <strong>die</strong>s nur, wenn es sich unter dem<br />

Strich lohnt.<br />

Inzwischen <strong>ist</strong> es Abend geworden, in der Brauerei<br />

laufen noch <strong>die</strong> letzen Aktionen des Tages,<br />

<strong>das</strong> gebraute Bier wurde inzwischen in <strong>die</strong><br />

Tanks im Keller umgepumpt, in denen es nun<br />

zwischen zwei und drei <strong>Wo</strong>chen reift, je nach<br />

Bedarf. Und auch <strong>die</strong> Gaststätte füllt sich all-<br />

Delia Soder<br />

Die nazi-Jäger<br />

Ein Besuch in der Zentralen Stelle<br />

der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung<br />

nationalsozial<strong>ist</strong>ischer Verbrechen<br />

in Ludwigsburg<br />

Zu den spektakulärsten Fällen zählten <strong>die</strong><br />

1963/64 stattfindenden Auschwitzprozesse, sowie<br />

der Majdanekprozess, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Zentrale<br />

Stelle in Gang gesetzt wurden. Durch deren Größe<br />

und <strong>die</strong> vielen Zeugen erfuhr <strong>die</strong> Öffentlichkeit<br />

erstmals Näheres über <strong>die</strong> Grausamkeiten<br />

und Massenverbrechen der Nationalsozial<strong>ist</strong>en<br />

und <strong>die</strong> Arbeit der Zentralen Stelle.<br />

Früher begann eine Ermittlung durch einen<br />

Anfangsverdacht. Man versuchte den oder <strong>die</strong><br />

Verdächtigen durch Akten des betroffenen Konzentrationslagers<br />

zu ermitteln. War <strong>die</strong>s erfolgreich,<br />

so wurden Zeugen gesucht und zu dem<br />

ausstehenden Prozess geladen.<br />

Heute gibt es in Deutschland keine Verbrechen<br />

mehr zu ermitteln. Und durch einen konkreten<br />

Namen in einer KZ-Akte <strong>ist</strong> niemand mehr zu<br />

Von <strong>die</strong>sem Gebäude in Ludwigsburg aus<br />

machen Kurt Schrimm und seine Mitarbeiter<br />

Jagd auf Nazi-Verbrecher.<br />

© Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg<br />

mählich wieder, und auch heute, mitten unter<br />

der <strong>Wo</strong>che, glaubt man wieder an ein volles<br />

Haus und einen großen Ausschank.<br />

Denn rechnet man <strong>die</strong> gesamte Produktionsmenge<br />

seit Gründung der „1. Stuttgarter Lokalbrauerei“<br />

auf <strong>die</strong> Stuttgarter Bevölkerung<br />

um, hat innerhalb all <strong>die</strong>ser Jahre jeder Stuttgarter<br />

schon weit über zehn Gläser Calwer-Eck-<br />

Bräu getrunken – zum <strong>Wo</strong>hl!<br />

finden. Das kann daran liegen, <strong>das</strong>s es in einigen<br />

Ländern, wie der Ukraine, Russland oder Weißrussland,<br />

kaum schriftliche Aufzeichnungen<br />

gibt. Die einzigen Belege für einen möglichen<br />

Täter liefern <strong>die</strong> Anklagen und Prozesse nach<br />

einer Kriegsgefangenschaft des Verdächtigen in<br />

<strong>die</strong>sen Ländern. Andere NS-Verbrecher ließen<br />

sich falsche Ausweise vom Roten Kreuz erstellen,<br />

um ungehindert nach Südamerika auswandern<br />

zu können.<br />

So sind <strong>die</strong> Ermittler von Ludwigsburg acht bis<br />

zehn <strong>Wo</strong>chen im Jahr für Untersuchungen im<br />

Ausland unterwegs. Neben den ermittelnden<br />

vier Richtern und zwei Staatsanwälten arbeiten<br />

ein Polizeibeamter, sowie zwölf weitere Personen<br />

in der Zentralen Stelle. Für <strong>die</strong> internationale<br />

Verständigung sorgen Dolmetscher, <strong>die</strong><br />

für eine gewisse regionale Arbeitsteilung verantwortlich<br />

sind. Die übrigen Mitarbeiter sind<br />

für <strong>die</strong> 1,6 Millionen Karten der Kartei zuständig,<br />

<strong>die</strong> oftmals auch als Hilfe für <strong>die</strong> Staatsanwaltschaft<br />

<strong>die</strong>nt, falls <strong>die</strong>se auch ermittelt.<br />

Die Zentrale Stelle beschafft <strong>die</strong> Dokumente,<br />

<strong>die</strong> sie als Beweismaterial für wichtig hält,<br />

selbst. Doch Zeugenvernehmungen werden<br />

auch von der Polizei übernommen. Nach den<br />

Ermittlungen wird ein Fall an <strong>die</strong> Staatsanwaltschaft<br />

weitergegeben, da <strong>die</strong> Zentrale<br />

Stelle keine Anklagekompetenz besitzt. Trotz-<br />

dem werden Kollegen von Kurt Schrimm öfters<br />

als Fachkundige zu Prozessen geladen. Er selbst<br />

führte Prozesse gegen nationalsozial<strong>ist</strong>ische<br />

Verbrecher. Ein solcher Prozess kann ein bis<br />

fünf Jahre dauern.<br />

Augenzeugenberichte seien oft schwer zu ertragen,<br />

erzählt Kurt Schrimm, „aber <strong>das</strong> darf nicht<br />

ans Herz gehen, sonst geht´s nicht“. Er hatte<br />

Kollegen, <strong>die</strong> es nicht schafften, ihre Arbeit<br />

vom Privaten zu trennen und deshalb nach ein<br />

oder zwei Monaten ihren Beruf aufgaben.<br />

Doch was <strong>die</strong> Ermittler von Ludwigsburg aufdecken,<br />

wird auf Karteien festgehalten. Diese<br />

Karteien werden nach der Auflösung der Zentralen<br />

Stelle zur Staatsanwaltschaft gebracht.<br />

Sie sollen niemals verloren gehen, so<strong>das</strong>s ihr<br />

Inhalt nie vergessen wird. Die Auflösung <strong>ist</strong> jedoch<br />

absehbar: Eines Tages wird es nichts mehr<br />

zu ermitteln geben. Länder wie Italien oder <strong>die</strong><br />

Ukraine sind im Gegensatz zu Russland und<br />

Brasilien bereits abgearbeitet. Daher vermutet<br />

Kurt Schrimm, <strong>das</strong>s es wohl nach seiner Pensionierung<br />

in fünf Jahren keinen Nachfolger<br />

mehr für ihn geben wird: „Aber man kann nie<br />

wissen.“


Seite 6 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 7<br />

Veronika Sinnig<br />

Menschenretter<br />

mit gutem<br />

Spürsinn und<br />

vier Beinen<br />

Auf dem Parkplatz neben dem Waldfriedhof<br />

stechen <strong>die</strong> grell orange leuchtenden einsatzfahrzeuge<br />

des roten Kreuzes aus dem<br />

mit Schnee bedeckten Wald heraus. es <strong>ist</strong><br />

kalt, doch <strong>das</strong> hindert weder <strong>die</strong> menschlichen<br />

noch <strong>die</strong> vierbeinigen Mitglieder der<br />

rettungshundestaffel Stuttgart daran, zum<br />

vereinbarten trainingsgelände zu kommen.<br />

Während <strong>die</strong> Hunde noch in ihren Boxen warten,<br />

wird <strong>die</strong> erste Suche organisiert. Dafür<br />

werden zwei Versteckpersonen, Figuranten<br />

genannt, benötigt, sowie eine Person, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

geeigneten Verstecke auswählt und dann <strong>das</strong><br />

Startsignal zur Suche geben kann. Diese Aufgabe<br />

übernehmen normalerweise <strong>die</strong> Ausbilder,<br />

doch heute macht <strong>das</strong> Annika Rösner, um für<br />

<strong>die</strong> im April anstehende Prüfung gewappnet<br />

zu sein. Mit ihren 22 Jahren <strong>ist</strong> sie eines der<br />

jüngsten Mitglieder. Der etwas stämmige Ilhan<br />

Ayaydin (32) und Gisela Becker (48) haben sich<br />

bereit erklärt, <strong>die</strong> ersten Figuranten zu sein.<br />

Ausgerüstet mit zwei dunkelgrünen Schlafsäcken<br />

und Isomatten laufen sie gutgelaunt mit<br />

Annika Rösner zusammen in den Wald.<br />

Die Anderen müssen bei den Fahrzeugen warten,<br />

damit sie <strong>die</strong> Verstecke nicht kennen. Doch<br />

Annika bleibt mit ihnen über Funk in Kontakt.<br />

So kann ein echter Einsatz möglichst real nachgestellt<br />

werden. Nach ca. 100 Metern schickt<br />

Annika Rösner Gisela Becker rechts neben den<br />

Weg ins Gestrüpp. Dort steigt sie in den Schlafsack<br />

und kauert sich hinter ein paar Baumstämme.<br />

200 Meter weiter wird auch Ilhan Ayaydin<br />

ins Gestrüpp geschickt. Das Einsteigen in den<br />

Schlafsack <strong>ist</strong> gar nicht so einfach. Geschafft.<br />

Dann gibt Annika per Funk <strong>das</strong> Signal, <strong>das</strong>s<br />

sich <strong>das</strong> erste Team, bestehend aus einem Rettungshundeführer<br />

und einem Rettungshund,<br />

auf den Weg zur Schranke machen kann, <strong>die</strong> als<br />

Startpunkt vorher ausgewählt wurde.<br />

Tina Hauser (49), eine zierliche Brünette mit<br />

Brille und einem freundlichen Lächeln, macht<br />

mit ihrer schon neunjährigen blonden Labradorhündin<br />

Aika den Anfang. „Ein Pärchen wird<br />

vermisst. Spaziergänger haben beobachtet, wie<br />

es sich gestritten hat, und dort unten an der<br />

Wegkreuzung haben sie sich getrennt. Auf der<br />

linken Seite des Weges wird <strong>das</strong> Suchgebiet vom<br />

Friedhofszaun eingegrenzt.“<br />

Das sind <strong>die</strong> einzigen Informationen, <strong>die</strong> Tina<br />

Hauser für <strong>die</strong> Suche von Annika Rösner erhält.<br />

Jetzt legt sie Aika, <strong>die</strong> schon aufgeregt<br />

mit dem Schwanz wedelt, ein Ledergeschirr an,<br />

woran ein kleines Glöckchen befestigt wurde:<br />

„Damit wir <strong>die</strong> Hunde auch nachts hören können.“<br />

Das Anlegen des Geschirrs <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Signal<br />

für den Hund: Gleich beginnt <strong>die</strong> Suche. Doch<br />

bevor Tina Hauser Aika los schickt, lässt sie <strong>die</strong><br />

Hündin in Richtung Suchgelände Sitz machen,<br />

beugt sich runter und zeigt in <strong>die</strong> Richtung, in<br />

der Aika suchen soll.<br />

Dann leint sie Aika ab und spricht <strong>das</strong> erlösende<br />

„Such Aika“. Sofort rennt <strong>die</strong> Hündin<br />

los, aber nicht geradeaus, sondern nach rechts.<br />

Von den Rufen ihres Frauchens unbeeindruckt,<br />

bahnt Aika sich den Weg durchs Gestrüpp, <strong>das</strong><br />

klingelnde Glöckchen begleitet sie. Schon nach<br />

wenigen Sekunden ertönt ein lautes Bellen.<br />

Tina rennt in <strong>die</strong>se Richtung und findet Gisela<br />

Becker, <strong>die</strong> nun Aika ihre Bestätigung gibt:<br />

Wurststückchen aus einer kleinen Tupperbox.<br />

Dann spielt Gisela ein wildes Zerrspiel mit Aika.<br />

„Es <strong>ist</strong> ganz wichtig, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Figuranten <strong>die</strong><br />

Hunde richtig belohnen, damit <strong>die</strong> Hunde lernen,<br />

<strong>das</strong>s es sich lohnt, nach Menschen zu suchen.<br />

Auch nach jedem echten Einsatz wird für<br />

<strong>die</strong> Hunde eine kurze Erfolgssuche mit unseren<br />

Figuranten gemacht. So bleibt <strong>die</strong> Motivation<br />

bei den Hunden hoch.“ Das erklärt Tina Hauser.<br />

„Aika <strong>ist</strong> schon sehr erfahren und arbeitet<br />

ziemlich selbstständig. Der Wind hat Giselas<br />

Geruch in unsere Richtung getragen, deshalb<br />

wusste Aika genau, wohin sie rennen musste,<br />

schon bevor ich sie los geschickt hatte. Manchmal<br />

<strong>ist</strong> sie aber auch zu selbstständig. Einmal<br />

<strong>ist</strong> sie auf ihrer Suche so weit von mir weggerannt,<br />

<strong>das</strong>s ich ihr Bellen gar nicht mehr hören<br />

konnte.“<br />

Jetzt geht <strong>die</strong> Suche aber noch weiter, denn<br />

<strong>die</strong> zweite Person muss auch gefunden werden.<br />

Kein Problem für Aika, auch Ilhan Ayadin findet<br />

sie nach kurzer Zeit. Per Funk muss jetzt nach<br />

dem Fund der „Vermissten“ der Staffelleitung<br />

Bescheid gegeben werden. Auch meldet Annika,<br />

<strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> nächste Team zur Schranke<br />

aufmachen kann. Auf dem Weg zurück trottet<br />

Aika langsam hinterher. „Man darf <strong>das</strong> nicht<br />

unterschätzen. Für uns war <strong>das</strong> gerade ein kleiner<br />

Spaziergang, aber der Hund <strong>ist</strong> <strong>die</strong> ganze<br />

Zeit gerannt und hat konzentriert gesucht. Das<br />

<strong>ist</strong> sowohl körperlich als auch ge<strong>ist</strong>ig anstrengend“,<br />

bemerkt Annika.<br />

Als nächstes sind Jörg Ulmer (39) und seine<br />

vitale, vierjährige, schwarze Labradorhündin<br />

Leyha mit der Suche an der Reihe. Der Unterschied<br />

zu Aikas Suchverhalten <strong>ist</strong> deutlich erkennbar:<br />

Leyha schaut immer wieder zu Jörg<br />

und läuft zu ihm zurück, woraufhin Jörg sie<br />

wieder zum Suchen schickt. Als Leyha dann<br />

Ilhan findet, bellt sie kurz, läuft aber wieder<br />

zu Jörg zurück. „Leyhas größtes Problem <strong>ist</strong>,<br />

<strong>das</strong>s sie nicht beim Figuranten bleibt“, meint<br />

Annika Rösner. Nach der dritten Suche wird<br />

Ilhan in seinem Versteck abgelöst, damit er<br />

auch mit seiner Hündin trainieren kann.<br />

Ein Besuch beim Training<br />

der Rettungshundestaffel Stuttgart Bei manchen Einsätzen <strong>ist</strong> <strong>die</strong> psychische<br />

Belastung für <strong>die</strong> ehrenamtlichen Helfer<br />

extrem hoch, trotzdem opfern sie gern<br />

ihre Freizeit, um Anderen zu helfen.<br />

Auf dem Weg zu den Fahrzeugen erzählt er:<br />

„Alle Rettungshundeführer arbeiten ehrenamtlich,<br />

aber es <strong>ist</strong> schon mehr als nur ein Hobby.<br />

Erstmal <strong>ist</strong> der Zeitaufwand für <strong>das</strong> Training<br />

sehr groß. Wir trainieren jeden Mittwoch und<br />

Samstag. Dann muss jeder Hundeführer eine<br />

Ausbildung zum Rettungssanitäter machen, und<br />

<strong>die</strong> Rettungshundeprüfung muss alle 18 Monate<br />

wiederholt werden. Außerdem kann man eben<br />

nicht planen, wann ein Einsatz stattfindet. Da<br />

kommt es öfters vor, <strong>das</strong>s man sich zum Beispiel<br />

am <strong>Wo</strong>chenende von der Arbeit entspannen<br />

will, und plötzlich wird man mit einer SMS<br />

zu einem Einsatz gerufen.“<br />

Auch <strong>Wo</strong>lfgang Straub (54), Gründer und Leiter<br />

der Hundestaffel Stuttgart, weiß, <strong>das</strong>s sich<br />

nicht jeder für <strong>die</strong>se Tätigkeit eignet: „Die<br />

emotionale Belastung <strong>ist</strong> oft sehr hoch. Als ein<br />

ehemaliger Hundeführer mit seinem Hund einen<br />

Toten aufgefunden hatte, nahm ihn <strong>die</strong>ses<br />

Erlebnis psychisch so mit, <strong>das</strong>s er <strong>die</strong> Arbeit in<br />

der Rettungshundestaffel nicht mehr weiterführen<br />

konnte. Die häufigsten Einsätze aber<br />

sind vermisste, ältere Menschen, dann auch<br />

Jogger, Mountainbiker oder Reiter, <strong>die</strong> wir im<br />

Wald suchen müssen. Doch <strong>das</strong> Tolle an <strong>die</strong>ser<br />

Arbeit <strong>ist</strong> nicht nur eine sinnvolle Beschäftigung<br />

mit dem Hund, sondern auch, <strong>das</strong>s man<br />

nette Menschen kennen lernt.“<br />

Mittlerweile sind schon fünf Stunden vergangen,<br />

und <strong>das</strong> letzte Team hat seine Suche<br />

absolviert. Bei manchen frieren schon <strong>die</strong> Füße,<br />

doch um <strong>die</strong> Prüfung in zwei Monaten bestehen<br />

zu können, <strong>ist</strong> regelmäßiges Training notwendig,<br />

egal bei welchem Wetter.<br />

Erfahrene Retterin: Aika <strong>ist</strong> darauf trainiert,<br />

Menschen aufzuspüren, <strong>die</strong> vermisst werden.<br />

Es herrscht eine vertraute Atmosphäre in der<br />

Schule. Jeder scheint hier jeden zu kennen.<br />

Auch <strong>die</strong> Lehrer kennen nicht nur <strong>die</strong>jenigen<br />

Schüler, <strong>die</strong> sie unterrichten. Zurzeit gibt es<br />

hier 90 Schülerinnen und Schüler von den Klassen<br />

eins bis neun, sowie 16 Lehrerinnen und<br />

Lehrer.<br />

In <strong>die</strong> <strong>die</strong>sjährige 6. Klasse gehen 10 Kinder im<br />

Alter von 11 bis 14 Jahren aus insgesamt sieben<br />

verschiedenen Nationen, zwei von ihnen sind<br />

Deutsche. Jeder Schüler sitzt alleine an einem<br />

Tisch. An den Wänden hängen bunte Bilder,<br />

größtenteils von den Kindern selbst gemalt,<br />

sowie eine Deutschlandkarte. Die me<strong>ist</strong>en<br />

Schüler kommen aus sozial schwachen Familien,<br />

nur wenige Eltern kümmern sich richtig<br />

um sie. Die Berger Schule <strong>ist</strong> eine Förderschule<br />

für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten.<br />

Als sich <strong>die</strong> Sechstklässler mit ihrer Klassenlehrerin<br />

Karin Reichert noch über <strong>das</strong> <strong>Wo</strong>chenende<br />

unterhalten, geht <strong>die</strong> Türe auf und <strong>die</strong><br />

Klassensprecher Kevin, Ronza und Ben kommen<br />

herein. Denn gerade war Schülersprecherwahl.<br />

Die 14-jährige Ronza verkündet <strong>das</strong> Ergebnis:<br />

„Erster Schulsprecher <strong>ist</strong> Hassan, Zweite <strong>ist</strong><br />

Dilek und Dritter <strong>ist</strong> Abdullah.“ Allgemeines<br />

Gemurmel geht durch <strong>die</strong> Klasse. Die 13-jährige<br />

Sefkije meint: „Dilek <strong>ist</strong> OK, aber Hassan<br />

und Abdullah schlagen immer!“ Auch <strong>die</strong> anderen<br />

Schüler sind wenig bege<strong>ist</strong>ert von dem<br />

Wahlergebnis. Doch Karin Reichert möchte erst<br />

einmal den Begriff SMV klären. Das gab es nämlich<br />

bisher noch nicht an der Berger Schule. Die<br />

Schüler raten: „Schulgemeinschaft“, „Schul…“<br />

– Nachdem Frau Reichert ein bisschen auf <strong>die</strong><br />

Sprünge hilft, kommt Vildan schließlich auf<br />

„Schülermitverantwortung!“ Das erste, was <strong>die</strong><br />

Schüler sich von der SMV versprechen <strong>ist</strong>: „Länger<br />

Pause!“ Sie sehen jedoch schnell ein, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> gar nicht so toll <strong>ist</strong>, da sie dann länger in<br />

der Schule bleiben müssten.<br />

Nachdem der Begriff SMV ausführlich geklärt<br />

wurde, geht es mit dem Deutschunterricht weiter.<br />

Edita soll <strong>die</strong> Lesemappen austeilen. In den<br />

Schnellheftern <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Geschichte vom Erfinder<br />

der Blindenschrift, Louis Braille, abgeheftet.<br />

Jedes Kind soll einen Abschnitt daraus vorlesen.<br />

Die Me<strong>ist</strong>en lesen etwas stockend, und<br />

manchmal fragt jemand dazwischen: „<strong>Wo</strong> sind<br />

wir?“ Jedes für <strong>die</strong> Kinder schwierige <strong>Wo</strong>rt, wie<br />

zum Beispiel Schüttelfrost, Tuberkulose oder<br />

Organ<strong>ist</strong> wird von Karin Reichert ausführlich<br />

erklärt. Dadurch wird öfter vom eigentlichen<br />

Thema abgeschweift. Sefkije erzählt dann zum<br />

Beispiel, <strong>das</strong>s sie auch mal Fieber und Schüttelfrost<br />

hatte, und Vildan möchte auch etwas erzählen,<br />

hört damit aber überhaupt nicht mehr<br />

auf. Am Ende weiß sie wahrscheinlich selbst<br />

nicht mehr, was sie sagen wollte und <strong>die</strong> anderen<br />

haben auch nichts verstanden. Trotzdem<br />

hört <strong>die</strong> Lehrerin zu, nickt und bricht Vildans<br />

Redeschwall schließlich höflich ab: „Aha, gut,<br />

dann lesen wir jetzt mal weiter.“ Nachdem jedes<br />

Kind einen Abschnitt gelesen hat, <strong>ist</strong> große<br />

Pause.<br />

Kathrin Österle<br />

Jedes Kind hat<br />

seine Stärken<br />

und Schwächen<br />

In der Berger Schule in Stuttgart läuft der<br />

Unterricht anders ab als an anderen Schulen<br />

Danach geht es mit Mathe weiter. Karin Reichert<br />

ruft ein paar Schüler auf, <strong>die</strong> eine Reihe<br />

aus dem kleinen Einmaleins aufsagen müssen.<br />

Bei den Einen klappt <strong>das</strong> schon ganz gut, Andere<br />

haben noch Schwierigkeiten. Deshalb betont<br />

<strong>die</strong> Lehrerin, <strong>das</strong>s jedes Kind seine Stärken und<br />

Schwächen habe: „Ben <strong>ist</strong> gut in Mathe, kann<br />

aber nicht gut lesen, Vildan dagegen kann gut<br />

schreiben, wunderbar malen, <strong>ist</strong> aber schlecht<br />

in Mathe.“<br />

Dann teilt Karin Reichert ein Blatt mit Übungen<br />

zum kleinen Einmaleins aus. Alle machen konzentriert<br />

ihre Aufgaben. Manchmal flüstert jemand<br />

oder spickt ein bisschen bei den Anderen.<br />

„Kein Geschmotze bitte, schön muss es aussehen“,<br />

mahnt <strong>die</strong> Lehrerin. Außerdem verlangt<br />

sie, <strong>das</strong>s nächstes Jahr, in der 7. Klasse, alle <strong>das</strong><br />

kleine Einmaleins beherrschen, Plus und Minus<br />

rechnen, und außerdem gut lesen können. Wer<br />

in der Stunde nicht mit dem Blatt fertig wurde,<br />

muss es als Hausaufgabe machen.<br />

Das nächste Fach <strong>ist</strong> WZG (Welt-Zeit-Gesellschaft).<br />

Es geht um eine Reise von Sylt nach<br />

Garmisch. Derya soll an <strong>die</strong> Tafel kommen und<br />

auf der Karte zeigen, wo Sylt liegt. Etwas verunsichert<br />

zeigt sie auf <strong>die</strong> Nordsee, rutscht<br />

ein bisschen mit dem Finger herum und findet<br />

schließlich Sylt. Danach soll Kevin noch etwas<br />

vorlesen. Da es jedoch sehr unruhig in der Klasse<br />

wird und <strong>die</strong> Konzentration nachlässt, beendet<br />

<strong>die</strong> Klassenlehrerin heute etwas früher als<br />

sonst den Unterricht.<br />

Nach dem Unterricht möchte <strong>die</strong> 13-jährige Vildan<br />

ihr noch <strong>die</strong> Bilder zeigen, <strong>die</strong> sie in der<br />

Kunst-AG gemalt hat. Sie geht dort jeden Don-<br />

nerstag nach der Schule mit großer Bege<strong>ist</strong>erung<br />

hin. Im Schulhaus wurden einige ihrer<br />

Kunstwerke aufgehängt, und sie <strong>ist</strong> sehr stolz<br />

darauf.<br />

An drei Tagen der <strong>Wo</strong>che wird in der Berger<br />

Schule ein preiswertes Mittagessen angeboten,<br />

welches Martina Höschele, Hauswirtschafts-,<br />

TW-, und Sportlehrerin, mit Schülern der 9.<br />

Klasse kocht. Fast alle aus der Klasse essen dort<br />

und es schmeckt ihnen. An zwei Tagen der <strong>Wo</strong>che<br />

werden <strong>die</strong> Schüler außerhalb der Schule<br />

auch nachmittags betreut. Bis zur fünften Klasse<br />

gehen <strong>die</strong> Kinder dann nach der Schule ins<br />

Spielhaus, <strong>die</strong> Sechst- und Siebtklässler gehen<br />

ins Jugendhaus-Ost, und <strong>die</strong> Acht- und Neuntklässler<br />

gehen ins Werkstatthaus. Außerdem<br />

wird von Schülern des Heidehof-Gymnasiums<br />

Hausaufgabenbetreuung und Englischnachhilfe<br />

angeboten.<br />

Bis zur neunten Klasse kann man <strong>die</strong> Berger<br />

Schule besuchen. Anschließend kann ein Berufsvorbereitungsjahr<br />

an der Max-Eyth-Schule<br />

folgen. Ziel <strong>ist</strong> es, dort den Hauptschulabschluss<br />

zu schaffen. Vildan will später mal<br />

Krankenschwester oder Lehrerin werden „aber<br />

<strong>das</strong> ändert sich vielleicht noch, wenn ich älter<br />

bin“. Sefkije will Kassiererin oder Frisörin werden,<br />

Serhan Frisör. Die Anderen wissen es noch<br />

nicht.<br />

Karin Reichert <strong>ist</strong> 56 Jahre alt und unterrichtet<br />

seit 1999 an der Berger Schule. Sie hat sechs<br />

Semester Grund- und Hauptschullehrerin an der<br />

PH stu<strong>die</strong>rt und anschließend 4 Semester ein<br />

Zusatzstudium, welches sie zur Sonderschullehrerin<br />

ausbildete. Heute müsste man gleich Sonderpädagogik<br />

stu<strong>die</strong>ren, erklärt sie. Ihren Beruf<br />

mache sie gerne, „es <strong>ist</strong> immer sehr kurzweilig<br />

und macht sehr viel Spaß“. Aber anstrengend<br />

findet sie es trotzdem. „Mir <strong>ist</strong> wichtig, <strong>das</strong>s<br />

<strong>die</strong> Kinder mit Eifer und Spaß lernen und ihre<br />

eigene Le<strong>ist</strong>ung wertschätzen. Und <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Eltern<br />

sehen, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> Kind anstrengt, auch<br />

wenn <strong>die</strong> Geschw<strong>ist</strong>er an Regelschulen sind“,<br />

meint sie.<br />

Die Schüler der 6. Klasse sind alle motiviert<br />

und geben ihr Bestes, <strong>das</strong> erkennt Karin Reichert<br />

sehr an und sie <strong>ist</strong> zuversichtlich, <strong>das</strong>s<br />

jeder von ihnen einmal einen Beruf ausüben<br />

wird.<br />

In der 6. Klasse der Berger Schule sind insgesamt sieben Nationalitäten vertreten.


Seite 8 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 9<br />

Auch noch im hohen Alter gesund durchs Leben<br />

zu gehen, wird heutzutage zum Ziel vieler<br />

Menschen. Dafür <strong>ist</strong> man auch bereit, sich auf<br />

Fitnessgeräten zu quälen oder den täglichen<br />

Versuchungen beim Essen und Trinken zu widerstehen.<br />

Deshalb sind vor allem Diäten und<br />

Ernährungstipps groß in Mode. Eine der ältesten<br />

Entschlackungs- und Reduktionsdiäten<br />

<strong>ist</strong> <strong>das</strong> Heilfasten. Schon Hippokrates (460-370<br />

v.Chr.) schwor auf <strong>das</strong> Fasten als Heilmittel:<br />

„Wer stark, gesund und jung bleiben will,<br />

sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft<br />

und heile sein Weh eher durch Fasten<br />

als durch Medikamente.“<br />

Doch wer kann sich schon vorstellen, fünf Tage<br />

lang rund um <strong>die</strong> Uhr nichts zu essen? Ist es<br />

schwierig, eine solche Heilfastenwoche auszuhalten?<br />

Macht Fasten tatsächlich fit?<br />

Um <strong>die</strong>se Fragen zu beantworten, entschloss<br />

ich mich, in den Faschingsferien eine solche<br />

Fastenwoche durchzuführen. Wie es mir dabei<br />

erging, hielt ich protokollarisch fest und verfasste<br />

<strong>die</strong>sen Artikel.<br />

Am Anfang einer Fastenkur steht <strong>die</strong> ausführliche<br />

Information über eventuelle Risiken und<br />

ob <strong>die</strong> eigene körperliche Verfassung <strong>das</strong> Fasten<br />

zulässt. Da ich keine besonderen Krankheiten<br />

oder Beeinträchtigungen habe und deswegen<br />

auch keine Medikamente einnehmen muss,<br />

konnte ich mit dem Fasten beginnen. Der erste<br />

Schritt war <strong>die</strong> Ausarbeitung meines Fastenprogramms<br />

nach Buchinger und Lützner (siehe<br />

Tabelle).<br />

Während der gesamten Fastenzeit durfte ich so<br />

viel stilles Mineralwasser und Tee trinken, wie<br />

ich wollte.<br />

entlastungstag: Sonntag, 22. Februar 2009.<br />

Heute beginne ich meine Fastenwoche. Um meinen<br />

Magen-Darm-Trakt auf <strong>die</strong> bevorstehende<br />

Nahrungskarenz vorzubereiten, darf ich den<br />

ganzen Tag nur ca. 250g gekochten Reis mit<br />

ein wenig ungesüßtem Apfelmus essen. Morgens<br />

bin ich noch stark und denke, es wird<br />

kein Problem, doch <strong>das</strong>s heute der Geburtstag<br />

meiner Schwester <strong>ist</strong>, macht es mir nicht grade<br />

leicht. Denn während meine Familie schon<br />

mittags anfängt, Kuchen zu schlemmen, hocke<br />

ich vor meiner Schüssel Reis. Doch mit ein wenig<br />

Überwindungskraft schaffe ich es gut durch<br />

den Tag. Allerdings gehe ich früh ins Bett, da<br />

meine Eltern mit meiner Schwester und ihrer<br />

Austauschschülerin aus Italien zur Feier des<br />

Tages in eines meiner Lieblingsrestaurants zum<br />

Essen gehen.<br />

Maximilian Kuhn<br />

Qual oder Bewusstseins-<br />

erweiterung?<br />

Heilfasten – ein Selbstversuch.<br />

fastentag 1: Der Sauerkrautsaft gleich nach<br />

dem Aufstehen trifft mich hart, und <strong>das</strong> auch<br />

noch in den Ferien! Doch er tut seine Wirkung<br />

und ich spüre allmählich den Drang, <strong>die</strong> Toilette<br />

aufzusuchen. Durch ein wenig Lesen und<br />

Internetsurfen versuche ich mich abzulenken<br />

und <strong>die</strong> Zeit zur nächsten Mahlzeit zu überbrücken.<br />

Diese besteht allerdings leider nur aus einer<br />

warmen Gemüsebrühe, welche nicht gerade<br />

besonders sättigend <strong>ist</strong>. Gegen Spätnachmittag<br />

<strong>ist</strong> meine Psyche von Müdigkeit, Langeweile<br />

und dem Knurren meines Magens beherrscht,<br />

jedoch finde ich keine Motivation, an <strong>die</strong> frische<br />

Luft zu gehen oder Freunde zu treffen, um<br />

mich abzulenken. Und so verbringe ich den Rest<br />

des Tages mit einem Buch im Bett. Abends gibt<br />

es noch mal eine Portion Gemüsebrühe und ein<br />

Glas Obstsaft – welche Gaumenfreude!<br />

fastentag 2: Vorsichtig öffne ich <strong>die</strong> Augen<br />

und denke mit Schrecken an <strong>die</strong> nächsten 12<br />

Stunden Hungern, <strong>die</strong> bis heute Abend noch vor<br />

mir liegen. Doch als ich aufstehe und mich ein<br />

wenig strecke, fühle ich mich erstaunlich wach<br />

und fit – fitter als an anderen Morgen ohne<br />

Hungern. Mein Speiseplan sieht heute nicht<br />

viel anders aus als gestern, doch wenigstens<br />

muss ich zum Frühstück nicht <strong>die</strong>sen furchtbaren<br />

Sauerkrautsaft hinunterwürgen. Meine<br />

Entlastungstag Re<strong>ist</strong>ag<br />

Motivation etwas zu unternehmen, <strong>ist</strong> aus unerfindlichen<br />

Gründen zurückgekehrt und ich<br />

beschließe, den Tag mit Freunden zu verbringen<br />

und nicht wieder von Morgens bis Abends<br />

in meinem Bett herumzuliegen. Als ich abends<br />

nach Hause komme, würde ich schon gerne etwas<br />

anderes essen als Gemüsebrühe, doch ich<br />

finde mich langsam mit der Situation ab.<br />

fastentag 3: Auf dem Fastenplan steht wieder<br />

Sauerkrautsaft zum Frühstück. Dieser tut wiederum<br />

prompt seine Wirkung, obwohl mir nicht<br />

klar <strong>ist</strong>, wie da noch etwas abgeführt werden<br />

kann. Jetzt geht es mir wirklich gut. Ich bin<br />

gut gelaunt und unternehmungslustig. Doch<br />

tagsüber <strong>ist</strong> nichts los und ich entscheide mich<br />

dazu, abends ein wenig mit Freunden auszugehen.<br />

Nach meiner allabendlichen Gemüsebrühe<br />

fahre ich also los in <strong>die</strong> Stadt, um mich dort mit<br />

ihnen zu treffen. Als wir eine Kneipe gefunden<br />

haben, kann ich jedoch nur ein stilles Wasser<br />

bestellen und muss natürlich sofort erklären,<br />

was mit mir los <strong>ist</strong> und ob ich gesund bin.<br />

fastentag 4: Ich bin fit und habe keinen Hunger,<br />

allerdings möchte ich mir ständig <strong>die</strong> Zähne<br />

putzen, da ich ständig einen komischen Geschmack<br />

im Mund habe.<br />

fastentag 5: Schon wieder Sauerkrautsaft, aber<br />

morgen <strong>ist</strong> der erste Aufbautag!<br />

Aufbautag 1: Nach dem morgendlichen Anis-<br />

Fenchel-Kümmeltee, welcher mich immer an<br />

Krankheitstage in meiner Kindheit erinnert,<br />

darf ich einen Apfel essen. Ein solches Erlebnis<br />

war es noch nie vorher für mich gewesen, einen<br />

Apfel zu essen. Wie saftig, knackig und frisch<br />

der Geschmack sich auf meiner Zunge entfaltet!<br />

Als ich mittags dann auch noch eine richtige<br />

Morgens Mittags Abends<br />

Fastentag 1 Darmentleerung Gemüsebrühe Obstsaft<br />

mit Sauerkrautsaft Gemüsebrühe<br />

Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Fastentag 2 Anis-Fenchel-Kümmeltee Warmer Gemüsesaft Obstsaft<br />

Gemüsebrühe<br />

Fastentag 3 Darmentleerung Gemüsebrühe Gemüsebrühe<br />

mit Sauerkrautsaft Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Fastentag 4 Anis-Fenchel-Kümmeltee Gemüsebrühe Gemüsebrühe<br />

Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Fastentag 5 Darmentleerung Warmer Gemüsesaft Obstsaft<br />

mit Sauerkrautsaft Gemüsebrühe<br />

Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Aufbautag 1 Anis-Fenchel-Kümmeltee Gemüsesuppe Gemüsesuppe<br />

Vormittags: 1 Apfel mit Nudeln Knäckebrot, Joghurt<br />

Nachmittags: 1 Apfel Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Aufbautag 2 Anis-Fenchel-Kümmeltee Salat, Kartoffeln Knäckebrot<br />

Sauerkrautsaft, Karottengemüse Kräuterquark, Tomate<br />

Trinkmolke Joghurt Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />

Vormittags: 1 Apfel<br />

Gemüsesuppe mit Nudeln essen darf, bin ich<br />

schon sehr zufrieden und ausgesprochen satt.<br />

Das hätte ich nie gedacht, sonst <strong>ist</strong> eine solche<br />

Portion Suppe eher eine Vorspeise für mich. Das<br />

Knäckebrot, <strong>die</strong> restliche Gemüsesuppe und der<br />

Joghurt am Abend sind schon fast zu viel für<br />

mich. Doch den Rest des Abends verbringe ich<br />

wieder in der Stadt mit ein paar Freunden.<br />

Wer benutzt <strong>die</strong> eigentlich? Diese silbernen<br />

fahrräder mit dem roten „Deutsche Bahn“-<br />

Zeichen auf dem rahmen, von denen etwa<br />

zehn Stück an einer Station stehen? An über<br />

60 Stationen allein in Stuttgart und der näheren<br />

umgebung kann man sie ausleihen,<br />

aber wie oft sieht man denn jemanden damit<br />

herumfahren?<br />

Nun... Allein im letzten Jahr gab es 3700 aktive<br />

Nutzer <strong>die</strong>ses Call a Bike-Systems. Und es<br />

werden immer mehr. Angefangen hat alles mit<br />

einem Versuch vor sechs Jahren in Frankfurt.<br />

Inzwischen ex<strong>ist</strong>iert ein komplettes Netz der<br />

Fahrräder auch in Berlin, München, Köln, Stuttgart<br />

und Karlsruhe. Bis zum Ende des Jahres<br />

<strong>ist</strong> geplant, in 100 deutschen Städten jeweils<br />

mindestens eine kleine Radstation am Bahnhof<br />

zu errichten.<br />

Nicht nur Stadttour<strong>ist</strong>en, sondern auch gerade<br />

<strong>die</strong> städtischen Anwohner kommen momentan<br />

auf den Geschmack, spontan <strong>das</strong> Fahrrad anstatt<br />

den Bus zu nehmen. Miriam H. <strong>ist</strong> Architekturstudentin<br />

in Stuttgart und benutzt <strong>die</strong><br />

Räder seit etwa einem Jahr: „Im Winter fahr<br />

ich dann doch lieber Bus und Bahn, aber gerade<br />

jetzt im Frühling hab ich es wiederentdeckt.“<br />

Ihr altes Fahrrad wurde geklaut, und so kam sie<br />

auf <strong>die</strong> Idee, sich bei „Call a Bike“ anzumelden.<br />

Das sollte „eigentlich nur eine vorübergehende<br />

Lösung“ sein, aber inzwischen besitzt sie kein<br />

eigenes Rad mehr.<br />

Von 2007 bis 2008 gab es einen Zuwachs von<br />

83 Prozent an Nutzern <strong>die</strong>ses Fahrradverleihs.<br />

DB-Rent, ein Tochterunternehmen der Deutschen<br />

Bahn mit insgesamt 200 Mitarbeitern,<br />

hat <strong>das</strong> Projekt Call a Bike ins Leben gerufen.<br />

Das System <strong>ist</strong> ganz einfach: Im Internet kann<br />

man sich als Nutzer reg<strong>ist</strong>rieren lassen. Dabei<br />

gibt man nur in einem kleinen Informationsfeld<br />

seine Daten an und zahlt 5 Euro. Diese 5<br />

Euro stehen einem danach wieder als Call a Bike-Fahrtguthaben<br />

zur Verfügung. Um sich ein<br />

Fahrrad auszuleihen, wählt man mit dem Mobiltelefon<br />

kostenlos eine Nummer, <strong>die</strong> auf den<br />

Marvin Marquardt<br />

Aufbautag 2: Endgültig <strong>das</strong> letzte Mal Sauerkrautsaft<br />

und dazu noch Molke! Wie eklig!<br />

Doch der Apfel macht es wieder gut und mittags<br />

kann ich schon fast eine richtige Mahl-<br />

zeit zu mir nehmen: Salat, Kartoffeln, Karottengemüse<br />

und als Nachtisch noch Joghurt.<br />

Immer noch erstaunlich, wie schnell ich satt<br />

bin! Nach meinem leckeren Abendessen mit<br />

„Das Auto bleibt inzwischen<br />

me<strong>ist</strong>ens stehen“<br />

Call a Bike – Die Leihfahrräder der Deutschen Bahn erfreuen sich immer größerer Beliebtheit.<br />

Fahrrädern steht, und kurz darauf wird einem<br />

der PIN-Code, mit dem <strong>das</strong> Fahrrad entsichert<br />

wird, per SMS zugesendet und man hat darauf<br />

Zugriff. Man kann nun so lange mit einem erstklassigen,<br />

voll verkehrstauglichen Fahrrad mit<br />

acht Gängen umherfahren, wie <strong>das</strong> Guthaben<br />

reicht. Wenn man genug vom Fahrradfahren hat<br />

und am Ziel oder wieder an der Ausgangsstation<br />

<strong>ist</strong>, wird <strong>das</strong> Fahrrad einfach wieder angekettet<br />

und wartet dort auf den nächsten Nutzer.<br />

Wer beim Fahrradfahren mal ein Päuschen<br />

braucht oder schnell in einen Laden oder etwas<br />

besichtigen will, kann sein Vehikel auch an Ort<br />

und Stelle verriegeln. Die Weiterfahrt kann danach<br />

erfolgen, ohne Angst haben zu müssen,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Fahrrad geklaut wird. Leider läuft <strong>die</strong><br />

Uhr während <strong>die</strong>ser Sperre weiter.<br />

Da <strong>die</strong> Stadt <strong>die</strong>ses System unterstützt und der<br />

Deutschen Bahn einen Zuschuss zahlt, <strong>ist</strong> es<br />

nur hier in Stuttgart möglich, <strong>die</strong> erste halbe<br />

Stunde umsonst zu fahren. Jede folgende Minute<br />

kostet 8 Cent. Die Deutsche Bahn wirbt mit<br />

Sätzen wie „Mobiler durch <strong>die</strong> City“ – doch <strong>ist</strong><br />

man <strong>das</strong> auch?<br />

Matthias T. stimmt dem eindeutig zu. Er <strong>ist</strong> 32<br />

Jahre alt, und seit er in seiner Freizeit mit Call a<br />

Bike unterwegs <strong>ist</strong>, „steht <strong>das</strong> Auto mehr, als es<br />

gefahren wird. Innerhalb der Stadt benutze ich<br />

es fast gar nicht mehr.“ Inzwischen kennt er<br />

fast alle Stuttgarter Ausleihstationen. Dass er<br />

ein Fahrrad abgeben wollte und es keine Stellplätze<br />

mehr gab oder <strong>das</strong>s keine Räder mehr<br />

zur Verfügung standen, <strong>ist</strong> ihm bisher noch nie<br />

passiert. Der Service <strong>ist</strong> seiner Meinung nach<br />

„erste Sahne“. Aufmerksam auf Call a Bike <strong>ist</strong> er<br />

durch einen Bekannten geworden, und er würde<br />

es auch „jedem Stuttgarter ohne zu zögern<br />

weiterempfehlen“.<br />

Einen kleinen Nachteil hat <strong>die</strong>ses so praktische<br />

System aber auch: Ohne Handy funktioniert<br />

es einfach nicht. Doch wer erst einmal <strong>die</strong>se<br />

(heutzutage kleine) Hürde genommen hat, dem<br />

wird beim Benutzen <strong>die</strong>ser Leihfahrräder nichts<br />

mehr im Weg stehen.<br />

Kräuterquark, Knäckebrot und Tomate gehe ich<br />

guter Laune zum Tanzen.<br />

fazit: 3 kg Gewichtsabnahme, gute Laune,<br />

besondere Geschmacksempfindung und spürbare<br />

körperliche wie auch ge<strong>ist</strong>ige Fitness<br />

sind es wert, <strong>die</strong>se Erfahrung einmal zu machen.<br />

Abholbereit: An den zahlreichen Stationen in<br />

Stuttgart warten <strong>die</strong> rot-silbernen Drahtesel<br />

auf Kundschaft.<br />

© Tilman Rau<br />

Das Schloss der Fahrräder wird mit einem<br />

PIN-Code entriegelt, den man sich<br />

per SMS aufs Handy schicken lassen kann.<br />

© Tilman Rau<br />

Weitere Informationen<br />

und Reg<strong>ist</strong>rierung im Internet:<br />

www.callabike.de


Seite 10 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 11<br />

Auf den ersten Blick wirkt Daniel Benjamin<br />

wie jeder andere auch. Wie einer unter vielen.<br />

er wohnt in einer kleinen Stadt mit knapp<br />

9000 einwohnern in der nähe von Stutt-<br />

gart. Sein Zuhause nennt er seit zwei Jahren<br />

ein altes fachwerkhaus, in dem man besser<br />

Hausschuhe anzieht, denn sonst wäre es zu<br />

kalt. Hier lebt er zusammen mit seiner frau<br />

eleni. in seiner freizeit liest er gerne, schaut<br />

filme oder besucht Museen. und er freut sich<br />

immer, wenn er seine nachbarn sieht und<br />

mit ihnen ein „Schwätzchen“ halten kann.<br />

Doch gelangt man über <strong>die</strong> alte Holztreppe<br />

in den zweiten Stock seines Hauses, entdeckt<br />

man ein kleines tonstudio mit Drumset und<br />

gitarren. Daniel Benjamin <strong>ist</strong> Musiker.<br />

Spricht man ihn auf Musik an, beginnen seine<br />

Augen zu funkeln und man erkennt seine<br />

Bege<strong>ist</strong>erung und Leidenschaft für sie. Insbesondere<br />

über sein neues Album spricht Daniel<br />

Benjamin liebend gerne. Fünf Monate harte<br />

Arbeit, bis August 2008, hat ihn sein zweites<br />

offizielles Album mit dem vieldeutigen Titel<br />

„There’s A Monster Under Your Deathbed“ gekostet.<br />

„Das <strong>ist</strong> eine Zeile aus einem der Songs<br />

auf dem Album“, erklärt er. „Man könnte es so<br />

deuten, <strong>das</strong>s gewisse Dinge einen im Sterben<br />

doch noch einholen, oder <strong>das</strong>s es einem egal<br />

<strong>ist</strong>, ob Monster unter dem Bett sind.“ Die ersten<br />

1000 Exemplare des Albums sind alle von Hand<br />

gemacht: Karikaturen vom Künstler kleben auf<br />

Pappe. Die Blätter werden von einem Bastband<br />

zusammengehalten und durch Pergaminpapier<br />

getrennt. Zwischen den beiden letzten Papp-<br />

Musiker mit Eule: Daniel Benjamin posiert als<br />

Harry Potter-Double. Ansonsten zaubert er<br />

lieber mit Schlagzeug, Gitarre und Stimme.<br />

© Daniel Benjamin<br />

papieren <strong>ist</strong> <strong>die</strong> CD aufbewahrt und eine Plastikhülle<br />

schützt <strong>das</strong> handgemachte Album.<br />

Insgesamt werden 5000 CDs produziert. Im August<br />

2009 wird <strong>das</strong> Album veröffentlicht und<br />

für schlappe 15 Euro zu kaufen sein.<br />

Doch er produziert Musik nicht nur sehr gerne,<br />

er <strong>ist</strong> auch ein bege<strong>ist</strong>erter Musikhörer.<br />

Zu jeder Musikrichtung fällt ihm spontan ein<br />

Künstler oder eine Band ein, dessen oder deren<br />

Musik er toll findet. So <strong>ist</strong> er zum Beispiel im<br />

Pop-Bereich ein Fan von U2, hingegen in der<br />

Klassik mag er Philip Glass am liebsten, Extoll<br />

im Genre Death Metal und in der Electro- und<br />

Houserichtung hört er gerne Joy Electric. Ein<br />

Grund für <strong>die</strong>se Vielseitigkeit könnte <strong>die</strong> Tatsache<br />

sein, <strong>das</strong>s sich <strong>die</strong> Vielseitigkeit nicht nur<br />

auf Musikrichtungen bezieht, sondern auch auf<br />

<strong>die</strong> Vielzahl der Musikinstrumente, <strong>die</strong> Daniel<br />

Benjamin mehr oder weniger gut beherrscht.<br />

Sein Paradeinstrument <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Schlagzeug, aber<br />

auch Gitarre und Bassgitarre kann er gut spielen,<br />

außerdem <strong>ist</strong> er dabei, Streichinstrumente<br />

zu erlernen.<br />

Angefangen hat alles im Alter von fünf Jahren.<br />

Damals spielte er <strong>das</strong> erste Mal im Sommerurlaub<br />

auf Bongotrommeln herum. Von da an ließ<br />

ihn <strong>die</strong> Musik nicht mehr los. Ein paar Jahre<br />

später fing er an Schlagzeug zu spielen und<br />

hatte bereits mit 12 Jahren seine erste Band.<br />

Damals arbeiteten sie ein Jahr lang an einem<br />

Lied. Daraufhin folgten kleine Auftritte vor<br />

Freunden, dann in der Schule – und von da an<br />

ging alles Schlag auf Schlag: Das erste eigene<br />

Konzert, <strong>das</strong> erste eigene Demotape und wildfremde<br />

Leute, <strong>die</strong> auf einen zukommen.<br />

Nach der 11. Klasse brach Daniel Benjamin dann<br />

aufgrund der Musik <strong>die</strong> Schule ab, was er bis<br />

zum heutigen Tage nicht bereut. Er fing eine<br />

Ausbildung zum Erzieher an, <strong>die</strong> er dann jedoch<br />

wieder abbrach, um mit Gelegenheitsjobs, wie<br />

z.B. Nachtwächter in einer Mülldeponie, sein<br />

Geld zu ver<strong>die</strong>nen.<br />

Heute kann der 29-Jährige von seiner Musik leben,<br />

wenn auch nicht sehr gut. Er gibt deshalb<br />

zusätzlich noch Schlagzeugunterricht. Doch<br />

er will unabhängig von Geld sein, denn er bezeichnet<br />

<strong>die</strong> Musik als sein Lebenswerk. „Mit 80<br />

mache ich hundertprozentig immer noch Musik“,<br />

sagt er. Daniel Benjamin sieht sich selbst<br />

aber lieber als Kompon<strong>ist</strong>, weniger als Musiker<br />

oder Künstler, denn bei seinen Liedern <strong>ist</strong> ihm<br />

<strong>die</strong> Musik wichtiger als der Text: „Ich habe eine<br />

Sammlung von Texten, <strong>die</strong> ich immer wieder<br />

erweitere, und schreibe dann <strong>die</strong> Musik, suche<br />

einen passenden Text aus und überarbeite den<br />

Song dann noch einmal, damit Musik und Text<br />

Mara Seitzer<br />

Zum Musiker geboren<br />

Daniel Benjamin gehört zu den vielversprechendsten jungen Popmusikern<br />

der Stuttgarter Region<br />

genau aufeinander abgestimmt sind.“ Das Wichtigste<br />

<strong>ist</strong> ihm dabei <strong>die</strong> Tatsache, <strong>das</strong>s es seine<br />

eigene Musik <strong>ist</strong>. Mit covern kann er nicht viel<br />

anfangen, er drückt sich lieber mit viel Fantasie<br />

und Einfühlungsvermögen selbst in seinen<br />

Liedern aus.<br />

Seine Musikrichtung beschreibt Daniel Benjamin<br />

als „Easy L<strong>ist</strong>ening“. Ähnlich wie bei Pop-<br />

Musik soll sie Jung und Alt in jeder Lebenssituation<br />

ansprechen. „Meine Musik soll besonders<br />

sein, aber jeder soll sie verstehen können.“ Mit<br />

<strong>die</strong>sem Erfolgsgeheimnis will Daniel Benjamin<br />

noch viel weiter kommen, als er es bisher <strong>ist</strong>.<br />

„Ich sehe mich selbst erst im untersten Viertel<br />

der Karriereleiter.“ Sein Ziel <strong>ist</strong>, befreit Musik<br />

machen zu können, ganz und gar unabhängig<br />

von Geld, und keinesfalls als so genanntes<br />

„One-Hit-<strong>Wo</strong>nder“ in <strong>die</strong> deutschen Charts aufzusteigen<br />

und genauso schnell wieder abzufallen.<br />

Denn mit seiner jetzigen Situation <strong>ist</strong> Daniel<br />

Benjamin nicht unzufrieden: 2000 verkaufte<br />

Platten und Konzerte in ganz Europa sprechen<br />

eine Sprache für sich. „Wenn man sich erstmal<br />

in Deutschland etwas aufgebaut hat, wartet <strong>das</strong><br />

Ausland mit ausgebreiteten Armen“, sagt der<br />

gebürtige Nürtinger. „Als wir vor zwei Jahren<br />

zu einem Festival in Norwegen eingeladen waren,<br />

kannte uns dort kein Schwein, aber wir haben<br />

neue Kontakte geknüpft, und so konnten<br />

wir letztes Jahr durch Norwegen touren. 600 Kilometer<br />

und 25 Konzerte, <strong>das</strong> war schon geil.“<br />

Und wo er Recht hat, hat er Recht. Natürlich<br />

kann er nicht erwarten, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Leute überall<br />

so bege<strong>ist</strong>ert von seiner Musik sind. Im Schnitt<br />

hat Daniel Benjamin ca. 200 - 300 Zuschauer,<br />

und damit <strong>ist</strong> er zufrieden. Es macht auch keinen<br />

Unterschied, ob er und seine Mitmusiker<br />

im lokalen Umfeld spielen oder im europäischen<br />

Ausland. Doch eine Situation hat ihn selber<br />

auch etwas verblüfft: „Als wir als Support einer<br />

Band in Belgien gespielt haben und von den<br />

300 Zuschauern kein einziger Interesse zeigte.<br />

Am nächsten Tag aber haben wir dann vor zehn<br />

Leuten im <strong>Wo</strong>hnzimmer eines Freundes gespielt,<br />

und da haben wir mehr Alben verkauft als<br />

Leute da waren.“<br />

Insgesamt war Daniel Benjamin jetzt schon in<br />

15 Ländern in ganz Europa unterwegs und hat<br />

etwa 550 Konzerte gespielt. Natürlich will er an<br />

<strong>die</strong>sen Erfolg anknüpfen und in naher Zukunft<br />

auch über <strong>das</strong> europäische Ausland hinauskommen.<br />

„Mein Plattenlabel hat gute Kontakte<br />

nach Amerika und Japan. Das <strong>ist</strong> eine reizvolle<br />

Aufgabe für mich, in anderen Kontinenten etwas<br />

aufzubauen. Aber auch gleichzeitig eine<br />

sehr schöne!“<br />

Maximilian Höhnle<br />

Abhängigkeit<br />

und Langeweile<br />

Ein Tag als Rollstuhlfahrer im Altenheim<br />

– ein Selbstversuch.<br />

Zu Anfang dachte ich, <strong>das</strong>s es nicht so schwer<br />

sein kann, in einem Rollstuhl sein Leben zu<br />

verbringen. Aber als ich dann auch noch einen<br />

Beckengurt umgelegt bekam, wurde mir erst<br />

einmal gesagt, <strong>das</strong>s dafür erst eine richterliche<br />

Entscheidung da sein müsse, denn wenn man<br />

einem Heimbewohner zu seinem eigenen Schutz<br />

einen Beckengurt anlegt, gilt <strong>das</strong> als Freiheitsberaubung<br />

und muss erst durch Angehörige<br />

oder ein Gericht abgesegnet werden.<br />

Doppelte Herausforderung:<br />

Ein ganzer Tag im Rollstuhl, und dann<br />

auch noch in einem Seniorenheim.<br />

Es <strong>ist</strong> 9 Uhr morgens und wir befinden uns in<br />

einem großzügig eingerichteten Aufenthaltsraum.<br />

Es riecht nach Kaffee, der Fernseher läuft<br />

leise und in der Ecke steht ein Tischkicker. An<br />

einem Tisch sitzt eine Frau und trinkt ihren<br />

morgendlichen Kaffee. Der Raum <strong>ist</strong> schwach<br />

beleuchtet und ein Gefühl von Müdigkeit hängt<br />

in der Luft „Vor 10 Uhr <strong>ist</strong> hier unten noch nicht<br />

viel los“, meint einer der beiden Zivilarbeiter.<br />

„Die me<strong>ist</strong>en Bewohner schlafen noch.“<br />

Die Einrichtung in der Landhausstraße <strong>ist</strong> ein<br />

betreutes <strong>Wo</strong>hnheim für Menschen ohne Unterkunft,<br />

<strong>die</strong> <strong>das</strong> Hilfesystem schon mehrmals<br />

ohne Erfolg durchlaufen haben. Ihnen soll <strong>die</strong><br />

Möglichkeit gegeben werden, ihr Leben zu ordnen<br />

und es ohne Zeitdruck zu stabilisieren.<br />

Eine Verschlimmerung der Situation wird so<br />

verhindert. Außerdem wird sozialpädagogische<br />

Hilfe angeboten. Die Unterbringung der Klienten<br />

erfolgt in Einzel- und Doppelzimmern,<br />

insgesamt gibt es <strong>Wo</strong>hnplätze für dreißig Menschen.<br />

Den Bewohnern stehen vier Stockwerke<br />

zur Verfügung, und auf jeder Etage gibt es eine<br />

Küche und sanitäre Anlagen. Außerdem können<br />

sie kostenlos Waschmaschinen und Trockner<br />

benutzen. Im Erdgeschoss haben sie einen<br />

Am Anfang hatte ich auch keine Probleme damit.<br />

Die ersten Probleme kamen beim Frühstück.<br />

Nachdem ich gefrühstückt hatte, wollte<br />

ich meinen Teller und mein Besteck in <strong>die</strong> Küche<br />

bringen, musste aber feststellen, <strong>das</strong>s ich <strong>die</strong><br />

Sachen nicht mit meinen Händen transportieren<br />

konnte, da ich beide zum Fahren brauchte.<br />

Deshalb versuchte ich, alles auf meinem Schoß<br />

zu transportieren, was aber misslang, da es<br />

herunterrutschte. Die einzige Möglichkeit, <strong>die</strong><br />

mir blieb, war, meine Sachen stehen zu lassen,<br />

damit <strong>die</strong> Schwestern es wegräumen konnten,<br />

wobei ich mir ziemlich blöd vorkam, weil ich so<br />

hilflos war.<br />

Nach dem Frühstück erkundete ich <strong>das</strong> Stockwerk,<br />

um <strong>die</strong> aufkommende Langeweile zu<br />

vertreiben. Dies gelang mir aber nur für kurze<br />

Zeit, denn nach einigen Minuten war ich einmal<br />

durch <strong>das</strong> Stockwerk gefahren und hatte<br />

alles gesehen. Um mir dann <strong>die</strong> Langeweile<br />

zu vertreiben, fuhr ich wieder in den Aufenthaltsraum,<br />

in dem auch nicht viel los war, wo<br />

aber eine Zeitung darauf wartete, gelesen zu<br />

werden. Diese Zeitung hatte ich einem netten<br />

Mitbewohner zu verdanken, der mir auch einige<br />

Zeit am Vormittag Gesellschaft le<strong>ist</strong>ete, am<br />

Nachmittag aber leider nicht mehr konnte, weil<br />

er eingeladen war. So las ich eben <strong>die</strong> Zeitung<br />

aufmerksamst durch, um so viel Zeit wie nur<br />

möglich herum zu bekommen. Als ich aber nach<br />

einer halben Stunde fertig war, fing <strong>das</strong> Ganze<br />

wieder von vorne an. Zum Glück musste ich<br />

nicht lange auf meinen nächsten Höhepunkt<br />

warten – <strong>das</strong> Mittagessen.<br />

Nach dem Essen erfuhr ich wieder <strong>die</strong> Abhängigkeit<br />

einer Person im Rollstuhl. Da ich am<br />

Morgen schon gelernt hatte, <strong>das</strong>s ich mein Ge-<br />

Robert Nowak<br />

großzügige<br />

räume anstatt<br />

einem Leben auf<br />

der Straße<br />

Ein Tag im Stuttgarter Caritas-<strong>Wo</strong>hnheim<br />

in der Landhausstraße<br />

großzügig eingerichteten Aufenthaltsraum mit<br />

Fernseher, Internetzugang und Tischkicker.<br />

Doch wie entsteht überhaupt <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

und <strong>die</strong> Armut, in so ein <strong>Wo</strong>hnheim zu ziehen?<br />

„Naja, ich war lange Zeit krank, habe dadurch<br />

meinen Arbeitsplatz verloren, und dann kam<br />

auch noch <strong>die</strong> Scheidung, was alles einfach zu<br />

viel war“, berichtet eine Frau. „Das Schlimme<br />

an Armut <strong>ist</strong> der Teufelskreis: Wer obdachlos<br />

<strong>ist</strong>, bekommt keinen Job. Wer keinen Job hat,<br />

Zeitunglesen <strong>ist</strong> eins der wenigen Dinge,<br />

<strong>die</strong> man zum Zeitvertreib tun kann.<br />

schirr nicht selbst wegräumen kann, kam ich<br />

mir jetzt richtig blöd vor, weil einige Bewohner<br />

vom Tisch aufstanden und ihr Geschirr in <strong>die</strong><br />

Küche trugen, ich aber sitzen bleiben und warten<br />

musste, bis eine Schwester mein Geschirr<br />

wegräumte.<br />

Um mir meine Langeweile zu vertreiben, las ich<br />

den Sportteil der Zeitung noch einmal ganz genau.<br />

Aber auch <strong>das</strong> half nicht lange. Weil ich<br />

nicht mehr wusste, was ich machen sollte, fuhr<br />

ich einfach mit meinem Rollstuhl durch <strong>das</strong><br />

Stockwerk – zum wiederholten Male – und las –<br />

zum x-ten Male – <strong>die</strong> Heimbekanntmachungen.<br />

Ich blieb noch bis zum Abendessen und verabschiedete<br />

mich dann und war froh, endlich<br />

wieder laufen zu können, denn den ganzen Tag<br />

sitzen strengt ziemlich an.<br />

Bei meinem Selbstversuch habe ich gelernt, wie<br />

schwer es Menschen im Rollstuhl haben, vor<br />

allem wenn sie dann auch noch ein Handicap<br />

besitzen und sich nicht alleine versorgen können.<br />

Das hat mir gezeigt, <strong>das</strong>s man Menschen<br />

im Rollstuhl auch mal unterstützen sollte, wenn<br />

sie etwas nicht alleine schaffen.<br />

wird nur sehr schwer eine <strong>Wo</strong>hnung bekommen<br />

oder kann sich erst gar keine le<strong>ist</strong>en.“<br />

Besonders schwer haben es oft auch Menschen,<br />

<strong>die</strong> aus dem Ausland nach Deutschland kommen,<br />

keine Sozialhilfe erhalten und auf der Straße<br />

leben müssen. Diesen Menschen wird geholfen,<br />

indem man sie entweder an ein <strong>Wo</strong>hnheim vermittelt,<br />

wie z.B in der Landhausstraße, oder<br />

ihnen Arbeit über <strong>das</strong> Jobcenter verschafft.<br />

Im obersten Stock des Gebäudes befindet sich<br />

<strong>das</strong> Büro von Herr Hirzel, dem Chef der Einrichtung.<br />

Es gibt auch eine große Terrasse für<br />

ihn und <strong>die</strong> Zivil<strong>die</strong>nstle<strong>ist</strong>enden. Wer meint,<br />

ein Chef einer Caritaseinrichtung hätte einen<br />

langweiligen Job, irrt sich gewaltig. „Mein Alltag<br />

vereint <strong>die</strong> Berufsfelder eines Psychologen,<br />

eines Schauspielers und oft auch eines Erziehers,<br />

wenn ich eine der vielen Streitigkeitten<br />

unter den Bewohnern schlichten muss“, erzählt<br />

Herr Hirzel stolz. Für ein anschauliches Beispiel<br />

für <strong>die</strong>se Aussage sorgen kurz darauf zwei Bewohner,<br />

<strong>die</strong> sich zerstritten haben. „Der hier<br />

hat gestern gesoffen, und dann <strong>ist</strong> er auf mich<br />

losgegangen!“, schreit einer der beiden. „Ist<br />

nicht wahr!“, lautet der Konter.<br />

Fortsetzung auf Seite 12


Seite 12 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 13<br />

Fortsetzung von Seite 11<br />

Doch Herr Hirzel will auf <strong>die</strong> Argumente gar<br />

nicht erst eingehen. Er spielt einen strengen<br />

und wütend herumschreienden Chef. Er gibt beiden<br />

<strong>die</strong> letzte Warnung, schreit sie an, <strong>das</strong>s sie<br />

sich in Zukunft gegenseitig aus dem Weg gehen<br />

sollen und brüllt zu guter Letzt: „Raus jetz hier<br />

und keine Widerrede, ihr habt Fernsehverbot!“<br />

Beide sind von der „Show“ so eingeschüchtert,<br />

<strong>das</strong>s sie nur „Jawohl“ antworten und den Raum<br />

verlassen. Sobald beide den Raum verlassen haben,<br />

ändern sich schlagartig Hirzels Gesichtszüge,<br />

und grinsend sagt er: „Genau <strong>das</strong> meine<br />

ich.“ Viel Zeit zum Erholen bleibt ihm allerdings<br />

nicht, <strong>die</strong> nächsten zwei Kandidaten klopfen<br />

an der Tür. Sie flehen den Chef an, ihnen den<br />

Fernseher zurückzugeben, nachdem er ihnen<br />

<strong>das</strong> Gerät für 14 Tage abgenommen hatte. Sie<br />

wollen ihn schon zwei Tage früher haben.<br />

Der Fernseher wurde ihnen abgenommen, weil<br />

einer der Beiden nachts gerne mit dem Fernseher<br />

sehr laute Selbstgespräche führte, während<br />

der andere versuchte, den Monolog zu beenden,<br />

indem er mit einer Eisenstange, <strong>die</strong> er aus dem<br />

Ohrenbetäubende Musik schlägt mir entgegen,<br />

als ich am 8. März langsam <strong>die</strong> schmalen<br />

treppen zum Keller Klub in Stuttgart hinabsteige<br />

und mich in einem großen und dunklen<br />

raum wiederfinde, welcher ziemlich gut<br />

besucht <strong>ist</strong>. etwa 140 Leute, <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en um<br />

<strong>die</strong> 18 Jahre alt, aber auch Ältere, bevölkern<br />

den raum, sitzen an der Bar oder stehen im<br />

raum. Doch versucht jeder, möglichst den<br />

besten Blick zur Bühne zu haben, <strong>die</strong> gegenüber<br />

dem eingang empor ragt.<br />

Die erste Band des heutigen Abends spielt ihr<br />

letztes Lied, aber wegen ihr bin ich ja auch<br />

nicht hier, sondern wegen der jungen Band NBQ,<br />

welche gerade dabei <strong>ist</strong>, sich auf ihren Auftritt<br />

vorzubereiten. Von Nervosität keine Spur, <strong>die</strong><br />

Bandmitglieder scherzen und lachen, während<br />

sie noch einmal den Sound checken und sich<br />

auf <strong>die</strong> Bühne begeben.<br />

Aus dem hinteren Teil des Clubs und von der<br />

Bar lösen sich Leute und stellen sich in <strong>die</strong> erste<br />

Reihe, bis man dicht aneinander gedrängt<br />

zu stehen kommt und erwartungsvoll auf <strong>die</strong><br />

Bühne sieht. „Jeder Song hat eine Geschichte“,<br />

fängt der Sänger und Keyboarder Dario an, zum<br />

ersten Lied hinzuleiten, während sanfte Akkorde<br />

des Gitarr<strong>ist</strong>en Dave, ein leises Streichen<br />

Julian Wissner<br />

Kleiderschrank ausgebaut hatte, auf den Tisch<br />

hämmerte. Da sich beide in der letzen Zeit gut<br />

benommen haben, gibt Herr Hirzel den Beiden<br />

den Fernseher zurück, mit den <strong>Wo</strong>rten: „Wenn<br />

sowas nochmal vorkommt gibt’s Ärger!“<br />

Auch den Zivil<strong>die</strong>nstle<strong>ist</strong>enden wird in der<br />

Landhausstraße nicht so schnell langweilig. Sie<br />

sind für <strong>die</strong> Verwaltung zuständig, machen täglich<br />

Kontrollgänge und schauen in <strong>die</strong> Zimmer.<br />

Was sie dabei sehen, <strong>ist</strong> sehr unterschiedlich:<br />

Manche Zimmer sind wegen intensiven Geruchs<br />

nahezu unbetretbar, andere wiederum sehen<br />

recht ordentlich und gesittet aus. „Der Mann<br />

hier <strong>ist</strong> über 50 Jahre alt und spielt trotzdem<br />

noch den Großteil des Tages an Konsolen oder<br />

am PC“, sagt einer der Zivis und zeigt auf eine<br />

Zimmertür.<br />

Nach Öffnen der Tür sieht man einen kleinen<br />

Raum, in dem ein Mann vor dem PC sitzt und<br />

ein veraltetes Computerspiel spielt. Zu seiner<br />

Linken stapeln sich haufenweise Computerspiele.<br />

„Wenn <strong>die</strong> Spielesucht einen einmal richtig<br />

gepackt hat, kommt man schwer wieder davon<br />

los“, sagt er dazu.<br />

unvergleichlicher Sound<br />

aus unterschiedlichen Stilen<br />

Die Stuttgarter Band No Better Question (NBQ) bege<strong>ist</strong>ert ihr Publikum<br />

über <strong>das</strong> Drumset von Basti und behäbige Töne<br />

des Bass<strong>ist</strong>en Francois <strong>die</strong> Illusion erzeugen,<br />

man befände sich auf einer Südseeinsel.<br />

Und dann geht es los. „Samba“ heißt <strong>das</strong> Lied,<br />

und es macht seinem Namen alle Ehre. Elemente<br />

aus Rock, Funk und Jazz vereinen sich zu einem<br />

unvergleichlichen Sound. Auch wird bei <strong>die</strong>sem<br />

Lied <strong>das</strong> Publikum miteinbezogen, welches bege<strong>ist</strong>ert<br />

mitsingt. Am Ende des Liedes klatscht<br />

und johlt <strong>die</strong> Menge wie verrückt, zweifelsohne<br />

gefällt es den Leuten.<br />

Das zweite Lied <strong>ist</strong> eine ruhige Ballade mit Namen<br />

„Starrider“, und auch hier wird <strong>das</strong> Publikum<br />

auf gewitzte Weise durch Verteilen von<br />

Feuerzeugen miteinbezogen. Das dritte Lied<br />

<strong>ist</strong> eine hitzige Polka, <strong>die</strong> auch so heißt und in<br />

der Dave ein fantastisches Gitarrensolo spielt,<br />

gefolgt von dem Hardrock-Lied „Get it on“, in<br />

dem Sänger Dario sich me<strong>ist</strong>erhaft in Ekstase<br />

spielt, wobei auch auffällt, <strong>das</strong>s er alle Songs<br />

in perfektem American-English singt. Noch ein<br />

Song folgt, bevor <strong>die</strong> letzte Band des heutigen<br />

Abends auf <strong>die</strong> Bühne kommt.<br />

No Better Question im Internet:<br />

www.myspace.com/nbqrocks<br />

„Sowas <strong>ist</strong> uns allerdings viel lieber als <strong>die</strong><br />

hemmungslose Trinkerei schon zur Mittagszeit“,<br />

findet der Zivi und zeigt in ein anderes<br />

Zimmer, in welchem schon zur Vormittagszeit<br />

Alkohol konsumiert wird und ein ganz anderer<br />

Wind weht.<br />

Doch wie sieht der Tagesablauf eines Be-<br />

wohners des <strong>Wo</strong>hnheimes aus? „Naja, im Grunde<br />

nicht viel anders als ein normaler Alltag, nur<br />

ohne Arbeit“, erzählt Siegfried K., ein Bewohner<br />

des Hauses. „Auch für Essen müssen wir<br />

selber sorgen, entweder selber kochen oder in<br />

<strong>die</strong> Tagesstätte der Caritas am Olgaeck gehen,<br />

dort bekommt man morgens kostenlos Frühstück<br />

und Kaffee für 30 Cent, und mittags ein<br />

preiswertes Mittagessen.“<br />

Die Zeiten zwischen den Mahlzeiten vertreibt<br />

sich jeder anders. Die Geselligen treffen<br />

sich im Gemeinschaftsraum zum Tischkickern<br />

oder zum gemeinsamen Fernsehen.<br />

In <strong>die</strong>ser Einrichtung darf allerdings nicht jeder<br />

Bedürftige wohnen. Vor dem Einziehen wird<br />

von den Zivilarbeitern überprüft, ob <strong>die</strong> Bewerber<br />

vielleicht aggresiv werden könnten.<br />

Der Auftritt der vier Jungs war sagenhaft, ohne<br />

Frage haben sie viel Talent. Kein Song klingt<br />

wie der vorherige, einmal eine Samba, dann<br />

eine schnelle Polka, und dann wiederum eine<br />

sanfte Ballade. Das, was <strong>die</strong> Musik zu bieten<br />

hat, nutzen sie voll und ganz aus, und nicht<br />

nur beherrschen sie ihre Instrumente, sondern<br />

haben auch noch reichlich Ideen und Witz. Mit<br />

glatten 123 Stimmen gewinnen sie dann auch<br />

den wohlver<strong>die</strong>nten ersten Platz und kommen<br />

so ins Finale am 21. Mai in der Röhre. Das Publikum<br />

<strong>ist</strong>, wen immer man auch fragt, bege<strong>ist</strong>ert<br />

von <strong>die</strong>ser jungen Band.<br />

Doch wofür steht NBQ, wie lange besteht <strong>die</strong><br />

Band schon und wer sind <strong>die</strong> Mitglieder? Bei<br />

einem Interview mit der Band in ihrem Proberaum<br />

bringe ich folgendes in Erfahrung:<br />

Die Band „No better Question“ entstand Ende<br />

2007 mit dem Sänger Dario, dem Gitarr<strong>ist</strong>en<br />

Dave und damals noch dem Drummer Friedrich.<br />

Sie spielen eine Mischung aus Rock, Funk und<br />

Progressive, öffnen sich aber anderen Stilrichtungen,<br />

wie abgefreaktem Jazz, Blues, Soul,<br />

und lyrikbetontem Hip-Hop.<br />

Doch schon am Anfang kam es zum Problem<br />

der Namensfindung, lange suchten sie vergeblich,<br />

bis sie sich aufgebracht fragten, warum<br />

sie eigentlich keine bessere Frage hatten, als<br />

sich immer <strong>die</strong>selbe Frage zu stellen: „Ey man,<br />

you got no better question?“ „Und so wurde <strong>die</strong><br />

Frage zur Antwort“, erzählt der Sänger Dario lächelnd.<br />

NBQ war geboren.<br />

Dann wendeten sie sich an Max Knotz, den sie<br />

noch aus den Zeiten der „Red Carpets“ kannten,<br />

ihrer ersten richtigen Band. Bei ihm hatten sie<br />

im Studio einige Demoversionen eingespielt.<br />

Also fragten sie erneut bei ihm nach und nahmen,<br />

über eine lange Zeitspanne hinweg, den<br />

Song „Jane“ auf.<br />

Durch Max kamen sie auch an ihren ersten<br />

Auftritt, zwei weitere folgten, doch dann flogen<br />

Dario und Dave als Austauschschüler für<br />

ein Jahr nach Amerika, und so musste sich <strong>die</strong><br />

Band vorübergehend auflösen. Ein Jahr später<br />

kehrten sie zurück, doch Friedrich, der Drummer,<br />

war inzwischen einer Metalband beigetreten,<br />

und so musste ein neuer her.<br />

Man suchte und man fand Sebastian, der zuvor<br />

zusammen mit Mark und Alejandro (beide nun<br />

in der Band „Sonando“) ebenfalls bei Red Carpet<br />

gespielt hatte.<br />

Im November 2008 beschlossen sie, No Better<br />

Question fortzusetzen, und mit großem Elan<br />

widmete man sich trotz der schulischen Mühsalen<br />

<strong>die</strong>sem neuen Projekt. Max Knotz kam<br />

wieder herbei und verschaffte der neuen Besetzung<br />

erneut einen Auftritt im Jugendhaus<br />

Paul Plattner<br />

Zwischen<br />

öffentlichem<br />

Ärgernis und<br />

Profikarriere<br />

In Stuttgart haben es Skater schwer – trotzdem<br />

bringt <strong>die</strong> Stadt immer wieder Profis hervor<br />

ein sonniger tag, nicht zu heiß und nicht zu<br />

kalt: Perfektes Wetter, um raus zu gehen und<br />

Skateboard zu fahren. Alex funk (33) trifft<br />

sich gegen Mittag mit seinen freunden am<br />

so genannten „ei“ – dem größten treffpunkt<br />

der Stuttgarter Skateszene. Das „ei“ befindet<br />

sich hinter dem Hauptbahnhof und bietet<br />

eine große fläche mit ebenem, glattem<br />

Boden, der sich perfekt zum Skaten eignet.<br />

Mittlerweile <strong>ist</strong> Alex Funk nicht mehr so oft<br />

unterwegs, da er inzwischen Familie und Beruf<br />

hat, jedoch erinnert er sich gut daran, wie<br />

er Ende der 80er-Jahre, als Skateboarden in<br />

Deutschland wieder populär wurde, täglich bis<br />

zu zehn Stunden auf den Straßen war, um zu<br />

skaten. „Normalerweise <strong>ist</strong> Skateboardfahren<br />

am ‚Ei’ verboten, und nahezu jeden Tag gibt es<br />

Auseinandersetzungen mit dem Sicherheits<strong>die</strong>nst<br />

der BW-Bank oder sogar der Polizei“, erzählt<br />

der 12-jährige Erik Müller. „Uns schreckt<br />

<strong>das</strong> jedoch nicht ab, am nächsten Tag wieder<br />

dort zu fahren.“<br />

Laut dem „Place-Skateboardmagazin“ gibt es in<br />

Stuttgart <strong>die</strong> größte Skateszene Deutschlands,<br />

jedoch werden Skater nach wie vor weder von<br />

der Stadtverwaltung noch von der Bevölkerung<br />

toleriert. Das bedeutet: Die Stadt versucht <strong>die</strong><br />

Extremsport-Bege<strong>ist</strong>erten dahin zu verlagern,<br />

Heslach. Im Februar schließlich hatte <strong>die</strong> Band<br />

ihren zweiten Gig, beim Dillmann Band Festival,<br />

jedoch benötigten sie für <strong>die</strong>sen Auftritt<br />

einen Bass<strong>ist</strong>en.<br />

Francois, der schon früher mit ihnen gespielt<br />

hatte, gesellte sich hinzu und lernte <strong>die</strong> Songs<br />

der Band innerhalb kürzester Zeit auswendig.<br />

Nun war NBQ um einen Kopf gewachsen. Auch<br />

hinter den Kulissen, im Privaten, sind <strong>die</strong> vier<br />

Jungs sehr sympathisch und humorvoll. So oft<br />

wie möglich üben <strong>die</strong> vier musikbege<strong>ist</strong>erten<br />

Jungs zusammen und nehmen in ihrem Proberaum<br />

neue Lieder auf.<br />

Zwischenzeitlich gewannen sie mehrere Con-<br />

tests und spielen am 28. Juni im LKA in Wangen<br />

beim Bundesfinale des „Emergenza Music<br />

Festivals“. (Zu einem Sieg hat es dort aber nicht<br />

gereicht, Anm. d. Red.)<br />

wo sie niemanden stören. Die Skateboardanlagen<br />

werden weit außerhalb in Industriegebiete<br />

oder neben Sportplätze gebaut, so<strong>das</strong>s der Lärm,<br />

der durch <strong>die</strong> Holzbretter entsteht, keine Anwohner<br />

belästigen kann. Um Stuttgart herum<br />

gibt es daher einige „Skateparks“, <strong>die</strong> oftmals<br />

nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar<br />

sind und daher wenig befahren werden.<br />

Der einzige zentral liegende Park, der ebenfalls<br />

wenig befahren wird, befindet sich im<br />

so genannten „Bohnenviertel“, der Altstadt<br />

Stuttgarts. In der Szene <strong>ist</strong> <strong>die</strong>ser Park nur als<br />

„Nuttenpark“ bekannt, da sich in <strong>die</strong>ser Gegend<br />

<strong>das</strong> Rotlichtmilieu befindet. Am Ende des Parks<br />

sind „Dixi-Toiletten“ aufgestellt, <strong>die</strong> einen beißenden<br />

Uringeruch verbreiten und ausschließlich<br />

von Obdachlosen genutzt werden. „Dort<br />

muss man aufpassen, <strong>das</strong>s man nicht durch<br />

Erbrochenes oder Scherben fährt“, erzählt Alex<br />

F. Es sei sogar nicht selten vorgekommen, <strong>das</strong>s<br />

er dort Spritzen von irgendwelchen Junkies gefunden<br />

habe. Zusätzlich befindet sich direkt<br />

daneben ein Fußballplatz, auf dem überwiegend<br />

Unruhestifter herumlungern, <strong>die</strong> nur darauf<br />

warten, <strong>das</strong>s ihnen ein Skater einen falschen<br />

Blick zuwirft.<br />

Trotzdem gibt es in Stuttgart relativ viele Fahrer,<br />

<strong>die</strong> international bekannt sind. Bestes Beispiel<br />

dafür <strong>ist</strong> der 19-jährige Lem Villemin, der<br />

von einigen der bekanntesten Skateboardfirmen<br />

der Welt gesponsert wird. Unter anderem<br />

fährt er für <strong>das</strong> „Adi<strong>das</strong>-Global-Team“, wodurch<br />

er monatlich ca. 20 Paar neue Schuhe und ein<br />

sattes Gehalt bekommt. Er konnte sich schon<br />

auf mehreren internationalen Contests beweisen<br />

und <strong>ist</strong> alle zwei bis drei Monate mit einem<br />

seiner Sponsoren auf Tournee quer durch <strong>die</strong><br />

Welt. Mit dem Adi<strong>das</strong>-Team war er letztes Jahr<br />

in Japan, Mexiko, den USA und in vielen Städten<br />

Europas, wie im kürzlich veröffentlichten<br />

Adi<strong>das</strong>-Skatevideo „Diagonal“ zu sehen <strong>ist</strong>.<br />

Ein besonders erschütternder Fall <strong>ist</strong> dem damals<br />

18-ährigen Andres Nadolski untergekommen.<br />

Er <strong>ist</strong> vor ca. drei Jahren abends gegen 21<br />

Uhr mit zwei Freunden im Schritttempo durch<br />

Seit Ende 2007 macht <strong>die</strong> Band unter dem Namen<br />

„No Better Question“ Musik, <strong>die</strong> aktuelle<br />

Besetzung gibt es aber erst seit Anfang 2009.<br />

<strong>die</strong> Fußgängerzone der Königstraße gefahren.<br />

Zwei Männer des <strong>Ordnung</strong>samtes, welche sie dabei<br />

erwischten, beschlagnahmten ihre Boards<br />

und verlangten ein Bußgeld von 80 Euro. Zudem<br />

bekam Andreas Nadolski ein paar <strong>Wo</strong>chen<br />

später einen Brief des Kraftfahrt-Bundesamtes<br />

in Flensburg, in dem ihm mitgeteilt wurde, <strong>das</strong>s<br />

er seinen zwei Monate alten Führerschein verloren<br />

habe, da ihm auf Grund <strong>die</strong>ses Deliktes zwei<br />

Punkte im Verkehrszentralreg<strong>ist</strong>er zugeschrieben<br />

worden seien. In Briefen des <strong>Ordnung</strong>samtes,<br />

so erzählt er, wurden <strong>die</strong> Skateboards<br />

als „Spielzeug“ bezeichnet, und so fragt man<br />

sich, wie <strong>die</strong>ser Fall zum Verkehrsdelikt werden<br />

kann. Rechtlich dürfte man weder auf der Straße<br />

noch auf dem Gehweg fahren.<br />

Damals berichteten mehrere Zeitungen und sogar<br />

RTL von <strong>die</strong>sem Fall, jedoch vergeblich. Andreas<br />

Nadolski erstattete Anzeige, jedoch wären<br />

<strong>die</strong> Anwaltskosten um <strong>das</strong> vierfache teurer<br />

gewesen, als <strong>die</strong> Führerscheinprüfung zu wiederholen.<br />

2004 wurden beim „Hell Battle“, einem Skatecontest,<br />

den der Skateshop „Hall Eleven“ jeden<br />

Sommer in Cannstatt in der „Boost“-Skatehalle<br />

organisiert, Unterschriften für einen neuen<br />

Skatepark gesammelt. Dieses Projekt startete<br />

der Architekt Matthias Bauer, der in den 80ern<br />

und 90ern zu den besten Skatern Europas gehörte.<br />

2005 wurde schließlich entschieden, <strong>das</strong>s<br />

auf einer ungenutzten Fläche hinter dem Pragfriedhof<br />

ein neuer Skatepark entstehen sollte.<br />

Anfang 2008 wurden <strong>die</strong> Arbeiten begonnen<br />

und <strong>die</strong> Eröffnung des Parks auf November gelegt.<br />

Das Datum konnte nicht eingehalten werden,<br />

und so wurde <strong>das</strong> Datum auf den 19. Mai<br />

2009 gelegt.<br />

Die Skater fuhren jedoch den ganzen Winter auf<br />

der halbfertigen Baustelle, da ein großer Teil<br />

schon befahrbar war. Täglich beschwerten sich<br />

Anwohner eines nahe gelegenen Hochhauses<br />

über den Krach, und beinahe täglich gab es<br />

auch hier Konflikte mit der Polizei. „Der Park<br />

<strong>ist</strong> <strong>die</strong> große Hoffnung der Stuttgarter Skater“,<br />

so Alex Funk.


Seite 14 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 15<br />

Was <strong>ist</strong> eigentlich Downhill? Downhill <strong>ist</strong> ein<br />

Sport, bei dem man sich auf gut gefederte<br />

fahrräder setzt und enge, steile Waldwege<br />

hinunter fährt, um dabei möglichst schnell<br />

zu werden.<br />

In Stuttgart bieten sich hierfür gute Gelegenheiten.<br />

Wälder gibt es genügend, außerdem<br />

eine gute „Hochfahrmöglichkeit“, nämlich <strong>die</strong><br />

Zahnradbahn, <strong>die</strong> zwischen dem Marienplatz<br />

und Degerloch, dem Anfang des (noch) illegalen<br />

Downhill-Strecken-Gebietes pendelt. Auf<br />

der so genannten „Dornhalde“ fahren nicht nur<br />

Downhiller direkt aus Stuttgart, sondern auch<br />

aus entfernteren Gebieten, wie zum Beispiel<br />

Reutlingen.<br />

Aus Reutlingen <strong>ist</strong> auch Markus S. mit seinem<br />

Kumpel gekommen, um sich auf der Strecke<br />

„den Kick zu geben“, wie sich der fast 17-Jährige<br />

ausdrückt. „Ist schon praktisch, schade<br />

nur, <strong>das</strong>s es noch nicht legal <strong>ist</strong>. Hoffentlich<br />

ändert sich da bald was.“ Auf <strong>die</strong> Frage, was<br />

denn passiere, wenn zum Beispiel <strong>die</strong> Polizei<br />

einen Downhillfahrer aufgreift, antwortete er:<br />

„In der Regel nicht viel, wenn man nicht gerade<br />

auf Streit mit denen aus <strong>ist</strong>. Von was Schlimmerem<br />

als einer Verwarnung und der Persona-<br />

lienaufnahme hab ich noch nicht gehört.“<br />

Ärger gibt es aber nicht nur mit der Polizei,<br />

auch viele der anderen Waldbenutzer sind mit<br />

den Downhillfahrern nicht einer Meinung. Für<br />

Hundebesitzer und ältere Ehepaare seien „<strong>die</strong>se<br />

verrückten Verkleideten nur eine Plage“. Die<br />

Lage der Strecke <strong>ist</strong> allerdings nicht <strong>die</strong> beste,<br />

da sie direkt über einen der me<strong>ist</strong>benutzten<br />

Waldwege, und zwar direkt nach einem steilen<br />

Stück der Strecke, führt, wo es natürlich leicht<br />

dazu kommen kann, <strong>das</strong>s Waldbesucher für <strong>die</strong><br />

Downhillfahrer im Weg stehen. Da <strong>die</strong> Strecke<br />

aber nicht legal <strong>ist</strong>, sind <strong>die</strong> Downhillfahrer<br />

Friedemann Nau<br />

ein ehrgeiziger<br />

Soldat im<br />

Dienste des<br />

nazi-regimes<br />

Ein Rundgang durch <strong>die</strong> erfolgreiche<br />

Ausstellung „Mythos Rommel“<br />

im Stuttgarter Haus der Geschichte.<br />

An den Bushaltestellen, in den Zeitungen<br />

und auch auf Litfasssäulen – überall war<br />

<strong>das</strong> blau-gelbe Plakat mit den schwarzen<br />

Lettern „Mythos rommel“ zu sehen.<br />

Mit beachtlicher Me<strong>die</strong>naufmerksamkeit<br />

wurde am 18.12.2008 <strong>die</strong> Ausstellung im<br />

Haus der geschichte über erwin rommel er-<br />

Julius Kowalik<br />

Waldbesucher<br />

stehen me<strong>ist</strong>ens<br />

nur im Weg<br />

Downhill <strong>ist</strong> in den me<strong>ist</strong>en<br />

Stuttgarter Wäldern illegal, trotzdem<br />

erfreut sich der Sport großer Beliebtheit.<br />

nicht im Recht und können somit nicht viel gegen<br />

<strong>die</strong> „Hindernisse“ unternehmen.<br />

Eine Initiative für eine Legalisierung und einen<br />

Ausbau der Strecke gab es schon mehrmals, <strong>die</strong><br />

Pläne wurden aber entweder durch mangelndes<br />

Engagement, durch zu wenige Fürsprecher oder<br />

eine Gegeninitiative der Anwohner vereitelt. Ob<br />

es andere, beziehungsweise anderswo Möglichkeiten<br />

gebe, Downhill zu fahren, ohne <strong>die</strong> anderen<br />

Waldbenutzer zu stören? „Gibt es schon,<br />

aber <strong>die</strong> sind eigentlich nur mit dem Auto oder<br />

dem Zug zu erreichen, und außerdem muss man<br />

dort bezahlen. Lohnen tut es sich schon, aber<br />

nur wenn man wirklich Zeit hat zu fahren“, erzählt<br />

ein Fahrer. Außerdem sei es immer eine<br />

„größere Aktion“, da sei <strong>das</strong> nahe gelegene<br />

Stuttgarter Waldgebiet „schon bequemer“.<br />

Wegen <strong>die</strong>ser Probleme, sowohl für Downhillfahrer<br />

als auch für andere Waldbenutzer, wurde<br />

von einigen Downhillern eine Initiative ergriffen,<br />

eine oder einige wenige der Strecken im<br />

Waldgebiet Dornhalde auszubauen und legalisieren<br />

zu lassen. Diese Idee wurde zunächst mit<br />

Freuden aufgegriffen und von vielen Seiten un-<br />

öffnet. Zeitungen, fernsehbeiträge und Bürger<br />

ereiferten sich darüber, was von der Ausstellung<br />

zu halten sei. immerhin sei rommel<br />

ein Kriegsheld der nazis gewesen, und sein<br />

tragisches ende könne ihn nicht einfach zum<br />

Widerstandskämpfer werden lassen.<br />

Auf <strong>die</strong> Frage, wieso <strong>das</strong> Haus der Geschichte<br />

gerade jetzt eine Ausstellung über Rommel<br />

bringt, antwortete <strong>die</strong> Ausstellungsleiterin<br />

Paula Lutum-Lenger in einem Interview mit<br />

der Süddeutschen Zeitung: „Manfred Rommel,<br />

der Sohn Erwin Rommels, hat uns wichtige Dokumente<br />

und persönliche Gegenstände seines<br />

Vaters zur Verfügung gestellt.“ Dies hätte <strong>die</strong><br />

Ausstellung erst ermöglicht. Zum anderen sei<br />

<strong>das</strong> Thema „einfach spannend“.<br />

Ziel <strong>die</strong>ser Ausstellung <strong>ist</strong> es, <strong>die</strong> Widersprüche<br />

von Rommels Leben herauszuarbeiten und es<br />

den Besuchern zu ermöglichen, sich ein eigenes<br />

Bild machen zu können. Die Inszenierung<br />

des Volkshelden und Vorzeigesoldaten Rommel<br />

ging so weit, <strong>das</strong>s selbst <strong>die</strong> Alliierten ihn<br />

würdigten, so wie der englische Politiker Winston<br />

Churchill, der ihn als „großen General“<br />

terstützt, da <strong>die</strong>s als eine Möglichkeit erschien,<br />

„Computerkinder“ und Jugendliche, <strong>die</strong> wenig<br />

an der frischen Luft sind, ins Freie zu locken.<br />

„Ist doch besser, wenn <strong>die</strong> draußen sind und ihren<br />

Spaß haben, als wenn <strong>die</strong> zu Hause vor ihren<br />

Computern versauern“ sagt ein Fürsprecher,<br />

der nicht genannt werden will. Dieses Argument<br />

schien jedoch nicht allen einzuleuchten,<br />

denn schon nach kurzer Zeit wurde eine Gegeninitiative<br />

ergriffen, und inzwischen soll wohl<br />

aus einer Legalisierung oder gar einem Ausbau<br />

nichts mehr werden. „Zuerst habe ich gedacht,<br />

jetzt würde endlich etwas zu Stande kommen,<br />

doch ganz langsam aber sicher <strong>ist</strong> es dann verschwunden,<br />

und jetzt scheint es tatsächlich,<br />

als ob da nichts mehr passiert“, erzählt Heiko<br />

N. aus Schönberg.<br />

Doch <strong>die</strong> Dornhalde scheint nicht <strong>das</strong> einzige<br />

Strecken-Gebiet zu sein: bei der Ruhbank nahe<br />

dem Fernsehturm erstreckt sich ein ganzes<br />

Netz von Strecken mit verschiedenen Variationsmöglichkeiten,<br />

bis direkt an den Anfang<br />

der <strong>Wo</strong>hngebiete, was natürlich ebenfalls nicht<br />

von den Anwohnern begrüßt wird. Das größere<br />

Problem im Gebiet Ruhbank-Fernsehturm sei<br />

jedoch, <strong>das</strong>s man nach dem Waldgebiet ein größeres<br />

Stück auf der Straße fahren muss, um zu<br />

den Bahnsteigen zu gelangen, was wiederum<br />

<strong>die</strong> Autofahrer verärgert. Vor allem weil „Downhillfahrer<br />

nicht unbedingt auf Verkehrsregeln<br />

achten“, so Tim B.<br />

Wie nun <strong>die</strong>ses Problem der illegalen Downhillstrecken<br />

und dem Ärger, den <strong>die</strong> Benutzer der<br />

Strecken ungewollt verursachen, zur Zufriedenheit<br />

aller gelöst werden kann, bleibt wohl vorerst<br />

noch offen. Klar <strong>ist</strong> aber, <strong>das</strong>s wohl beide<br />

Seiten, Fahrer und <strong>die</strong> Gegeninitiative, vieles<br />

dafür tun werden, <strong>das</strong> eigene Ziel zu verwirklichen.<br />

bezeichnete, da Rommel sich durch seine Gnade<br />

gegenüber den Besiegten und seine enormen<br />

strategischen Kenntnisse auszeichnete, <strong>die</strong> er<br />

in seinem Buch „Infanterie greift an“ niederschrieb.<br />

Aber auch in der Nachkriegszeit wurde<br />

Rommel noch geehrt, auch von ausländischen<br />

Me<strong>die</strong>n, wie z.B. in Henry Hathaways Film<br />

„Rommel, der Wüstenfuchs“ (USA, 1951), wo<br />

Die Ausstellung hat sich zum Ziel gesetzt,<br />

<strong>die</strong> Widersprüche im Leben Rommels<br />

herauszuarbeiten, so<strong>das</strong>s jeder Besucher<br />

sich selbst ein Bild machen kann.<br />

© Haus der Geschichte Baden-Württemberg<br />

Rommel jedoch als Widerstandskämpfer gezeigt<br />

wird. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

wurden etliche Straßen nach ihm benannt;<br />

in Heidenheim wurde sogar ein Denkmal er-<br />

richtet.<br />

Übereinandergestapelte Bilder<br />

in Schieflage, kombiniert<br />

mit dezent beleuchteten<br />

Ausstellungsstücken im Vordergrund.<br />

So wird man empfangen,<br />

wenn man durch den<br />

breiten, dunklen Eingang den<br />

Ausstellungsraum zum „Mythos<br />

Rommel“ betritt. Vor den<br />

einander teils verdeckenden<br />

Bildern sind <strong>die</strong> beleuchteten,<br />

noch nie zuvor exponierten<br />

Ausstellungsstücke zu sehen.<br />

Diese sind Tagebucheinträge,<br />

Schlachtpläne, persönliche<br />

Wertgegenstände, sowie zahlreiche<br />

Orden und nicht zuletzt<br />

Rommels Feldmarschallstab.<br />

Alles <strong>ist</strong> in einem einzigen<br />

großen Raum, in verwinkelter Weise präsentiert.<br />

Den Raum läuft man im Uhrzeigersinn ab. Der<br />

Besucher verfolgt Rommels Leben gründlich<br />

aufgearbeitet und chronologisch geordnet – von<br />

seiner Jugend, über seine Karriere beim Militär<br />

und <strong>die</strong> Einsätze im 1. und 2. Weltkrieg, bis hin<br />

zu seinem durch Hitler erzwungenen Suizid.<br />

„Halsbrecherischer Humbug“, wie <strong>die</strong> eltern<br />

es gerne sagen – oder doch mehr als ein Hobby?<br />

Zum freestyle-Snowboarder wird man,<br />

wenn man mit einem Snowboard über „Kicker“<br />

springt, auf „rails grinded“ oder einfach<br />

irgendwo im funpark einen beliebigen<br />

trick macht, der auch gerne selbst erfunden<br />

sein kann. Die Aktionen müssen nicht mal in<br />

einem funpark stattfinden. Das ganze kann<br />

neben der P<strong>ist</strong>e, auf der P<strong>ist</strong>e und mitten im<br />

tiefschnee stattfinden. Hauptsache es wird<br />

getrickst, macht Spaß und pumpt Adrenalin<br />

durch den Körper. einfach freestyle (freier<br />

Stil) eben. Beim tricksen geht es auch nicht<br />

nur darum, den krassesten trick zu zeigen,<br />

sondern den „stylishsten“ mit dem me<strong>ist</strong>en<br />

Spaß.<br />

Für <strong>die</strong>se Art von Snowboard-fahren gibt es<br />

mittlerweile auch sehr viele Contests (Wettbewerbe),<br />

bei denen Judges (Schiedsrichter) <strong>die</strong><br />

Fahrer bei Tricks nach Style, Schwierigkeit, Sauberkeit<br />

der Tricks und vielem mehr bewerten.<br />

Seit 1998 <strong>ist</strong> <strong>die</strong>se Sportart auch bei den Olympischen<br />

Spielen im Programm, da ein großer<br />

Hype darum entstanden <strong>ist</strong>. Aus anfänglich 50<br />

Fahrern wurden Millionen, so<strong>das</strong>s quasi kaum<br />

ein Skigebiet mehr ohne einen Funpark für <strong>die</strong><br />

Snowboarder auskommt. Ein Funpark <strong>ist</strong> in der<br />

Regel ein außerhalb der P<strong>ist</strong>e künstlich angelegtes<br />

großes Gelände mit vielen „Obstacles“<br />

Selbst <strong>die</strong> Alliierten<br />

würdigten Erwin Rommel<br />

als „großen General“.<br />

© Haus der Geschichte<br />

Baden-Württemberg<br />

Der Rundgang endet mit Beiträgen zu Rommels<br />

Bedeutung für <strong>die</strong> Nachwelt.<br />

Während des Rundgangs kr<strong>ist</strong>allisiert sich<br />

<strong>die</strong> Person Rommels als <strong>die</strong> des ehrgeizigen,<br />

pflichtbewussten Soldaten<br />

heraus, der sich für Politik<br />

nicht besonders interessierte,<br />

sondern nur für seine Karriere<br />

lebte und mit seinem strategischen<br />

Verständnis und seinem<br />

politischen Desinteresse<br />

dem nationalsozial<strong>ist</strong>ischen<br />

Regime <strong>die</strong>nte. Propagandamin<strong>ist</strong>er<br />

Goebbels erkannte<br />

damals schnell, <strong>das</strong>s sich <strong>die</strong><br />

Figur Rommels gut zum Volksheld<br />

stilisieren ließ.<br />

Dazu werden durchgehend<br />

kurze Ausschnitte aus der<br />

„Deutschen <strong>Wo</strong>chenschau“<br />

gezeigt, <strong>die</strong> dem Besucher einen<br />

guten Einblick in <strong>die</strong> gesteuerte<br />

Informationspolitik<br />

des Regimes während des 2.<br />

Weltkriegs ermöglichen. Diese gut ausgewählten<br />

Filmabschnitte versetzen den Besucher, zusätzlich<br />

zu dem düsteren Raum, regelrecht in<br />

<strong>die</strong> damalige Stimmung. Gegen Ende der Ausstellung<br />

<strong>ist</strong> ein Foto von 1985 zu sehen, auf dem<br />

<strong>das</strong> Denkmal mit einem Tuch verhüllt <strong>ist</strong>, auf<br />

dem der kritische Satz steht: „Dem Nazi-Helden<br />

ein Denkmal?“<br />

Nikolaus Diez<br />

Keine normale<br />

Sportart<br />

Freestyle-Snowboarden macht<br />

zwar Spaß, doch immer fährt auch<br />

<strong>die</strong> Verletzungsgefahr mit.<br />

(Geräte zum Tricksen) und Kicker. Es gibt für<br />

alle Könnerstufen etwas. Kleine Kicker, um<br />

erstmal ein Gefühl fürs Springen zu bekommen,<br />

und riesige Kicker für <strong>die</strong> Professionellen, <strong>die</strong><br />

auch mal zehn Meter über dem Boden schweben<br />

oder abheben wollen.<br />

Wer aber nicht auf Kicker steht oder einfach mal<br />

ein bisschen auf dem Boden bleiben will, kann<br />

sich auch mit den übrigen „Obstacles“ begnügen.<br />

Da gibt es zum Beispiel so genannte Boxen,<br />

<strong>die</strong> aussehen wie eine kleine Mauer aus hartem<br />

Plastik, so<strong>das</strong>s man mit dem Snowboard auch<br />

gut drauf rutschen kann. Die kleinen Mauern<br />

gibt es auch mit einem Knick in der Mitte als<br />

Kurven („Courve-Box“), als abgerundet nach<br />

unten („Elephant- Box“) und in vielen weiteren<br />

Varianten, wobei den Erbauern hier kaum Grenzen<br />

gesetzt sind. Es gibt auch Boxen-ähnliche<br />

Wer nun denkt, Rommel selbst sei ein überzeugter<br />

Nazi gewesen, wird in <strong>die</strong>ser Ausstellung<br />

eines Besseren belehrt, da Rommel sich<br />

des Öfteren den Befehlen Hitlers widersetzte,<br />

ohne sich jedoch aktiv am Widerstand zu beteiligen.<br />

Er wusste zwar von dem geplanten Attentat<br />

auf Hitler durch Stauffenberg, lehnte <strong>die</strong>ses<br />

aber ab, da es seinen Prinzipien als treuer Soldat<br />

widersprach, einen Eid zu brechen. Rommel<br />

wurde letztendlich Opfer seines eigenen Ehrgeizes<br />

und seiner Prinzipien, aber auch Opfer<br />

der Propagandamaschinerie des Nazi-Regimes,<br />

dem er fleißig, in fast naiver Weise und ohne es<br />

wirklich zu wissen, ge<strong>die</strong>nt hat.<br />

Am Ausgang angekommen, zeigen sich <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en<br />

Besucher nachdenklich und etwas erschüttert.<br />

Herr M., der zu Zeiten Rommels noch ein<br />

Jugendlicher war, meint: „Ich kannte Rommel<br />

damals nur aus Erzählungen oder dem Radio;<br />

jetzt hab ich auf einmal ein ganz anderes Bild<br />

von ihm.“ Das Ziel der Ausstellung, <strong>das</strong>s jeder<br />

Besucher sich eine eigene Meinung bilden<br />

kann, wird erreicht. Um einen möglichst tiefen<br />

Eindruck zu gewinnen, sollte man sich Zeit<br />

nehmen und <strong>die</strong> zahlreichen Dokumente, wie<br />

Schlachtpläne und persönliche Briefe, in aller<br />

Ruhe lesen.<br />

Dies gilt besonders für <strong>die</strong> vielen, bisher ungezeigten<br />

Exponate, verbunden mit der bemerkenswerten<br />

h<strong>ist</strong>orischen Aufarbeitung durch<br />

<strong>die</strong> Aussteller. Es lohnt, sich selbst ein eigenes<br />

Bild zu machen über den „Mythos Rommel“.<br />

Gegenstände, <strong>die</strong> genau so aussehen, wie ein<br />

Picknick-Tisch (ein Tisch mit je einer Bank auf<br />

beiden Seiten).<br />

In manch einem Funpark sind dann noch<br />

„Rails“ zu finden, in mindesten genauso vielen<br />

Varianten wie Boxen. „Rails“ sehen aus wie<br />

Treppengeländer, können aber auch <strong>die</strong> Dicke<br />

eines Abflussrohrs erreichen. Auf <strong>die</strong>se Hindernisse<br />

kann man aufspringen und gerade drüber<br />

fahren, sich dabei drehen oder sonst irgendetwas<br />

machen, was einem gerade einfällt. Das<br />

hört sich jetzt vielleicht leicht an, <strong>ist</strong> es aber<br />

ganz und gar nicht. Wenn man einmal auf einer<br />

Stange <strong>ist</strong>, kommt man ohne <strong>die</strong> Schwerkraft<br />

nicht wieder runter, da man dann nicht mehr<br />

lenken kann und so drauf weiter fährt, wie man<br />

drauf gesprungen <strong>ist</strong>.<br />

Des weiteren kann man in manch einem Funpark<br />

so genannte „Bonk-Stämme“ oder „Bonk-<br />

Fässer“ finden. Das sind Stämme oder Fässer,<br />

<strong>die</strong> nach einem mittleren Kicker aufgestellt<br />

sind, <strong>die</strong> man dann mit seinem Snowboard beliebig<br />

in der Luft „antappen“ (berühren) kann.<br />

Dies empfiehlt sich jedoch nur für bessere Fahrer,<br />

da <strong>die</strong>s unter Umständen schmerzhaft enden<br />

kann.<br />

In großen Funparks findet man auch manchmal<br />

eine Halfpipe, <strong>die</strong> man vom Skaten kennt. Diese<br />

Halfpipe <strong>ist</strong> dort dann nicht aus Holz gebaut,<br />

sondern aus einer großen Menge Schnee.<br />

Fortsetzung auf Seite 16


Seite 16 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 17<br />

Fortsetzung von Seite 15<br />

Darüber hinaus gibt es noch „Quarterpipes“,<br />

„Hipp Jumps“ und alle möglichen Kreationen<br />

der Park-Erbauer.<br />

Solch ein Park <strong>ist</strong> auch auf dem Gletscher im<br />

Kaunertal zu finden. Dieser Gletscher <strong>ist</strong> cirka<br />

370 Kilometer von Stuttgart entfernt, liegt<br />

in Österreich und auf 2700 Metern Höhe. Das<br />

Skigebiet besteht aus einem Sessellift, drei<br />

Schleppliften, einer Gondel und einem schönen<br />

Funpark. Also kein großes Skigebiet, dafür<br />

kann man hier <strong>das</strong> ganze Jahr über Snowboard<br />

oder Ski fahren.<br />

Der nächste Ort <strong>ist</strong> 22 Kilometer von <strong>die</strong>sem<br />

Gletscher entfernt und heißt Feichten. Ein<br />

300-Seelen-Dorf. Hier versammelt sich immer<br />

wieder <strong>die</strong> Snowboard-Szene während der<br />

„Spring Classics“, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ses Jahr vom 18. April<br />

bis zum 1. Juni stattfanden. Das <strong>ist</strong> eine Veranstaltung<br />

mit Contests, Shredden (fahren) mit<br />

Kumpels und einfach nur Chillen. Das Besondere<br />

daran <strong>ist</strong>, <strong>das</strong>s es sehr warm <strong>ist</strong> und man<br />

Luise Wittwer<br />

ein Dorf voller<br />

Menschlichkeit<br />

In der Dorfgemeinschaft Tennental leben und<br />

arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung<br />

es <strong>ist</strong> noch sehr ruhig an <strong>die</strong>sem frühen Morgen<br />

in der Dorfgemeinschaft tennental, wo<br />

seit 1990 Behinderte nach chr<strong>ist</strong>lichen und<br />

anthroposophischen grundlagen betreut<br />

werden. Dunst hängt über den Ländereien,<br />

<strong>die</strong> man hinter den bunten Häusern entdecken<br />

kann. einzig <strong>die</strong> einmachküche und<br />

<strong>das</strong> B<strong>ist</strong>ro haben schon geöffnet. Die einen<br />

zum Putzen der weißen Plastikschuhe, <strong>die</strong><br />

zur Arbeit verwendet werden; <strong>die</strong> anderen,<br />

um den wenigen frühmorgendlichen Besuchern<br />

schon etwas anzubieten. Dass es so ruhig<br />

<strong>ist</strong>, liegt daran, <strong>das</strong>s an <strong>die</strong>sem Samstag<br />

im tennental ein gottes<strong>die</strong>nst stattfindet,<br />

an dem sowohl Betreute als auch Betreuende<br />

teilnehmen.<br />

In den bunten Häusern sind <strong>die</strong> Behinderten in<br />

so genannten „Familien“ untergebracht, <strong>die</strong> in<br />

aller Regel aus drei ausgebildeten Heil- und Sozialpädagogen<br />

und etwa neun Betreuten bestehen.<br />

Elf davon gibt es im Tennental. In <strong>die</strong>sen<br />

Familien wird den Betreuten ein Schutzraum<br />

geboten, aber dort sollen sie auch lernen, Verantwortung<br />

zu übernehmen. Und sei es nur <strong>das</strong><br />

Müslirichten am Morgen oder <strong>das</strong> Tischabwischen<br />

nach dem Essen.<br />

Außerdem besteht <strong>das</strong> Dorf noch aus den dreizehn<br />

unterschiedlichen Werkstätten. Jeder Betreute,<br />

der in der Dorfgemeinschaft lebt, gehört<br />

zu einer, <strong>die</strong> er sich zu Beginn seines Lebens-<br />

ohne Probleme im T- Shirt fahren kann, obwohl<br />

man fast 2 Meter Schnee und eine dicke Eisdecke<br />

unter sich hat. Im Tal kann man dann <strong>die</strong><br />

grünen Wiesen mit blühenden Pflanzen sehen.<br />

Dort waren meine Freunde und ich für ein <strong>Wo</strong>chenende,<br />

bei strahlender Sonne und babyblauem<br />

Himmel inklusive Sonnenbrand.<br />

Es <strong>ist</strong> eine tolle Angelegenheit, mit solch einer<br />

schönen Kulisse bei solch einer Wärme Snowboard<br />

zu fahren. Ein einziges Problem trübt den<br />

Spaß: Mittags wird durch <strong>die</strong> Wärme der Schnee<br />

sehr sulzig, und dann wird Boarden sehr anstrengend.<br />

Der Funpark im Kaunertal <strong>ist</strong> zwar nicht groß,<br />

wie <strong>das</strong> Skigebiet auch, aber er hat wirklich<br />

alles zu bieten – für Anfänger wie für Profis.<br />

Im Sommer <strong>ist</strong> <strong>die</strong>ser Ort zusammen mit Les<br />

deux Alpes <strong>die</strong> Anlaufstelle für alle Boarder aus<br />

Deutschland und Umgebung, <strong>die</strong> <strong>das</strong> Freestylen<br />

im Sommer nicht lassen wollen oder können.<br />

Snowboard-fahren <strong>ist</strong> keine normale Sportart<br />

wie Joggen oder Wandern. Beim Snowboard-<br />

abschnittes im Tennental aussucht. In <strong>die</strong>sen<br />

Betrieben ver<strong>die</strong>nen alle Geld, <strong>das</strong> gleich wieder<br />

in ihren Lebensunterhalt fließt. Im Dorfladen<br />

werden Waren verkauft, <strong>die</strong> zu großen Teilen<br />

aus den dorfeigenen Betrieben stammen, aber<br />

auch von anderen, streng biologisch geführten<br />

Betrieben. Im benachbarten B<strong>ist</strong>ro werden aus<br />

<strong>die</strong>sen Waren kleine Gerichte für <strong>die</strong> Bewohner<br />

der Dorfgemeinschaft, aber natürlich auch für<br />

Auswärtige, gekocht.<br />

Hergestellt werden <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en <strong>die</strong>ser Produkte<br />

in Gärtnerei, Landwirtschaft, Bäckerei,<br />

Einmachküche oder Käserei. Echte Männerarbeiten<br />

gibt es im Tennental aber auch.<br />

In Metallwerkstatt und Schreinerei werden<br />

hochwertige Alltagsgegenstände hergestellt.<br />

Und dann <strong>ist</strong> da noch <strong>die</strong> Astholzwerkstatt.<br />

Hier werden aus ganz normalen, knorrigen, verqueren<br />

Ästen Zwerge, Burgmauern, Bauklötze,<br />

Osterhasen und noch viel mehr gefertigt.<br />

Dieter Ha<strong>das</strong>ch <strong>ist</strong> der Chef der Werkstatt. Die<br />

Kommunikation zwischen behinderten und<br />

nicht behinderten Menschen sieht er nach wie<br />

vor als gestört an. Die Erzeugnisse seiner Werkstatt<br />

sollen helfen, <strong>die</strong>ses Problem zu schmälern:<br />

„Diese Kunstwerke werden in <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

– also nach ‚draußen’ – gebracht, durch<br />

Kinder und Erwachsene, und verbinden so vielleicht<br />

Menschen mit dem so genannten Problem<br />

unserer Gesellschaft, vor dem man so gerne <strong>die</strong><br />

Augen verschließt.“<br />

Nämlich mit den Behinderten, vor denen man<br />

auf <strong>die</strong> andere Straßenseite flüchtet, <strong>die</strong> man<br />

nicht anschaut, wenn man nicht umhin kann,<br />

an ihnen vorbei zu gehen. Schlichtweg mit den<br />

Menschen, mit denen mancher, der nicht mit einer<br />

Behinderung lebt, nichts zu tun haben will.<br />

Sie werden uns vielleicht manchmal fremd erscheinen<br />

oder unverständlich oder unsereins<br />

schlicht überfordern. Aber nur, wenn man sich<br />

nicht auf <strong>die</strong>se besonderen Menschen einlässt<br />

und versucht, zwischen ihren Ticks sie selbst<br />

fahren geht es nicht nur um <strong>das</strong> Ausüben an<br />

sich, sondern es geht auch um <strong>die</strong> Klamotten,<br />

den Mut eines jeden und den Style einer<br />

ganzen Person. Man kann mit seinen Jungs in<br />

dem Park machen, was man will, und es sind<br />

kaum Grenzen gesetzt – <strong>die</strong> Grenze setzt man<br />

selbst. Man sollte aber stets auf seine eigenen<br />

Grenzen achten und sie nicht überstrapazieren,<br />

da sonst <strong>das</strong> passiert, was <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en Eltern<br />

bei solch einer Extremsportart immer befürchten.<br />

Schnell hat man sich etwas gebrochen, wie<br />

Arme, Schultern, Beine. Aber auch schlimmere<br />

Verletzungen, zum Beispiel am Rücken, kommen<br />

immer wieder vor.<br />

Diese Sportart <strong>ist</strong> eher bei Jugendlichen beliebt.<br />

Leute, <strong>die</strong> älter als 40 sind, bleiben sowieso lieber<br />

außerhalb der Funparks, weil dort auch <strong>die</strong><br />

Stimmung oft sehr high <strong>ist</strong>. Der älteste mir bekannte<br />

Freestyle-Boarder <strong>ist</strong> 37 Jahre alt. Aber<br />

ab so einem Alter <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Verletzungsrisiko noch<br />

größer als sowieso schon, und daher <strong>ist</strong> es eine<br />

typische Jugendsportart.<br />

zu entdecken. Denn eigentlich sind <strong>die</strong> Menschen<br />

im Tennental gar kein „Problem“.<br />

Wir sollten uns eher alle etwas abgucken von ihnen.<br />

Wer von uns bringt schon <strong>die</strong> Geduld mit,<br />

etwas wieder und wieder zu versuchen, auch<br />

wenn es ein aussichtsloser Kampf <strong>ist</strong>? Und wer<br />

von uns vermag, sich über ein kleines Gänseblümchen<br />

so zu freuen, wie über Weihnachten?<br />

„Wir müssen uns einmal bewusst machen,<br />

schon ein kleiner Autounfall oder Fehler kann<br />

uns selbst in eine solche Lage bringen.“ Dies<br />

sagt mir einer der zwei Maschinenbauer, <strong>die</strong><br />

ab und zu mal in <strong>die</strong> Astholzwerkstatt kommen<br />

und <strong>die</strong> zahlreichen Maschinen reparieren<br />

und warten. „Und man kann unglaublich viel<br />

lernen“, sagt der andere, der einen roten BMW-<br />

Maschinenbaueranzug trägt.<br />

Dazu gibt es nicht nur <strong>das</strong> Seminar im Tennental,<br />

in dem junge Leute drei Jahre lang zu Heilpädagogen<br />

ausgebildet werden, sondern auch<br />

als Besucher kann man schon etwas lernen.<br />

Über Zwischenmenschliches. Dieses beginnt bei<br />

dem reinen Zusammensein mit den Betreuten.<br />

Und <strong>ist</strong> endlos fortzusetzen.<br />

Peer, der sich in der Astholzwerkstatt „sehr<br />

wohl fühlt, ja, sehr wohl, ja“, kann zum Beispiel<br />

gar nicht genug lernen. Er kommt zu Dieter<br />

Ha<strong>das</strong>ch und fragt: „Was kann ich noch tun?“<br />

In den Werkstätten werden unter anderem<br />

Kunstobjekte und Spielzeuge produziert<br />

und anschließend im Hofladen verkauft.<br />

Die Antwort kommt wie aus der P<strong>ist</strong>ole geschossen:<br />

„Saubermachen. Wirst schon was finden.“<br />

Dieter Ha<strong>das</strong>ch <strong>ist</strong> in seiner wortkargen, tatkräftigen<br />

Art hier stellvertretend für <strong>die</strong> Art<br />

der Betreuenden im Tennental, mit den ihnen<br />

Anvertrauten umzugehen. Denn obwohl sie niemals<br />

<strong>die</strong> Achtung vor den Bewohnern des Tennentals<br />

verlieren würden, sind sie ohne <strong>Wo</strong>rte<br />

dominierend und verlieren sich nicht etwa in<br />

Babysprache oder Ähnlichem im Umgang mit<br />

den Betreuten.<br />

Für Dieter Ha<strong>das</strong>ch <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Holz allein <strong>die</strong> Therapie<br />

für <strong>die</strong> Bewohner des Tennentals. Wenn<br />

durch <strong>die</strong> Arbeit damit ihre Sinne angeregt werden,<br />

wenn sie hören, wie <strong>die</strong> Maschinen brummen,<br />

wenn sie fühlen, wie aus knorrigen Ästen<br />

weiche, sanfte Kunstobjekte und Spielzeuge<br />

werden, dann werden eventuell Regungen wieder<br />

freigelegt, <strong>die</strong> bis dahin als fehlend oder<br />

Julius Bittermann<br />

Der trend geht<br />

in richtung<br />

Verkleinerung<br />

Im Handwerk sind <strong>die</strong> Auswirkungen<br />

der Krise auch für kleine und mittelständische<br />

Unternehmen besonders stark zu spüren.<br />

In Zeiten der Wirtschaftskrise, <strong>die</strong> alle mittelständischen<br />

Unternehmen direkt oder indirekt<br />

trifft, <strong>ist</strong> es interessant zu wissen, welche Perspektiven<br />

sich in unmittelbarer und mittelbarer<br />

Zukunft abzeichnen werden. Zu <strong>die</strong>sen<br />

Betrieben gehören selbstverständlich auch <strong>die</strong><br />

Handwerksbetriebe in unterschiedlichen Betriebsgrößen.<br />

Wenn <strong>das</strong> Handwerk früher einen<br />

goldenen Boden hatte, so geht es heute einer<br />

ungewissen, unsicheren Zukunft entgegen.<br />

Drohender Arbeitsplatzverlust und Kurzarbeit<br />

in den Industriebetrieben wirken sich negativ<br />

auf <strong>die</strong> Kaufkraft aus. Das gleiche gilt auch<br />

für <strong>die</strong> Inanspruchnahme von Le<strong>ist</strong>ungen der<br />

Handwerksbetriebe.<br />

Die Veränderungen in unserer Arbeitswelt werden<br />

immer kurzfr<strong>ist</strong>iger, verbunden mit wirtschaftlichen<br />

und strukturellen Konsequenzen<br />

im Handwerk. Innovation <strong>ist</strong> im Handwerk Vorraussetzung.<br />

Jeder neue Auftrag bedeutet individuelle<br />

Lösungen.<br />

Vorraussetzungen sind Disziplin, Flexibilität,<br />

ein enormes Fachwissen und andauernde Weiterbildung.<br />

Die modernen Handwerksme<strong>ist</strong>er<br />

müssen sehr vielseitig sein. Neben technischen<br />

müssen sie betriebswirtschaftliche, kaufmännische<br />

und rechtliche Kenntnisse in hohem<br />

Maß haben. Sie müssen sich Marketingstrategien<br />

ausdenken und sich mit Personalfragen<br />

mangelhaft ausgebildet galten. „Jeder noch so<br />

kleine Schritt in <strong>die</strong>se Richtung <strong>ist</strong> Therapie<br />

genug“, so Ha<strong>das</strong>ch.<br />

„Am schönsten <strong>ist</strong> es, wenn wir feiern im Tennental…“<br />

Das sagt einer der Bewohner des Tennentals.<br />

Auch <strong>die</strong> Feste sind Therapie. Hier <strong>ist</strong><br />

man gesellig beieinander und tauscht sich aus.<br />

Gesellschaftlicher Austausch findet auch in<br />

den vielen kulturellen Veranstaltungen im Tennental<br />

statt, wo sich wieder Menschen mit und<br />

ohne Behinderung mischen. Dazu gibt es im<br />

Tennental eine eigene Theatergruppe, <strong>die</strong> regelmäßig<br />

auftritt, zuletzt mit „Ein Engel kommt<br />

nach Babylon“ von Friedrich Dürrenmatt.<br />

Inzwischen sind <strong>die</strong> anderen Werkstätten auch<br />

erwacht. In der Astholzwerkstatt wird fleißig<br />

Holz sortiert, aus der Metallwerkstatt dringen<br />

laute Fräsgeräusche, im Dorfladen gehen Menschen<br />

aus und ein und eine Gruppe „Tennen-<br />

auseinandersetzen. Bürokratie und zuweilen<br />

fragwürdige Verordnungen des Gesetzgebers<br />

nehmen viel Zeit in Anspruch.<br />

Dass handwerkliche Tradition und technische<br />

Innovation keine Gegensätze sein müssen,<br />

sondern sich ergänzen, stellt <strong>die</strong> Firma Huber<br />

(Name geändert) immer wieder unter Beweis.<br />

Das Unternehmen wird in zweiter Generation<br />

geführt und bietet Lösungen rund um <strong>die</strong><br />

Haustechnik an. Die Befragung des Firmeninhabers<br />

ergab eine differenzierte Analyse des<br />

Ist-Zustandes, sowie eine Zukunftsprognose<br />

seines Handwerks. Über 30 Mitarbeiter stehen<br />

tagtäglich vor neuen Herausforderungen. Die<br />

Ausbildung junger Menschen <strong>ist</strong> dem Firmeninhaber<br />

sehr wichtig. „In meinem Unternehmen<br />

werden Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs-<br />

und Klimatechnik ausgebildet“, erzählt<br />

Herr Huber stolz.<br />

Trotz vieler Schulabgänger, <strong>die</strong> auf der Suche<br />

nach einem Ausbildungsplatz sind, <strong>ist</strong> es<br />

heutzutage jedoch schwer, Bewerber mit ausreichender<br />

Qualifikation für <strong>die</strong> zur Verfügung<br />

stehenden Ausbildungsplätze zu finden. Keine<br />

oder nur sehr schlechte Abschlusszeugnisse<br />

und fehlende Sozialkompetenz wirken hier erschwerend.<br />

Das Ansehen der Handwerksberufe <strong>ist</strong> nicht<br />

mehr so, wie es einmal war. Nicht zuletzt durch<br />

<strong>die</strong> hohen Kosten bei Inanspruchnahme einer<br />

Le<strong>ist</strong>ung. Nicht jeder weiß, <strong>das</strong>s Stundenverrechnungssatz<br />

nicht gleich Stundenver<strong>die</strong>nst<br />

<strong>ist</strong>. Der Gewinn an einer Arbeitsstunde <strong>ist</strong>, bei<br />

den hohen Lohnnebenkosten, oft verschwindend<br />

gering. Hohe Sozialversicherungsabgaben<br />

und Steuerlasten fressen <strong>die</strong> Betriebe auf. Kredite<br />

sind bei Banken nur noch erschwert zu bekommen,<br />

wenn doch, dann nur gegen immense<br />

Sicherheiten. Auf der anderen Seite sind <strong>die</strong> Betriebe<br />

selbst oft auch noch Bank. Die Zahlungsmoral<br />

der Kundschaft <strong>ist</strong> häufig schleppend bis<br />

ganz schlecht. Dadurch können Liquiditätsschwächen<br />

entstehen. Sie stellen jedoch nach<br />

täler“ steht auf dem Dorfplatz und unterhält<br />

sich. Daneben schaukeln Kinder, Windspiele<br />

drehen sich und <strong>die</strong> Sonne durchbricht <strong>die</strong> <strong>Wo</strong>lken.<br />

Es scheint wie im Para<strong>die</strong>s. Einzig <strong>die</strong> weißen<br />

Plastikschuhe stören.<br />

In den bunten Häusern des Dorfes<br />

leben jeweils neun Behinderte mit ihren<br />

Betreuern in so genannten „Familien“<br />

wie vor viele Ausbildungsplätze zur Verfügung.<br />

Garantierte Fertigstellungstermine, Festpreise,<br />

Qualitätsstandards und Qualitätszertifikate<br />

sind heute so normal wie eine fun<strong>die</strong>rte Beratung,<br />

Servicele<strong>ist</strong>ungen und Problemlösungen.<br />

Fast jeder Kunde verhandelt wegen Preisnachlässen<br />

oder versucht, durch Einbehalte und<br />

durch Reklamationen Preisnachlässe zu erzielen.<br />

Einen Auftrag zu erhalten und einen Kunden<br />

längerfr<strong>ist</strong>ig an einen Handwerksbetrieb<br />

zu binden, <strong>ist</strong> sehr schwer geworden. Gewisse<br />

Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft werden<br />

aber vorsichtig geäußert.<br />

Der Bedarf an Dienstle<strong>ist</strong>ungen war bis zur Finanzkrise<br />

leicht steigend. Herr Huber <strong>ist</strong> der<br />

Meinung, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> Handwerk den veränderten<br />

Erwartungen und Wünschen seiner<br />

Kundschaft vermehrt anpassen muss. Aber darin<br />

liegt auch eine Chance. Der Kunde erwartet,<br />

<strong>das</strong>s seine komplexen Aufgabenstellungen<br />

souverän und kompetent gelöst werden, dann<br />

<strong>ist</strong> er auch bereit, wieder einen Handwerker zu<br />

beauftragen und <strong>die</strong> erbrachte Le<strong>ist</strong>ung auch<br />

zu bezahlen, statt vieles im Do-it-yourself-Verfahren<br />

zu machen.<br />

Um komplexe Aufträge übernehmen zu können,<br />

müssen mehrere Gewerke unter einer Federführung<br />

zusammengefasst werden. Dies kann<br />

entweder innerbetrieblich oder durch Zusammenschluss<br />

von Handwerksbetrieben unterschiedlicher<br />

Gewerke erfolgen. Beide Alternativen<br />

bringen eine Vielzahl von Problemen mit<br />

sich, so z.B. Finanzierung, Haftung und Koordination<br />

der Gewerke. Zudem wäre eine Verabschiedung<br />

alter Strukturen notwendig. Nicht<br />

mehr der Handwerksme<strong>ist</strong>er als Einzelkämpfer<br />

wäre gefragt, sondern eine teamfähige Gemeinschaft<br />

von Handwerksbetrieben. Dies <strong>ist</strong> aber<br />

nicht von heute auf morgen zu erreichen. Ob<br />

<strong>die</strong> dazu erforderlichen Aufbauphasen mit der<br />

rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Schritt<br />

halten können, <strong>ist</strong> im voraus schwer abzusehen.<br />

Fortsetzung auf Seite 18


Seite 18 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 19<br />

Fortsetzung von Seite 17<br />

Allerdings glaubt Huber nicht, <strong>das</strong>s Handwerksbetriebe<br />

im althergebrachten Strickmuster noch<br />

lange überlebensfähig sein werden. Bereits seit<br />

geraumer Zeit bieten Generalunternehmer, <strong>die</strong><br />

gleichzeitig auch als Bauunternehmer auftreten<br />

können, schlüsselfertige Gesamtobjekte an.<br />

Noch werden hier Le<strong>ist</strong>ungen an Einzelhandwerker<br />

untervergeben, allerdings mit heftigem<br />

Preisdruck. Es besteht durchaus <strong>die</strong> Gefahr,<br />

<strong>das</strong>s Handwerksbetriebe aufgrund vorüberge-<br />

Tim Reiter<br />

ein einziger<br />

fehler kann<br />

mehrere Plätze<br />

kosten<br />

Der 1. WM-Qualifikationswettkampf 2009 im<br />

Rhönradturnen – ein Erfahrungsbericht<br />

7:00 uhr: Aufstehen am Wettkampftag. für<br />

einen ferien-Samstag recht früh, vor allem,<br />

da sportliche Le<strong>ist</strong>ungen erbracht werden<br />

müssen. Beim Aufwachen fühlte ich sofort<br />

<strong>die</strong> vertraute Wettkampfstimmung. und den<br />

Wunsch, <strong>die</strong> nächsten fünf Stunden seien<br />

schon vorbei. Aber da muss man durch. Mit<br />

offenen Augen. um 10:45 begann der Wettkampf.<br />

Drei Disziplinen hieß es zu absolvieren:<br />

Zuerst Sprung, dann gerade, zum Schluss<br />

Spirale. Aber um welche Sportart handelt es<br />

sich hier denn?<br />

Es <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Rhönradturnen. Rhönrad – Wer macht<br />

<strong>das</strong> schon? Sicherlich hat <strong>das</strong> Rhönradturnen<br />

einen sehr geringen Bekanntheitsgrad, und es<br />

gibt vergleichsweise wenige, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Sport<br />

betreiben. Trotzdem darf man nicht denken,<br />

<strong>das</strong>s es deswegen leicht wäre, weit zu kommen.<br />

Am 28. Februar 2009 fand der erste Qualifikationswettkampf<br />

zu der Weltme<strong>ist</strong>erschaft 2009<br />

im Rhönradturnen statt. Zu <strong>die</strong>sem Wettkampf<br />

werden alle Mitglieder des Nationalkaders zugelassen,<br />

in meiner Le<strong>ist</strong>ungsklasse waren es<br />

zehn von maximal dreizehn Turnern. Insgesamt<br />

gibt es zwei solcher Wettkämpfe, je nach Platzierung<br />

sammelt man Punkte, und <strong>die</strong> ersten<br />

sechs dürfen zur WM in Baar in der Schweiz<br />

fahren. Egal welche Sportart man betreibt, zu<br />

einer Weltme<strong>ist</strong>erschaft kommen nur <strong>die</strong> Besten.<br />

Damit man während des Wettkampfes<br />

nicht auf <strong>die</strong> Nase fliegt, gibt es <strong>das</strong> Einturnen.<br />

Am Abend vor dem Wettkampf und am<br />

Samstag selbst darf jeder Turner seine Übungen<br />

probeweise turnen. Auch ich merkte einen<br />

Unterschied im Vergleich zu dem Feuerbacher<br />

Hallenboden, auf dem ich normalerweise trai-<br />

hender Liquiditätsprobleme von einem Generalunternehmen<br />

geschluckt werden. Dieser Gefahr<br />

könne man Hubers Ansicht nach nur durch<br />

Ausweichen in Marktnischen, sowie durch Zusammenschluss<br />

mehrerer Handwerksbetriebe<br />

entgegentreten, zum Beispiel von Haustechnikern<br />

mit Elektrikern, Gipsern, Malern und<br />

Glasern. Was allerdings mit solchen Zusammenschlüssen<br />

bei lang anhaltender Rezession<br />

passiert, bleibt offen. Werden sie auseinander<br />

brechen oder haben sie eine Zukunftschance?<br />

niere. Bei gleichen Bewegungen bewegte sich<br />

<strong>das</strong> Rad hier um einiges schneller. Nach einiger<br />

Zeit hatte ich den Bogen raus und konnte meine<br />

Übungen gut turnen. Alles klappte gut, aber<br />

würde es auch am nächsten Tag funktionieren?<br />

Aber <strong>das</strong> Einturnen <strong>ist</strong> auch nützlich, um zu<br />

sehen, wie <strong>die</strong> Konkurrenz turnt. Und schnell<br />

merkte ich: Das wird ein heißes Kopf-an-Kopf-<br />

Rennen. Doch auch wenn man gegeneinander<br />

turnt, <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Stimmung nicht gereizt. Einige<br />

Turner kennt man schon von anderen Wettkämpfen,<br />

und neue Freundschaften werden<br />

auch schnell geschlossen, schließlich geht es ja<br />

nicht um Geld. Aber um etwas mehr als nur um<br />

Spaß.<br />

Sechs von zehn Startern dürfen also zur WM?<br />

Das klingt einfach, <strong>ist</strong> es aber mitnichten, da<br />

<strong>das</strong> Können der Turner sehr nah beieinander<br />

liegt. So kann einen schon<br />

ein einziger Fehler einige<br />

Plätze nach hinten schieben.<br />

Natürlich <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Training<br />

in der Vorbereitung auf<br />

<strong>die</strong> Wettkämpfe in vollem<br />

Gange, wenn jedoch <strong>die</strong> Tagesform<br />

nicht stimmt, hilft<br />

alles nichts mehr. Jede<br />

Sporthalle hat ihren eigenen<br />

Boden, und beim Rhönrad<br />

merkt man <strong>die</strong> Unterschiede<br />

gewaltig. Je nachdem, wie<br />

rutschig der Belag <strong>ist</strong> und um<br />

wie viel der Boden nachgibt,<br />

muss man anders reagieren.<br />

Somit war auch bei mir <strong>die</strong><br />

Anspannung sehr hoch, <strong>die</strong><br />

Chancen auf eine WM hat<br />

man ja nicht alle Tage.<br />

Beim „Sprung“ muss man<br />

<strong>das</strong> Rhönrad anschubsen,<br />

damit es auf eine Weichbodenmatte<br />

zurollt. Kurz bevor<br />

es <strong>die</strong>se erreicht, läuft<br />

man los, springt auf <strong>das</strong> Rad und springt vom<br />

Rad auf <strong>die</strong> Matte. Je nachdem, wie man hinunter<br />

springt (Salto, Schraube, etc.), bekommt<br />

man eine höhere Schwierigkeitswertung. Dazu<br />

kommt <strong>die</strong> Ausführungswertung, <strong>die</strong> bei korrekter<br />

Ausführung der Übung hoch, bei Fehlern<br />

(z.B. ein nicht gestrecktes Knie) niedriger <strong>ist</strong>.<br />

Das Ganze dauert nicht länger als 7 Sekunden.<br />

Ich hatte mich für einen Sprung mit niedriger<br />

Beim Rhönrad-Turnen kommt<br />

es auf <strong>die</strong> Körperspannung an,<br />

aber auch auf <strong>die</strong> Beschaffenheit<br />

des Hallenbodens.<br />

Der momentane Trend vieler Handwerksbetriebe<br />

geht derzeitig, aufgrund der rückläufigen Auftragslage,<br />

notgedrungen in Richtung Verkleinerung.<br />

Dies kann aber keine Lösung von Dauer<br />

sein.<br />

Sollte eine langfr<strong>ist</strong>ige Verknappung von Handwerksbetrieben<br />

<strong>die</strong> Folge sein, werden andere<br />

Lösungen gesucht und gefunden werden. Ob<br />

<strong>das</strong> Handwerk dann noch Einfluss auf neue Entwicklungen<br />

haben und <strong>die</strong>se mitgestalten wird,<br />

<strong>ist</strong> äußerst fraglich.<br />

Schwierigkeitswertung entschieden, einen<br />

gebückten Salto vorwärts, um eine möglichst<br />

hohe Ausführungswertung zu bekommen. Kurz<br />

vor dem Sprung noch ein kleines Aufwärmen,<br />

etwas beruhigen, damit der Adrenalinspiegel<br />

nicht zu hoch <strong>ist</strong>, dann ging es los. Es klappte,<br />

nur ein Schritt bei der Landung kostete mich<br />

ein wenig Punkte. Prima, <strong>die</strong> erste Hürde wurde<br />

überwunden! Ich konnte einen kleinen Vorsprung<br />

rausschlagen und befand mich auf dem<br />

dritten Platz.<br />

Doch <strong>die</strong> Erleichterung währte nicht lange,<br />

jetzt musste ich mich auf <strong>die</strong> „Gerade“ konzentrieren.<br />

Die „Gerade“ <strong>ist</strong> <strong>die</strong> einfachste Disziplin.<br />

Man befindet sich innerhalb des Rhönrades<br />

und bringt es mit seinem Körpergewicht<br />

in Bewegung. Insgesamt muss man acht verschiedene<br />

Elemente turnen. Auch hier gibt es<br />

wieder Schwierigkeits- und<br />

Ausführungswertung; allerdings<br />

kam es bei <strong>die</strong>sem<br />

Wettkampf fast nur auf <strong>die</strong><br />

Ausführung an, da ich und<br />

<strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en meiner Konkurrenten<br />

maximale Schwierigkeit<br />

hatten. Die Dauer liegt<br />

bei ca. zwei bis drei Minuten.<br />

Keines meiner Elemente <strong>ist</strong><br />

normalerweise ein großes<br />

Risiko für mich. Auch jetzt<br />

klappte alles gut, hier und<br />

da ein kleiner Ausführungsfehler,<br />

aber <strong>das</strong> war nicht<br />

sonderlich schlimm. Gegen<br />

Ende hin jedoch schätzte<br />

ich den Boden falsch und<br />

nahm zu wenig Schwung:<br />

Großabzug. Doch der Rest<br />

funktionierte einwandfrei.<br />

7,75 von 10 Punkten, da<br />

kann man zufrieden sein.<br />

Gesichert <strong>ist</strong> der Platz unter<br />

den Top 6 noch nicht, <strong>die</strong>s wird <strong>die</strong> Spirale entscheiden.<br />

Bei der „Spirale“ rollt <strong>das</strong> Rad auf nur einem Reifen<br />

in Kreisbahnen. Dadurch sind in der Gerade<br />

einfache Elemente bei der Spirale um einiges<br />

schwerer. Die Spirale <strong>ist</strong> in zwei Teile aufgeteilt:<br />

Zuerst kippt man <strong>das</strong> Rhönrad und turnt <strong>die</strong><br />

große Spirale (hier zieht der Turner große Kreise,<br />

bei einem Neigungswinkel von ca. 60 Grad),<br />

dann verringert man den Neigungswinkel und<br />

muss dann in der kleinen Spirale <strong>das</strong> Rad, <strong>das</strong><br />

nun in kleinen Kreisen „kreiselt“, durch Muskelkraft<br />

zum Stehen auf beiden Reifen bringen. Es<br />

gibt auch hier verschiedene Möglichkeiten, <strong>die</strong><br />

Spirale auszuführen; je schwieriger, desto mehr<br />

Punkte gibt es in der Schwierigkeitswertung.<br />

Auch wenn es bisher gut lief, war hier noch einmal<br />

volle Konzentration gefordert.<br />

Gleich zu Beginn meiner Kür hielt ich <strong>das</strong> Rad<br />

nicht unter Kontrolle, so befand es sich kurze<br />

Zeit wieder auf beiden Reifen. Doch darüber<br />

konnte ich mir keine weiteren Gedanken ma-<br />

Der Schüler Maximilian Höhnle (17 Jahre) hat<br />

seit letzten Sommer den Führerschein der Klasse<br />

B und nutzt seither jede Möglichkeit, mit<br />

dem Auto durch <strong>die</strong> Stadt zu fahren. Der Gymnasiast<br />

<strong>ist</strong> einer von vielen Jugendlichen, <strong>die</strong><br />

bei dem Modell „Begleitetes Fahren ab 17“ mitgemacht<br />

haben.<br />

Einige Zeit <strong>ist</strong> seit der Einführung des umstrittenen<br />

Gesetzesentwurfs nun vergangen. Am<br />

1. Januar 2008 wurde der Führerschein ab siebzehn<br />

auch in Baden-Württemberg eingeführt.<br />

Das Modell, welches in Niedersachsen bereits<br />

seit fünf Jahren läuft, sieht vor, <strong>das</strong>s Jugendliche<br />

den Autoführerschein der Klasse B (Pkw)<br />

und BE (Pkw mit Anhänger) schon mit siebzehn<br />

erhalten können, unter der Bedingung, <strong>das</strong>s<br />

sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr einen erfahrenen<br />

Erwachsenen als ständigen Beifahrer<br />

mitnehmen.<br />

Die Begleitperson muss mindestens fünf Jahre<br />

Fahrerfahrung vorweisen, über dreißig sein und<br />

darf höchstens drei Punkte in Flensburg haben.<br />

Dies soll verhindern, <strong>das</strong>s der Jugendliche mit<br />

einem erwachsenen Fahranfänger unterwegs<br />

<strong>ist</strong>, welcher nicht verantwortungsbewusst mit<br />

seiner Rolle als Begleiterperson umgeht. Es <strong>ist</strong><br />

eine beliebige Anzahl an Begleitern möglich, <strong>die</strong><br />

me<strong>ist</strong>en Jugendlichen beschränken sich jedoch<br />

auf <strong>die</strong> Eltern als Helfer im Straßenverkehr.<br />

Das Gesetz hatte ursprünglich <strong>das</strong> Ziel, <strong>die</strong><br />

überdurchschnittlich hohe Zahl an Verkehrsunfällen<br />

zu verringern, welche von jungen Menschen<br />

zwischen 18 und 25 Jahren verursacht<br />

werden. Doch schon jetzt <strong>ist</strong> es ein Erfolg, der<br />

weit über <strong>das</strong> Erhoffte hinaus geht. Maximilian<br />

Höhnle hat seinen Führerschein seit dem letzten<br />

Sommer und <strong>ist</strong> seitdem so oft wie möglich<br />

mit dem Auto unterwegs. In Begleitung seiner<br />

Mutter fährt er jede <strong>Wo</strong>che zum Saxophonunterricht,<br />

und auch an den Bodensee <strong>ist</strong> er schon<br />

gefahren. Der Gymnasiast aus dem Stuttgarter<br />

Westen brauchte zwar überdurchschnittlich<br />

viele Fahrstunden, bestand aber bei beiden<br />

Prüfungen (theoretischer und praktischer Teil)<br />

schon beim ersten Mal.<br />

Er <strong>ist</strong> auch deshalb der Ansicht, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gesetz<br />

eine gute Möglichkeit sei, <strong>das</strong> in der Fahrschule<br />

gelernte Wissen noch ein Jahr zu üben, ohne<br />

gleich vollkommen auf sich allein gestellt zu<br />

sein. „Ich denke, man kommt sicherer im Stra-<br />

chen, der Rest musste klappen. Leider sammelte<br />

ich <strong>die</strong> restliche Zeit auch Punktabzüge – bis<br />

der erste (und zum Glück letzte) große Fehler<br />

kam: In der kleinen Spirale verschätzte ich<br />

mich und musste aussteigen. Ein bitteres Ende,<br />

gibt ein Sturz doch gleich 0,8 Punkte Abzug,<br />

von insgesamt maximal 10 Punkten.<br />

Ärgerlich, jedoch nicht wieder gut zu machen.<br />

Dadurch war mir ein Podestplatz unerreichbar,<br />

doch für einen vierten Platz hat es gereicht.<br />

Wenn ich es bei der zweiten Qualifikation noch<br />

einmal schaffe, unter <strong>die</strong> Top 6 zu kommen,<br />

steht der WM nichts mehr im Weg.<br />

Johannes Feszler<br />

ein erfolgs-<br />

modell für junge<br />

Autofahrer<br />

Das begleitete Fahren mit siebzehn<br />

soll Jugendliche richtig auf den<br />

Straßenverkehr vorbereiten<br />

ßenverkehr zurecht, denn <strong>die</strong> Begleitpersonen<br />

können einem in einigen Situationen helfen“,<br />

so der 17-Jährige.<br />

Trotzdem kann Maximilian Höhnle sich nur an<br />

ganz wenige junge Leute in seiner Fahrschule<br />

erinnern, <strong>die</strong> auch schon den Führerschein ab<br />

siebzehn gemacht haben. Das zeigt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

Modell „Begleitetes Fahren ab siebzehn“ noch<br />

jung und unbekannt <strong>ist</strong>. Jedoch steigen <strong>die</strong><br />

Zahlen von 17-jährigen Autofahrern monatlich<br />

an, Dank der Werbung vieler Fahrschulen. Maximilian<br />

Höhnle fügt außerdem hinzu, <strong>das</strong>s <strong>die</strong><br />

Vorfreude auf <strong>das</strong> alleinige Autofahren nach<br />

dem Jahr mit Begleitung viel höher sei, als<br />

wenn man gleich von Beginn an alleine fahren<br />

müsse.<br />

Wegen der steigenden Bekanntheit und den<br />

überaus niedrigen Zahlen in der Unfallstat<strong>ist</strong>ik<br />

<strong>ist</strong> es fast schon sicher, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Laufzeit des<br />

Modells über den 31. Dezember 2010 hinausgehen<br />

wird. Denn ursprünglich wurde <strong>das</strong> vorher<br />

nicht ganz unumstrittene Projekt auf einen begrenzten<br />

Zeitraum festgesetzt, um <strong>die</strong> Brauchbarkeit<br />

und Wirkung des begleiteten Fahrens<br />

mit siebzehn zu testen.<br />

Auch <strong>die</strong> baden-württembergische Landesregierung<br />

zieht aus den bisher gesammelten Erfahrungen<br />

eine positive Bilanz. Knapp 33 000<br />

Jugendliche im Alter zwischen 17 und 18 hätten<br />

den Führerschein in Baden-Württemberg<br />

im ersten Jahr erworben, nur sieben mussten<br />

ihn wegen Verstößen gegen <strong>die</strong> Begleitauflagen<br />

wieder abgeben. Der Innenmin<strong>ist</strong>er von Baden-<br />

Württemberg <strong>ist</strong> sogar davon überzeugt, <strong>das</strong>s<br />

sich <strong>die</strong>ses Modell in den nächsten Jahren als<br />

Dauerlösung etablieren wird!<br />

Für einen Podestplatz hat es nicht gereicht, doch<br />

noch <strong>ist</strong> <strong>die</strong> WM-Teilnahme in greifbarer Nähe.<br />

Mit den <strong>Wo</strong>rten „Super Sache“ beschreibt auch<br />

Hans Scheible, seit vielen Jahren als Fahrlehrer<br />

in Zuffenhausen tätig, den Gesetzentwurf „Begleitetes<br />

Fahren ab 17 Jahren“ und freut sich,<br />

<strong>das</strong>s <strong>die</strong>ser sich endlich auch in Baden-Württemberg<br />

hat durchsetzen lassen. Er sieht nur<br />

positive Seiten an dem Modell. Der 63-Jährige<br />

sieht viele Vorteile, sowohl für den Führerscheininteressierten<br />

als auch für den Verkehrsfluss.<br />

Fehlende Fahrerfahrung, hohe Risikobereitschaft<br />

bei jungen Menschen und problematische<br />

Stimmung im Fahrzeug erzeugen eine erhöhte<br />

Unfallgefahr. Deshalb <strong>ist</strong> es aus Sicht des Fahrlehrers<br />

der richtige Ansatz, dem Fahranfänger<br />

einen erfahrenen Kraftfahrer zur Seite zu<br />

geben. So geht <strong>das</strong> in der Fahrschule erlernte<br />

Wissen nicht so schnell verloren, wenn ein interessierter<br />

Beifahrer immer wieder auf wichtige<br />

Dinge im Straßenverkehr hinwe<strong>ist</strong>. Die seit der<br />

Einführung sinkenden Unfallzahlen belegen<br />

<strong>die</strong> Argumente Hans Scheibles nachhaltig.<br />

Er habe in den Jahren vor der Einführung des<br />

begleiteten Fahrens viele junge 18-jährige<br />

Fahrschüler gehabt, denen es gut getan hätte,<br />

nach dem Abschluss des Fahrunterrichts einen<br />

Erwachsenen neben sich zu wissen. Denn<br />

wichtige Tipps des bekannten Begleiters können<br />

in schwierigen Verkehrssituationen bei<br />

der Reifung zum gestandenen Autofahrer fast<br />

genauso wichtig sein wie <strong>die</strong> Anweisungen des<br />

Fahrlehrers. „Man kann durch <strong>die</strong>ses eine Jahr<br />

in ständiger Begleitung wichtige Erfahrungen<br />

sammeln, von denen man ein Leben lang profitieren<br />

wird“, so der Fahrlehrer aus dem Stuttgarter<br />

Norden.<br />

Die rundum positiven Stimmen überraschen,<br />

angesichts der heißen Debatten, <strong>die</strong> vor der Ein-<br />

führung fast überall von Experten geführt wurden.<br />

Doch <strong>die</strong>se Diskussionen sind seit der nunmehr<br />

sechs Jahre anhaltenden Erfolgsgeschichte,<br />

<strong>die</strong> mit der Einführung in Niedersachsen<br />

begann, endgültig verstummt. Mitunter häufen<br />

sich <strong>die</strong> Stimmen für <strong>die</strong> langfr<strong>ist</strong>ige Durchsetzung<br />

des „Begleiteten Fahrens ab siebzehn“ in<br />

Baden-Württemberg wegen der langen L<strong>ist</strong>e an<br />

Vorteilen für den Straßenverkehr. Jugendliche,<br />

Fahrlehrer und Politiker sind sich einig. Also<br />

dürfte einer langen Lebensdauer des Gesetzes<br />

in Zukunft nichts mehr im Wege stehen.


Seite 20 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009<br />

Es <strong>ist</strong> Dienstagnachmittag in der ersten Stuttgarter<br />

Lokalbrauerei „Calwer-Eck-Bräu“. Wenn<br />

man <strong>die</strong> Brauerei betritt, fällt einem als erstes<br />

der angenehme Geruch von frischem Bier und<br />

<strong>die</strong> entspannte Stimmung der Gäste auf. Es wird<br />

gelacht und scheinbar jeder in dem Lokal <strong>ist</strong><br />

gut gelaunt, trotzdem fällt mir kein betrunkener<br />

Gast auf. Einzig eine Glasscheibe trennt<br />

<strong>das</strong> Lokal von der Brauerei. Das soll den Gästen<br />

<strong>das</strong> Gefühl vermitteln, immer ein frisches Bier<br />

von nebenan zu bekommen.<br />

Wenn man hier jedoch abends <strong>das</strong> hauseigene<br />

naturtrübe Bier genießen möchte, muss man<br />

vier <strong>Wo</strong>chen vorher schon einen Platz reservieren.<br />

Auch jetzt sind schon viele der ca. 200<br />

Plätze im Innenraum und 30 Plätze auf der Terrasse<br />

besetzt.<br />

Ein Gast aus Cannstatt erzählt über <strong>die</strong> Lokalbrauerei:<br />

„Ich komme hier regelmäßig her.<br />

Das Essen <strong>ist</strong> gut und <strong>das</strong> Bier einfach etwas<br />

Besonderes.“ – „Außerdem braucht er manchmal<br />

einfach Entspannung, und <strong>das</strong> Lokal hier<br />

<strong>ist</strong> dafür genau richtig“, fügt seine Frau hinzu.<br />

Seit inzwischen mehr als 20 Jahren <strong>ist</strong> <strong>das</strong> „Calwer-Eck-Bräu“<br />

unverändert erfolgreich, obwohl<br />

es keinen Umbau, keine Namens- oder Konzept-<br />

änderung gegeben hat. Ein laut den Angaben<br />

des Calwer-Eck-Bräus bis heute einzigartiges<br />

Phänomen in der Gastronomieszene. Die Idee<br />

von Klaus Schöning, der <strong>die</strong> Lokalbrauerei am<br />

24. April 1987 eröffnete, ein Lokal zu schaffen,<br />

<strong>das</strong> auf keine bestimmte Zielgruppe spezialisiert<br />

war, <strong>ist</strong> sicher <strong>die</strong> Stütze für <strong>die</strong>sen Erfolg.<br />

Bereits seit acht Jahren <strong>ist</strong> Jürgen Hartl Braume<strong>ist</strong>er<br />

des Calwer-Eck-Bräus und damit für <strong>die</strong><br />

Qualität des Hausbiers verantwortlich. Er arbeitet<br />

täglich von 6 Uhr morgens an, um für <strong>die</strong><br />

Qualität und den guten Geschmack garantieren<br />

zu können. Dafür kontrolliert er jeden Tag den<br />

Schaum, <strong>die</strong> Farbe und den Geschmack des Biers.<br />

Das Mischen und Umrühren des Biers geschieht<br />

hier noch nach alter Handwerkstradition – alles<br />

<strong>ist</strong> 100%-ige Handarbeit. Pro Jahr werden von<br />

Jürgen Hartl und einem weiteren Brauer ungefähr<br />

130 Sud hergestellt, <strong>das</strong> sind ungefähr<br />

5200 Hektoliter. Ein Hektoliter entspricht 100<br />

Litern. Im Vergleich dazu: Eine große Brauerei<br />

wie Stuttgarter Hofbräu produziert 700.000<br />

Hektoliter im Jahr.<br />

Allgemein zu der Qualität eines Biers sagt er<br />

Folgendes: „Die Lagerzeit hat etwas mit der<br />

Qualität des Biers zu tun. In großen Brauereien<br />

wird <strong>das</strong> Bier ungefähr eine <strong>Wo</strong>che gelagert, bei<br />

uns zwei bis drei <strong>Wo</strong>chen, je nach Bedarf.“ Bei<br />

der Lagerung sind noch restliche Hefe und Zu-<br />

Philipp Tabasaran<br />

Alles in hundertprozentiger<br />

Handarbeit<br />

Im Stuttgarter „Calwer-Eck-Bräu“ wird ein ganz besonderes Bier hergestellt und ausgeschenkt.<br />

cker übrig, bei niedrigen Temperaturen zersetzt<br />

<strong>die</strong> Hefe den restlichen Zucker zu kurzkettigen<br />

Alkoholen. „Von Bier, <strong>das</strong> ausreichend gelagert<br />

wird, bekommt man keine Kopfschmerzen, wegen<br />

den nicht vorhandenen höheren Alkoholen.“<br />

Auch <strong>die</strong> Rohstoffe, <strong>die</strong> von einer Malzerei<br />

angeliefert werden, spielen bei der Qualität<br />

eine Rolle.<br />

Zu dem Rezept für <strong>das</strong> naturtrübe Pils kann<br />

Jürgen Hartl verraten, <strong>das</strong>s sich in einem Sud<br />

1 kg Hopfen sowie zwei verschiedene Arten von<br />

Bitterhopfen, Malz und Aromahopfen befinden.<br />

Hopfenöle und der Aromahopfen, der von größeren<br />

Brauereien aufbereitet wird, machen den<br />

guten Geschmack des Biers aus. Die Hefe kommt<br />

ebenfalls von größeren Brauereien. Für einen<br />

Hektoliter Bier werden zwölf bis fünfzehn Hektoliter<br />

Wasser benötigt. Als Brauwasser wird <strong>das</strong><br />

normale Leitungswasser aus Stuttgart benutzt:<br />

„Das Stuttgarter Leitungswasser <strong>ist</strong> ein sehr<br />

gutes Wasser und bestens für <strong>die</strong> Produktion<br />

von Bier geeignet“, so Jürgen Hartl.<br />

Sechs bis sieben Stunden werden für einen Sud<br />

benötigt, und bis zur endgültigen Fertigstellung<br />

des Biers vergehen vier <strong>Wo</strong>chen, wegen<br />

der anschließenden Lagerzeiten. Das Bier wird<br />

weder filtriert noch pasteurisiert, da es schon<br />

bald nach der Fertigstellung konsumiert wird<br />

und deswegen nicht lange haltbar sein muss.<br />

Die Reste des Brauvorgangs, der so genannte<br />

„Biertreber“, werden in <strong>die</strong> Wilhelma geliefert,<br />

als Futter für <strong>die</strong> Tiere.<br />

Besonders an dem Calwer-Eck-Bräu <strong>ist</strong>, <strong>das</strong>s es<br />

mit einer anderen Technik als <strong>das</strong> herkömmliche<br />

deutsche Bier hergestellt wird. Normalerweise<br />

wird beim Brauen mit niedrigen Temperaturen<br />

angefangen, beim Calwer-Eck-Bräu mit verhältnismäßig<br />

hohen. Jürgen Hartl selbst findet an<br />

seinem Bier besonders, <strong>das</strong>s kein Sud gleich<br />

schmeckt. Das liegt zum Einen daran, <strong>das</strong>s bei<br />

der Handarbeit alles gewissen Schwankungen<br />

unterliegt, und zum Anderen daran, <strong>das</strong>s <strong>die</strong><br />

Lagerzeit des Biers manchmal unterschiedlich<br />

lange <strong>ist</strong>. Den Gästen kommt es laut ihm nicht<br />

darauf an, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bier immer seinen identischen<br />

Geschmack hat, sondern darauf, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Bier frisch <strong>ist</strong> und gut schmeckt.<br />

Doch wie kann eine so kleine Brauerei mit so<br />

großen Brauereien, wie z.B. Stuttgarter Hofbräu,<br />

überhaupt mithalten – und lohnt es sich<br />

überhaupt, sein eigenes Hausbier zu produzieren?<br />

Aufgrund der niedrigeren Einkaufsmengen<br />

der Rohstoffe <strong>ist</strong> der Einkaufspreis höher<br />

als der für große Brauereien, <strong>die</strong> in großen<br />

Stückzahlen einkaufen und ihren Aromahop-<br />

fen selbst aufbereiten. Diese Fragen kann der<br />

Braume<strong>ist</strong>er einfach beantworten: „Über einen<br />

höheren Preis teilweise. Es gäbe sicher einen<br />

größeren Gewinn am Bier, wenn wir es von anderen<br />

Brauereien kaufen würden. Die Frage <strong>ist</strong><br />

aber, ob dann auch genauso viele Gäste kommen<br />

würden.“ Auch der Brauvorgang <strong>ist</strong> bei den<br />

geringen Mengen deutlich teurer.<br />

Neben dem naturtrüben Pils und dem naturtrüben<br />

Weizen hat <strong>die</strong> erste Stuttgarter Lokalbrauerei<br />

auch noch <strong>das</strong> Braume<strong>ist</strong>erbier im Angebot,<br />

„ein kräftiges dunkles Märzen“. Außerdem gibt<br />

es „Saisonbiere“, wie z.B. <strong>das</strong> Weihnachtsbier,<br />

<strong>das</strong> Sommerbier oder <strong>das</strong> Volksfestbier. „Unsere<br />

Kunden sollen sich immer auf <strong>die</strong> Biere der<br />

jeweiligen Saison freuen können“, meint der<br />

Braume<strong>ist</strong>er. Jedes Bier passt zu einem Event<br />

oder einer Jahreszeit. „Winterbiere sind dunkle,<br />

gehaltvolle Biere, im Sommer wollen <strong>die</strong> Leute<br />

leichte Biere.“<br />

Das Braume<strong>ist</strong>erbier war früher auch ein Saisonbier,<br />

<strong>das</strong> jedoch wegen des großen Erfolgs<br />

<strong>die</strong> ganze Saison verkauft wird. Hartl nennt<br />

seine Saisonbiere lächelnd „Schmankerl“. Man<br />

merkt in <strong>die</strong>sem Moment deutlich, <strong>das</strong>s er Spaß<br />

an seinem Beruf hat. Alkoholfreies Bier gibt es<br />

in seinem Sortiment nicht, da <strong>die</strong> Produktion<br />

für eine kleine Brauerei zu aufwendig wäre.<br />

Über den Beruf „Braume<strong>ist</strong>er“ sagt Jürgen<br />

Hartl, <strong>das</strong>s man theoretisch nur einen Hauptschulabschluss<br />

und eine 3-jährige Lehre benötige.<br />

Zudem sei man praktisch konkurrenzlos,<br />

und der Beruf sei sehr gefragt. Die hohe Anzahl<br />

von Kunden gibt ihm dabei auf jeden Fall<br />

Recht, so wie es aussieht, wird <strong>das</strong> Calwer-Eck<br />

Bräu wohl auch in Zukunft weiterhin gut besucht<br />

sein.<br />

Kleinere Mengen, längere Reifezeiten<br />

– Im Calwer-Eck-Bräu <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Qualität<br />

wichtiger als <strong>die</strong> Quantität.

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