22.12.2012 Aufrufe

Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Literatur machen – Unterricht im Dialog:<br />

Schreibwerkstätten im Deutschunterricht<br />

<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>!<br />

<strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Ein Roman.<br />

Publikation der Prosa-Werkstatt<br />

an der Schlossrealschule Stuttgart<br />

Klasse 8b · Schuljahr 2008/2009


Literatur machen – Unterricht im Dialog:<br />

Schreibwerkstätten im Deutschunterricht<br />

<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>!<br />

<strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Ein Roman<br />

Publikation der Prosa-Werkstatt<br />

an der Schlossrealschule Stuttgart<br />

Klasse 8b · Schuljahr 2008/2009


2 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Impressum<br />

<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>! ist der aktuelle Werkstattbericht der Werkstatt für Prosa<br />

an der Schlossrealschule Stuttgart in der Klasse 8b im Schuljahr 2008/2009<br />

„Literatur machen – Unterricht im Dialog: Schreibwerkstätten im Deutschunterricht“<br />

Ein Projekt des Literaturhauses Stuttgart.<br />

In Kooperation mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung und den<br />

Seminareinrichtungen für Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg.<br />

Gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.<br />

Dozent: Tilman Rau<br />

Verantwortliche Lehrerin: Rebecca Müller<br />

Redaktion dieser Ausgabe: Tilman Rau und Rebecca Müller<br />

Layout: Jochen Starz – starz engineering<br />

Fotos: Tilman Rau, Yves Noir<br />

Copyright: Die Rechte für die einzelnen Beiträge liegen bei den Autorinnen<br />

und Autoren, für die Gesamtausgabe beim Literaturhaus Stuttgart<br />

Kontakt: Literaturhaus Stuttgart, Erwin Krottenthaler<br />

Boschareal, Breitscheidstraße 4, 70174 Stuttgart<br />

Tel. 0711/220 21 741, Fax 0711/220 21 748<br />

info@literaturhaus-stuttgart.de, www.literaturhaus-stuttgart.de<br />

Besuchen Sie auch die Internetseite für junge Literatur<br />

des Literaturhauses Stuttgart: www.literaturmachen.de<br />

<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>! erscheint mit freundlicher Unterstützung<br />

der Robert Bosch Stiftung GmbH Stuttgart<br />

Auflage 2009: 2.000 Exemplare<br />

Inhaltsverzeichnis 3<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Rebecca Müller / Tilman Rau: Den Leser das Fürchten lehren ............. 4<br />

Fabian Laible: Kapitel 1 ........................................................... 6<br />

Beverly Tidwell: Kapitel 2 ........................................................ 11<br />

Yves Biber: Kapitel 3 ............................................................... 14<br />

Jasmina Jooß: Kapitel 4 ........................................................... 18<br />

Antonia Prusina: Kapitel 5 ....................................................... 20<br />

Ali Hussein: Kapitel 6 ............................................................. 23<br />

Carolyn Gläßer: Kapitel 7 ......................................................... 25<br />

Fabian Ajtnik: Kapitel 8 .......................................................... 29<br />

Birgit Sonnleitner: Kapitel 9 ..................................................... 38<br />

Stephanie Ragoßnig: Kapitel 10 ................................................. 41<br />

Jakob Seitz: Kapitel 11 ............................................................. 44<br />

Corina Proschinger: Kapitel 12 ................................................. 48<br />

Paolo Mele: Kapitel 13 ............................................................. 51<br />

Simon Michel: Kapitel 14 ......................................................... 53<br />

Paula Schmidt: Kapitel 15 ........................................................ 55<br />

André Rebele: Kapitel 16 ......................................................... 58<br />

Leonard Böhmke: Kapitel 17 ..................................................... 61<br />

Katrin Epple: Kapitel 18 .......................................................... 63<br />

Daniel Falder: Kapitel 19 ......................................................... 67<br />

Saskia Neun: Kapitel 20 ........................................................... 69<br />

Lauren Rombach: Kapitel 21 ..................................................... 72<br />

Mareike Lang: Kapitel 22 ........................................................ 75<br />

Sajaed Iqbal: Kapitel 23 ........................................................... 78<br />

Philipp-Sebastian Meyer: Kapitel 24 ........................................... 80<br />

Marco Gräther: Kapitel 25 ....................................................... 84<br />

Matheus Werner: Kapitel 26 ..................................................... 87<br />

Kevin Akbulut: Kapitel 27 ........................................................ 89<br />

Marius Tobisch: Kapitel 28 ....................................................... 92<br />

Yves Biber & Niko Terschawetz: Kapitel 29 ................................... 95


4 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Rebecca Müller / Tilman Rau<br />

Den Leser das Fürchten lehren<br />

Ein Vorwort<br />

Willkommen im Jahre 1980, irgendwo in der englischen Provinz. Hier befindet<br />

sich ein herunter gekommenes Waisenhaus, in dem sich sonderbare<br />

Dinge ereignen. Im Zentrum der Ereignisse stehen Jack, der Hausmeister,<br />

der als Kind ebenfalls in diesem Waisenhaus lebte, sowie Dave, ein Junge,<br />

der besonders unter den Anfeindungen der anderen Kinder zu leiden hat.<br />

Und dann ist da noch ein Teddybär, der das Schicksal zweier Jungen mit-<br />

einander verbindet und sogar in Mordverdacht gerät.<br />

Klingt das alles ein wenig gruselig und eigenartig? Das soll es auch. Denn<br />

die Klasse 8b, die diesen Roman erdacht und geschrieben hat, wollte<br />

eine Geschichte erzählen, die das Unheimliche mit dem Alltäglichen,<br />

das Spannende mit dem Gewöhnlichen verbindet. Kurz: sie wollte einen<br />

Thriller schreiben, der die Leser das Fürchten lehrt.<br />

Dabei haben die Schülerinnen und Schüler keine Mühen gescheut. Denn<br />

es erfordert viel Arbeit, einen Roman zu planen, der aus 29 Kapiteln<br />

besteht, die alle logisch miteinander verknüpft sein müssen. Und dessen<br />

Handlung darüber hinaus auf zwei Ebenen angesiedelt ist, die zwanzig<br />

Jahre auseinander liegen.<br />

Rebecca Müller / Tilman Rau: Den Leser das Fürchten lehren 5<br />

Um dies alles zu bewältigen, wurden in der Klasse Arbeitsgruppen gebildet,<br />

die sich auf bestimmte Fragestellungen spezialisierten. Eine Gruppe kümmerte<br />

sich beispielsweise um die Figuren. Welche Charaktere spielen in der<br />

Geschichte eine Rolle? Wie heißen sie? (Es versteht sich von selbst, dass wir<br />

es hier vor allem mit englischen Namen zu tun haben.) Eine andere Gruppe<br />

beschäftigte sich eingehend mit dem Haus. Wie ist es aufgeteilt, wo befinden<br />

sich die Schlafsäle der Kinder, wo die Verstecke und Geheimgänge?<br />

Es war gar nicht so einfach, bei einer solchen Vielzahl von Details und Informationen<br />

den Überblick zu behalten. Dass es trotzdem geklappt hat, beweist<br />

dieses Buch. 29 spannende Kapitel, geschrieben von 29 Schülerinnen und<br />

Schülern.<br />

Jeder hat ein bisschen seines eigenen Stils und seiner persönlichen Note hinterlassen,<br />

doch nie hat die Klasse vergessen, dass sie an einem gemeinsamen<br />

großen Projekt arbeitet.<br />

Wir finden, dass sie ein beeindruckendes Ergebnis abgeliefert haben und<br />

bedanken uns für die Mühe und das Durchhaltevermögen.<br />

Und wir wünschen spannende und schöne Lesestunden!<br />

Rebecca Müller (Lehrerin)<br />

Tilman Rau (Dozent)


6 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong> Fabian Laible: Kapitel 1 7<br />

Fabian Laible<br />

Kapitel 1<br />

In London, in der Liverpool Street 24, lebte Jack in einer 2-Zimmer-Wohnung.<br />

Da er zurzeit keiner Arbeit nachging, verbrachte er die meiste Zeit<br />

des Tages damit, Motorrad zu fahren. Aber nun schrieb er an einem Buch,<br />

weshalb er sein Hobby derzeit vernach lässigte. Nicht ein<strong>mal</strong> seine engsten<br />

Freunde hatten eine Ahnung, wovon das Buch handelte. Sie wussten nur<br />

eins: Dass Jack dieses Buch schrieb, um der Welt und sich selber etwas mitzuteilen.<br />

Wenn man das Buch nun aufschlug, so konnte man in krakeliger Schrift<br />

mehr als 100 Seiten lesen.<br />

Aus dem Buch von Jack.<br />

Ich betrat das Zimmer. Unter meinem zerfetzten Hemd zeichneten sich auf<br />

meinem nackten Rücken tiefe dunkelrote Striemen ab. Es tat höllisch weh,<br />

was einen auch nicht weiter wunderte, wenn man bedenkt, dass einer dieser<br />

blöden Erzieher die letzte halbe Stunde damit verbracht hatte, auf meinen<br />

Rücken einzuschlagen, mit einem dünnen Lederriemen, der vorne mit Gummis<br />

ummantelt war. Ich war wütend und knallte die Tür hinter mir zu, die<br />

ich dann wiederum mit einem Stuhl verbarrikadierte, sodass niemand mein<br />

Zimmer betreten konnte. Nun machte ich mich daran, meine Wunden, so gut<br />

es ging, mit einer Salbe zu versorgen. Als ich das erledigt hatte, warf ich mich<br />

aufs Bett und dachte darüber nach, wie es wäre, eine Familie zu haben – eine<br />

Mutter, einen Vater, eine …<br />

Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als ich ein Poltern und eine<br />

wütende Stimme auf dem Gang hörte. Jemand versuchte meine Zimmertür<br />

zu öffnen. Jemand schrie: „Jack, mach die Tür auf oder du kriegst noch mehr<br />

Schläge.“ Das war Mr. Anderson, der mich auch mit dem Riemen bearbeitet<br />

hatte. „Ich zähle jetzt auf 10, dann drücke ich die Tür ein“, hörte ich ihn sagen.<br />

Sollte mich wundern, wenn der überhaupt bis 10 zählen kann.<br />

Schon begann er: „1…“ Ich schlich lautlos zur Tür. „2…“ Unterwegs schnappte<br />

ich mir eine Schnur und befestigte sie am unteren Ende des Stuhlbeins. „3…,<br />

4…, 5…“ Leise schlich ich zurück zum Bett. „6…, 7…“ Ich rollte mich darunter.<br />

„8…“ Ich hob die Falltür an, die ich vor einem Jahr entdeckt hatte. „9…“<br />

Vorsichtig stieg ich hinab und wartete, mit der Schnur in der Hand, auf das,<br />

was unweigerlich passieren musste. „10!!!!!“ Ich zog kräftig an der Schnur, der<br />

Stuhl fiel um und Mr. Anderson, der gerade versucht hatte, die Tür mit der<br />

Kraft seines Körpers zu öffnen, flog ins Zimmer. Er blieb am Stuhl hängen und<br />

fiel mit voller Wucht auf die Nase. Aus Mr. Andersons Nase schoss sofort das<br />

Blut. Er wurde rasend vor Zorn und durchsuchte die Schränke nach mir. Er<br />

sah überall nach, aber ich hatte mich längst durch den Geheimgang aus dem<br />

Staub gemacht. Durch die dicken Wände des Ganges hörte ich gedämpft den<br />

dumpfen Klang der Speisesaalglocke. Was soll’s, schließlich konnte ich mich,<br />

zumindest heute, nicht blicken lassen.Nicht wenn Mr. Anderson dort war. Ich<br />

kroch weiter und kam schließlich zu der Stelle, an der durch die Ritzen zwischen<br />

dem Gestrüpp, das den Ausgang tarnte, Sonnenstrahlen in den Gang<br />

fielen. Ich kroch aus dem Gang und klopfte den Staub von meiner Kleidung<br />

ab.<br />

Ich ging zurück zum Waisenhaus und öffnete die Eingangstür. Zu meiner Erleichterung<br />

hatte sie der Hausmeister geölt. Ich schlich den verlassenen Korridor<br />

entlang und öffnete eine weitere Tür. Sie führte in ein Büro. Ich durchquerte<br />

es und presste mein Ohr an die Tür, die in das prunkvoll eingerichtete<br />

Teezimmer der Betreuer führte.<br />

„Was??“, schrie Mr. Johnson. „Er hat dir die Nase gebrochen und ist dann<br />

verschwunden?“<br />

„Ja“, antwortete Mr. Anderson. Man konnte richtig hören, dass er sich mit<br />

einem Kühlpack die Nase zuhielt und näselte. Was mich allerdings wunderte<br />

war, dass Mr. Steven, der Direktor des Hauses, nicht da war.<br />

„Dass ich nicht lache“, gluckste Mrs. Wood und schlürfte ihren Tee. „Ein ehe<strong>mal</strong>iger<br />

Elitekämpfer der Polizei lässt sich von einem Dreikäsehoch die Nase<br />

brechen!“<br />

„Was kann ich denn dafür, wenn er die Tür so geschickt entriegelte, dass ich<br />

ins Stolpern kam, hä?“, erwiderte Mr. Anderson.<br />

Ich stellte mir vor, wie sich Mrs. Wood und Mr. Johnson über den großen Mr.<br />

Anderson, mit einem Kühlpack auf der Nase und einer Tasse Tee in der Hand,


8 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

lustig machten. Ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen, drehte mich um<br />

und ging raus auf den Korridor, rannte in mein Zimmer und brach dort in<br />

schallendes Gelächter aus.<br />

Nach ungefähr fünf Minuten hörte ich Schritte auf dem Korridor. Als die<br />

Tür auf ging, kamen drei Jungs ins Zimmer und blökten natürlich sofort los:<br />

„Mädchenjunge, Mädchenjunge!“ Und das alles nur, weil ich etwas weibliche<br />

Gesichtszüge hatte. Aber dafür werde ich mich noch revangieren, keine Sorge,<br />

ihr kleinen Nervensägen. Sie tänzelten um mich herum und lachten mich<br />

aus.<br />

„Ihr könnt froh sein, dass ich heute einen guten Tag habe“, sagte ich. „Ja ja“,<br />

sagten sie wie aus einem Mund. Ich drehte mich um und ging zurück zum<br />

Bett.<br />

„Jetzt haut er ab“, höhnte ihr Anführer. <strong>Der</strong> Mistkerl hieß Tommy.<br />

Ich warf mich aufs Bett und starrte zur Decke. Tommy nahm sein Kissen und<br />

knallte es mir mit voller Wucht in die Magengrube. Ich stöhnte und sprang<br />

sofort auf.<br />

Ich stürzte mich auf ihn und grub ihm meine Zähne in seine Schulter. Jason<br />

schrie laut auf. Die anderen standen wie versteinert da. Doch dann rannten<br />

sie los. Zac rannte in Richtung Teezimmer, aber Jason kam Tommy zur Hilfe.<br />

Sie versuchten, mich von ihm weg zu zerren, aber ich hatte mich schon zu fest<br />

in ihn verbissen. Als ich aber Schritte auf der Treppe hörte, ließ ich von ihm ab<br />

und sprang aus dem Fenster.<br />

Ich landete in einem Busch und rappelte mich sofort auf. Ich rannte so schnell,<br />

wie ich nur irgendwie konnte, in Richtung Geheimgang. Ich zerrte das Geäst<br />

auseinander und ließ mich in den dunklen Gang gleiten. Auf Knien kroch ich<br />

ihn entlang, bis ich zu einer Kreuzung aus zwei Gängen kam. Ich bog in den<br />

linken Gang und kroch weiter. Nach einer Minute kam ich in einen kleinen<br />

Raum. Dieser war mit einem umgedrehten Bierkasten, einer kleinen Kerze<br />

und jeder Menge Vorräten aus Brot, Wasser, Äpfeln und Konserven voll gestopft.<br />

Die Sachen hatte ich über Wochen heimlich nach unten geschleust. Ich<br />

setzte mich hin und zündete die Kerze mit einem Streichholz an. Ich schnappte<br />

mir einen Apfel und biss herzhaft hinein. Währenddessen dachte ich darüber<br />

nach, wie es nun weitergehen sollte. Dieses Leben hier kotzte mich an, ich<br />

hatte keine Freunde und auch unter den Betreuern nur einen, der es gut mit<br />

mir meinte. Nach gründlicher Überlegung beschloss ich, zurückzukehren und<br />

die Prügel, die ich kassieren würde, in Kauf zu nehmen. Ein<strong>mal</strong> mehr Prügel<br />

Fabian Laible: Kapitel 1 9<br />

war auch egal. Außerdem beschloss ich, meinen Geheimgang bei Gelegenheit<br />

näher zu erforschen. Bis jetzt kannte ich ja nur diese Kammer und den Ausgang.<br />

Ich blies die Kerze aus und kroch in Richtung Waisenhaus. Als ich die Tür<br />

unter meinem Bett anhob, schliefen die anderen Jungen bereits tief und fest.<br />

Ich kroch unter die Decke und machte die Augen zu.<br />

Am nächsten Morgen wurde ich unsanft aus dem Bett gerissen. Als ich die<br />

Augen öffnete, starrte mich Mr. Anderson mit wutverzerrtem Gesicht an.<br />

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du heute ausschlafen kannst“,<br />

schrie er.<br />

„Jetzt reg dich <strong>mal</strong> ab“, entgegnete ich und drehte mich weg.<br />

„Werd jetzt bloß nicht frech!“ Und mit diesen Worten nahm er mich, zerrte<br />

mich zum Waschbecken und tunkte meinen Kopf in eiskaltes Wasser. Ich<br />

strampelte und versuchte mich zu wehren, aber ich hatte keine Chance gegen<br />

Mr. Anderson. Ich bekam keine Luft mehr! Als ich dann schließlich dachte,<br />

dies<strong>mal</strong> würde er es schaffen und ich würde ertrinken, riss er mich hoch und<br />

mit den Worten: „Luft holen!“, tauchte er mich wieder unter. Das Ganze wiederholte<br />

er, bis ich fast ohnmächtig wurde und zu keiner Gegenwehr mehr<br />

fähig war.<br />

Als ich wieder zu mir kam, lag ich keuchend und mit rotem Kopf vor dem<br />

Waschbecken, in das mich Mr. Anderson mindestens 50 <strong>mal</strong> getunkt hatte.<br />

Als sich meine Atmung langsam wieder nor<strong>mal</strong>isiert hatte, stand ich auf und<br />

ging in Richtung Tür.<br />

Als ich wieder einigermaßen klar denken konnte, schwor ich mir, Mr. Anderson<br />

in Grund und Boden zu planieren. Allerdings brauchte ich dazu einen<br />

Plan. Ich setzte mich hin und dachte nach.<br />

Nach etwa fünf Minuten hörte ich die Essensglocke und ging in den Speisesaal.<br />

Unten erwartete mich ein wildes Durcheinander. Ich setzte mich auf einen<br />

Stuhl, der an einem Tisch in der Ecke stand. Fünf Minuten später wurde<br />

das Essen aus der Küche getragen. Wie immer bekamen die Betreuer als erstes<br />

ihr Essen, dann die anderen Kinder und erst am Schluss, wie immer, ich. Das<br />

Ganze dauerte so lange, dass ich erst zu Essen bekam, als die Betreuer schon<br />

fertig waren. Und bevor ich auch nur den ersten Bissen im Mund hatte, stand<br />

schon wieder Mr. Anderson vor mir. Er bäumte sich vor mir auf und schrie:<br />

„Was fällt dir eigentlich ein, dich hier blicken zu lassen?“


10 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Ich versuchte cool zu sein, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug, und<br />

antwortete: „Ich hab halt Hunger!“<br />

„Jetzt werd hier ja nicht frech!“ Seine Augen quollen schier über.<br />

„Lass mich in Ruhe“, sagte ich ruhig und stopfte mir eine Gabel Rührei in den<br />

Mund.<br />

>>> Klatsch


12 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

„Oh nein, Sie müssen sich erst bei der Chefin melden, dann können Sie mit<br />

der Arbeit beginnen. Aber da melden Sie sich erst morgen, weil sie schon<br />

nach Hause gefahren ist. Ihr jüngster Sohn hat heute nämlich Geburtstag.<br />

Aber Sie können sich noch umsehen. Melden Sie sich dann nachher bei mir,<br />

Zimmer 3, wenn Sie ins Haus reinkommen gleich rechts.“<br />

Jack war begeistert, dass die Betreuerin wie ein Wasserfall reden konnte.<br />

„Danke“, sagte Jack und lief ums Haus. Hinter dem Haus lief er den Weg<br />

entlang zu einem Bach. Es plätscherte ganz schön laut. Er setzte sich auf die<br />

Wiese und warf einen Stein ins Wasser. Doch als der Stein, den er warf, ins<br />

Wasser fiel, sah er, dass es kein Schatten war, sondern ein Schwarm Fische,<br />

der sich gerade auflöste. Er sah sich um und spürte, dass eine leichte Brise<br />

Wind in sein Gesicht blies.<br />

Jack ging an eine Stelle, wo er früher immer mit seinem Teddy gespielt hatte.<br />

Er beugte sich vor und grub in der Erde. Er zog einen Stein und einen<br />

bunten Stock heraus. Früher, als er hier gewohnt hatte, hatte er diesen Stein<br />

vergraben, und den Stock <strong>mal</strong>te er an und vergrub ihn ebenso dort. Als er<br />

damit fertig war, hatte er gesagt: „Wenn ich größer werde, werde ich diese<br />

zwei Sachen wieder ausgraben.“<br />

Und das hatte er ja jetzt auch gemacht.<br />

„Die Landschaft ist immer noch so schön, wie sie früher war“, sagte er.<br />

Plötzlich war es kälter geworden und die Sonne verschwand hinter den Wolken.<br />

Jack sagte: „Oh nein, heute ist wirklich ein trübes Wetter aber naja, ich glaube<br />

es wird Zeit, die Erkundungstour zu beenden und ins Haus zu gehen.“<br />

Ein paar Regentropfen platschten ins Wasser. Er rannte ins Haus und schaute<br />

durchs Fenster. Nach kurzer Zeit hörte es auf zu regnen. Jack lief aus dem<br />

Haus und trat aus Versehen in Matsch, er war ganz verdreckt und dachte<br />

sich, dass es hoffentlich Waschmaschinen gab. Er joggte zum Platz. Denn er<br />

wollte unbedingt sehen, ob der Spielplatz noch stand oder schon abgerissen<br />

war.<br />

„Ach Herrje, was ist denn mit dem Spielplatz passiert? <strong>Der</strong> sieht ja noch<br />

schlimmer aus als früher!“<br />

Er zog ein Foto aus seiner Tasche heraus, auf dem die Kinder zu sehen waren,<br />

die da<strong>mal</strong>s hier gespielt hatten mit Jack, auf dem schönen Spielplatz.<br />

Plötzlich sagte ein Kind hinter Jack: „Hallo! Ich glaube, Sie sind der neue<br />

Hausmeister, oder?“<br />

Beverly Tidwell: Kapitel 2 13<br />

Jack blieben die Augen stehen und er schaute das Bild an, und dann das<br />

Kind. Das Kind ähnelte Jack auf dem Foto, als er noch klein war. Es war<br />

erstaunlich.<br />

Das Kind frage erneut: „Hey, sind Sie der neue Hausmeister?“<br />

Jack sagte: „Ehmm…, ja, das bin ich, ja ja, ich bin der neue Hausmeister…“


14 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Yves Biber<br />

Kapitel 3<br />

Es war kalt, Jack machte sich die Jacke zu. Er ließ den Blick über sein neues<br />

und altes Zuhause wandern. In ihm brodelten die Erinnerungen von da<strong>mal</strong>s,<br />

als er noch ein Kind hier gewesen war. Er beobachtete die Kinder, wie<br />

sie auf dem kaputten Spielplatz herum rannten – sie liefen kreischend in<br />

der Gegend herum und spielten Fangen. Eine laue Brise kam auf und streichelte<br />

ihm das Haar. Jack musste blinzeln, er war noch müde vom gestrigen<br />

Abend.<br />

Er setzte sich in Bewegung, Richtung Haus. Dort angekommen, schauderte<br />

er ein<strong>mal</strong> und trat ein. Er lief den Flur entlang und mit jedem Schritt fluteten<br />

alte Gedanken und Bilder in ihm auf. Jack ließ den Blick gesenkt und<br />

trottete vor sich hin. Er hatte das Zimmer bekommen, das früher ein<strong>mal</strong><br />

dem Menschen gehört hatte, dem er im Waisenhaus als Kind am meisten<br />

vertraut hatte. Er öffnete langsam und vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer<br />

und legte sich in sein Bett.<br />

Vom lauten Geschrei der Kinder erwachte Jack. Er war verärgert, denn die<br />

letzte Nacht war viel zu kurz gewesen. Jack hatte sich zwar noch nicht alle<br />

Namen gemerkt, doch er wusste, von wem die Schreie kamen. Jack stand auf<br />

und zog sich an. Er wusch sich und frühstückte, danach lief er hinaus und<br />

beobachtete gelassen die Szene. Die Kinder und Lucas lachten Dave aus, weil<br />

er soeben über das ausgestreckte Bein von Lucas gestolpert war. Außerdem<br />

bewarfen sie Dave mit kleinen Steinen und Stöcken. Dave fing an zu weinen<br />

und zu brüllen. Ob er das aus Schmerzen oder aus Wut machte, wusste Jack<br />

nicht. Er wusste nur, dass Dave ihm Leid tat. Die anderen Kinder – und auch<br />

Betreuer – standen unschlüssig da und gafften vor sich hin.<br />

„Na, Jack“, fragte Mrs. Nowak, „wie gefällt’s dir hier?“<br />

Jack antwortete gehässig und abwertend: „Fast so toll wie früher hier. Und<br />

du willst dich immer noch nicht einmischen, was?“<br />

„Na und, warum sollte ich auch, diese Kinder haben doch sowieso nichts<br />

Yves Biber: Kapitel 3 15<br />

anderes im Kopf“, antwortete sie mit einem leicht gereizten Unterton.<br />

„Ach, das hier führt doch ohnehin zu nichts und wieder nichts, Mrs. Novak!“<br />

„Da haben Sie ein<strong>mal</strong> Recht, Jack! Und ehe ich es vergesse, haben Sie schon<br />

<strong>mal</strong> auf den Plan für heute geschaut?“<br />

„Nein, wieso, was ist denn heute so Besonderes hier los?“<br />

„Heute gehen Sie mit den Kindern nach dem Mittagessen in den Wald zum<br />

Spielen.“<br />

„Was?“, fragte Jack aufgebracht. „Ich habe mich noch nicht <strong>mal</strong> richtig eingelebt,<br />

und schon muss ich helfen?“<br />

„Ja, Jack, eigentlich wäre Mrs. Giggles heute dran gewesen, doch sie ist krank<br />

geworden. Und die anderen müssen sich um das Haus kümmern!“<br />

„Dann nehme ich aber Mr. Prob mit, ich kann ja nicht auf alle Kinder<br />

gleichzeitig aufpassen“, sagte Jack genervt, und schon war er verärgert und<br />

beleidigt weggegangen.<br />

Nach dem Mittagessen, das, wie Jack fand, schrecklich geschmeckt hatte,<br />

rief er: „Los jetzt, Kinder, zieht euch etwas Warmes an, denn im Wald ist es<br />

eiskalt!“ „Hey Jack, willst du dich denn nicht auch wärmer anziehen?“<br />

„Nein, Lisa, mir ist auch so schon warm genug. Und jetzt mach <strong>mal</strong> schneller,<br />

sonst müssen wir ohne dich losgehen!“<br />

Auf dem Weg zum Wald sprach Jack mit niemandem – mit wem denn auch?<br />

Es gab ja hier keinen, mit dem er seine Geheimnisse bereden konnte. Er lief<br />

hinter den Anderen her und träumte vor sich hin.<br />

Er beobachtete die Eichhörnchen, wie sie von Ast zu Ast sprangen und versuchten,<br />

sich zu fangen. Er beobachtete die Vögel, wie sie umher flogen und<br />

dabei den Wald mit ihrem schönen, hellen und fröhlichen Gezwitscher erfüllten.<br />

Er sah den Kindern hinterher, wie sie herumrannten und Fangen<br />

spielten.<br />

Er sah zu Mr. Prob hinüber und überlegte, was dieser beim Anblick der Kinder<br />

wohl dachte.<br />

Jack ging zu Mr. Prob und sagte: „Ich schau mich hier <strong>mal</strong> um.“<br />

Und schon war er wieder in Bewegung, jedoch lief er nicht zurück Richtung<br />

Haus, sondern tiefer in den Wald hinein. Jack lief und dachte nach, er dachte<br />

an die alten Zeiten und wie er hier früher gespielt hatte. Als er wieder aufblickte,<br />

war er verwundert, dass es schon dämmerte. Er machte sich wieder<br />

auf den Rückweg.


16 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Als er dann, es war schon sehr spät, wieder ins Kinderheim kam, fragte Mr.<br />

Prob leicht wütend: „Jack, wo bist du denn geblieben? Jetzt musste ich auch<br />

noch das machen, was eigentlich dein Job gewesen wäre, und zwar auf die<br />

Kinder aufpassen. Nächstes Mal musst du alleine gehen. Und ich mach mir<br />

dann einen schönen Tag!“<br />

„Es tut mir ja Leid, Mr. Prob, doch ich habe einfach vor mich hin gedöst und<br />

zu spät gemerkt, wie spät es ist.“<br />

„Tja, Jack: Dummheit schützt vor Strafe nicht, und jetzt noch eine gute<br />

Nacht!“<br />

Am nächsten Tag ging Jack wieder in den Wald, doch dieses Mal nicht, um<br />

spazieren zu gehen, sondern um auf die Kinder aufzupassen. Er marschierte<br />

mit den anderen Kindern zu einem Ort, den er am vorigen Abend entdeckt<br />

hatte. Als sie dort ankamen, rief Jack: „Wir sind da, ihr könnt jetzt spielen!“<br />

Die meisten Kinder rannten lachend über den Platz. Jack ahnte ja nicht, dass<br />

dies das erste Mal seit langem war, dass diese Kinder lachten.<br />

Da kam wieder Lisa zu ihm hin und fragte: „Jack, kannst du immer mit uns<br />

hierher kommen?“<br />

„Nein, Lisa, tut mir Leid, aber ich bin ja auch kein Betreuer, sondern nur der<br />

Hausmeister. Ich müsste eigentlich danach schauen, dass im Haus alles in<br />

Ordnung ist.“<br />

Lisa streckte ihm die Zunge raus und ging fort.<br />

Jack schaute ihr hinterher und lächelte in sich hinein.<br />

Als es wieder dämmerte, rief er die Anderen zusammen und ging mit ihnen<br />

zurück ins Kinderheim.<br />

Dort angekommen, aßen die Kinder ihr Abendbrot und gingen schlafen.<br />

Mr. Brown kam auf Jack zu und sagte: „Jack, die Abflussrohre tropfen, könntest<br />

du sie reparieren?“<br />

„Ja, klar doch! Ich mach das gleich morgen.“<br />

Am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, machte er sich auch sogleich an die<br />

Arbeit. Zu allererst räumte er den Geräteschuppen auf, dann hackte er Holz<br />

für den Ofen und brachte das Holz ins Haus.<br />

Anschließend reparierte er die Abflussrohre. Als er mit seiner Arbeit fertig<br />

war, wechselte er seine verschwitzen Kleider und ging Mittag essen. Als die<br />

Mittagspause zu Ende war, zog er wieder die Arbeitssachen an und machte<br />

sich an die Aufgabe, Tische, Stühle, Betten und Schränke zu reparieren.<br />

Yves Biber: Kapitel 3 17<br />

Er schaffte es erst fertig zu werden, als die Anderen wieder aus dem Wald<br />

kamen. Er aß mit ihnen zusammen und ging dann rasch in sein Zimmer,<br />

um sich zu waschen. Dann zog er sich um und plumpste wie ein Stein in sein<br />

Bett. Jack schlief sofort ein, so müde war er von seiner heutigen Arbeit.<br />

Jack träumte davon, wie er hier in diesem Kinderheim geschlagen worden<br />

war. Er wachte schweißgebadet auf.<br />

Er wusch sich das Gesicht und versuchte immer wieder einzuschlafen, doch<br />

immer wenn er kurz davor war, gingen ihm diese schrecklichen Bilder durch<br />

den Kopf und er wurde wieder hellwach. Irgendwann schließlich siegte doch<br />

die Müdigkeit und er fiel in einen unruhigen Halbschlaf.


18 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Jasmina Jooß<br />

Kapitel 4<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Es gab sozusagen eine Clique im Waisenhaus: Tommy, Jason, Zac und Cindy.<br />

Tommy war der Schlimmste von ihnen. Er war der Anführer der Bande. Er<br />

war der, der mich am meisten ärgerte.<br />

Ich wollte zum Beispiel mit den anderen Jungs mit den kleinen Autos spielen,<br />

die es für uns im Waisenhaus gab, aber immer wenn ich fragte, ob ich mitspielen<br />

dürfte, beleidigten sie mich und sagten, dass Dunkelhäutige bei ihnen<br />

nicht mitspielen dürften. Immer wenn sie das zu mir sagten, war ich immer<br />

total traurig!<br />

Wenn ich nicht gehen wollte, dann schmissen sie auch öfters <strong>mal</strong> mit den Autos<br />

nach mir. Aber dass sie nach mir warfen, war noch das Harmloseste! Auch<br />

wenn ich dann irgendwo saß und für mich allein spielte, kamen sie auf mich<br />

zu, und bevor ich weglaufen konnte, fingen sie an mich zu schlagen. Als ich<br />

dann versuchte mich loszureißen, weil sie mich festhielten, zerrissen sie meine<br />

Klamotten.<br />

Und auch die Betreuer wurden immer ungerechter und gemeiner. Ich erinnere<br />

mich, wie ich dann ein<strong>mal</strong> zu einem von ihnen ging und sagte, dass meine<br />

Klamotten von den anderen Kindern zerrissen worden waren, aber dieser Betreuer<br />

sagte nur, dass ich besser aufpassen sollte. Er behauptete auch noch,<br />

dass ich immer die anderen Kinder ärgerte – doch dabei ärgerten sie ja immer<br />

mich!<br />

Auch die anderen Betreuer waren nicht netter zu mir. Sie beleidigten mich<br />

ständig wegen meiner Hautfarbe und schrien mich immer an, auch wenn ich<br />

gar nichts gemacht hatte oder nichts dafür konnte. Die anderen Kinder bekamen<br />

nie Ärger, und wenn sie doch Schuld hatten, dann schoben sie immer<br />

alles auf mich. Die Betreuer glaubten das auch. Wenn ich was sagen wollte,<br />

wurde mir immer der Mund verboten.<br />

Jasmina Jooß: Kapitel 4 19<br />

Wenn ich mich dann <strong>mal</strong> durchsetzte, wurde ich immer bestraft und aufs Zimmer<br />

geschickt. Immer wenn ich dann auf mein Zimmer ging, kamen Tommy<br />

und seine Bande und ärgerten mich wieder. Wenn dann die Betreuer kamen,<br />

um mir zu sagen, was ich für eine Strafe bekam, rannten sie schnell weg.<br />

Und so wurde ich immer von allen geärgert, egal ob es die Betreuer oder die<br />

Kinder waren. Sie waren alle immer gemein zu mir.<br />

Ich hab immer gehofft, dass irgendwann eine nette Pflegefamilie kommen und<br />

mich adoptieren würde, aber immer haben alle gesagt, dass mich doch sowieso<br />

keiner will und dass sie schon gar keinen Dunkelhäutigen wollen.<br />

Irgendwann hatte ich aufgegeben daran zu glauben, weil niemand in den<br />

ganzen Jahren kam, um mich abzuholen. Und wenn eine Familie kam, um<br />

jemanden zu holen, war ich es nie!<br />

Ich war ein unglücklicher Junge, wurde geschlagen und beleidigt, hatte keine<br />

Freunde, weil ich dunkelhäutig war und keiner mit mir spielen wollte. Und<br />

viel Spaß im Waisenhaus hatte ich auch nie!


20 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Antonia Prusina<br />

Kapitel 5<br />

Am frühen Morgen musste Jack die Lampen im Esszimmer reparieren, als<br />

Dave in das Zimmer kam.<br />

Jack sprach Dave an: „Dave, was ist los mit dir, du siehst so bedrückt aus? Du<br />

kannst es mir erzählen, wenn du möchtest.“<br />

Dave hörte nicht zu. Er war nämlich sehr traurig.<br />

Jack probierte es noch ein<strong>mal</strong>: „Dave? Was ist los?“<br />

Dieses Mal hörte er und sagte: „Tut mir Leid, ich bin gerade nicht in der<br />

Stimmung zu reden.“ Dave ging weiter in Richtung Jungenzimmer, da kam<br />

Max und lief ihm hinterher. Max war einer der Gemeinen. Vor ihm lief Dave<br />

weg. Was sollte Jack nur tun? Er mochte Dave. Sollte er ihm helfen oder<br />

einfach weiter machen?<br />

Sein Herz befahl ihm, zu Dave zu gehen und ihm zu helfen. Dave lag in seinem<br />

Bett und versuchte ein Buch zu lesen, doch Max ärgerte ihn und nahm<br />

ihm das Buch weg.<br />

„Oh, will das Baby etwa lesen? Kann das Baby das überhaupt?“<br />

Dave versuchte sich zu wehren, doch gegen Max hatte er keine Chance. In<br />

diesem Moment kam Jack dazwischen.<br />

„Ihr zwei, hört jetzt sofort auf. Habt ihr verstanden? Max, ärger Dave nicht<br />

immer. Du kannst dich ja wohl nicht an Jungen in deinem Alter abreagieren,<br />

stimmt’s? Gegen die hättest du ja keine Chance – aber gegen kleinere<br />

Jungen!“<br />

Max streckte Dave die Zunge raus und ging aus dem Zimmer.<br />

„Was sollte das, Jack? Ich hätte ihn doch fertig machen können, ohne dich!“<br />

Jack aber fand das nicht so: „Nein, hättest du nicht. Max ist größer und älter<br />

als du, was hättest du gegen ihn denn bitte gemacht?“<br />

„Weiß ich nicht. Irgendwas wäre mir schon eingefallen. Selbst wenn nicht,<br />

was geht es dich an? Nur weil du ein Mann bist, denkst du, du könntest hier<br />

den Helden spielen?“<br />

Antonia Prusina: Kapitel 5 21<br />

„Nein Dave, ich wollte dir nur helfen. Ich wurde doch früher auch immer<br />

geärgert. Genau wie du! Mir hat aber da<strong>mal</strong>s niemand angeboten zu helfen,<br />

alle waren gemein zu mir. Verstehst du es jetzt vielleicht?“<br />

„Das ist so unfair, ich werde doch jetzt noch mehr geärgert.“<br />

Jack wusste jetzt nicht mehr weiter, aber irgendwie musste er ihm doch helfen.<br />

„Ich helfe dir gerne, du kannst immer zu mir kommen, wenn du Sorgen<br />

hast oder Kummer. Sag mir alles, wobei ich dir helfen kann. Vertrau mir!“<br />

„Vertrauen tue ich hier niemandem, hier sind alle gemein zu mir. Und dich<br />

kenne ich ja nicht ein<strong>mal</strong>!“<br />

Er ging jetzt aus dem Zimmer in den Garten, vielleicht konnte er ja doch<br />

noch ein bisschen spielen. Jack dachte nach: „Warum vertraut er mir nicht,<br />

bin ich so ein schlimmer Mann? Vielleicht ahnt er ja was von meinem großen<br />

Plan? Und wenn, dann sagt er es bestimmt der Chefin! Oh, ich weiß es<br />

einfach nicht. Ich rede morgen noch ein<strong>mal</strong> mit ihm, vielleicht ändert er<br />

seine Meinung doch noch.“<br />

Jack ging wieder in das Esszimmer, um die Lampen fertig zu reparieren.<br />

Durch das Fenster konnte er Dave beobachten. Er mochte ihn sehr, immer<br />

wenn er ihn sah, sah er sich selbst als Jungen.<br />

Am nächsten Tag wollte Jack noch ein<strong>mal</strong> mit Dave reden. Doch Dave war<br />

wieder ein<strong>mal</strong> traurig. Alle ärgerten ihn. Jack wollte helfen.<br />

„Dave, bist du wieder traurig, willst du reden?“<br />

„Ach lass mich doch in Ruhe, alle sollen mich in Ruhe lassen. Sie sind so<br />

gemein zu mir, Max hat mich wieder vor den Anderen blamiert. Es war<br />

so peinlich. Er hat gesagt, ich soll mit ihm spielen, und ich habe ihm geglaubt<br />

und habe mit ihm gespielt. Nach einer Weile hat er gesagt, wir sollen<br />

schaukeln gehen und er möchte mich anschubsen. Doch als ich mich auf die<br />

Schaukel setzte, ging sie kaputt. Max hatte mich dann so ausgelacht. Das<br />

war so peinlich für mich.“<br />

„Na gut, ich werde die Schaukel reparieren. Und dir gebe ich den Rat: Wehre<br />

dich, lass das nicht so auf dir sitzen. Du musst dich rächen!“<br />

Jack sagte das mit einem so psychischen Blick, dass Dave Angst bekam und<br />

dazu nur sagte: „Ja.“<br />

Er verließ den Raum und ging in die Toilette, um sich das Gesicht zu waschen.<br />

Währenddessen dachte Jack darüber nach, was in Dave vorging. Was<br />

genau er noch tun musste, damit für seinen Plan alles perfekt war. Ja, Dave


22 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

wird mich noch genau kennen lernen, dachte er, so wird er irgendwann <strong>mal</strong><br />

Vertrauen zu mir entwickeln! Doch kann er so lange warten?<br />

Dave hatte irgendwie Angst vor Jack. Was sollte er tun? Was wollte Jack tun?<br />

Warum wollte Jack unbedingt, dass er ihm vertraute? War es wirklich nur<br />

wegen der Sache mit dem Ärgern? Was sollte diese ganze Sache? Das waren<br />

alles sehr schwere Fragen, die er nur beantworten konnte, wenn er der Sache<br />

auf den Grund ging. Jack war sehr mysteriös. Aber trotzdem brauchte er<br />

endlich Antworten auf seine Fragen. So viele Gedanken waren gerade in<br />

seinem Kopf. Das machte ihn sehr müde. Auch die Sache mit Max. Er hatte<br />

gedacht, Max wollte jetzt doch mit ihm befreundet sein. Das Alleinsein<br />

machte ihn ganz verrückt. Während dem Nachdenken besiegte ihn seine<br />

Müdigkeit, er schlief ein.<br />

Jack packte währenddessen seine paar Kisten aus, die er aus seinem alten<br />

Zuhause mitgebracht hatte.<br />

Ali Hussein: Kapitel 6 23<br />

Ali Hussein<br />

Kapitel 6<br />

In einer der Kisten fand Jack seinen alten Teddybär. Er erinnerte sich daran,<br />

wie wichtig dieser Teddy für ihn gewesen war.<br />

Da<strong>mal</strong>s, als Jack im Waisenhaus lebte, hatten ihn fast alle Kinder nur gemobbt<br />

und nicht respektiert. Es war eine schlimme Zeit für Jack. Immer<br />

wenn er sich zum Essen hinsetzen wollte, zogen sie ihm den Stuhl weg, damit<br />

er hinfiel. Auch beim Fangen spielen stellten ihm die Kinder ein Bein,<br />

damit er stolperte und sich verletzte. Die Kinder konnten Jack nicht leiden.<br />

Die Betreuer bekamen sogar mit, dass Jack gemobbt wurde, doch sie reagierten<br />

nicht immer. Sogar die Betreuer konnten Jack nicht richtig leiden, weil<br />

er zu Beginn oft andere Kinder verprügelt hatte. Nur Mr. Johnson konnte<br />

Jack verstehen, denn er versetzte sich öfter in die Lage von Jack und wusste<br />

auch, wie schlecht und einsam Jack sich fühlte. Mr. Johnson war 24 Jahre<br />

Alt, ca. 1,80 Meter groß, er hatte schwarze Haare und war sehr nett. Als er<br />

Jack erklärte, dass er Fehler machte, sah er es ein.<br />

Jack konnte Mr. Johnson ebenso gut leiden, und er war sogar wie ein Vorbild<br />

für ihn. Jack hatte sich vorgenommen, niemanden mehr zu schlagen,<br />

zu treten, zu hauen oder zu verletzen. Jack sagte Mr. Johnson, dass es zu<br />

spät sei, sich zu verändern, denn alle Kinder hassten ihn ja schon. Jack versuchte<br />

immer wieder, sich mit den Kindern anzufreunden, doch die Kinder<br />

ignorierten ihn und meinten, dass sie keinen Schlägertypen gebrauchen<br />

könnten. Jack gab zu, dass er das erste und zweite Jahr im Waisenhaus gewalttätig<br />

gewesen war, doch er wusste nicht, warum sie ihn immer noch<br />

nicht akzeptierten, obwohl das schon vier Jahre her war.<br />

Jack war vier Jahre lang nur allein. Er hatte keine Freunde und er fühlte<br />

sich sehr einsam. Oft war es auch so, dass die Kinder ihn weg schickten,<br />

wenn er mit ihnen etwas unternehmen wollte oder wenn er mit ihnen spielen<br />

wollte.<br />

Jack hatte auch oft daran gedacht, Selbstmord zu begehen. Er versuchte schon<br />

ein paar Mal, sich zu erstechen, doch er hatte nie den Mut dazu. Eines Tages<br />

verlor Jack den Glauben daran, endlich Freunde zu finden. Also schlich er


24 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

sich in die Küche. Als er in der Küche ankam, schnappte er sich ein Messer.<br />

Er hob das Messer vor seine Brust, mit der Klinge an seinem Herzen. Er<br />

drückte langsam gegen seine Brust und er fing ein bisschen an zu weinen.<br />

Er hörte auf zu drücken und legte das Messer wieder weg.<br />

Er dachte noch <strong>mal</strong> darüber nach, was der beste Weg für ihn sei und nahm<br />

das Messer wieder in die Hand. Jetzt war die scharfe Klinge an seiner Pulsschlagader.<br />

Er spürte die eiserne Kälte der scharfen Klinge. Am Anfang ritzte<br />

er sich leicht. Er dachte an seine schlimme Zeit, ganz allein, und fing an,<br />

etwas stärker zu ritzen. Es waren keine kleinen Kratzer mehr. Blut tropfte in<br />

zirka einem Fünfsekundentakt auf den Boden. Er konnte nicht fassen, was<br />

er gerade tat.<br />

Plötzlich kam die Küchenfrau und sah Jack erschrocken an. Zuerst schaute<br />

sie ihn an, dann das Blut auf dem Boden, und dann wieder zu ihm.<br />

Sie sagte ihm, dass er langsam das Messer hinlegen und keinen Blödsinn<br />

machen sollte. Er ging zwei Schritte zurück und hörte nicht auf sie. Als Jack<br />

sich grade erstechen wollte und Schwung holte, kam Mr. Johnson gerade<br />

noch rechtzeitig. Schnell kam die Küchenfrau und nahm Jack das Messer<br />

aus der Hand. Seit diesem Tag schlossen sie immer die Küchentür zu, damit<br />

so etwas nie wieder passierte.<br />

Nach dieser Aktion von Jack erklärte Mr. Johnson ihm, dass er so was nicht<br />

machen sollte. Zwei Wochen lang dachte Jack viel darüber nach, was er machen<br />

sollte. Er entschied sich wieder dafür, Freunde zu suchen. Eines Tages<br />

lohnte es sich. Zwei Kinder mochten ihn jetzt und spielten manch<strong>mal</strong> mit<br />

ihm ein Spiel. Ein paar andere Kinder bemerkten, dass Jack sich verändert<br />

hatte und gingen zu ihm, um auch mit ihm zu spielen. Mit der Zeit mochten<br />

ihn immer mehr Kinder und Betreuer und er schaffte es, dass ihn jetzt jeder<br />

leiden konnte.<br />

Jack wurde unter den Kindern sehr beliebt. Mr. Johnson war sehr stolz auf<br />

Jack. Und auch Jack war stolz auf sich, dass er es geschafft hatte. Mr. Johnson<br />

war so stolz auf ihn, dass er ihm einen Teddybär schenkte. Er liebte den<br />

Teddybär sehr, denn immer wenn er den Teddybären ansah, fühlte er sich<br />

stolz und froh.<br />

Er vergaß nie die Zeit im Waisenhaus. <strong>Der</strong> Teddybär hatte ihn immer daran<br />

erinnert. Ebenso hatte er den Teddybären geliebt, weil er ihn von einer Person<br />

geschenkt bekommen hatte, die er sehr mochte. <strong>Der</strong> Teddy war auch wie<br />

ein Video für Jack. Immer wenn er den Teddy anschaute, erinnert er sich an<br />

die guten und schlechten Zeiten im Waisenhaus.<br />

Carolyn Gläßer: Kapitel 7 25<br />

Carolyn Gläßer<br />

Kapitel 7<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Ich weiß noch ganz genau, dass es ein Freitag war. Es hatte schon die ganze<br />

Woche geregnet, und wir konnten uns draußen nicht austoben. Also verging<br />

ein weiterer Tag in diesem farblosen, ungemütlichen Zimmer. Es war kalt –<br />

keine Heizung funktionierte.<br />

Dick in meine Decke eingemurmelt, beobachtete ich, wie der Regen leise an<br />

mein Fenster klopfte. Die Stimmung war angespannt! Kein Wunder, die ganze<br />

Woche konnte man nichts anderes tun als in die Schule zu gehen, zu essen,<br />

Hausaufgaben zu machen oder ein Buch zu lesen. Bei den Brettspielen wollen<br />

wir gar nicht erst anfangen! Mit diesen alten, vielleicht schon steinalten<br />

Brettspielen, mit denen wahrscheinlich schon Prinz Charles in seiner Kindheit<br />

gespielt hatte, wollte kein Kind spielen. Aus Angst ein Wort zu sagen, blieb<br />

uns nichts anderes übrig als zu schweigen. Uns allen fiel es schwer, denn wir<br />

wollten uns doch bewegen!<br />

Natürlich hatten wir auch einige Unruhestifter, wie den frechen Tommy und<br />

natürlich Jason, die sich an keine einzige Regel im Waisenhaus hielten.<br />

Die Betreuer interessierte das nicht sonderlich. Hinter ihrem Rücken konnte<br />

man alles anrichten. Und genau das wussten die beiden. Ich war ein Außenseiter<br />

mit nicht viel Selbstbewusstsein, muss ich zugeben. Unter meinem mangelnden<br />

Selbstbewusstsein litt ich sehr.<br />

Dauerhaftes Auslachen und Fertigmachen machten mich jeden Tag trauriger.<br />

Und jeden Tag verlor ich mehr und mehr von meinem Selbstbewusstsein. Ich<br />

verkroch mich schon in der kleinsten Ecke des Hauses, doch immer wieder lief<br />

es auf das Gleiche hinaus.<br />

Sie fanden mich überall. Sie konnten mich einfach nie in Ruhe lassen, genau<br />

wie heute. Ich versuchte, ihre ständigen Kommentare und Beleidigungen zu<br />

ignorieren, indem ich mich von den Unruhestiftern fern hielt und so tat, als<br />

wäre ich gar nicht in diesem Raum. Doch als einziger Außenseiter kann man


26 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

nicht viel machen. Es war auch schon vorgekommen, dass sie schon zu zehnt<br />

vor mir standen. Zehn gegen mich.<br />

Ich konnte nichts machen. Ich war einfach zu schwach.<br />

Mir kam es vor, als würden sie mir wie Spione hinterherlaufen.<br />

Nicht gerade das tollste Gefühl, zu wissen, dass man ständig verfolgt wird.<br />

Als mir plötzlich einfiel, dass ich meine geliebte schwarze Armbanduhr auf<br />

dem Waschbecken liegen gelassen hatte, sprang ich wie ein Blitz auf und rannte<br />

ins Badezimmer, dorthin, wo meine Armbanduhr lag.<br />

Weil die Anderen nichts Besseres zu tun hatten, liefen sie mir jägerisch hinterher,<br />

dicht an meinen Fersen. Ich lief immer schneller und schneller, bis<br />

ich über meine eigenen Beine keine Kontrolle mehr hatte. Und schwupp fiel<br />

ich in hohem Bogen über das Parkett im Erdgeschoss. Kleine runde Fenster<br />

schmückten die Wände.<br />

Wenig Licht drang in die Diele ein. Noch ein Grund mehr, weshalb ich das<br />

Parkett mit meinem verwaschenen Pullover wischte. Ich lag auf dem Rücken.<br />

Meine Umgebung war verschwommen. Ich erkannte nur, dass sich alle Kinder<br />

über mich lustig machten.<br />

In einem dichten Kreis grenzten sie mich ein. Ich setzte mich auf.<br />

Nun sah ich, wie alle lachten. Tommy schnappte nur noch nach Luft. Ich fand<br />

das gar nicht witzig.<br />

„Na, sind wir hier zu schnell gelaufen?“, sagte er gemein.<br />

Ich sagte nichts.<br />

„Muss er sich wiederholen?“, fragte Cindy in einem bedrohlichen Tonfall.<br />

Erneut antwortete ich nicht.<br />

„Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen, oder was?“, sagte Tommy und schlug<br />

mir mit der Faust in den Bauch, sodass ich mich vor Schmerz nach vorne<br />

krümmte.<br />

„Aua“, schrie ich vor Schmerz und unterdrückte meine Tränen. Wie konnte<br />

man nur so gemein zu einem Menschen sein?<br />

„Warum macht ihr das? Lasst mich doch einfach in Ruhe! Ich habe euch nichts<br />

getan, und ihr behandelt mich wie ein Stück Dreck.“<br />

„Och“, sagte Zac und mischte sich ein.<br />

„Brauchst du jetzt auch noch eine Runde Mitleid?“, fuhr er fort.<br />

Nicht auch noch der! Ich schüttelte schüchtern den Kopf. Aus Angst, wieder<br />

geschlagen zu werden, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stand<br />

auf.<br />

Carolyn Gläßer: Kapitel 7 27<br />

Ich sah keinen Weg, mich alleine aus diesem Kreis zu befreien.<br />

„Wer hätte denn gedacht, dass unser kleiner Jack auch <strong>mal</strong> wieder aufsteht?“,<br />

riss mich Cindys Stimme aus meinen Gedanken. Alle fingen erneut an laut<br />

zu lachen.<br />

Unter diesem Gelächter hörte man nichts. Nicht <strong>mal</strong> meinem Atem konnte<br />

ich folgen.<br />

Ich spürte nur, wie er schnell durch meinen Körper fegte. Mein Herz hatte<br />

noch nie so schnell gepocht wie heute. Ich vermute, das war meine Angst.<br />

Plötzlich wurde es ganz still. Zuerst begriff ich nicht, warum.<br />

Doch dann ertönte die Stimme von Mr. Johnson. Er war meine letzte Hoffnung.<br />

Bei jedem Schritt, mit dem er sich uns näherte, knarrte das alte Parkett. Es<br />

war gruselig – wie in einem Spukschloss. Mr. Johnson warf ihnen böse Blicke<br />

zu.<br />

„Was soll das?“, fragte er laut. Ich zuckte zusammen. Ich staunte.<br />

So kannte ich ihn gar nicht. Er war eigentlich immer ein sehr ruhiger, geduldiger<br />

Mensch. <strong>Der</strong> einzige Nette in diesem Waisenhaus, dem ich etwas anvertrauen<br />

konnte. Und nur er wusste über meinen Zustand im Waisenhaus ganz<br />

genau Bescheid.<br />

Er hatte mir versprochen, immer für mich da zu sein.<br />

„Verdammt noch <strong>mal</strong>, was soll das?“, wiederholte er, dies<strong>mal</strong> lauter.<br />

Keiner antwortete ihm. Jetzt auf ein<strong>mal</strong> waren sie feige. Solche Vollidioten!<br />

Erst die Klappe nicht zu bekommen – und dann verstummen!<br />

So sind doch die Meisten. Mr. Johnson riss die Kette, die sie um mich gemacht<br />

hatten. Jeder Einzelne der zehn ging einen Schritt zurück. Mr. Johnson ging<br />

auf mich zu.<br />

„Bist du in Ordnung?“, flüsterte er mir ins Ohr.<br />

Es war so, als hätte ich einen Kloß im Hals. Ich bekam einfach kein Wort raus.<br />

Schlagartig drehte er sich um.<br />

„Verschwindet! Ich will euch heute Abend nicht mehr sehen!“, brüllte er sie<br />

an.<br />

Kaum zu glauben, dass diese freche Bande wirklich sofort wegging.<br />

„Komm, lass uns in mein Büro gehen“, forderte er mich auf und legte seine<br />

Hand um meine Schultern. Es war ein wohliges Gefühl. Langsam gingen wir<br />

dann in Richtung Büro. Dort war es warm und sehr gemütlich. Diese rote<br />

Wand faszinierte mich sofort. Und vor dieser roten Wand stand ein braunes


28 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Sofa. Ich setzte mich, es war sehr bequem. Ich fühlte mich von Anfang an sehr<br />

wohl. Gegenüber von dem Sofa saß ein süßer Teddybär. Ich stand auf und griff<br />

nach dem Teddy. Mit ihm konnte ich schmusen wie mit keinem. Sofort hatte<br />

ich den Teddy in mein Herz geschlossen.<br />

Es war ein brauner Teddy, der ein bisschen größer als eine Wassermelone war.<br />

Er hatte schwarze Kulleraugen und ein weiches Fell. Er sah schon ein bisschen<br />

abgenutzt aus. Das störte mich aber nicht. Auf ein<strong>mal</strong> merkte ich die Blicke<br />

von Mr. Johnson.<br />

„Wenn du willst, schenke ich dir diesen Teddy“, sagte er sehr spontan und<br />

zauberte mir ein breites Lächeln ins Gesicht. „Du musst aber gut auf ihn aufpassen“,<br />

verordnete er mir. „Er war ein Geschenk meiner Großmutter. Sie ist<br />

vor einem halben Jahr gestorben und sie hat mir da<strong>mal</strong>s den Teddybär zu<br />

meinem sechsten Geburtstag geschenkt“, erklärte er mir. „Er ist schon 30 Jahre<br />

alt“, versicherte er mir.<br />

„Keine Sorge, Mr. Johnson“, sagte ich überzeugend. „Ich werde gut auf ihn<br />

aufpassen. Ich verstecke ihn sogar, damit ihn auch keiner findet und ihn mir<br />

wegnehmen kann“, erklärte ich ihm glücklich.<br />

„Jetzt ist der Teddy aber froh, wieder einen lieben Besitzer zu haben. Und ich<br />

verrate dir eins“, sagte er. „Er liebt es zu kuscheln.“<br />

Ich lachte zum ersten Mal seit langem wieder.<br />

Mr. Johnson hatte mir meinen sehnlichsten Wunsch aus den Augen abgelesen.<br />

Endlich hatte ich eine Sache, die mir anvertraut wurde. <strong>Der</strong> Bär war nun<br />

endlich meiner.<br />

Ich war stolz und umarmte Mr. Johnson.<br />

„Tausend Dank“, sagte ich und hüpfte glücklich in seinem Büro herum.<br />

<strong>Der</strong> Teddy flößte mir Mut ein, und dann war ich auch schon verschwunden.<br />

Ich lief noch schnell ins Badezimmer und legte mir meine Armbanduhr an.<br />

Mich wunderte es, dass die Armbanduhr immer noch an derselben Stelle lag,<br />

an der ich sie zurück gelassen hatte.<br />

Fabian Ajtnik: Kapitel 8 29<br />

Fabian Ajtnik<br />

Kapitel 8<br />

Dave war <strong>mal</strong> wieder langweilig. Ihm war immer langweilig, denn er hatte<br />

ja keine Freunde. Niemand wollte mit ihm spielen. Er legte sich in sein Bett,<br />

schaute nach oben an die Decke, die ganz schön kaputt war. Die Decke sah<br />

aus, als wäre dort eine Rakete eingeschlagen. Die Tapete ging ab, sie hing sogar<br />

ein bisschen hinunter – und man sah die einzelnen Bausteine, mit denen<br />

die Decke gebaut worden war. Die Decke war nicht mehr weiß und schön,<br />

sondern sie war schmutzig, verdreckt und sehr eklig.<br />

„Was kann ich heute bloß ganz alleine machen?“, fragte sich Dave. „Ich kann<br />

ja heute wieder <strong>mal</strong> Kinder anschauen, die sich amüsieren und Spaß haben.<br />

Oder soll ich <strong>mal</strong> versuchen, ob vielleicht doch ein Kind mit mir spielen<br />

will? Das lass ich <strong>mal</strong> lieber, denn ich weiß ja wieder, was rauskommt. Entweder:<br />

‚Ich habe gerade keine Zeit’ oder ,Ich will nicht mit dir spielen’ oder<br />

sie lachen mich einfach nur aus.“<br />

Dave blieb jetzt erst <strong>mal</strong> in seinem Bett liegen, bis Mr. Prob (einer der Betreuer)<br />

zehn Minuten später rief: „Essen ist fertig.“<br />

Dave schaute auf die Uhr. Es war gerade <strong>mal</strong> 18.21Uhr, neun Minuten früher<br />

als sonst. Er ärgerte sich natürlich nicht darüber, denn er hatte jetzt schon<br />

einen sehr großen Hunger. Er sprang aus seinem Bett, in seine selbst gemachten<br />

Hauschuhe, rannte zum Esstisch, setzte sich hin und fing an zu<br />

essen. Das Essen lief wie immer ab.<br />

Nachdem alle fertig waren, mussten sie sich alle waschen, Bett-fertig machen<br />

und so langsam ins Bett gehen.<br />

Bevor Dave ins Bett ging, schaute er noch ein<strong>mal</strong> auf die Uhr. Es war nun<br />

kurz nach 20 Uhr. Plötzlich sah Dave, wie Lucas und Matilda ihn sehr verwirrt<br />

anschauten und kurz darauf höllisch lachten. Dave hatte das Gefühl,<br />

dass die beiden irgend etwas im Schilde führten. Ihm gefiel das gar nicht,<br />

und so beobachtete er die beiden noch ein bisschen. Lucas und Mathilda<br />

saßen hinten in einer verschmutzten Ecke, als wollten sie nicht gesehen wer-


30 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

den – sie beobachteten ihn. Dave sah die beiden ganz genau, denn sie bekamen<br />

ab und zu, wenn sie Dave anschauten, höllische Lachanfälle. Lange hielt<br />

Dave es nicht mehr aus, die beiden zu beobachten und in seinen Gedanken<br />

herauszufinden, warum sie so höllisch lachten, denn er wurde immer müder<br />

und müder. Ein paar Minuten später schlief er schon ein.<br />

Dave wachte nur ein<strong>mal</strong> in der Nacht auf, durch ein merkwürdiges Kitzeln<br />

an seiner Nase, denn er war an seiner Nase sehr kitzelig. Er setzte sich ruhig<br />

auf sein Bett und schaute sich erst <strong>mal</strong> ein bisschen um. Als ihm nichts<br />

Merkwürdiges auffiel, legte er sich wieder hin und schlief ein.<br />

Am Morgen wachte er durch ein paar laute Kinder auf, die gerade spielten.<br />

Er schaute auf die Uhr. Es war gerade <strong>mal</strong> acht Uhr. Es war ganz schön früh<br />

für seine Verhältnisse, denn er schlief meistens bis neun Uhr. Es war ihm<br />

aber egal. Er hatte sowieso keine Lust mehr, weiter zu schlafen. Dave stieg<br />

mit einem lauten Gähnen aus seinem Bett in seine schönen blau-gelb gestreiften<br />

Hausschuhe. Die Hausschuhe hatte nämlich keiner, denn er hatte<br />

sie selber gemacht. Er hatte ganze zwei Wochen dafür gebraucht. Er hatte<br />

Stoffreste zusammen genäht, sodass es nett aussah.<br />

Als er in seine Hausschuhe schlüpfte, merkte er ein sehr komisches klebriges,<br />

flüssiges Gefühl. Er versuchte seine Hausschuhe wieder auszuziehen,<br />

um zu schauen, was dort drinnen war. Es ging aber nicht. Da merkte er, dass<br />

sein Fuß an dem Hausschuh festklebte. Er stand auf und versuchte durch<br />

Springen und Ziehen seinen Hausschuh loszubekommen. Er hörte ein paar<br />

Kinder, die ihn auslachten. Er drehte sich zu ihnen und sah, wie sie ihn auslachten.<br />

Dave fragte einen Neunjährigen, der Paul hieß und dabei stand, mit<br />

einer tiefen Stimme: „Warum lachst du mich denn aus?“<br />

Daraufhin antwortete Paul mit einem schäbigen Grinsen: „Du siehst mit<br />

deiner Schminke im Gesicht und dem Gehüpfe aus wie ein Clown im Training.“<br />

Dave fragte sich: Welche Schminke? Clown?<br />

Dave ging zur Toilette, mit einem hüpfenden Gang. Er schaute sich erst <strong>mal</strong><br />

im Spiegel an, und da sah er diese blöde Schminke auf seinem Gesicht. Wie<br />

ein Clown sah er wirklich aus. Dave wurde sehr traurig und sprach nun<br />

mit einer sehr traurigen Stimme zu dem Spiegel: „Ich finde es voll gemein<br />

von den anderen Kindern, dass sie mir solche fiesen Streiche spielen und<br />

mich die ganze Zeit ärgern. Niemand will mit mir spielen oder sonst etwas<br />

machen. Sie mögen oder lieben es sogar, dass man mich ärgert. Aber jetzt<br />

an die Arbeit!“<br />

Fabian Ajtnik: Kapitel 8 31<br />

Dave setzte sich auf eine Toilette, welche er als Sitzfläche benutzte. Nun<br />

machte er sich an die Arbeit, seinen selbst gemachten Hausschuh sehr vorsichtig<br />

zu entfernen, ohne dass der Hausschuh kaputt ging. Erst versuchte<br />

er es sehr vorsichtig, dann wurde er ein bisschen grober. Lange Zeit später<br />

hatte er es nun geschafft, den Hausschuh zu entfernen. Er ging dadurch nur<br />

vorne ein bisschen kaputt, was Dave sehr traurig machte, denn er wollte seine<br />

Hauschuhe nicht kaputt machen.<br />

„Aber was passiert ist, ist passiert!“, sprach er zu sich.<br />

Nun stand er ohne Hausschuhe in der Toilette. Er wollte die Hausschuhe<br />

nicht anziehen, bevor der Kleber dort drinnen nicht vollständig getrocknet<br />

war und man sie anziehen konnte, ohne dass die Füße wieder festklebten.<br />

Nun stand Dave von der Toilette auf und ging mit seinen Hauschuhen in der<br />

Hand in Richtung des Spiegels, wo er sich anschaute und sich dann an die<br />

Arbeit machte, mit Wasser diese bunte Schminke von seinem Gesicht wegzuwaschen.<br />

Am Anfang wollte es nicht wirklich klappen, aber dann wurde<br />

es besser und er bekam sie weg. Plötzlich ging die Tür der Toilette auf. Dave<br />

wollte sich schnell verstecken, damit er nicht gesehen wurde, aber es war<br />

zu spät Dave wurde gesehen. Wer hatte ihn gesehen? Es war der 14-jährige<br />

Tom. Er ging zu einer Toilette, machte sein Geschäft und sprach ihn kurz<br />

danach an: „Was war das denn für eine Aufführung? Du hast dich wirklich<br />

ganz schön blamiert, mit deiner Schminke im Gesicht und deinem Gehüpfe.“<br />

„Es finden sich zwei Kinder ganz toll, die mir mitten in der Nacht, wenn ich<br />

schlafe, einen Streich spielen, und wenn ich aufwache… Den Rest weißt du<br />

ja.“<br />

„Ich weiß ganz genau, wer dir den Streich gespielt hat, aber ich will etwas<br />

von dir, damit ich es dir verrate.“<br />

„Das wäre?“, fragte Dave mit einer sehr merkwürdigen Stimme.<br />

„Ich will von dir, dass du zu deinem Bett gehst, aber wie eine Robbe krabbelt.<br />

Dabei schreist du mit einem lauten Geschreie, damit es jeder hören<br />

kann: ‚Ich bin Dave, die Robbe, schaut mir alle zu!’“<br />

„Das mache ich nie, ich werde mich ja noch mehr blamieren, als ich mich eh<br />

schon blamiert habe“, antwortete Dave mit einer abweisenden Stimme.<br />

„Na gut! Es ist ja deine Entscheidung. Aber du willst doch bestimmt wissen,<br />

wer dir diesen Streich gespielt und deine Hausschuhe verklebt hat? Und<br />

noch dazu dich vor fast allen Kindern, und auch ein paar Betreuern, blamiert<br />

hat.“


32 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Nun ging Tom in Richtung der Tür und öffnete sie langsam, als wüsste er,<br />

dass Dave irgend etwas sagen würde. Die Tür quietschte, und plötzlich rief<br />

Dave Tom zurück: „Warte! Du hast ja Recht, ich will wissen, wer mir diesen<br />

gemeinen Streich gespielt hat. Komm noch ein<strong>mal</strong> in zehn Minuten, denn<br />

ich will es mir noch ein<strong>mal</strong> durch den Kopf gehen lassen.“<br />

Nun war Tom ganz verschwunden und hinausgegangen. Dave machte sich<br />

nun an die Arbeit, seine letzten Reste Schminke zu entfernen. Es war mühsam,<br />

nun die Reste von seinem Gesicht zu waschen. Er war aber schon nach<br />

kurzer Zeit fertig. Er ging nun raus, obwohl er noch zirka fünf Minuten Zeit<br />

hatte. Aber er wollte nicht länger in diesem Toilettenraum stehen. So öffnete<br />

Dave die Tür, und da stand Tom sogar schon.<br />

Dave sprach zu ihm: „Warum bist du schon hier?“<br />

„Keine Ahnung“, antwortete Tom. „Ach, und ich muss dir etwas sagen. Ich<br />

werde die beiden, die dir den Streich gespielt haben, nicht verraten. Ich werde<br />

es nur dir sagen und keinem anderen, aber nur, wenn du meine Aufgabe<br />

erfüllt hast. Bist du bereit?“<br />

„Nein, warte kurz“, antwortete Dave. Er atmetet noch ein<strong>mal</strong> tief ein und<br />

sprach dann leise vor sich hin: „Was ich nicht alles mache, nur um die zwei<br />

fiesen Kinder zu finden, die mir den Streich gespielt haben.“ Und am Schluss<br />

stöhnte er dann noch ein<strong>mal</strong>: „Okay, ich bin bereit.“<br />

„Du weißt, was du zu sagen hast.“<br />

„Ja!“<br />

„Okay, auf die Plätze, fertig, los. Du kannst starten und dich nun blamieren.“<br />

Tom fing an zu lachen. Dave legte sich vorsichtig auf den Boden und fing an,<br />

wie eine Robbe zu laufen und gleichzeitig kam eine tiefe Stimme aus seinem<br />

Mund:<br />

„Hört mir alle zu, ich bin Dave, eine Robbe.“<br />

Diesen Satz wiederholte er ein paar Mal und versuchte, wie eine Robbe zu<br />

seinem Bett zu gelangen. Um ihn herum standen fast alle Kinder des Waisenhauses<br />

und schauten und lachten Dave aus. Manche sagten, dass er nicht<br />

wirklich schlau wäre, genau das Gegenteil, und dass er sich blamieren würde.<br />

Das hörte Dave. Es machte ihn sehr fertig und er brach deswegen fast<br />

weinend zu Boden.<br />

„Haha, haha, schaut euch <strong>mal</strong> den Dave an. <strong>Der</strong> denkt, er sei eine Robbe.<br />

Ihm ist bestimmt langweilig und er hat nichts Besseres zu tun!“<br />

Fabian Ajtnik: Kapitel 8 33<br />

Daraufhin lachten eine Menge Kinder. Als er schon mehr als die Hälfte geschafft<br />

hatte und ihm nur noch ein paar Meter fehlten, standen plötzlich<br />

zwei große Beine vor ihm. Er schaute nach oben, und da sah er Mr. Prob, der<br />

mit ernstem Blick sagte. „Du, Dave, steh <strong>mal</strong> auf!“<br />

Dave gehorchte, denn er wollte keinen unnötigen Ärger verursachen und er<br />

würde mit 0% Chance gewinnen. Also stand er auf.<br />

„Ja, Mr. Prob, was ist denn?“<br />

„Was ist denn, Dave?“ Er wurde immer lauter. „Ich meine: Was machst du<br />

denn da?“<br />

„Mir ist langweilig, und ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte,<br />

also habe ich versucht, ein bisschen Aufmerksamkeit von den Kindern hier<br />

zu bekommen!“<br />

„Und das soll ich dir im Ernst glauben?“<br />

„Was anderes bleibt Ihnen wohl nicht übrig, denn es ist die komplette Wahrheit“,<br />

log er.<br />

„Na gut, ich glaube es dir, aber trotzdem – du hörst jetzt damit auf, und noch<br />

ein<strong>mal</strong> kommt das nicht vor, okay?“<br />

„Ja, Mr. Prob. Es kommt nie wieder vor. Tschüss!“<br />

„Tschüss!“<br />

Dave hörte nun mit dem Robben-Getue auf und machte sich auf den Weg,<br />

um Tom zu suchen, denn er wollte ihn fragen, ob er es ihm doch sagte.<br />

Er brauchte nicht lange dafür, denn Tom stand wie vorhin vor der Toilette.<br />

Er rührte sich von dort keinen Meter und sprach gerade mit einen paar anderen<br />

Kindern, die Lisa und Michael hießen. Dave wollte wissen, über was<br />

die drei sich unterhielten, und so ging er zu ihnen und lauschte.<br />

„Hast du gerade gesehen, was Dave gemacht hat? Er hat sich so richtig blamiert.“<br />

Das sagte Michael, und dann lachten alle drei.<br />

„Das stimmt wirklich“, meinte nun auch Tom.<br />

Dave wurde so richtig wütend auf Tom – und ein bisschen auf die anderen<br />

Kinder, aber am meisten war er auf Tom wütend, denn wenn er wusste, wer<br />

Dave den Streich gespielt hatte, hätte er es ihm auch ohne eine blöde Aufgabe<br />

sagen können. Aber er wollte ja wissen, wer ihm den Streich gespielt<br />

hatte, also mischte er sich in das Gespräch der drei ein. Tom sah, wie Dave<br />

kam – und so sagte er zu Lisa und Michael: „Könnt ihr bitte gleich wieder<br />

kommen, ich muss kurz mit Dave etwas bereden.“


34 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Die beiden gingen und Dave kam mit enttäuschtem Blick zu Tom.<br />

Dave sprach ihn an: „Hey Tom, du sagst mir bestimmt nicht, wer mir diesen<br />

Streich gespielt hat, denn ich habe die Aufgabe nicht erfüllt.“<br />

„Doch, ich sage es dir, denn ich und die anderen Kinder hatten eine Menge<br />

Spaß. Du hast dich wirklich ganz schön blamiert“, antwortete Tom mit<br />

Gelächter. „Du sahst echt komisch aus, als ob du krank wärst. Kommen wir<br />

nun zum Punkt. Ich wollte dir ja sagen, wer dir diesen Streich gespielt hat.<br />

Es waren Lucas und Matilda.“<br />

„Die zwei waren es also, und das soll ich dir wirklich glauben?“<br />

„Dir bleibt wohl nichts anderes übrig, denn ich habe sie zufällig in der Nacht<br />

gesehen, wie sie die Schminke in dein Gesicht kritzelten und solch ein klebriges<br />

Zeug in deine Schuhe machten.“<br />

„Diese Schweine!“, sagte Dave mit einer verzehrten Stimme, „denen werde<br />

ich es zeigen!“<br />

Er fing an, die beiden zu suchen. Aber sie waren nirgends zu finden. Er wollte<br />

nämlich mit den beiden reden und sie fragen, warum sie ihm diesen Streich<br />

gespielt hatten. Aber als Dave nach langem Suchen Lucas und Matilda immer<br />

noch nicht fand, beschloss er, sich auf den Weg zu machen, um einen<br />

Betreuer zu finden. Er wollte seine Geschichte einem Betreuer erzählen, die<br />

ganze Geschichte. Nach kurzer Zeit fand er endlich Mrs. Garrison und versuchte,<br />

ihr die Geschichte zu erzählen. Er fing an: „Mrs. Garrison, ich will<br />

Ihnen etwas sagen, mir haben in der Nacht, beziehungsweise heute, zwei<br />

Kinder namens Lucas und Matilda einen Streich gespielt. Das fing so an…“<br />

„Was soll ich jetzt deiner Meinung nach machen?“, fragte Mrs. Garison.<br />

„Man könnten mit den zweien, Lucas und Mathilda, reden und ihnen eine<br />

Strafe geben, damit sie es nicht noch ein<strong>mal</strong> machen.“<br />

„Aber warum soll ich dir das glauben, es kann jeder behaupten, dass die<br />

zwei es waren. Aber wenn du <strong>Zeuge</strong>n hast, dann würde ich es dir mehr glauben.<br />

Aber so? Nein!“<br />

„Ich habe <strong>Zeuge</strong>n!“, betonte er nun.<br />

„Und wen, wenn ich fragen darf?“<br />

„Tom! Er hat nämlich die beiden in der Nacht gesehen, wie sie mir die<br />

Schminke ins Gesicht schmierten und dieses klebrige Zeug in meine lieben,<br />

schönen, selbst gemachten Hausschuhe taten“, antwortete er stolz.<br />

„Dann machen wir uns <strong>mal</strong> auf die suche nach Tom!“, sagte Mrs. Garison.<br />

Die beiden machten sich nun auf die Suche nach Tom, um ihn zu befragen.<br />

Fabian Ajtnik: Kapitel 8 35<br />

Als die beiden ihn schon kurze Zeit später sahen, rief Mrs. Garison Tom zu<br />

sich: „Ich habe eine Frage an dich, die ich dir gerne stellen würde“, sagte<br />

Mrs. Garison.<br />

„Und die wäre?“, fragte Tom zurück.<br />

„Es geht um den Streich! Hast du irgend etwas gesehen? Wer den Streich<br />

gespielt oder wer Dave das angetan hat?“<br />

„Nein! Wie kommen Sie darauf?“<br />

Nun mischte sich Dave in das Gespräch ein: „Du hast mir doch ganz klar<br />

gesagt, du hast die beiden in der Nacht gesehen!“ Er wurde sehr viel lauter.<br />

„Nein, habe ich gar nicht gesagt. Ich war vielleicht in der Nacht wach, aber<br />

mehr auch nicht!“<br />

„Ist ja auch egal! Wenn er es nicht bezeugen kann und niemand anders auch,<br />

können wir beziehungsweise kann ich nichts machen“, meinte Mrs. Garison.<br />

Mrs. Garison machte sich nun auf den Weg. Als sie nicht mehr im Waisenhaus<br />

zu sehen war, ging Dave zu Tom: „Hey Tom. Warum hast du Mrs.<br />

Garison nicht die Wahrheit gesagt? Du hast ihr pur ins Gesicht gelogen!“<br />

„Ja, ich weiß. Aber ich habe Angst vor den beiden, und ich wollte Lucas und<br />

Mathilda nicht unbedingt verraten. Ich habe dir ja auch gesagt, dass ich dir<br />

nicht helfe!“<br />

„Ja, aber das finde ich ganz schön unfair von dir, Tom.“<br />

Dave rannte nun von Tom weg. Er rannte zu seinem Bett, fing an zu weinen<br />

und legte sich unter seine Bettdecke, damit keiner sah, wie er weinte.“<br />

In der Zwischenzeit hatte Jack der Hausmeister ein bisschen mitbekommen,<br />

was sie Dave so alles antaten. Jack tat es Leid, der arme Kleine hatte<br />

niemanden, er wurde gehänselt, geschlagen, gemobbt und vieles mehr. Jack<br />

wusste ganz genau, wie Dave sich fühlte. Er erinnerte sich für einen kurzen<br />

Augenblick daran, wie er immer von den anderen geärgert worden war.<br />

Das waren für ihn schwere Zeiten gewesen. Er war kurz vor einem Tränenausbruch:<br />

„<strong>Der</strong> arme kleine Dave und diese gemeinen“ – nun wurde er<br />

wütender – „Kinder, die werden es irgend wann <strong>mal</strong> zurückbekommen“,<br />

meinte Jack.<br />

Plötzlich erinnerte er sich daran, wie er von ein paar Kindern geärgert worden<br />

war. Jack ging da<strong>mal</strong>s weinend in sein Bett. Ein Betreuer kam vorbei<br />

und tröstete ihn erst <strong>mal</strong>. Als Jack nicht mehr weinte, gab der Betreuer ihm<br />

einen Teddybär und sagte: „Hier, ich habe einen Teddy für dich. Pass gut auf


36 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

ihn auf! Pass sehr gut auf ihn auf, ich meine, verliere ihn nicht und lasse ihn<br />

nie aus den Augen, denn er soll nicht verloren gehen!“<br />

Jack wurde erst jetzt so richtig klar, dass Dave genauso war wie er. <strong>Der</strong> Teddy,<br />

den er bekommen hatte, brauchte er jetzt nicht mehr, und da fiel Jack mit<br />

einem Gedankenblitz ein:<br />

„Ich schenke meinen Teddy Dave, wie ihn der Betreuer mir da<strong>mal</strong>s schenkte.<br />

Genau so mache ich das“, sprach er mit sich selber. „Mit diesem Teddy kann<br />

ich sowieso nichts mehr anfangen, da ich sowieso über dieses Alter hinaus<br />

bin, mit Teddys zu spielen. An diesem Teddy sind alle meine alten Erinnerungen<br />

gewesen, die ich nun hergebe, sogar verschenke.“<br />

Jack machte sich erst ein<strong>mal</strong> in seinem Zimmer auf die Suche nach dem<br />

Teddy, denn er wusste überhaupt nicht, wo er war. Denn er hatte ihn schon<br />

lange nicht mehr gesehen. Er suchte überall, in jeder Kiste und in jeder Ecke,<br />

bis er ihn endlich, ganz verstaubt, hinter einer Kiste fand. Er nahm ihn dort<br />

heraus und putzte den Staub von dem Teddy ab. Da sah er, dass der Teddy<br />

nicht wirklich toll aussah, denn ihm fehlte das rechte Auge und ein bisschen<br />

Füllung kam heraus. Das war ihm aber egal. In diesem Teddy steckten seine<br />

schlimmen Zeiten im Waisenhaus.<br />

Jack machte sich nun mit seinem alten Teddy und Daves neuem Teddy auf<br />

den Weg, um Dave zu suchen, denn er wollte ihn Dave mit seinen eigenen<br />

Händen überreichen. Er suchte und suchte ihn, und nach langem Suchen<br />

fand er ihn weinend in einer Ecke sitzen.<br />

„Hey, ich bin Jack, der Hausmeister. Was ist denn mit dir? Haben dich <strong>mal</strong><br />

wieder ein paar Kinder geärgert?“<br />

„Mich haben gerade eben wieder ein Haufen Kinder geärgert und fertig gemacht.“<br />

Nun betonte er laut, aber so, dass es keiner hörte: „Ich hasse hier in<br />

diesem Waisenhaus alle Kinder, ich hasse hier einfach alles!“<br />

„Ich verstehe das. Ich war früher genauso wie du. Ich wurde immer geärgert<br />

in diesem Waisenhaus“, sprach er mitleidend mit ihm.<br />

„Was, Sie waren früher auch in diesem Waisenhaus und wurden dort genauso<br />

geärgert wie ich!“<br />

„Genau. Ich hatte keinen einzigen Freund, und als ich jemanden brauchte,<br />

war niemand da!<br />

Mir hat früher ein Betreuer einen Teddy geschenkt, weil ich niemanden<br />

hatte, und so wurde der Teddy mein Freund, obwohl es sich ein bisschen<br />

komisch anhört, das war mir früher aber egal.“<br />

Fabian Ajtnik: Kapitel 8 37<br />

Nun wurde Dave ein bisschen glücklicher, denn er hatte einen, mit dem er<br />

richtig reden konnte und der ihn verstand.<br />

„Ich habe etwas für dich, das ich dir mit ganzem Herzen gebe. Es ist mein…“<br />

Und nun wurde er ein bisschen leiser. “…alter Teddy!“<br />

„Das kann ich doch nicht annehmen!“<br />

„Doch, das kannst du!“ Und Jack überreichte mit Stolz seinen alten Teddy.<br />

„Er ist halt ein bisschen kaputt, weil er auch ein bisschen älter ist. Aber das<br />

ist doch nicht so schlimm, oder?“<br />

Dave nahm glücklich den kaputten Teddy an und Jack ging, denn er musste<br />

wieder an seine Arbeit – eine kaputte Tür reparieren.<br />

Vor dem Gehen sagte er noch ein<strong>mal</strong>: „Du, Dave! Pass gut auf den Teddy<br />

auf, ist das klar!“<br />

„Mach ich. Versprochen!“, antwortete er stolz.<br />

Als Jack fast hinter einer Tür verschwunden war, rief Dave noch ein<strong>mal</strong> hinterher:<br />

„Danke! Und komm mich bald wieder besuchen.“<br />

Dave wusste nicht genau, ob er es noch hörte, aber das war auch nicht so<br />

schlimm.<br />

Er war sehr glücklich, denn keiner in diesem Waisenhaus war so nett wie<br />

Jack und schenkte ihm etwas.<br />

Er ging in sein Bett, mit seinem neuen Teddy, umarmte ihn und sprach,<br />

damit es jeder hören konnte: „Mein neuer Freund – Teddy.“


38 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Birgit Sonnleitner<br />

Kapitel 9<br />

„Jaaack?“<br />

Jack stand im Hausflur und wechselte gerade die kaputte Glühbirne aus, als<br />

Mrs. Nowak durch das ganze Haus nach ihm rief.<br />

„Jaaack?! Komm <strong>mal</strong> schnell in die Küche, der Abfluss ist schon wieder verstopft!“<br />

Jack stieg von der Leiter und schaute auf die Uhr. Es war 7.30 Uhr, die Kinder<br />

schrieen und lachten aus dem Esszimmer. War ja auch klar, es war Frühstückszeit,<br />

obwohl man es nicht mehr wirklich Frühstück nennen konnte,<br />

da es jeden Montag, und das schon seit Jack hier war, Brot und die immer<br />

gleiche Marmelade gab. Alle schrieen durcheinander und stritten, wer das<br />

Meiste bekam. Als er kurz reinschaute, wusste er auch, warum sie lachten.<br />

Dave wurde <strong>mal</strong> wieder mit der Marmelade beworfen und ausgelacht.<br />

Mr. Brown saß daneben, las Zeitung und aß Spiegeleier mit Speck. Es interessierte<br />

ihn gar nicht, was die Kinder machten. Sie waren ihm sowieso egal.<br />

Er schaute kurz hoch, sah Jack mit einem kalten Blick an und grummelte<br />

etwas in der Art von „Guten Morgen!“.<br />

Jack grüßte zurück und machte sich schleunigst auf den Weg in die Küche,<br />

da Mrs. Nowak wieder nach ihm schrie, dies<strong>mal</strong> nur etwas lauter und wütender.<br />

Als er ankam, sah er dann auch das Problem. Denn als er die Tür auf machte,<br />

kam ihm schon eine Ladung Wasser entgegen geschwemmt, und mittendrin<br />

stand Mrs. Nowak und sagte: „Ich habe die Marmeladengläser abgespült<br />

und danach Kartoffeln für die Kartoffelsuppe heute Abend in das Becken<br />

geschält. <strong>Der</strong> Abfluss verstopfte und ich konnte das Wasser nicht abdrehen,<br />

weil der Wasserhahn auch schon so lange klemmt.“<br />

Er fasste ins Wasser, machte den Abfluss frei und versuchte, den Dreck in<br />

den Mülleimer zu werfen, doch als er merkte, dass der auch noch klemmte,<br />

nahm er sich vor, die Küche heute Nachmittag auf Vordermann zu bringen,<br />

wenn niemand da war. Das Abflussrohr sollte auch <strong>mal</strong> wieder dringenst<br />

Birgit Sonnleitner: Kapitel 9 39<br />

gereinigt werden. Jack versuchte das Wasser abzudrehen, was ihm aber erst<br />

nach dem vierten Versuch gelang. Dann ging er zum Wandschrank, holte<br />

einen Eimer und einen Lappen und wischte das Wasser auf.<br />

Danach ging er hoch, wo die verstopften Jungs-Toiletten auf ihn warteten.<br />

Nach ungefähr einer Stunde war er fertig, dann ging er runter in die leere<br />

Küche, da Mrs. Nowak zu Mr. Brown ins Wohnzimmer gegangen war, um<br />

sich mit ihm vor das Radio zu setzen und die Nachrichten zu hören. Jack<br />

ging ins Esszimmer, um den Tisch abzuräumen, damit er ihn nachher reparieren<br />

konnte. Doch zu seiner Verwunderung traf er dort Dave, der auf dem<br />

Boden saß und leise wimmerte.<br />

Jack fragte Dave, was mit ihm los war, obwohl er es ja eigentlich wusste.<br />

Dave versuchte sich rauszureden: „Ich wollte gerade aufstehen und meinen<br />

Teller nehmen, da ist er auf mein T-Shirt gefallen.“ Jack sah den Teddy neben<br />

Dave liegen und wollte nach ihm greifen, doch Dave war schneller und<br />

drückte ihn an sich.<br />

Jack schickte ihn hoch, damit er duschte, weil er voller Marmelade war. Jack<br />

ging mit und sah, dass das Licht in der Dusche flackerte.<br />

„Nicht schon wieder eine Lampe“, dachte er leicht verärgert.<br />

Nachdem Dave geduscht hatte, wechselte Jack die Glühbirne aus und fuhr<br />

ihn zur Schule.<br />

Im Auto fragte Jack noch, was er in der Schule heute für Fächer hatte, doch<br />

Dave antwortete nicht. Als Jack wieder im Waisenhaus ankam, ging er<br />

gleich ins Esszimmer, um den Tisch zu reparieren, weil er wackelte und man<br />

immer kleckerte, wen man dort aß.<br />

Mr. Brown ging zu ihm und fing ein Gespräch an. Er erzählte Jack zum Beispiel,<br />

dass er in Scheidung lebte und nicht genug Geld hatte, um seine Wohnung<br />

zu bezahlen. Dass die Arbeit mit den Kindern sehr schwer war und<br />

nicht gut bezahlt wurde, deshalb kümmerten sich die Betreuer nicht so um<br />

die Kinder. Jack hörte aufmerksam zu und reparierte noch in paar Stühle.<br />

Am Schluss seines Redeschwalls lobte Mr. Brown Jack, weil er ein guter Zuhörer<br />

war, obwohl Jack nicht viel tat außer zuhören und reparieren. Jack war<br />

sowieso schon überrascht, dass ausgerechnet Mr. Brown auf ein<strong>mal</strong> zu ihm<br />

kam, da er der zurückhaltendste Betreuer von allen war.<br />

Nach einer halben Stunde, nachdem er noch ein bisschen was in der Küche<br />

getan hatte, kamen auch schon die Kinder mit lautem Geschrei aus der


40 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Schule zurück und stürmten ins Esszimmer, da es immer gleich nach der<br />

Schule, also um 13.30 Uhr, Mittagessen gab. Jack ging raus da er nicht mitessen<br />

wollte. Er wollte noch ein bisschen was im Garten machen, bevor es<br />

dunkel wurde.<br />

Er holte einen Rechen und einen Rasenmäher aus dem Schuppen. Mit dem<br />

Rasenmäher hätte er fast einen Feuersalamander getötet, doch er sah ihn im<br />

letzten Moment und setzte ihn neben einen großen Stein. Bis es dunkel wurde,<br />

rechte er alle Blätter zusammen und hatte auch schon einen großen Teil<br />

gemäht und das Gras und die Blätter auch schon weggebracht. Kurz bevor es<br />

ganz dunkel wurde, ging er wieder ins Haus und zündete sich eine Kerze an,<br />

da es bei ihm unten in seiner Kellerwohnung kein Licht gab.<br />

Er legte sich in sein Bett, blies die Kerze aus und schlief mit Gedanken an<br />

den morgigen Tag ein.<br />

Stephanie Ragoßnig: Kapitel 10 41<br />

Stephanie Ragoßnig<br />

Kapitel 10<br />

Am Morgen wachte Jack von dem Geschrei der Kinder auf. Das Geschrei<br />

war ganz schön laut, sie spielten schon am frühen Morgen laute Spiele und<br />

tobten wie die Irren in dem Waisenhaus herum.<br />

Bevor es Frühstück gab, ging er ins Esszimmer. Es war ein großer Saal, der<br />

sehr dunkel war. In der Mitte stand ein großer Tisch mit vielen Stühlen.<br />

Die Betreuer Mrs. Nowak, Mr. Prob und Mr. Brown waren auch im Esszimmer,<br />

sie deckten den Tisch für die Kinder, denn Morgens waren die Kinder<br />

immer sehr laut, weil sie sehr hungrig waren. Für die Betreuer war das immer<br />

sehr anstrengend, deswegen waren sie morgens nie so gut gelaunt.<br />

Jack wollte schon seit langem mit ihnen über Dave reden. Ob jetzt der richtige<br />

Zeitpunkt war?<br />

Vertrauen haben sie ja schon zu mir, dachte er sich.<br />

Jack ging zu ihnen und sagte mit freundlicher Stimme: „Guten Morgen!<br />

Mich beschäftigt schon seit einigen Tagen etwas: Mir ist aufgefallen, dass<br />

Dave von den anderen Kindern gehänselt wird.“<br />

Die Betreuer schauten sich an und schwiegen erst <strong>mal</strong> einen kurzen Augenblick.<br />

Dann antwortete Mrs. Nowak mit einer unwissenden Stimme: „Was<br />

meinst du, wie wird er gehänselt?“<br />

Sie drehten sich um und stellten noch die restlichen Teller auf den Tisch.<br />

Keiner hörte ihm richtig zu.<br />

Jack erzählte ihnen davon, was er gesehen hatte: „Die Kinder lachen über<br />

Dave und machen ihn immer schlecht. Er hat keine Freunde hier und fühlt<br />

sich sichtlich unwohl!“<br />

Mr. Brown verdrehte die Augen und machte den Vorschlag, sich hinzusetzen<br />

und über das so genannte Problem zu diskutieren.<br />

Keiner hatte große Lust dazu, aber sie waren einverstanden und setzten sich<br />

an den Tisch.<br />

„Ach was, das kommt dir nur so vor“, sagte Mr. Prob.<br />

Mr. Brown stimmte ihm zu: „Die Kinder spielen doch nur. Mach dir <strong>mal</strong><br />

keinen Kopf deswegen.“


42 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

„Aber findet ihr nicht, dass die Kinder übertreiben? Vielleicht sollten wir<br />

<strong>mal</strong> Spiele mit ihnen spielen, bei denen sie Teams bilden sollen. Da können<br />

wir Dave gut mit einbeziehen. Oder seinen Geburtstag groß feiern. Das fände<br />

er bestimmt ganz toll“, sagte Jack.<br />

Man sah deutlich, wie wichtig die Kinder für Jack waren, er sah sehr betrübt<br />

aus wegen Dave.<br />

Mrs. Nowak schaute Jack genervt an und sagte: „Was sollen wir? Wir sind<br />

hier, um zu schauen, dass es den Kindern gut geht und nicht, um mit ihnen<br />

zu spielen und um Geburtstage zu feiern. Das kostet auch nur… So viel Geld<br />

haben wir nicht, und die anderen Kinder kämen sich ungerecht behandelt<br />

vor. Und dann würde er noch mehr ausgegrenzt werden.“<br />

Jack erwiderte mit etwas gereizter Stimme: „Dann machen wir für alle eine<br />

Geburtstagsfeier. Dave geht es nicht gut. Ihr solltet euch um ihn kümmern.<br />

Okay, das mit dem Geld stimmt, aber wenn wir die Kinder fragen, ob sie das<br />

machen wollen, was sie bestimmt wollen, helfen sie vielleicht dabei, Geld<br />

zu sammeln. Sie könnten zum Beispiel Rasen mähen, Autos waschen oder<br />

Zeitungen austragen. Dann hätten sie sogar gleich eine Beschäftigung, und<br />

ihr hättet mehr Freizeit. Und mit etwas Glück wären sie auch etwas leiser,<br />

weil sie erschöpft wären.<br />

Mr. Prob überlegte kurz, sagte aber dann: „Jack hat schon Recht. Die Kinder<br />

hätten dann vielleicht endlich eine Beschäftigung.“<br />

Mr. Brown und Mrs. Nowak schauten Mr. Prob sauer an. Man sah deutlich,<br />

wie Mr. Probs Blick immer ängstlicher wurde.<br />

Sein Blick senkte sich nach unten, er flüsterte: „Nein Jack, das ist eine dumme<br />

Idee.“<br />

„Nein, das können wir nicht machen. Die Kinder sollen sich alleine beschäftigen,<br />

auch ohne einen Job. Sie haben hier so viel Platz. Sie können in den<br />

Wald gehen, sie haben Spielsachen, und für die Schule müssen sie auch lernen“,<br />

sagte Mr. Brown.<br />

Mrs. Nowak wurde alles zu viel.<br />

Sie ging aus dem Zimmer in die Küche, und die Übrigen hinter ihr her. Sie<br />

zeigte auf den Herd, auf den Kühlschrank und auf den Wasserhahn.<br />

Mrs. Nowak sagte: „Schau dich hier <strong>mal</strong> um! <strong>Der</strong> Herd ist total alt, wir<br />

bräuchten einen viel größeren Kühlschrank. Und der Wasserhahn ist auch<br />

kaputt. Bevor wir Geburtstage feiern, muss erst <strong>mal</strong> das Haus renoviert werden.<br />

Das ist viel wichtiger als die Kinder.“<br />

Stephanie Ragoßnig: Kapitel 10 43<br />

Auf ein<strong>mal</strong> schrie Jack: „WAS?? Die Küche ist wichtiger als die Kinder? Das<br />

kann nicht sein, das sind Gegenstände. Die haben Jahre ausgehalten, ein<br />

paar mehr geht auch noch… Aber die Kinder haben nur eine Kindheit, und<br />

die sollten sie auch genießen!“<br />

Mrs. Nowak antwortete ihm, etwas beleidigt: „Was geht dich das eigentlich<br />

an? Deine Kindheit ist vorbei, und du bist nur der Hausmeister. Also mach<br />

auch lieber das, was ein Hausmeister macht!“<br />

Sie zeigte auf die Küche und sprach zu ihm in einem bestimmenden Ton:<br />

„Deine Arbeit ist es, Sachen zu reparieren, nicht, dich um die Kinder zu<br />

kümmern.“<br />

Jack widersprach: „Wenn ich das machen soll, was ein Hausmeister macht,<br />

dann macht ihr das, was Betreuer machen.“<br />

Mr. Brown sagte: „Wir sollten uns alle <strong>mal</strong> beruhigen. Wir sind erwachsene<br />

Menschen, und wir sollten uns auch so benehmen.“<br />

Die Betreuer und Jack schauten sich nur an, ohne ein Wort zu sagen.


44 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Jakob Seitz<br />

Kapitel 11<br />

Jack ging nach dem Streit hinaus auf den Hof, um sich zu beruhigen. Er fegte<br />

den Hof wie ein Irrer, um sich abzuregen. Er fegte den Boden, als wäre er<br />

ein Ball und Jack selbst der Baseballschläger. Es kam so rüber, als würde er<br />

denken, dass er sich in einem Spiel befände. Er fegte selbst in den kleinsten<br />

Ecken und ließ dem Dreck keine Chance. Er putzte die Fenster, bis man<br />

nicht mehr sah, dass dort überhaupt eine Fensterscheibe war. Er reparierte<br />

das kaputte Schloss an der Speisekammer.<br />

Doch plötzlich hörte er einen Ruf vom Hoftor. Es war Herr Friedrich von der<br />

Bank. Als Jack ihn sah und ihn gemustert hatte, fragte er ihn: „Was kann ich<br />

für Sie tun?“<br />

Herr Friedrich kuckte auf das alte Waisenhaus, das so aussah, als wäre es aus<br />

dem Krieg, weil die Farbe an den Wänden schon größtenteils abgebröckelt<br />

war und es sehr viele Löcher im Dach gab.<br />

Er erwiderte: „Ich bin Herrn Friedrich von der örtlichen Bank und ich<br />

möchte gerne mit der Heimleitung sprechen!“<br />

Jack war erschrocken und dachte, wohl lieber nicht.<br />

„Okay, bitte folgen Sie mir.“<br />

Jack brachte ihn durch das Eingangstor durch den Flur ins zweite Stockwerk,<br />

vorbei an den Zimmern der Kinder, die nicht gerade groß waren. Er sah am<br />

Ende des Flures im zweiten Stockwerk, weit hinter dem Büro der Chefin,<br />

wie ein kleines Mädchen, etwa dreizehn Jahre alt, von Mr. Brown geschubst<br />

wurde, weil es nicht laufen wollte. Das Mädchen weinte. Mr. Brown lachte<br />

laut.<br />

Jack dachte an seine Kindheit und wollte dem armen Mädchen helfen. Er<br />

wollte am liebsten den Betreuer fertig machen, ihn überkam Wut. Er sprach<br />

mit leiser Stimme, dass Herr Friedrich kurz warten sollte und dass er gleich<br />

wieder komme. Herr Friedrich willigte ein und setzte sich auf eine Bank, auf<br />

der sonst die Kinder saßen. Sie war zu klein für Herrn Friedrich und sehr<br />

bunt ange<strong>mal</strong>t – wie für die Kinder geschaffen.<br />

Jakob Seitz: Kapitel 11 45<br />

Herr Friedrich machte seine Aktentasche auf und holte einen Ordner mit<br />

Information über das Waisenhaus heraus. Jack ging währenddessen ans andere<br />

Ende des Flures, auf Mr. Brown zu, um den Übeltäter anzumotzen. Als<br />

er ihn erreichte, ließ Mr. Brown das Kind endlich los.<br />

Jack schrie mit lauter Stimme den Betreuer an: „Warum machen Sie das!?<br />

Wie können Sie nur so ein kleines Mädchen schubsen, es ist doch noch ein<br />

kleines Kind und kann sich nicht wehren. Wie würden Sie es finden, wenn<br />

ich Sie jetzt schubsen würde und Sie könnten sich nicht wehren?“<br />

Mr. Brown war erschrocken, weil ihn sonst niemand ansprach, wenn er so<br />

etwas machte.<br />

„Sie haben mir nichts zu sagen. Sie sind nur der Hausmeister. Gehen Sie<br />

wieder Dreck fegen und lassen Sie mich bitte in Ruhe!“<br />

Jack war stinksauer und kochte vor Wut: „Lassen Sie das Kind in Ruhe!“<br />

Mr. Brown ließ das Kind los und lief entmutigt weg. Das kleine Mädchen<br />

bedankte sich bei seinem Retter Jack. Jack hatte sich wieder beruhigt und<br />

flüsterte dem kleinen Mädchen ins Ohr: „Wenn er das noch <strong>mal</strong> macht,<br />

dann sag mir sofort Bescheid. Er und die Anderen werden alle noch ihre<br />

Lektion lernen!“<br />

Das Mädchen bedankte sich noch ein<strong>mal</strong> und ging dann in ihr Zimmer.<br />

Jack schlenderte zurück zu Herrn Friedrich und sagte: „So, alles geklärt,<br />

bitte folgen Sie mir weiter!“<br />

Sie standen vor der braunen alten Holztür, hinter der die Chefin wichtige<br />

Telefonate vom einzigen Telefon im ganzen Haus führte. Das Telefon sah so<br />

aus, als wäre es schon tausende Mal benutzt worden. Es war sehr alt und hatte<br />

eine rauchschwarze Farbe. Wenn man eine Nummer wählen wollte, musste<br />

man an einem kleinen, schwarzbraunen Drehrad drehen. Jack klopfte<br />

zwei<strong>mal</strong> gegen die alte braune Eichentür. <strong>Der</strong> Herr von der Bank und Jack<br />

warteten einige Momente, bis die kleine ältere Dame die Tür öffnete. Die<br />

Türe war nachts meist abgeschlossen. Die Chefin sah Jack und Herrn Friedrich<br />

mit ihren pechschwarzen Augen an, als wären sie Außerirdische mit<br />

Riesenköpfen. Dann, nachdem sie die beiden gemustert hatte, fragte sie mit<br />

einem Stirnrunzeln und ihrer krächzenden Stimme: „Was kann ich für die<br />

Herren tun?“<br />

Jack kuckte etwas verdutzt, weil sie so freundlich war. Er konnte einen kleinen<br />

Blick ins Büro erhaschen. Er konnte in der Mitte des großen Raumes<br />

einen bambusbraunen Schreibtisch sehen, und an der Seite standen viele


46 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Schränke mit Ordnern und Akten, vermutlich von den Kindern. Gegenüber<br />

der Tür war ein Fenster mit blutroten Vorhängen.<br />

Die Chefin sah ihn an, als würde sie ihn gleich anfallen wie ein Hund einen<br />

Hasen, weil er nicht antwortete.<br />

Als er diesen Blick spürte, sprach er erschrocken: „Herr Friedrich ist von der<br />

Bank und möchte mit Ihnen sprechen!“<br />

Sie wirkte leicht irritiert und bat den Mann von der Bank herein. Jack lief<br />

instinktiv hinterher, doch die Chefin knallte ihm die braune Holztür direkt<br />

vor der Nase zu.<br />

Jack wurde leicht wütend und wollte die Tür am liebsten auftreten oder dagegen<br />

klopfen. Doch er konnte sich beherrschen. Er legte sein Ohr an die<br />

braune Tür.<br />

Er hörte die Chefin mit ihrer Raben-ähnlichen Stimme wütend fragen: „Was<br />

wollen Sie von uns?“<br />

Die Stimme von Herrn Friedrich hörte sich leicht verängstigt an: „Ich<br />

komme wegen der Schulden, die Sie und das Waisenhaus haben, wissen Sie<br />

nicht mehr? Vor zwei Jahren haben Sie einen Kredit für den Ausbau des Waisenhauses<br />

bekommen. Doch ich sehe keine Veränderung. Die Rückzahlung<br />

ist übrigens auch schon zeit drei Monaten fällig. Wenn Sie der Rückzahlung<br />

nicht nachkommen, werden Sie eine Anzeige erhalten und das Waisenhaus<br />

muss eventuell geschlossen werden.“<br />

Die Chefin stand von ihrem roten Sessel auf und schrie Herrn Friedrich an:<br />

„Was soll aus den ganzen Kindern werden?“<br />

Sie versuchte Herrn Friedrich zu beeinflussen, obwohl ihr die Kinder egal<br />

waren. Doch dieser kuckte nur verdutzt und hob die Stimme an: „Die Kinder<br />

würden auf Familien verteilt werden, und außerdem denken wir, dass<br />

Sie die anderen Zuschüsse von unserer Bank nicht für das Wohl der Kinder<br />

ausgegeben haben!“<br />

Jetzt sah man der Chefin richtig an, dass sie stinksauer war: „Das muss ich<br />

mir doch nicht bieten lassen. Sie können nichts beweisen!“<br />

Herr Friedrich stand auf und ging in Richtung Tür. Er blieb an der Tür<br />

stehen und sagte: „Wir behalten Sie im Auge. Passen Sie auf, was Sie machen…“<br />

Die Chefin stand ebenfalls auf und zeigte mit ihrer alten Hand auf die Tür:<br />

„Ja, ja, gehen Sie jetzt bitte. Lassen Sie mich und das Waisenhaus in Frieden!“<br />

Jakob Seitz: Kapitel 11 47<br />

Als Herr Friedrich die Türklinke runterdrückte, rannte Jack schnell weg.<br />

Herr Friedrich ging schnellen Schrittes den Flur hinunter, vorbei an den<br />

Zimmern, raus auf den Hof zu seinem Auto. Er stieg ein. Währenddessen<br />

hörte man ihn sagen: „Haha, du wirst bald nicht mehr stehen!“<br />

Er meinte vermutlich das Waisenhaus. Wenn man durch die Fensterscheibe<br />

der Chefin kucken konnte, sah man, dass sie regelrecht ausrastete und Zeug<br />

durch die Gegend warf.<br />

Jack musste ein bisschen schmunzeln.


48 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Corina Proschinger<br />

Kapitel 12<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Als ich noch ein Kind war, lief ich eines Tages an dem Büro des da<strong>mal</strong>igen<br />

Chefs Mr. Rist vorbei und hörte laute Stimmen. Es hörte sich an wie<br />

eine Diskussion. Da ich sehr neugierig war und es mich auch ziemlich interessierte,<br />

um was es in dem Gespräch ging, blieb ich an der Tür stehen<br />

und versuchte zu lauschen, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen.<br />

Es war plötzlich sehr leise geworden im Chefbüro. Man hörte nur noch den<br />

Mann von der Bank leise husten. Dann fing der Mann von der Bank auf ein<strong>mal</strong><br />

an, dem Chef etwas vorzuwerfen, was man eindeutig an seinen Worten<br />

erkannte. Ich versuchte noch ein bisschen näher an die Tür zu treten, um dem<br />

Gespräch besser folgen zu können. Leider stieß ich versehentlich mit meinem<br />

Knie gegen die Tür und es ertönte kurz einen lauter Ton, der auch nicht unbemerkt<br />

blieb, denn es wurde ganz schnell still im Raum.<br />

Ich zitterte und hatte ziemlich große Angst erwischt zu werden, deshalb versteckte<br />

ich mich schnell neben der Tür, sodass man mich nicht sehen konnte,<br />

wenn jemand die Türe öffnete. Aber ich wartete vergebens, denn niemand öffnete<br />

die Tür. Also beschloss ich wieder näher vor die Tür zu gehen und zu lauschen.<br />

Ich hörte, wie Mr. Rist sich vor dem Mann von der Bank rechtfertigte.<br />

Er sagte: „Woher wollen Sie das wissen? Sie haben absolut keine Beweise, dass<br />

ICH das Geld ausgebe“, sagte Mr. Rist.<br />

Nach ein paar Minuten wurden beide etwas lauter. Anscheinend verstanden<br />

sich Mr. Rist und der Mann von der Bank nicht besonders gut, aber das überraschte<br />

mich nicht.<br />

Aber das Gespräch ging nicht darum, dass das Waisenhaus vielleicht geschlossen<br />

werden musste, da es Schulden hatte. Aber es erinnerte mich sehr daran.<br />

Denn in dem Gespräch ging es darum, dass Mr. Rist nicht das ganze Geld, das<br />

er von der Stadt für die Betreuung von den Kindern bekam, auch nur für die<br />

Kinder ausgab. Es war anscheinend zu viel Geld, das Mr. Rist für sich selbst<br />

ausgab, denn es machte sich irgendwie bemerkbar.<br />

Corina Proschinger: Kapitel 12 49<br />

Da<strong>mal</strong>s machte ich mir dann sehr viele Gedanken darüber. Ich fragte mich<br />

immer, für was er das Geld, das uns fehlte ausgab. Aber noch viel mehr beschäftigte<br />

mich die Frage: Wer hat das herausgefunden? War es etwa offensichtlich,<br />

dass er das Geld für sich ausgab? Oder wusste jemand mehr, als er<br />

eigentlich wissen sollte? Und wer war eigentlich die Person, die mit Mr. Rist<br />

diskutiert hatte? Ich wusste zwar, dass er von der Bank war, aber Genaueres<br />

wusste ich auch nicht. Da es mich so sehr interessierte, machte ich mich am<br />

darauf folgenden Tag auf, um mehr darüber zu erfahren.<br />

Es war ein sehr kalter und verregneter Tag, als ich noch <strong>mal</strong> versuchte, an<br />

Mr. Rists Büro zu lauschen. Nichts. Gar nichts. Anscheinend war niemand im<br />

Chefbüro. Man hörte einzig und allein den Regen langsam an den Fenstern<br />

runter tröpfeln. So langsam machte ich mir meine eigenen Vorstellungen und<br />

Gedanken darüber.<br />

Seit dem Vorfall im Chefbüro waren alle im Waisenhaus da<strong>mal</strong>s irgendwie<br />

anders. Alle außer den Kindern. Also alle, die davon nichts wussten. Die<br />

Stimmung war so angespannt, dass ich fast schon nachgefragt hätte, was los<br />

sei. Ich hätte so getan, als ob ich von nichts wüsste, aber die Wahrheit hätten<br />

sie mir sowieso nicht erzählt. Eine da<strong>mal</strong>ige Betreuerin, Mrs. Queensdale,<br />

verhielt sich besonders komisch in der Gegenwart von Mr. Rist.<br />

„Mrs. Queensdale, können Sie bitte die restlichen Unterlagen in mein Büro<br />

auf den Tisch legen, ich würde sie mir gerne ansehen.“<br />

„Sehen Sie nicht, ich habe genug zu tun“, antwortete sie mit einem nicht gerade<br />

schön klingenden Ton.<br />

Aber ich wusste natürlich nicht genau ob es daran lag oder einfach an der<br />

Tatsache, dass sie gerade sehr beschäftigt war mit den Kindern – und dann<br />

einfach dieses schlechte Wetter noch dazu. Ich denke, sie war deshalb so launisch.<br />

Schlaflose Nächte hatte ich damit verbracht, über die Situation nachzudenken.<br />

Aber nach ein paar Tagen hatte ich mir schon gar keine Hoffnungen<br />

mehr gemacht, noch mehr darüber herauszufinden. Denn irgendwann war<br />

es mir dann auch nicht mehr so wichtig, denn ich wusste, ich würde eh nicht<br />

mehr allzu viel darüber herausfinden.<br />

Aber jetzt war ich älter, ich war kein Kind mehr. Aber ich war immer noch<br />

der gleiche Mensch. Immer noch genauso neugierig wie früher. Als ich den<br />

Mann von der Bank zu Mrs. Browns Büro brachte, belauschte ich einen Teil<br />

des Gesprächs durch die Tür. Als ich dann erfuhr, dass das Waisenhaus vielleicht<br />

geschlossen werden musste, weil es Schulden hatte, fühlte ich mich wie


50 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

früher, als ich noch klein war. Für mich war es die gleiche Situation, ich wusste<br />

als Einziger über das Gespräch Bescheid. Und natürlich Mrs. Brown und der<br />

Mann von der Bank, aber davon abgesehen war ich sonst der Einzige. Aber<br />

dies<strong>mal</strong> war es doch ein wenig anders.<br />

Das Gespräch zwischen Mrs. Brown und dem Mann von der Bank war ruhiger.<br />

Es war irgendwie auch ein trauriges Gespräch. Sie diskutierten kaum,<br />

redeten nur davon, wie sie das Waisenhaus noch retten konnten. Aber dies<strong>mal</strong><br />

verstand ich selten ein Wort.<br />

Ich verstand, wie der Mann von der Bank sagte: „Wissen Sie, ich kann verstehen,<br />

dass Sie gerne hier in dem Waisenhaus arbeiten und sich auch gerne<br />

um das Waisenhaus kümmern, aber die Schulden sind in diesem Jahr einfach<br />

noch viel höher als in dem Jahr zuvor.“<br />

„Kann man denn das Waisenhaus nicht durch irgend etwas retten?“, fragte<br />

Mrs. Brown.<br />

„Nun ja, ich werde mich erkundigen, wie viele Schulden Sie in den letzten<br />

Monaten noch dazu bekommen haben, denn ich habe leider nur noch die Gesamtsumme<br />

von den letzten Jahren. Die jetzige Summe wurde mir leider noch<br />

nicht zugestellt. Ich werde in den nächsten Tagen noch ein<strong>mal</strong> bei Ihnen vorbei<br />

schauen und Ihnen berichten, wie hoch der Schuldenbetrag in der letzten<br />

Zeit gestiegen ist“, sagte der Mann von der Bank.<br />

Mehr hatte ich leider nicht verstanden. Trotzdem hätte ich gerne mehr von<br />

dem Gespräch mitbekommen, aber irgendwann musste es ja rauskommen,<br />

dass das Waisenhaus Schulden hat, und dass es deswegen vielleicht geschlossen<br />

werden muss.<br />

Trotzdem machte ich mir wieder meine eigenen Gedanken darüber und fragte<br />

mich, warum es solche hohen Schulden hatte. Ich wusste zwar, dass es nichts<br />

bringen würde, wenn ich mir selber vorstelle, wie es sein könnte, da ich ja<br />

wusste, was es mir früher gebracht hatte. Nur noch mehr Ungewissheit. Ich<br />

konnte natürlich nicht davon ausgehen, dass ich die Antwort bald erfahren<br />

würde.<br />

Aber irgendwann werde ich es ja erfahren, hoffe ich.<br />

Paolo Mele: Kapitel 13 51<br />

Paolo Mele<br />

Kapitel 13<br />

Lange Zeit nachdem Herr Friedrich gegangen war, war Jack, wie immer <strong>mal</strong><br />

wieder, auf dem Weg, etwas zu reparieren. Dieses Mal handelte es sich um<br />

die Tür des Speisesaals. Eine Schraube hatte sich gelöst, und schon bei der<br />

kleinsten Bewegung quietschte die Türe lautstark.<br />

Auf dem Weg dorthin fiel ihm wieder auf, wie Annika und Max sich im Aufenthaltsraum<br />

schlugen. Beide gaben sich harte Tritte und Schläge ins Gesicht,<br />

bis Max dann <strong>mal</strong> so richtig ausholte, sodass er mit voller Kraft mitten<br />

in Annikas Gesicht traf. Annika sackte nun zu Boden. Sie hatte Nasenbluten<br />

bekommen, und beim Anblick von Blut wurde ihr immer übel. Jack dachte<br />

sich: Die Arme! Sie tut mir so leid, aber ich kann ihr nicht helfen. Wenn ich<br />

doch nur etwas unternehmen könnte!<br />

Schreiend saß sie nun da. Das versuchte Jack dann zu ignorieren. Er beobachtete<br />

trotz des Vorfalls immer noch den Aufenthaltsraum, und auch,<br />

dass alle Betreuer, die vorbeiliefen, alles ignorierten und die Kinder das tun<br />

ließen, was sie wollten, und sich nicht um sie kümmerten.<br />

Mrs. Nowak war auch eine vom ihnen und Jack sah auch sie. Er versuchte<br />

sie zur Rede zu stellen und ging hin, doch dies merkte sie schnell. Ihr lässiglockerer<br />

Gang sah jetzt eher so aus, als wäre ein furchteinflößender Hund<br />

hinter ihr her.<br />

Wie so oft saß auch wieder Dave da, in der Zimmerecke, weinend unter einer<br />

weißen Decke, mit Jacks Ex-Teddy unterm Arm. Das kam Jack sehr bekannt<br />

vor, und schon nach kurzer Zeit konnte er es sich nicht mehr mit ansehen.<br />

Er lief zu Mr. Browns Büro, klopfte und wartete, bis er hinein durfte. Mr.<br />

Brown war sehr damit beschäftigt, einen Rahmen mit dem Bild seiner Familie<br />

zu putzen.<br />

Er fragte ungeduldig: „Was wollen Sie denn nun schon wieder, Mr. Miller?“<br />

Jack sagte fest entschlossen zu Mr. Brown:<br />

„Fällt Ihnen eigentlich nicht auf, wie schlecht es den Kindern geht?“


52 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

„Was denn zum Beispiel? Ich sehe nichts, wo eine Veränderung nötig ist,“<br />

meinte Mr. Brown.<br />

„Zum Beispiel Annika und Max, sie schlugen sich brutal, und keiner der<br />

vielen Betreuer, die vorbei liefen und alles beobachtet hatten, unternahmen<br />

etwas dagegen. Das ist sehr schlecht…“<br />

„So, jetzt halten Sie <strong>mal</strong> den Mund. Ich sehe hier keinen Grund etwas zu<br />

unternehmen, und deshalb bleibt auch alles so, wie es ist“, sagte Mr. Brown<br />

nun mit erhobener Stimme.<br />

„So, und jetzt halten Sie auch <strong>mal</strong> den Mund, denn wenn sich hier nicht<br />

schleunigst etwas ändert, dann werde ich das tun, verstanden?“<br />

Wütend verließ Jack das Büro und knallte die Türe hinter sich zu. Ganz<br />

außer sich und zugleich auch traurig, Dave nicht helfen zu können, ging er<br />

auf sein Zimmer. Alleine und eingeschlossen blieb er den restlichen Tag dort<br />

und überlegte, was er nun tun könnte, da ja keiner auf ihn hören wollte. Wie<br />

sehr und wie oft, dachte sich Jack, wurde er selbst früher gehänselt, ausgelacht,<br />

beleidigt, belästigt. Und wie er darunter gelitten hatte!<br />

Das drang Jack nun immer stärker ins Bewusstsein. Er wollte nicht, dass<br />

Dave nun das Gleiche mitmachen musste wie Jack selbst. Er wollte schleunigst<br />

etwas ändern, und das schon sehr, sehr bald. Und er hatte auch schon<br />

eine kleine Vorstellung, was das sein würde.<br />

Jack hörte nun das Quietschen der Türe des Speisesaals.<br />

„Mist“, schrie Jack, „ich habe vergessen, die Türe zu reparieren!“<br />

Simon Michel: Kapitel 14 53<br />

Simon Michel<br />

Kapitel 14<br />

Eines Nachts wachte Dave auf. Er meinte er hätte Schreie gehört. Ein leises,<br />

unterdrücktes Schreien. Schnell bekam er Angst und zog sich die Bettdecke<br />

bis zu seinem Kinn hoch. Ihm wurde auf ein<strong>mal</strong> unheimlich. Alles war so<br />

still, es war eine Toten<strong>stille</strong> in seinem Zimmer. Er blickte sich schnell um<br />

und schaute hinter sich. Doch er sah nur die Wand. Als er ein Rascheln<br />

hörte, befiel in die Angst und er blickte in seinem Zimmer herum. Alles<br />

war still und die anderen Kinder schliefen alle. Er wollte nach seinem Teddy<br />

greifen, doch er fand ihn nicht. Er drehte seinen Kopf herum und sah im<br />

Mondschein, dass er weg war.<br />

Kurze Zeit später hörte er wieder diese Geräusche. Sie kamen aus dem Flur.<br />

Er richtete sich auf und sah in Richtung Tür. Dort war alles dunkel.<br />

Nach einem kurzen Zögern setzte er einen Fuß auf den kalten Boden. Dann<br />

kam der zweite Fuß und er wusste nicht, wie ihm geschah, aber seine Füße<br />

schienen am Erfrieren zu sein. Eine unglaubliche Kälte umfasste seine Füße.<br />

Er wimmerte auf und sprang zurück ins Bett. Er schaute sich um, ob einer<br />

der anderen wach geworden war. Doch alle schliefen tief und fest.<br />

Er überlegte sich, wann und wie der Teddy weggekommen sein könnte. Im<br />

fiel nichts ein. Er wusste nicht, wo er sein konnte. Doch eins wusste er ganz<br />

sicher: Jemand musste ihn weggenommen haben.<br />

Er dachte an die anderen Kinder. Ob sie jetzt vielleicht noch wach waren<br />

und ihn <strong>mal</strong> wieder ärgern wollten und ihm Angst einjagen?<br />

Nach weiteren Geräuschen im Flur verschwanden jedoch die Gedanken.<br />

Man merkte ihm an, wie viel Angst er hatte. Er wurde ganz bleich, wusste<br />

nicht, wie ihm geschah, doch da stand er schon mitten im Zimmer.<br />

Er schlich auf seinen Zehenspitzen bis zur Tür. Als er vor ihr stand, merkte<br />

man ihm die Angst an, die er hatte, weil er nicht wusste, was auf ihn warten<br />

würde. Ob vielleicht ein Monster hinter der Tür war oder ein Betreuer, der<br />

einfach nur gestolpert war und am Boden lag? Oder etwa ein Einbrecher, der<br />

gerade versuchte die Tür zum Büro aufzumachen?


54 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Er kam von den Gedanken ab, als er wieder diese Geräusche wahrnahm.<br />

Es hörte sich an wie ein leises Schreien. Er berührte leicht den Türgriff und<br />

machte die Tür leise auf.<br />

Es war dunkel. <strong>Der</strong> gesamte Flur war dunkel. Er lief zirka einen Meter und<br />

bleibt dann stehen. Er zitterte und schaute sich um. Nichts. Nach kurzer Zeit<br />

stand er vor dem Lichtschalter. Er wollt das Licht anmachen, doch es ging<br />

nicht. Das Licht ließ sich nicht einschalten. Er versuchte es noch <strong>mal</strong> und<br />

noch <strong>mal</strong>, doch es klappte nicht.<br />

Nun lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er dachte wieder an Einbrecher<br />

– oder vielleicht sogar an einen Mörder. Kurz bevor ihn diese Gedanken<br />

total überfielen, schlich er wieder leise zurück. Plötzlich stolperte er und<br />

knallte auf den Boden. Nach kurzer Zeit richtete er sich auf und fasste sich<br />

ans Knie.<br />

<strong>Der</strong> ganze Flur war dunkel, doch er roch Blut. Er wusste nicht, wie ihm<br />

geschah. Blutete er am Knie oder woher sollte der Geruch kommen? Als er<br />

wieder leise Geräusche hörte, wurde im kalt ums Herz. Vielleicht war doch<br />

ein Mörder im Haus. Als ihn diese Gedanken überfielen, wusste er nicht<br />

mehr weiter. Er rannte lautstark den Flur entlang, zu seinem Zimmer.<br />

Dort angekommen, fasste er sich an das blutende Knie und schaute sich um.<br />

Er sah nichts, das ganze Haus war dunkel. Er öffnete langsam die Tür und<br />

trat in das Zimmer. Alles war still, die anderen Kinder schliefen alle. Er lief<br />

durch das Zimmer und legte sich in sein Bett, riss die Bettdecke bis an sein<br />

Kinn und versuchte zu schlafen. Aber an Schlaf war nicht zu denken, er<br />

musste einfach die ganze Zeit an die Geräusche im Flur denken. An den<br />

Blutgeruch und an die Kälte, die ihn überfallen hatte.<br />

Er beschäftigte sich die ganze Zeit mit diesen Fragen, doch einige Zeit später<br />

schlief er schon tief und fest.<br />

Paula Schmidt: Kapitel 15 55<br />

Paula Schmidt<br />

Kapitel 15<br />

Dave wurde von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch sein Fenster schienen.<br />

Das taten sie hier sehr selten. Denn Fenster waren in solchen Zimmern<br />

wie in seinem selten. Er hatte sehr unruhig geschlafen. Wie viel Uhr war es?<br />

Er schaute auf den Wecker, es war kurz nach acht.<br />

Er musste sich beeilen, sonst würde er zu spät zum Frühstück kommen.<br />

Also zog er schnell seine verdreckte Hose an. Max hatte ihn gestern in den<br />

Schlamm geschubst. Sein T-Shirt sah auch nicht besser aus. Er rannte die<br />

Treppen runter. Es waren schon alle da. Außer Mrs. Nowak. Wahrscheinlich<br />

steckte sie im Stau. Sie gehörte zu den wenigen der Betreuer, die nicht<br />

im Heim wohnten.<br />

Es gab <strong>mal</strong> wieder Marmeladenbrot. Jeden Morgen das Gleiche. Er hasste es.<br />

Es klingelte. Adoptiveltern konnten es nicht sein, denn es war noch zu früh.<br />

Es war ein Polizist. Er verschwand mit Mrs. Giggles, der Leiterin des Heims,<br />

in ihrem Büro. Dave konnte ihn nur kurz sehen, er hatte kurze Haare, eine<br />

Fliegerbrille, war sehr schlank und etwa um die 35 Jahre alt.<br />

Alle fingen an zu tuscheln. Nur Dave nicht. Mit wem denn auch? Mr. Prob<br />

bat die Kinder ungewöhnlich freundlich um Ruhe. Wahrscheinlich wegen<br />

dem Polizisten. Als sie nach ungefähr einer halben Stunde wieder aus dem<br />

Büro kamen, befragte er die restlichen Betreuer. Dann befragte er Jack.<br />

Mittlerweile war das Frühstück vorbei. Die Kinder sollten sich nun für die<br />

Schule fertig machen. Dave hatte keine Lust, er wollte lieber lauschen, was<br />

der Polizist wissen wollte. <strong>Der</strong> Polizist reichte Jack die Hand.<br />

„Hallo, ich heiße Michael.“<br />

Jack nahm die Hand und nickte ihm zu. „Jack.“<br />

Michael fragte: „Wie gut kannten Sie Mrs. Nowak?“<br />

„Nicht sehr gut. Wenn wir uns <strong>mal</strong> unterhalten haben, dann meistens über<br />

die Kinder. Ich glaube, sie hat <strong>mal</strong> erwähnt, dass sie alleine lebt.“<br />

<strong>Der</strong> Polizist drehte seinen Kuli zwischen den Fingern.


56 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

„Haben Sie sich gestern mit ihr unterhalten?“, fragte er mit einem eindringlichen<br />

Blick.<br />

„Ja, wir haben über eines der Kinder geredet“, sagte Jack locker.<br />

„Über wen?“<br />

Michael legte seinen Kuli aus der Hand.<br />

„Über Dave.“<br />

Langsam wurde er zögerlicher mit seinen Antworten. Hatte er mit Mrs. Nowaks<br />

Verschwinden zu tun?<br />

„Mögen Sie ihn? Mag sie ihn? Hatten sie einen Konflikt?“<br />

Michael lehnte sich erwartungsvoll im Stuhl zurück. Jack überspielte seine<br />

Unruhe gekonnt, doch durch ein kleines Loch in der Wand konnte Dave<br />

sehen, wie seine Finger unruhig aber lautlos gegen die Rückseite des Stuhls<br />

tippten.<br />

„Ich mag ihn sogar sehr. Sie hatte wohl keinen engen Bezug zu ihm, aber wir<br />

haben uns nicht gestritten.“<br />

Michael sah kurz an die Decke und dachte nach.<br />

„Könnte ich mit dem Jungen sprechen?“<br />

Jack sah erleichtert aus, als er sagte: „Ich hole ihn!“<br />

Dave rannte um die Ecke, um dann wie durch Zufall in der Nähe zu sein,<br />

damit nicht auffiel, dass er sie belauscht hatte.<br />

Jack kam mit seinem freundliche Lächeln auf ihn zu.<br />

Jack sagte zu ihm: „Na, Kleiner. Wie geht’s dir?“<br />

„Gut. Dir? Was ist denn?“, fragte er mit einem breiten Lächeln.<br />

Er ging in die Knie, um auf Daves Höhe zu sein.<br />

„Mir geht’s auch ganz gut. <strong>Der</strong> Polizist will mit dir reden, aber du brauchst<br />

keine Angst zu haben. Du hast nichts getan. Er stellt dir nur ein paar Fragen.“<br />

Wie kam er darauf, dass Dave Angst hatte? Mit einem breiten Lächeln sagte<br />

er: „Ich habe keine Angst.“<br />

<strong>Der</strong> Polizist winkte ihm zu. Er ging zu ihm. Er schloss die Tür hinter sich<br />

und setzte sich ihm gegenüber hin.<br />

Michael: „Hallo, du bist David, nicht wahr? Ich heiße Michael“, sagte er mit<br />

einem warmen Lächeln.<br />

Dave ließ sich in den Stuhl fallen<br />

„Hallo, ja. Was wollen Sie?“<br />

Nun blickte der Polizist ernst.<br />

Paula Schmidt: Kapitel 15 57<br />

„Ich wollte dir ein paar Fragen stellen. Magst du Jack sehr?“<br />

Dave: „Ja. Er ist der Einzige, der nett zu mir ist. Die anderen Kinder ärgern<br />

und schlagen mich immer, und den Betreuern ist es egal. Aber Jack nicht. Er<br />

hilft mir als Einziger.“<br />

Michael überlegte kurz. „Wie hat Mrs. Nowak sich dir gegenüber verhalten?“<br />

Dave antwortete traurig. „Sie war meist sehr abweisend. Ich musste mich<br />

selbst gegen die Anderen wehren.“<br />

Dave musste daran denken, wie ihn die anderen schikanierten, mit Stöcken<br />

schlugen, ihn in den Dreck schubsten... Ihm stiegen Tränen in die Augen,<br />

aber er schluckte sie schnell wieder runter.<br />

Michael schaute ihn ernst an.<br />

„Hmm, hat Jack sich darüber aufgeregt?“<br />

Dave antwortete eilig: „Nein! Darf ich jetzt zur Schule gehen?“<br />

Michael lächelte. „Danke, das reicht mir. Viel Spaß in der Schule.“


58 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

André Rebele<br />

Kapitel 16<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Es war bereits Abend und die Nacht war halb angebrochen und ich war mit<br />

Luke, einem der anderen Jungen, draußen spielen. Wir haben Verstecken gespielt.<br />

Ich hatte mich als erster versteckt, und danach hatte Luke sich in dem<br />

Geheimversteck versteckt, wo ich mich immer vor den Anderen versteckt und<br />

Schutz gesucht hatte. Als ich mich versteckte, fand Luke mich nicht. Nach<br />

zehn Minuten war es Nacht. Es war stockdunkel. Luke hatte Angst, alleine<br />

im Wald herum zu laufen und rannte zum Waisenhaus zurück. Ohne mich<br />

zu warnen.<br />

Ich wunderte mich, wo Luke nur geblieben war. Ich lief los, um ihn zu suchen.<br />

Doch ich fand ihn nicht. Ich rief nach ihm, doch er antwortete nicht. Ich dachte,<br />

dass ihm etwas passiert sei.<br />

Als ich auf dem Weg zum Waisenhaus war, raschelte es im Gebüsch. Ich lief<br />

schneller, ich rannte förmlich. Als ich fast angekommen war, stellte sich eine<br />

schwarze Person in den Weg. Ich bekam einen Schock. Ich wollte an der Gestalt<br />

vorbei laufen, doch die schwarze Gestalt stellte sich in den Weg und hielt<br />

mich auf und schleuderte mich auf den Boden.<br />

Mr. Anderson sagte, mit einem bösen Ton:<br />

„Was sucht du hier? Du müsstest schon im Waisenhaus sein.“<br />

„Es tut mir leid, Mr. Anderson, ich musste Luke suchen, wir haben Verstecke<br />

gespielt und er musste mich suchen… und dann…“, sagte ich mit weinender<br />

Stimme zu Mr. Anderson.<br />

Mr. Anderson schrie: „Sei ruhig, du Wurm! Halt deine klappe!“<br />

Ich war ruhig gestellt durch die Ansage von Mr. Anderson. Mr. Anderson<br />

packte mich am Kragen und schleppte mich ins Waisenhaus. Als wir im Waisenhaus<br />

angekommen waren, schloss Mr. Anderson sich mit mir in seinem<br />

Zimmer ein. Mr. Anderson setzte sich auf den Stuhl und sagte: „Was soll ich<br />

jetzt mit dir machen? Soll ich dir eine Tracht Prügel verpassen oder was…?<br />

Schlag <strong>mal</strong> vor!“<br />

André Rebele: Kapitel 16 59<br />

Ich sprach mit wimmernder Stimme: „Nein, nein, nichts, gar nichts, bitte<br />

nichts! Lassen Sie mich gehen, bitte!“<br />

Ich hatte panische Angst und ich weinte sehr. Mr. Anderson lief im Kreis, lachte<br />

und überlegte sich, wie ich daraus lernen konnte, für das, was ich gemacht<br />

hatte. Mr. Anderson ging zur Tür und verriegelte sie, sodass ich nicht flüchten<br />

konnte. Ich stand in der Ecke und weinte immer noch.<br />

Dann plötzlich sprach Mr. Anderson, halb so wie ein Psychopath: „Na los, zieh<br />

dich aus!“<br />

Ich schaute Mr. Anderson an und nahm meinen ganzen Mut zusammen.<br />

„Schnauze! Zieh dich selber aus“, sagte ich mit plötzlich wütender Stimme.<br />

Ich war erleichtert und fühlte mich toll danach. Doch dann: „Oha“, sagte Mr.<br />

Anderson verblüfft und lachte. „Du bist doch nicht so ein Feigling, wie ich<br />

dachte.“<br />

Mr. Anderson war sprachlos, er wusste nicht, was er sagen sollte. Ich bin zur<br />

Tür gelaufen, machte sie auf, doch dann: „Nein, so geht das nicht“, schrie Mr.<br />

Anderson und warf sich gegen die Tür. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass<br />

ich dich jetzt einfach so gehen lasse!“<br />

Mr. Anderson lächelte mich an. Ich wurde misstrauisch und blieb einfach stehen.<br />

Plötzlich musste ich grinsen. Mr. Anderson grinste ebenfalls und legte<br />

sich auf das Bett und sagte: „Hol mir ein Glas mit einer Aspirin-Tablette.“<br />

„Okay.“<br />

Ich wollte grade rausgehen, da sagte Mr. Anderson noch <strong>mal</strong>: „Aber Gnade<br />

dir Gott, wenn du abhaust, dann werde ich dir Beine machen, verstanden!“,<br />

schrie er und lachte nur noch.<br />

Ich lief zur Küche, nahm ein Glas, füllte es mit Wasser und musste nur noch<br />

die Tabletten finden. Ich dachte mir, was für Tabletten noch <strong>mal</strong>, und dann<br />

sah ich die Schlaftabletten. Ich kippte die ganze Packung hinein, als Rache für<br />

Mr. Anderson. Als ich alles getan hatte, was Mr. Anderson gesagt hatte, ging<br />

ich ins Zimmer, gab ihm das Glas und dachte mir: „Trink alles!“<br />

Mr. Anderson exte das Glas leer und lachte, doch dann taumelte er plötzlich<br />

und sagte mit düsterer Stimme: „Was hast du da getan?“<br />

Ich lachte und sagte: „Ich glaub <strong>mal</strong>, ich habe zu viel vom Schlafmittel hinein<br />

gekippt, ups.“<br />

Ich lachte und sah, wie Mr. Anderson zu Boden ging. Als Mr. Anderson am Boden<br />

lag und sich nicht bewegte, stand ich auf und sagte mit psychopathischer<br />

Stimme: „Hehe, tot, jetzt hast du’s.“


60 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Ich war so mit Hass bestückt, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat, und<br />

deshalb nahm ich ein Messer und schnitt mich am Arm, sodass es aussah, als<br />

hätte Mr. Anderson mich gequält. Ich rannte aus dem Zimmer und schrie.<br />

Es kam sofort ein Betreuer und versorgte meine Wunde und fragte: „Was ist<br />

passiert?“<br />

Ich sprach mit einem vorgetäuschten Weinen: „Er hat gesagt, dass ich ein Glas<br />

mit Wasser holen sollte und mit Schlafmittel, extra in so einem Behälter. Er<br />

hat das ganze Schlafmittel hinein gekippt und getrunken und lachte. Er griff<br />

mich dann mit einem Messer an.“<br />

Die Betreuerin war geschockt und sprach: „Geh in dein Zimmer, deine Wunde<br />

muss jetzt ausheilen, okay?“<br />

Ich rannte in mein Zimmer und verkroch mich im Bett.<br />

Alle Betreuer gingen in Mr. Andersons Zimmer und haben die Leiche entsorgt<br />

und alles wieder vergessen.<br />

Leonard Böhmke: Kapitel 17 61<br />

Leonard Böhmke<br />

Kapitel 17<br />

Dave wachte in seinem voll geschwitzten Bett auf. Sein Gesicht war Schweißgebadet,<br />

er legte sich wieder zurück und dachte nach. Dave musste die ganze<br />

Zeit an die schrecklichen Geräusche aus der Nacht denken. Wo waren<br />

die hergekommen? Er überlegte. Also von oben waren sie nicht gekommen.<br />

Vielleicht wollten ihn die Anderen nur wieder fertig machen, das Übliche<br />

eben. Er dachte an Jack und wie er sich immer verhielt. Warum war er so<br />

nett zu ihm?<br />

Es mochte ihn doch eh keiner. Warum hatten ihn seine Eltern da<strong>mal</strong>s nur im<br />

Stich gelassen? Warum...??? Warum...??? Tausend Fragen gingen ihm durch<br />

den Kopf! Er wollte Jack suchen und ihn fragen, ob er auch diese gruseligen<br />

Geräusche gehört hatte. Also wenn sie nicht von oben gekommen waren,<br />

dann waren sie wohl von unten gekommen . Also musste er alles absuchen.<br />

Leichter gesagt als getan, denn Daves Zimmer lag im obersten Stockwerk. Er<br />

überlegte: Sollte er das ganze Waisenhaus nach den Geräuschen absuchen<br />

oder war das wieder nur ein schlechter Scherz von den Anderen? Wieder<br />

gingen ihm viele verschiedenen Fragen durch den Kopf.<br />

Er schaute auf die Uhr, es war halb zehn. Er entschloss sich, erst <strong>mal</strong> frühstücken<br />

zu gehen. Als er unten ankam, war er der einzige, der noch nicht<br />

gegessen hatte. Er ging zum Büffet und nahm sich eine Schüssel und füllte<br />

seine Lieblings-Cornflakes rein. Doch erst dann bemerkte er, dass die Milch<br />

alle war. Dave ging in die Küche und holte neue. Er setzte sich an einen Tisch<br />

und fing an zu essen. Heute sollte ein Basketball-Turnier stattfinden. Dave<br />

wollte ein bisschen zuschauen.<br />

Als er einen Schritt vor die Türe machte, kam ihm schon Max entgegen. Er<br />

wusste, was das bedeutete, denn Dave hatte Max gestern ein Bein gestellt.<br />

Dave rannte und rannte, doch Max trabte nur hinter ihm her. Einen Moment<br />

nicht auf gepasst, und schon – WUSCH! – rannte Dave auch schon<br />

gegen die Kellertür. Dave öffnete die Kellertür langsam und sie fing an zu<br />

knarren. Er erschrak, doch das sollte ihn nicht hindern.


62 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Er schnappte nach Luft und ging ganz, ganz langsam die Treppe runter, die<br />

Dielen waren morsch und knarrten bei jeder Bewegung. Er fühlte sich gleich<br />

nicht wohl, weil es hier stank und eiskalt war. Da kam er auch schon zu dem<br />

nor<strong>mal</strong>en Keller. Er ging weiter die Treppen runter. Unter diesen befanden<br />

sich zwei Gewölbekeller. In einem wurden Lebensmittel gelagert und im anderen<br />

befanden sich Sachen, die der Hausmeister zum Arbeiten im Waisenhaus<br />

brauchte. Putzmittel, Besen, Heckenscheren… und viele andere Werkzeuge.<br />

Das wusste er von Jack, er hatte ihm viel über seine Arbeit erzählt.<br />

Dave wollte auch <strong>mal</strong> Hausmeister werden, aber nicht im Waisenhaus, weil<br />

es ihn sonst immer wieder an die schlechten Zeiten erinnern würde.<br />

Er ging zu dem ersten Gewölbekeller. Er öffnete die Tür und stand im Vorratskeller.<br />

Hier war nichts Auffälliges zu sehen, außer leeren Apfelsaftflaschen<br />

und vielen Gemüsekisten war nichts mehr in diesem Raum. Er ging<br />

zur zweiten Tür und kam in ein wahres Werkzeug-Chaos. Auch hier war<br />

nichts Auffälliges zu sehen. Nur ein Werkzeug-Chaos und ein große Kiste,<br />

wo eine Plane drüber lag.<br />

Er wollte grade wieder hoch gehen, als es ihn plötzlich blendend interessierte,<br />

was unter der Plane war. Überall waren Werkzeuge auf dem Boden<br />

verstreut, aber das machte ihm nichts aus. Er warf ein Blick auf seine Taschenuhr<br />

– es war schon 11.00 Uhr. Heute gab es sein Lieblingsessen: Pfannkuchen.<br />

Mittagessen gab es immer um 12.00 Uhr, also hatte er noch eine<br />

Stunde Zeit.<br />

Er ging zur Plane und hob sie hoch... er erschrak, der Schweiß tropfte ihm<br />

vom Gesicht. Er fing an zu schreien, doch hier unten konnte ihn keiner hören.<br />

Plötzlich stand Jack hinter ihm. Dave musterte seine blauen Augen, es waren<br />

die selben wie seine eigenen. Auch das Haar lag gleich. Die Ähnlichkeit war<br />

verblüffend.<br />

Jack fragte: „Was machst du denn hier? Ich habe dir doch gesagt, du sollst<br />

hier nicht hin, komm, wir gehen nach oben…!“<br />

Katrin Epple: Kapitel 18 63<br />

Katrin Epple<br />

Kapitel 18<br />

„Hallo Dave, na, habe ich dich jetzt erschreckt?“, erklang plötzlich eine<br />

Stimme hinter ihm.<br />

Es war Jack. Dave wollte Jack fragen, was er da so geheimnisvoll in der Hand<br />

hinter seinem Rücken hatte, aber er hatte Angst. Zu seiner Überraschung<br />

sagte Jack zu ihm: „<strong>Der</strong> Teddy ist für dich“, und gab ihm den Teddy. „Du<br />

musst sehr gut auf ihn aufpassen, aber du darfst ihn niemandem zeigen oder<br />

sagen, dass du ihn hast. Denn du weißt ja, dass hier im Waisenhaus Kinder<br />

und Erwachsene getötet worden sind, und das war der Teddy hier. Denn<br />

sonst trifft dich die ganze Schuld, denn der Teddy gehört ja jetzt dir, weil ich<br />

ihn dir ja geschenkt habe,“ antwortete Jack streng.<br />

Erst verstand Dave nicht, was Jack da erzählte, denn wie sollte das denn gehen,<br />

dass ein Teddy Menschen tötet, fragte er sich einen kurzen Augenblick.<br />

Doch dann verstand er, was Jack ihm gerade gesagt hatte. Da unterbrach ihn<br />

Jack in seinen Gedanken und fragte ihn: „Hast du das verstanden, Dave, du<br />

darfst niemandem etwas von diesem Teddy erzählen.“<br />

„Ja, Jack, ich habe dich sehr wohl verstanden und ich verspreche dir, dass<br />

ich nichts erzähle oder den Teddy je<strong>mal</strong>s erwähnen werde“, sagte Dave mit<br />

ängstlicher Stimme.<br />

Darauf antwortete ihm Jack: „Das ist sehr gut, stell dir einfach vor, du besitzt<br />

den Teddy nicht, aber er soll dich beschützen!“<br />

Nach diesem Gespräch ging Jack weg und Dave stand ganz alleine mit dem<br />

Teddy in der Hand da. <strong>Der</strong> Teddy sah ganz schön unheimlich aus, so klein,<br />

verschrumpelt, kaputt – und ehrlich gesagt, Dave hätte ihm einen Mord zugetraut,<br />

aber er wusste ja, dass Teddys nicht morden können. Jetzt stellte sich<br />

nur noch eine Frage: Wo sollte er ihn aufbewahren, ohne dass ihn jemand<br />

fand und entdeckte und dann vielleicht die Polizei rief und Dave in Schwierigkeiten<br />

brachte? Oder Dave sich sogar selbst, wenn er ihn sah und es dann<br />

nicht aushielt, dass dies ein Mörderteddy war.


64 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Mist, da kamen Schritte, es war die Chefin, und was jetzt? Wohin sollte er<br />

mit dem Teddy in der Hand gehen, ohne dass sie ihn sah, und den Teddy<br />

auch nicht?<br />

Schnell, ich sollte mich beeilen, dachte Dave. Ich hab’s, dachte sich Dave,<br />

den Teddy erst in einen der Gewölbekeller, dann gehe ich hoch in mein Zimmer,<br />

und nachher, wenn alle schlafen, hole ich ihn und lege ihn in meinen<br />

Schrank, ganz nach hinten in die kleine Kiste die ich dort versteckt halte.<br />

Und niemand weiß, was sich darin befindet, dann wird auch hoffentlich keiner<br />

ahnen, dass sich darin Jacks Teddy befindet. Ja, das ist die Lösung!<br />

Vorsichtig legte Dave den Teddy hinter einer der Kisten ab und schlich sich<br />

dann leise und ein wenig ängstlich aus dem Keller, die Treppe hinauf in sein<br />

Zimmer, wo die anderen Kinder waren und spielten, ihn aber nicht beachteten.<br />

Er setzte sich auf sein Bett und grübelte. Andauernd stellte er sich die<br />

Frage: WARUM?? Was für einen Grund hatte der Teddy, Menschen zu töten,<br />

bzw. sein Besitzer? Moment <strong>mal</strong>, sein Besitzer? Aber das würde ja heißen,<br />

dass Jack der Mörder war und jetzt Dave die Schuld in die Schuhe schieben<br />

wollte, damit keiner auf ihn kam, weil er ihm ja „seinen Teddy“ geschenkt<br />

hatte und wusste, dass Dave sich nicht in Schwierigkeiten bringen wollte<br />

und so die ganze Sache für sich behalten würde!<br />

Das war gut geplant, aber was für einen Grund gab es, dass Jack so viele<br />

Menschen tötete? Das musste doch irgendeinen Grund haben, aber welchen?<br />

Und wie konnte Dave ihn herausfinden, ohne dass Jack ahnte, dass er<br />

ihn verdächtigte?<br />

Die anderen Kinder bekamen nichts davon mit, dass Dave sich Gedanken<br />

machte, denn er glaubte, sie planten gerade wieder etwas, wie sie ihm wieder<br />

einen Streich spielen konnten. Aber das ließ er sich ab sofort nicht mehr<br />

gefallen, denn durch die Geschichte mit dem Teddy hatte er wieder sehr viel<br />

Selbstvertrauen bekommen, und sie wussten nicht, woher das kam.<br />

Sie würden sich noch ganz schön wundern! Dave hoffte, dass sein Plan funktionierte,<br />

so wie er sich das auch vorstellte, und dass die Enttäuschung nachher<br />

nicht so groß war, wie er es sich vorgestellt hatte.<br />

Mittlerweile war es Nacht geworden, und es war die Zeit gekommen, in der<br />

Dave versuchen musste, den Teddy sicher in seinem Schrank zu verstecken.<br />

Ganz leise schlich er sich auf den Flur, um die Anderen nicht zu wecken,<br />

denn das wäre ganz schlecht gewesen. Und von Jack durfte Dave sich auch<br />

nicht erwischen lassen.<br />

Katrin Epple: Kapitel 18 65<br />

Dave war schon fast unten, als auf ein<strong>mal</strong> das Licht im Keller anging, und<br />

er konnte sich nicht erklären, wie das jetzt gegangen war, denn er hatte es<br />

ja extra nicht angemacht. Als Dave sich umdrehte, sah er erst einen großen<br />

Schatten, und dann erkannte er, wer dieser Schatten war: Es war Jack, der<br />

auf ihn gewartet hatte. Dave blieb wie versteinert stehen und sagte erst<strong>mal</strong><br />

nichts, um abzuwarten, was Jack jetzt mit ihm vorhatte.<br />

Doch er schien ganz freundlich, viel zu freundlich, seiner Meinung nach,<br />

denn eigentlich hätte er doch stocksauer auf ihn sein müssen, oder etwa<br />

nicht?! Eiskalt lief es Dave den Rücken hinunter, er bekam Gänsehaut und<br />

Schweißausbrüche, denn vielleicht war er ja jetzt das nächste Mordopfer,<br />

und vielleicht hatte Jack das bei den anderen Toten auch so gemacht wie<br />

jetzt. Aber das war ja nur eine Vermutung, und Dave hoffte, dass sich diese<br />

Vermutung nicht bestätigen würde, ein Mordopfer von Jack zu werden.<br />

Jack fragte, was Dave alleine im Keller machte.<br />

Dave antwortete ihm: „Du hast doch gesagt, dass ich den Teddy in ein Versteck<br />

bringen soll und dass ich ihn niemandem zeigen darf. Und an diese<br />

Anweisung habe ich mich gehalten. Und nun bin ich hier, um ihn zu holen<br />

und jetzt zu verstecken, denn vorher hätten es ja (fast) alle mitbekommen,<br />

und das wäre nicht sehr schlau gewesen, oder?“<br />

„Da hast du Recht, Dave“, hörte er Jack reden. „Dave, wo willst du denn den<br />

Teddy verstecken?“, fragte Jack mit einem finsteren Ton.<br />

„Das sage ich dir nicht, denn du hast gesagt, niemand darf wissen, wo er<br />

sich befindet. Also somit darfst du das auch nicht!“, gab Dave Jack ein wenig<br />

ängstlich zur Antwort.<br />

„Sei <strong>mal</strong> nicht so vorlaut, Dave, du weißt, ich könnte dich ja auch bei der Polizei<br />

verraten, nicht nur du dich selbst. Denk daran!“, schrie Jack Dave an!<br />

Dave bekam Angst vor Jack, und so beschloss Dave, den Keller ohne den<br />

Teddy zu verlassen und ihn morgen sicher zu verstecken. Denn jetzt hatte<br />

Dave zu große Angst vor Jack, und er würde Jack auch zutrauen, das er ihm<br />

auflauerte, um zu erfahren, wo sich der Teddy nun befand. Und das wollte<br />

er auf keinen Fall riskieren, auch nicht, dass Jack ihn bei der Polizei verriet,<br />

denn dann würde Dave ihn auch verraten können, aber das brachte ihn<br />

nicht weiter, denn er hatte keine Beweise, sondern nur Vermutungen!!<br />

Es wurde nun Zeit ins Bett zu gehen und diesen Tag und diese Gedanken für<br />

heute zu beenden, dachte Dave und schlief ein. Plötzlich wachte Dave mitten<br />

in der Nacht auf, wegen eines schrecklichen Albtraums. Er hatte geträumt,


66 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

dass ihn Jack bei der Polizei verraten hatte, die ihn nun verhaftete, weil Jack<br />

der Polizei die ganze Geschichte erzählt hatte und sich selbst nicht erwähnt<br />

hatte, sondern er hatte Dave die alleinige Schuld zugeschoben. Dave hörte<br />

die Sirenen der Polizeiautos.<br />

Dann wachte Dave auf, denn seine Zimmertür ging auf und ein Lichtstrahl<br />

kam herein. Es war Jack, der nach Dave schauen wollte, denn dieser redete<br />

und Jack hörte dies und wollte wissen, was mit ihm los war. Jack hatte gehört,<br />

was Dave für Laute von sich gab. Er hatte seine Hand auf Daves Schulter<br />

gelegt und versucht, ihn aufzuwecken. Es hatte funktioniert. Allerdings<br />

erschrak Dave und schreckte hoch und schlug um sich. Jack versuchte, ihn<br />

zu beruhigen, und dies gelang ihm auch, denn sie mussten auf die anderen<br />

Kinder aufpassen, dass sie nichts mitbekamen. Denn Dave hatte ja über die<br />

Geschichte mit dem Teddy gesprochen. Als Dave wieder zu sich gekommen<br />

war, war er sehr erleichtert, dass dieser Albtraum nun vorbei war, er nicht<br />

von der Polizei festgenommen und von Jack verraten worden war.<br />

Jack verließ das Zimmer, ohne einen Ton von sich zu geben. Dave legte sich<br />

wieder nieder und schlief augenblicklich ein. Am nächsten Morgen konnte<br />

er sich schon nicht mehr an diesen Traum erinnern, als Jack ihn darauf ansprach.<br />

Das gefiel Jack natürlich, denn so konnte er sicher sein, dass Dave niemandem<br />

von dem Teddy erzählen würde. Für diesen Tag ließ Jack Dave in Ruhe,<br />

und er kümmerte sich auch nicht weiter um den Teddy.<br />

Daniel Falder: Kapitel 19 67<br />

Daniel Falder<br />

Kapitel 19<br />

Dave hielt den Teddy fest in der Hand. In seinem Kopf hörte er immer wieder<br />

Jacks Worte. Mit dem Gedanken, dass der Teddy den Mord begangen<br />

haben sollte, schaute er ihm in sein wolliges, unschuldiges Knopfaugen-<br />

Gesicht und versuchte, Jack zu glauben.<br />

Noch nie hatte er in seinem ganzen Leben irgendwo gehört, gesehen oder gelesen,<br />

dass Teddys Morde begingen. Er konnte ihm einfach nicht glauben.<br />

Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Jack war es, der Dreck am Stecken<br />

hatte. Wieso sollte er ihm sonst so ein Märchen von mordenden Teddys auf<br />

die Nase binden?<br />

Jack war es, der den Mord begangen hatte! Er musste nachts zu ihm gekommen<br />

sein, um sich den Teddy zu nehmen und sich wieder raus geschlichen<br />

haben. Dann sollte alles so aussehen, als ob der Teddy den Mord begangen<br />

hätte. <strong>Der</strong> Teddy sollte sich nachts rausschleichen, die Betreuerin ermorden,<br />

und wenn Dave die Leiche fand, hätte Jack ihm den Teddy zurückgegeben.<br />

<strong>Der</strong> ganze Mord war geplant!<br />

Dave hatte große Angst. Was sollte er tun? Wie konnte er sich schützen?<br />

Wenn Jack so nahe an ihn herankommen konnte, um sich den Teddy wegzunehmen,<br />

konnte er ihm auch gefährlich werden. Aber warum tat er ihm<br />

nichts? Ihm stellten sich tausende von Fragen. Warum? ... Warum war er<br />

so nett zu ihm? … Warum tat er ihm nichts? … Warum mordete er? …<br />

Warum?<br />

Dave fühlte sich hintergangen und war enttäuscht, als er einsehen musste,<br />

von Jack belogen zu werden. Er konnte zwar nie jemandem vertrauen, aber<br />

er hatte fast das Gefühl gehabt, dass er in Jack eine Person gefunden hatte,<br />

der man vertrauen, oder die man als Freund bezeichnen konnte. Diese Person<br />

hatte er nun wahrscheinlich verloren.<br />

Um sich von dem Geschehenen abzulenken, wollte er sich etwas zu Trinken<br />

holen. Völlig in Gedanken versunken, lief er den Flur entlang und bemerkte<br />

die kommende Gefahr zu spät.


68 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Die anderen Kinder spielten ihm <strong>mal</strong> wieder einen Streich. Sie spannten einen<br />

Draht vor die Treppe. Mitten im Gegröle der anderen Kinder, stürzte er<br />

die Treppe hinunter. Im Flug merkte Dave erst, wie viele Stufen die Treppe<br />

überhaupt hatte, und er hoffte, dass der Flug bald ein Ende haben würde.<br />

Er hörte die anderen Kinder laut lachen und schreien. Schmerz durchdrang<br />

seinen Körper wie ein Pfeil. Es war aber nicht nur der Schmerz, sondern<br />

auch das Gefühl, nichts zu bedeuten. Immer war er das Opfer. Dave wusste<br />

nicht ein<strong>mal</strong>, warum. Er machte doch genau das, was andere auch machen,<br />

er machte doch nie etwas falsch.<br />

Die anderen Kinder standen in einem Kreis um ihn herum und starrten ihn<br />

an. Einer von ihnen bespuckte ihn sogar. Keiner hielt es für nötig, ihm eine<br />

Hand entgegen zu strecken oder ihn zu fragen, ob alles klar sei.<br />

Als er versuchte aufzustehen, wurde Dave wieder auf den Boden geschubst.<br />

Wieder landete er auf dem dick angeschwollenen Knie.<br />

Gerade wollte er einen schmerzdurchströmten Schrei von sich geben, da<br />

stand Jack wie ein Schrank hinter ihm und übernahm die Rolle, die eigentlich<br />

einem von den Betreuern zustand. Da die sich aber <strong>mal</strong> wieder zu bequem<br />

waren, nach den Kindern zu schauen, fragte Jack, was hier passiert<br />

sei.<br />

Die anderen Kinder halfen Dave sofort wie Unschuldsengel beim Aufstehen<br />

und sagten, er sei über seine eigenen Beine gestolpert. Jack spürte, dass sie<br />

logen. Er schaute Dave tief in seine verheulten Augen, sah die Unschuld und<br />

die Tränen.<br />

Außerdem sah Jack noch das Misstrauen, das Dave ihm gegenüber zeigte.<br />

Als Dave endlich wieder auf beiden Beinen stand und auf dem Weg zur Küche<br />

war, spürte er die Blicke der Anderen.<br />

Nachdem er endlich sein Glas Wasser in der Hand hielt, merkte er, wie Jack<br />

ständig zu ihm rüber schaute, während er den Boden putzte. Es sah so aus,<br />

als ob Jack sich um ihn sorgte. Während Dave ein wenig über die Sache von<br />

vorhin nachdachte, merkte er, wie das Vertrauen zu Jack wieder wuchs.<br />

Er fühlte sich, als hätte er noch einen großen Bruder, der sich um ihn kümmerte,<br />

der ihm Schutz bieten konnte, der für ihn da war, wenn man Hilfe<br />

brauchte.<br />

Dave überlegte sich, ob er sich bei Jack bedanken sollte, für das, was er vorher<br />

für ihn getan hatte. Wie ein Messerstich bohrte sich aber die Erinnerung<br />

an den Mord wieder durch seinen Körper.<br />

Saskia Neun: Kapitel 20 69<br />

Saskia Neun<br />

Kapitel 20<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Tot. Endlich! – Er war tot. Hatte ich das geträumt oder war dies wirklich<br />

wahr?! War ich jetzt von der Quälerei erlöst?<br />

Ich holte meinen Teddy aus dem Versteck und hielt ihn erst<strong>mal</strong> einfach nur in<br />

meinen Armen fest und war dankbar, dass er da war und mir einfach nur zuhörte.<br />

Denn die Bilder, die ich sah und die Geräusche, die ich hörte, nämlich<br />

das Tropfen der Überdosis Schlafmittel, das ich langsam ins Milchglas tropfen<br />

ließ, das Mr. Anderson jeden Abend trank, kamen und gingen. Es war nicht<br />

sehr angenehm, denn jeder Tropfen führte zum sicheren Tod meines bösen<br />

Betreuers Mr. Anderson. Das alles machte mich verrückt, die ganze Situation,<br />

denn ich hatte einen Menschen getötet, auch wenn er böse gewesen war und<br />

es verdient hatte.<br />

Ich war ganz in meiner eigenen Welt, in einer, wo nur ich und mein Teddy<br />

lebten. Doch plötzlich hörte ich ein Lachen aus der Richtung der Tür. Das Lachen<br />

riss mich aus meinen Gedanken! Ich blickte dorthin und sah vier Jungs,<br />

die bei mir auf der Etage wohnten. Wir konnten uns gegenseitig nicht leiden,<br />

und das bekam ich von ihrer Seite auch zu spüren. Sie sahen mich mit meinem<br />

Teddy da sitzen, den ich fest umschlungen in meinen Armen hielt. Ich spürte,<br />

wie ich rot anlief, weil ich etwas in meinen Armen hielt, das nicht meinem<br />

Alter gerecht war. Ich hatte durch ihr Lachen wirklich das Gefühl, dass ich<br />

noch ein Kleinkind war, doch ich wusste, dass es nicht stimmte, denn es war<br />

nur die Einsamkeit, die mich zum Kleinkind machte. Alles, was ich wollte,<br />

war eine Familie oder Freunde, doch davon konnte ich nur träumen. Ich hatte<br />

ja niemanden, mit dem ich sprechen konnte, wie die anderen Kinder, denn zu<br />

denen fühlte ich mich nicht hingezogen, weil sie mich nicht so akzeptierten,<br />

wie ich war.<br />

Meine Vertrauensperson war der Teddy. Schnell versuchte ich, ihn hinter mir<br />

verschwinden zu lassen, doch dies brachte nichts, denn sie hatten meinen


70 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Teddy schon alle gesehen. Sie machten sich lustig über mich. Sie zeigten mit<br />

den Fingern auf mich und schrieen: ,,Baby, Baby, Baby!“ Dann rannten sie<br />

lachend davon.<br />

In der Nacht plagten mich die Vorstellungen, wie sie mich morgen verspotten<br />

würden, und dies führte zu einer schlaflosen Nacht.<br />

Am nächsten Morgen, als wir im Klassenzimmer saßen, ging das Getuschel<br />

los. Die vier Jungs flüsterten den anderen zu, dass ich noch einen Teddy besaß.<br />

Ein lautes Gekicher und Gelächter erfüllte das Klassenzimmer. Da hatten alle<br />

wieder einen neuen Grund mich zu ärgern, und das nutzten sie aus. Es wurde<br />

Tag für Tag schlimmer, denn die Betreuer kümmerte es eigentlich nicht, sie reagierten<br />

nicht und ließen uns das selbst klären, da sie der Ansicht waren, dass<br />

wir schon groß genug wären, diesen kleinen Konflikt selbst unter einander zu<br />

lösen. Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen.<br />

An einem Abend lag ich traurig und auch verzweifelt im Bett und wusste keinen<br />

Ausweg.<br />

Ich dachte nach, was ich als nächstes tun sollte, denn langsam konnte ich<br />

dieses Leben nicht weiter ertragen. Zum ersten Mal kam mir ein neuer Gedanke,<br />

der Gedanke zu fliehen.<br />

Ich wusste, dass ich kein Kind mehr war und dass ich es schaffen würde, mich<br />

selbst zu versorgen und auf mich acht zu geben, denn hier wollte ich auf keinen<br />

Fall mehr bleiben. Ich wollte an einem Ort sein, wo ich gemocht und vielleicht<br />

auch geliebt werden würde, in einer Familie, in der ich mich geborgen fühlte.<br />

Am nächsten Tag griff Mr. Johnson endlich ein. Er fragte mich nach dem<br />

Grund des Konfliktes.<br />

Ich sagte ihm, dass die Jungs mich hänselten und sich lustig über mich machten,<br />

weil ich einen Teddy hatte. Würde er mich verstehen oder nicht? Natürlich<br />

verstand er mich nicht. Die Jungs und Mr. Johnson fingen an zu lachen.<br />

Dann wurde Mr. Johnson ernst und meinte: „Du bist jetzt schon 15 Jahre alt.<br />

Da brauchst du doch keinen Teddy mehr. Du kannst nicht mehr träumen,<br />

du musst das reale Leben sehen. Bring sofort deinen Teddy, ich werde ihn in<br />

meinem Büro aufbewahren!“<br />

Doch ich brauchte ihn gar nicht zu holen, denn die Jungs hatten ihn schon<br />

dabei. Sie hatten wahrscheinlich gesehen, wie ich meinen Teddy unter der<br />

Bettdecke versteckt hatte. Ich wollte nach ihm greifen, doch er war schon in<br />

den Händen von Mr. Johnson.<br />

Saskia Neun: Kapitel 20 71<br />

„Wenn du dein Zuhause hier ein<strong>mal</strong> verlassen wirst und dein eigenes Leben<br />

in die Hand nimmst, werde ich ihn dir sehr gerne wieder geben“, sagte Mr.<br />

Johnson.<br />

Diese Aussage versetze mich in einen Zustand tiefster Traurigkeit, denn ich<br />

dachte jede Sekunde an meinen Teddy, da ich die letzten paar Tage mit ihm<br />

alle meine Probleme besprochen hatte. Er fehlte mir. Er fehlte mir sogar sehr.<br />

Er war wie ein Bruder, eine Bezugsperson für mich geworden.<br />

Ich fühlte mich gedemütigt, hintergangen und alleine. Ganz alleine. Ohne einen<br />

Menschen. Ich rannte tränenüberströmt auf mein Zimmer. Jetzt war es<br />

sicher, ich würde abhauen, und zwar noch heute Nacht. Daran konnte mich<br />

keiner mehr hindern.<br />

Schon früh legte ich mich ins Bett, schmiedete den Fluchtplan und zeichnete<br />

ihn mir genau auf. Es war schwieriger, als ich gedacht hatte, denn ich wollte<br />

sicher gehen, dass mich keiner mehr aufspüren würde. Am Ende der langen<br />

Arbeit hatte ich meinen Fluchtplan genau festgelegt. Die ganzen Planungen<br />

waren sehr anstrengend, aber würden hoffentlich erfolgreich sein.<br />

Heute Nacht war es soweit. Heute würde ich abhauen. Das alte schreckliche<br />

Leben hätte dann endlich ein Ende. Die Flucht stand bevor. Ich spürte keine<br />

Müdigkeit, obwohl ich keinen Schlaf hatte. Doch eins wollte ich noch tun.<br />

Ich wollte meinen Teddy holen. Er war das Einzige, was ich hatte. Ich schlich<br />

mich, nur mit dem Nötigsten bepackt, langsam und leise aus meinen Zimmer<br />

in das Erdgeschoss, wo das Büro von Mr. Johnson war. Ich wusste, dass es<br />

einen Ersatzschlüssel hinter dem Heizkörper gab, da ich vor wenigen Tagen<br />

ein Gespräch zwischen dem Hausmeister und einem Betreuer verfolgt hatte,<br />

in dem es um den Schlüssel ging. Mit dem Schlüssel öffnete ich die Tür leise.<br />

<strong>Der</strong> Teddy saß lachend und vergnügt auf dem Schreibtisch, als er mich sah.<br />

Ich nahm ihn in meinen Arm, öffnete schnell das Fenster, sprang in den Hof<br />

und verschwand in der Dunkelheit.


72 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Lauren Rombach<br />

Kapitel 21<br />

Jack war gerade dabei, ein dreckiges Rohr vom Abwasser zu befreien, als<br />

die raue und eher männliche Stimme der Waisenhauschefin durch das ganze<br />

Haus ertönte (es war drei Stockwerke hoch und eher eins von der alten<br />

Sorte). Wie schon so oft rief sie Jack, denn sie hatte immer irgend etwas<br />

auszusetzen. Das lag aber nur daran, dass Jack meistens die Arbeiten nicht<br />

gründlich oder sogar nur halb fertig machte.<br />

„Mister Jack Hausmeister, sofort in mein Büro!“<br />

Natürlich machte Jack dies dann auch und lief vom Badezimmer im ersten<br />

Stock in das gegenüberliegende große Büro der Chefin.<br />

„Ja, Mrs. Garison?”, fragte Jack mit einem missmutigen Unterton. Er schaute<br />

grimmig, aber auch ein wenig ängstlich in ihr dickes und mit Haaren überwuchertes<br />

Gesicht. Die hat sich bestimmt lange nicht mehr die Augenbrauen<br />

gezupft, dachte Jack grimmig. Und diese Hornbrille. Plötzlich schreckte<br />

er von seinen Tagträumen auf.<br />

„Mister Jack Hausmeister, Sie werden gefeuert, wenn das so weiter geht, ich<br />

dulde das nicht mehr lange!”, schrie Mrs. Garison wieder ein<strong>mal</strong> durchs<br />

ganze Haus.<br />

„Was habe ich denn schon wieder angestellt?”, fragte Jack in einem sanften,<br />

aber auch ärgerlichen Ton.<br />

„Das werde ich Ihnen schon zeigen, Sie Nichtskönner. Sie können nicht <strong>mal</strong><br />

einen Stuhl reparieren. Und schauen Sie sich dieses Rohr im Badezimmer<br />

an. Widerlich!” Mit diesen Worten verzog sie das Gesicht. „Und schauen Sie<br />

hier…” Sie zeigte auf ein Regal, eines der vielen in ihrem Büro. „Hier, dieses<br />

Regal, das ist doch nicht repariert.“<br />

Jack wandte sich in Gedanken dem Regal zu. Es sah eigentlich gar nicht<br />

schlecht aus. Alles war repariert, es war stabil, jedoch leicht schräg.<br />

<strong>Der</strong> Inhalt war schlimmer als das Regal selbst, denn darin stapelten sich<br />

ziemlich hässliche Puppen und Figuren, die aussahen, als hätten sie gerade<br />

so den 1. Weltkrieg überlebt. Die meisten davon hatten schottische Rö-<br />

Lauren Rombach: Kapitel 21 73<br />

cke und Umhänge an. Eine zum Beispiel hatte weit abstehende Haare, war<br />

leicht verbrannt, schaute jedoch immer noch vergnügt drein. Sie hatte, wie<br />

einige ihrer Sorte, nur dunkelrote Stofffetzen von Kartoffelsäcken an und<br />

war nicht gerade nor<strong>mal</strong> portioniert, also eher dick. Jack runzelte die Stirn,<br />

wandte sich aber wieder Mrs. Garison zu.<br />

„Nennen Sie das repariert, Mister Jack Hausmeister? Ja? Nennen Sie das R-<br />

E-P-A-R-I-E-R-T? Nein, ich denke nicht, oder?”<br />

Nun war Mrs. Garison auf 180.<br />

„Entschuldigen Sie, Mrs. Garison, es wird nicht mehr vorkommen…!”<br />

Denn mein Plan ist schon bald zu Ende, fügte Jack in seinen gruseligen<br />

Gedanken hinzu. „Nichts, entschuldigen Sie Mrs. Garison. Nichts, es wird<br />

nicht mehr vorkommen. Denken Sie, damit kommen Sie bei mir durch?<br />

Nein, dies<strong>mal</strong> nicht. Sie sollen richtig arbeiten, wie ein HAUSMEISTER.<br />

Haben Sie das langsam <strong>mal</strong> verstanden, Sie Nichtskönner? Am Anfang hat<br />

es doch auch geklappt, jetzt lerne ich Sie von ihrer richtigen Seite kennen,<br />

nicht wahr?”, kreischte sie jetzt noch aufgebrachter.<br />

Sie setzte sich auf ihren Stuhl, denn für sie war das alles sehr anstrengend.<br />

Sie war ja nicht eine von der nor<strong>mal</strong>en Breite. Im Gegensatz zu ihr sah der<br />

eigentlich durchtrainierte und gut gebaute Jack nicht gerade vielsagend aus.<br />

Nun stand Jack wie ein Häufchen Elend da, er hatte sich schon oft bei Mrs.<br />

Garison durchgesetzt, doch heute konnte er nichts mehr sagen. Er war ihr<br />

ausgeliefert, in Zukunft musste er wirklich alles so machen, wie sie es wollte,<br />

denn sonst könnte er die armen kleinen Kinder nicht vor diesem Waisenhausleben<br />

retten, und das war ja sein Plan.<br />

„Mrs. Garison, in Zukunft werde ich es besser machen, aber hören Sie auf,<br />

mich die ganze Zeit Nichtskönner zu nennen, klar?”, murmelte Jack leise vor<br />

sich hin. Er ging ein Schritt näher an die Tür des Büros, um gleich wegzulaufen,<br />

wenn das Gespräch vorbei war.<br />

„Wie bitte, ich soll Sie nicht mehr Nichtskönner nennen? Was denken Sie<br />

denn, wer Sie sind… äh… ja, gehen Sie jetzt und arbeiten Sie <strong>mal</strong> vernünftig!”,<br />

keuchte Mrs. Garison von ihrem Stuhl zu Jack.<br />

Er schaute grinsend in ihr überdimensionales Gesicht.<br />

„Tschüss, Mrs. Garison, und übrigens: Ich habe jetzt Feierabend, und den<br />

habe ich auch verdient, denn den können Sie mir ja wohl doch nicht nehmen,<br />

oder?“, schrie er und lief ins Bad.


74 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Mrs. Garison kam nicht hinterher, Jack hatte wieder ein<strong>mal</strong> gewonnen, auch<br />

wenn er es vor ein paar Minuten noch nicht geglaubt hätte. Vom Garten, der<br />

hinter dem Büro lag, hörte er das Gekreische der Chefin, als sie gerade dabei<br />

war, die Kinder anzuschnauzen.<br />

Jack arbeitete weiter an dem dreckigen Rohr, diese Arbeit verabscheute er,<br />

sie war das Schlimmste an dem ganzen Hausmeisterjob.<br />

„Hoffentlich hat das alles bald ein Ende”, dachte Jack vor sich hin.<br />

Während des Streites war Dave in seinem Zimmer im zweiten Stock und lag<br />

traurig in seinem Bett. Vom Flur hörte er lautes Lachen der anderen Jungs.<br />

Sie hatten den Streit zwischen Jack und der Chefin mitgehört und lachten<br />

nun ihr schrilles Lachen, das Dave verabscheute.<br />

„Haha, Nichtskönner, er ist ein Nichtskönner!”, schrieen Lucas und Tom.<br />

„Haha, habt ihr das gehört, er ist ein Nichtskönner!“<br />

Sie rannten durch das ganze Haus und verstreuten ihre Nachricht darin,<br />

und spätestens jetzt hatte es jeder gehört.<br />

„Er hat hier alles repariert, er ist kein Nichtskönner!”, dachte Dave besorgt<br />

vor sich hin.<br />

Er wollte einschlafen, doch mit dem lauten Gebrüll von draußen war nicht<br />

an Schlaf zu denken. Als er jedoch so müde war und seine Augen fast zuklappten,<br />

nahm er seinen geliebten Teddy und schlief ein.<br />

An diesem Abend saß Jack vor dem einzigen Fernseher im Haus und genoss<br />

seinen Feierabend. Nebenher schaute er sich ein Fußballspiel von FC Chelsea<br />

gegen Madrid an. Er war in Gedanken bei dem Streit vom Mittag. Jack<br />

hatte wirklich gefürchtet, dass er seinen geliebten Feierabend verlieren würde,<br />

doch das war nun Schnee von gestern. Darüber war er stolz. In seinen<br />

Gedanken vertieft, schlief er, wie fast alle in diesem Haus, ein.<br />

Mareike Lang: Kapitel 22 75<br />

Mareike Lang<br />

Kapitel 22<br />

Als Dave in dieser Nacht wegen einem Albtraum aufwachte, war sein Teddy<br />

wieder verschwunden.<br />

„Wo ist nur mein geliebter Teddy?“, dachte er ängstlich, dann hörte er<br />

schreckliche Geräusche und Schreie. Von wo kamen diese furchteinflößenden<br />

Geräusche bloß her? Dave zog ängstlich seine Hausschuhe an und<br />

ging vorsichtig zur Tür, die er auf machen wollte, um zu schauen, was das<br />

für Geräusche waren. Aber irgendwie wollte die Tür nicht aufgehen, sie war<br />

verschlossen.<br />

Dave hörte plötzlich nebenan ein Mädchen stottern: „Es pass– ieren schreck–<br />

schreckliche Di– dinge!“<br />

Dave rief: „Was für Dinge, hallo, hörst du mich?“<br />

Das Mädchen antwortete nicht mehr, und auf ein<strong>mal</strong> war es ganz still. Ihm<br />

lief es eiskalt den Rücken hinunter, man hörte nichts mehr, kein Schreien,<br />

keine schrecklichen Geräusche, nichts. Er dachte noch <strong>mal</strong> an das Mädchen,<br />

das vorhin gerufen hatte, es war wahrscheinlich Marie gewesen, die ihr<br />

Zimmer neben Dave hatte.<br />

„Doch wo war bloß der Teddy?“, dachte Dave.<br />

Er suchte wirklich überall, unter seinem Bett, in seinem Schrank, in Toms<br />

Schrank, in seiner Tasche unter seiner Bettdecke, fand ihn aber dann doch<br />

nicht. Als er dann wieder in sein Bett gehen wollte, um ein wenig zu schlafen,<br />

zog er seine Hausschuhe so heftig aus, dass einer mit voller Geschwindigkeit<br />

an die Wand knallte. Da passierte es: Ein Stück der Tapete löste sich ab<br />

und dahinter kam ein Geheimgang hervor, der nicht größer als eine Schuhschachtel<br />

war. Er tastete ihn ab und fand dabei einen Zettel. Dave holte ihn<br />

raus und faltete ihn auf. Es war ein Bild, wahrscheinlich von einem Jungen<br />

der Jack hieß, da der Name an einer Ecke des Bildes stand. Auf dem Bild<br />

konnte man einen Jungen, ein verbranntes Haus und einen Teddy erkennen.<br />

<strong>Der</strong> Teddy sah genau so aus wie Daves Teddy.


76 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Dave legte das Bild weg und tastete den Geheimgang weiter ab, als er plötzlich<br />

etwas Weiches anfasste. Er holte es heraus und sah, dass es sein geliebter<br />

TEDDY war. Als er den Teddy gerade umarmen wollte, hörte er die Stimme<br />

von Jack: „Schnell, ruft den Arzt, ich habe Tom gefunden, er ist tot, glaube<br />

ich. Schnell, schnell, beeilt euch!“<br />

Da schaute sich Dave um und bemerkte, dass das Bett von Tom leer war. Nur<br />

Lucas lag noch in seinem Bett und schnarchte vor sich hin. Da rief Dave so<br />

laut nach Hilfe, dass Lucas endlich aufwachte.<br />

Dave sagte: „Tom ist nicht mehr im Zimmer und die Tür ist verschlossen.“<br />

Lucas antwortete: „Jetzt beruhige dich doch erst <strong>mal</strong>, das hast du bestimmt<br />

nur geträumt.“<br />

„Nein, das habe ich nicht, ich habe Jack rufen hören, dass Tom tot sein soll,<br />

das habe ich bestimmt nicht geträumt!“<br />

Lucas ging zur Tür und öffnete sie.<br />

„Schau, sie ist nicht verschlossen. Komm, gehen wir Tom suchen, der ist<br />

bestimmt nur in der Küche und frisst sich voll.“<br />

Lucas und Dave liefen auf den Gang hinaus und gingen zur Küche.<br />

„Und wo soll er hier sein, hier ist keine Menschenseele“, sagte Dave.<br />

Lucas sagte darauf: „Ja, dann suchen wir halt wo anders.“<br />

Sie waren gerade auf dem Weg zum Klo, als sie Blutspuren entdeckten.<br />

Lucas sagte: „Komm, wir laufen den Blutspuren hinterher.“<br />

„Nein lieber nicht“, sprach Dave, „das ist viel zu gefährlich.“<br />

„Es wird schon nichts passieren“, rief Lucas und rannte hinter den Blutspuren<br />

her. „Komm – oder hast du Angst?“<br />

Lucas verschwand gerade um die Ecke, als Dave rief: „Warte, ich komm ja<br />

schon!“<br />

Dave rannte Lucas und den Blutspuren hinterher. Da Dave Lucas nicht mehr<br />

sah, folgte er jetzt nur noch den Blutspuren.<br />

„Lucas“, rief er, „Lucas, wo bist du?“<br />

Doch er antwortete nicht. Dave wurde immer langsamer und langsamer, bis<br />

er ganz stehen blieb.<br />

Er überlegte: „Was ist, wenn Lucas entführt wurde, dann bin ich jetzt ja ganz<br />

allein, ich habe Angst, ich schwitze ja.“<br />

Dave lief der Schweiß wie ein Wasserfall übers Gesicht, dazu hatte er auch<br />

noch Gänsehaut, ihm war kalt, eiskalt. Doch Dave lief einfach weiter und<br />

weiter, an den Blutspuren entlang, bis er jemanden rufen hörte: „Dave, wo<br />

bist du denn?“<br />

Mareike Lang: Kapitel 22 77<br />

Dave rief ängstlich: „Wer ist da und wo bist du?“<br />

„Ich bin es, Lucas, ich bin in unserem Zimmer, ich habe Angst bekommen<br />

und dachte, du bist bestimmt wieder in unser Zimmer gegangen“, rief Lucas.<br />

Dave wollte zurück in sein Zimmer rennen, als er auf ein<strong>mal</strong> vor sich Tom<br />

sah. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht.<br />

„Jemand muss ihn umgebracht haben und dann schnell weg gelaufen sein,<br />

deswegen wahrscheinlich die Blutspuren“, dachte sich Dave.


78 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Sajaed Iqbal<br />

Kapitel 23<br />

Dave stand vor der Leiche. Er berührte aus Versehen die Hand der Leiche<br />

und bekam solche Angst, dass er anfing zu weinen. Er musste weinen, nicht<br />

weil er traurig war, sondern weil er Angst hatte. Was sollte er tun? Eine<br />

Leiche lag vor ihm und er stand davor.<br />

<strong>Der</strong> Verdacht konnte auf ihn gelenkt werden. Sollte er es jemandem sagen<br />

oder einfach wegrennen? Er wusste es nicht. Schließlich rannte er einfach<br />

weg, ohne zu wissen, wohin er rannte. Dann kam er in ein Zimmer, das sehr<br />

dunkel war. Er lief ins Zimmer hinein und trat in eine Pfütze. Er konnte<br />

nicht erkennen, was es war. Dave tastete die Wand nach einem Lichtschalter<br />

ab. Als er ihn fand, machte er das Licht an. Er erstarrte, ihm lief es eiskalt<br />

den Rücken hinunter. Er konnte es nicht fassen: Er stand in einer Pfütze aus<br />

Blut. Eine Leiche lag auf einem Tisch und aus ihrem Kopf tropfte Blut. Es<br />

bildete sich eine Pfütze, in der Dave nun stand. Seine Augen wurden groß,<br />

er bekam Gänsehaut und er konnte sich kein Stück bewegen. Er stand nur da<br />

und schaute umher. Schließlich versuchte er, einen Schritt zu machen und es<br />

klappte sehr mühsam, denn seine Schuhe waren so schwer geworden, dass er<br />

nicht mehr richtig laufen konnte.<br />

Dann, als er ein paar Schritte gemacht hatte, versuchte er die Leiche zu erkennen.<br />

Es war ein Betreuer, der Dave auch immer vernachlässigt hatte, aber<br />

trotzdem musste er wieder weinen. Dave setzte sich in eine Ecke des Raums<br />

und sah die ganze Zeit die Leiche an und weinte, so sehr, dass seine Tränen<br />

auf das Blut tropften und sich mit dem Blut vermischten.<br />

Er zog seine Schuhe aus, denn wenn er mit den Schuhen umherlief, dann<br />

lenkte er nur den Verdacht auf sich. Plötzlich hörte er etwas herunter fallen.<br />

Es war ein Gegenstand neben der Leiche, der ihn in Panik versetzte.<br />

Er konnte nicht mehr richtig atmen und atmete so heftig, dass ihm die Luft<br />

weg blieb. Aber trotzdem rannte er wieder los. Er wollte einfach nur weg,<br />

er rannte und rannte, bis er wieder in ein dunkles Zimmer kam. Er machte<br />

das Licht an und sah wieder nur Leichen. Dave rannte wieder weg, er wusste<br />

Sajaed Iqbal: Kapitel 23 79<br />

nicht, wohin. Er wusste nicht, was er nun machen sollte, er rannte einfach<br />

nur und sah überall nur Leichen, nur Tote.<br />

Er rannte immer noch, und plötzlich blieb er vor einer Tür stehen, die verschlossen<br />

war. Er konnte Schreie hören und eine Stimme, die ihm sehr bekannt<br />

erschien. Es war Jack, ja, das war er.<br />

Dave schaute durch das Türloch und erkannte eine Person, die auf dem Boden<br />

um ihr Leben flehte. Es war ein Betreuer, und vor dem Betreuer stand<br />

Jack mit einem blutigem Messer in der Hand. Dave konnte nicht hinschauen.<br />

Er traute sich einfach nicht – und da war es geschehen. Dave hörte drei<br />

laute Schreie von dem Betreuer. Er wusste nicht, wo er sich verstecken sollte,<br />

denn wenn ihn Jack sehen würde, würde er ihn auch umbringen. Und da<br />

sah er eine große Blumenvase, hinter der er sich versteckte. Jack kam aus<br />

dem Zimmer. Dave konnte erkennen, dass Jack viele Blutspritzer an seinen<br />

Kleidern hatte. Und dass seine Hände voller Blut waren.<br />

Jack lief in Daves Richtung, ganz genau auf ihn zu. Er musste jetzt seinen<br />

Atem anhalten, denn von dem vielem Rennen war Dave aus der Puste, aber<br />

jetzt ging es um Leben oder Tod und er hielt seine Luft an. Jack stand immer<br />

noch vor ihm. Dave konnte nicht mehr. Er musste jetzt einfach atmen, sonst<br />

würde er noch ersticken. Und da, in der letzten Sekunde, rannte Jack weg<br />

und Dave atmete heftig auf und hustete ein paar<strong>mal</strong>.<br />

Er kam vorsichtig hinter der Vase hervor und schlich sich in das Zimmer,<br />

in dem Jack gerade war. Alles war zerwühlt, ein zerschlagener Spiegel stand<br />

vor ihm, auf dem Blut zu erkennen war. Er suchte schließlich nach der Leiche,<br />

aber sie war nicht zu finden. Dave konnte es nicht verstehen. Wohin<br />

konnte die Leiche verschwunden sein? Er schaute unter dem Tisch nach,<br />

aber da war sie auch nicht. Er musste die Leiche finden, denn der Betreuer,<br />

der gerade getötet worden war, hatte ihm <strong>mal</strong> sein Geld weggenommen, und<br />

das wollte er wieder haben.<br />

Dave suchte immer noch, aber dann schaute er zu einem Schrank hinüber<br />

und sah, dass aus dem Schrank Blut floss. Er machte den Schrank auf und<br />

die Leiche fiel genau auf ihn. Er schrie laut auf, und gleich darauf hielt er sich<br />

den Mund zu. Hoffentlich hatte ihn niemand gehört, dachte er erschrocken<br />

vor sich hin. Er holte aus den Taschen der Leiche das Geld raus und rannte<br />

schnell davon und versteckte sich in einem seiner Verstecke. Er rannte wieder<br />

in das Zimmer, in dem er sich am Anfang versteckt hatte. Er versteckte<br />

sich unter der Bettdecke, und trotz Panik schlief Dave ein.


80 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Philipp-Sebastian Meyer<br />

Kapitel 24<br />

Als Dave aufwachte, herrschte eine grauenvolle Stille. Überall war es dunkel.<br />

In der Ferne sah er ein schwaches Licht. Irgendwo brannte noch eine<br />

Kerze.<br />

Er bemerkte, dass es kein Traum war. Er presste die Augen zusammen und<br />

tastete sich vorwärts. Als er auf etwas Glattem ausrutschte, fiel er über ein<br />

totes Mädchen. Entsetzt riss er die Augen auf. Überall war Blut. Lisa lag vor<br />

ihm auf dem Boden, aus ihrem Hals ragte ein Messer, die weißen Wände<br />

waren voller Blut.<br />

Dave geriet in Panik. Was, wenn der Mörder noch in der Nähe war?<br />

Schnell stand er wieder auf. Seine Beine und Hände waren voller Blut. Er<br />

rannte in den Waschraum, um sich das Blut abzuwaschen. Er drehte den<br />

Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seine Hände laufen. Schließlich<br />

spritzte er einige Hände voll in sein heißes Gesicht. Er wusch sich die<br />

Hände und ging dann hinüber zur Wanne, um seine Beine zu waschen.<br />

Als er näher kam, sah er Max in der Wanne liegen. Das Wasser war rot von<br />

dem Blut. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Wieso lag er im<br />

Wasser? Dave drehte den Jungen um. Weit aufgerissene Augen starrten ihn<br />

an. Er taumelte ein paar Schritte zurück. Ihm wurde übel und er spürte, wie<br />

er sich übergeben musste. Schnell öffnete er die Toilette und übergab sich.<br />

Dann kauerte er sich neben der Kloschüssel zusammen, als versuchte er,<br />

sich zu verstecken. Dabei sah er unter der Trennwand ein paar regungslose<br />

Beine liegen.<br />

Er sprang auf und rannte hinaus. Er wollte nicht sehen, was dort noch für<br />

Körperteile lagen. Über die Hintertreppe rannte er hinunter in die Küche.<br />

Am Tisch saßen Mrs. Giggles und Mrs. Garison. Sie hatten die Arme und<br />

Köpfe auf den Tisch gelegt. Es sah aus, als ob sie schliefen. Die Kerze flackerte.<br />

Er fühlte Erleichterung, als er die beiden sah. Sie konnten ihm helfen.<br />

Als er näher kam, bemerkte er einen ekligen Gestank. Es knirschte unter<br />

seinen Schuhen. Auf dem Boden lagen Erbrochenes und kaputtes Geschirr.<br />

Philipp-Sebastian Meyer: Kapitel 24 81<br />

Er rüttelte Mrs. Giggles an der Schulter. Sie bewegte sich nicht. Aus dem<br />

Rücken von Mrs. Garison sah er einen Gegenstand herausragen. Es war eine<br />

Axt, die weißen Wände und der weiße Boden waren voller Blut. Ein abgehackter<br />

Finger lag auf dem Tisch. Wem gehörte er? Er wusste es nicht.<br />

Er sah sich in der Küche um. Er brauchte Licht. In den Schränken suchte<br />

er nach einer Taschenlampe. Er konnte keine finden. Aus einer Schublade<br />

nahm er sich ein Messer. Vielleicht konnte er sich schützen, wenn der Mörder<br />

kam. Er nahm die Kerze vom Tisch. Die Tür zur Speisekammer stand<br />

offen. Er traute sich nicht, hineinzusehen.<br />

Über eine weitere Treppe gelangte Dave in den Keller. Er blieb auf der oberen<br />

Treppenstufe stehen. In der einen Hand hielt er das Messer, in der anderen<br />

die Kerze. Sollte er hinuntergehen? Sicherlich lagen noch einige Tote<br />

im Keller, und der Mörder konnte sich gut da unten verstecken. Vielleicht<br />

wartete er schon auf ihn.<br />

Da! Ein Poltern im Keller!<br />

Vor Schreck ließ er die Kerze fallen. Sie erlosch sofort. Er überlegte, ob er<br />

Streichhölzer in der Küche gesehen hatte. Nein, die Betreuer hielten sie immer<br />

unter Verschluss, und er wusste nicht, wo. Ohne Licht traute er sich<br />

nicht in den Keller. Er beschloss, in das Büro zu gehen. Dort gab es ein Telefon.<br />

Er musste Hilfe holen und lief nach oben.<br />

Dann stand er vor der Bürotür. Er drückte sie einen Spalt auf und sah hinein.<br />

Mr. Prob lag hinten in der Ecke. Auch er war tot. Sein Kopf hing eigenartig<br />

zur Seite. Vielleicht war sein Genick gebrochen. Er atmete tief ein und<br />

versuchte, nicht an seine Angst zu denken.<br />

Dann ging er hinein. Auf dem altmodischen Schreibtisch herrschte Unordnung,<br />

alles lag durcheinander und war auf dem Boden verstreut. Er griff<br />

zum Telefon, aber dann sah er, dass das Telefonkabel durchtrennt war. In<br />

der Ecke des Raumes stand eine Couch. Mit der blauen Decke, die auf der<br />

Couch lag, deckte er Mr. Prob zu. Er wollte nicht länger diese offenen Augen<br />

sehen.<br />

Dann legte er sich einen Moment hin und dachte nach. Wo war der Mörder?<br />

War er noch im Haus?<br />

Er wusste nicht, was er tun sollte. Immer wieder blickte er zu dem Toten in<br />

der Ecke. Er hatte fürchterliche Angst. Am besten war es, wenn er sich verstecken<br />

würde. Jack hatte ihm viele Verstecke im Haus gezeigt. Dort würde<br />

ihn niemand finden.


82 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Er bemerkte, wie müde er wurde. Die Aufregung machte sich bemerkbar.<br />

Seine Augen brannten vom Weinen und ehe er einschlief, stand er lieber<br />

wieder auf. Er konnte nicht hier bleiben. Er blickte sich um, ehe er wieder<br />

aus dem Büro ging.<br />

Im Haus war es immer noch still, als er den Flur entlang schlich. Am Fuß<br />

der Treppe sah er eine Gestalt liegen. Arme und Beine waren unnatürlich<br />

verrenkt. Er schaute nach oben, das Geländer war zerbrochen. Er sah wieder<br />

auf die Gestalt herab. Unter dem Kopf von Anika hatte sich eine große<br />

Blutlache gebildet. War Anika gefallen oder hatte der Mörder sie gestoßen?<br />

Er wusste es nicht.<br />

Dave beugte sich hinab, als ihn etwas berührte.<br />

Er schrie laut.<br />

Anika hatte nach seiner Hand gegriffen. Ihre Lippen bewegten sich. Ganz<br />

dicht ging er mit seinem Ohr an ihren Mund.<br />

„Jack“, flüsterte sie. Sie spuckte Blut.<br />

Was hatte das zu bedeuten?<br />

„Ich hole Hilfe, beweg dich nicht“, sagte er zu ihr.<br />

Langsam rollte eine Träne an ihrer Wange hinab. Er musste schlucken. Vorsichtig<br />

strich er ihr die Haare aus der Stirn.<br />

Dann atmete er tief ein und stieg über Anika hinweg. Leise schlich er die<br />

Treppe hinauf. Oben angekommen, hörte er Polizeisirenen. Er rannte zum<br />

Fenster und sah hinunter.<br />

Unten im Hof lag noch eine tote Person. Sie sah klein aus. Er konnte nicht<br />

erkennen, wer es war, obwohl es draußen langsam hell wurde. Aber das Blut<br />

konnte er gut erkennen. Er schluckte.<br />

Ich muss hier weg, dachte er, ich muss mich verstecken, ehe sie kommen.<br />

Im oberen Flur tastete er an der Wand. Über dem elektrischen Kerzenleuchter<br />

gab es einen kleinen Hebel. Er musste sich strecken, um ihn zu erreichen.<br />

Plötzlich klickte es und eine kleine Klappe öffnete sich. Schnell kroch er<br />

hinein und kauerte sich zusammen. Er konnte nichts sehen und sich kaum<br />

bewegen.<br />

Das Versteck war ein langer, sch<strong>mal</strong>er Gang. Er hatte ihn schon ein<strong>mal</strong><br />

zusammen mit Jack angeschaut. Aber da<strong>mal</strong>s hatte er eine Taschenlampe<br />

dabei gehabt.<br />

Philipp-Sebastian Meyer: Kapitel 24 83<br />

Er beschloss, eine Weile zu warten. Wenn er sich bewegte, blieben ihm<br />

Spinnweben im Gesicht kleben. Er fand das ekelig. Schnell wischte er mit<br />

der Hand über das Gesicht.<br />

Hinter sich hörte er ein leises Rascheln. Er zuckte zusammen. Kam der Mörder?<br />

In der Ferne sah er zwei winzige Punkte leuchten. Erleichtert seufzte er auf.<br />

Es war nur eine kleine Maus. Die hatte genau so viel Angst wie er, sagte Jack<br />

immer zu ihm, wenn sie die Verstecke durchsuchten.<br />

Dann hörte er die Stimmen. Die Polizisten durchsuchten das Haus. Sie kamen<br />

näher und blieben fast vor seinem Versteck stehen. Sie waren aufgeregt<br />

und konnten nicht fassen, wie so etwas Schreckliches in einem Waisenhaus<br />

passieren konnte. Sie redeten davon, dass sich einige der Kinder und Betreuer<br />

retten konnten. Diese hatten die Polizei verständigt.<br />

Ein Mädchen hatte sich in einem Schrank unter der Wäsche versteckt. Sie<br />

lebte, aber er konnte den Namen nicht verstehen, den sie sagten.<br />

Er fühlte sich einsam und verlassen. Er musste an den Teddy denken und<br />

ihm kamen wieder die Tränen.<br />

War er schuld? Hätte er mehr auf den Teddy achten müssen? Wo war Jack?<br />

Er wusste es nicht. Er war noch ein Kind. Was sollte er tun? Es gab nur einen<br />

Weg für ihn:<br />

ER MUSSTE VOR DEM MÖRDER FLIEHEN.


84 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Marco Gräther<br />

Kapitel 25<br />

Das Versteck unter der Treppe, das Jack ihm gezeigt hatte, war so perfekt,<br />

dass er von den Polizisten nicht gefunden werden konnte.<br />

Gott sei Dank gab es den Geheimausgang, durch den er fliehen konnte. Dave<br />

erhoffte sich von dieser Flucht, endlich frei zu sein von diesem Horrorhaus.<br />

In dem Haus, in dem er immer wieder geärgert worden war und in dem er<br />

nie Hilfe bekommen hatte. Als er fast schon draußen war, hielt er inne. Er<br />

wurde sich bewusst, dass er, bevor er frei sein konnte, erst noch über die<br />

Fußballwiese musste, um in den halbwegs sicheren Wald zu gelangen. Dave<br />

schaute nach rechts, nach links, die ganze Wiese entlang, um sicher zu sein,<br />

dass er ungesehen in den Wald kam und nicht doch noch von den Polizisten<br />

oder dem Mörder entdeckt wurde.<br />

Als er es für sicher empfand, rannte er einfach so schnell er konnte über<br />

die Wiese, die für diese späte Stunde schon sehr feucht war, bis er in den<br />

rettenden Wald kam.<br />

Dort angekommen, immer noch ängstlich, überall den lauernden Mörder<br />

zu sehen, rannte er einfach weiter, bis er sich übergab und stehen bleiben<br />

musste. Wie lange er schon in diesem finsteren, dunklen und unheimlichen<br />

Wald voller Laub am Boden lief, wusste er nicht. Da er sich nicht an die<br />

Sonne halten konnte, die vollkommen von den riesigen Bäumen verschluckt<br />

wurde, hatte er keinerlei Orientierung.. Es konnte sein, dass es eine Woche<br />

war, oder aber auch schon drei Wochen, aber das vermochte er nicht mehr<br />

zu sagen.<br />

Als er jedoch hin und wieder an eine Lichtung kam, ging er nie aus dem<br />

Schatten der Bäume, um sich versteckt zu halten. Er hatte immer noch<br />

Angst, dass der Mörder hier irgendwo auf ihn lauern würde. Auf den Lichtungen<br />

war, Gott sei Dank, keine Menschenseele zu sehen, es schien einfach<br />

nur die Sonne.<br />

Da Dave nun auch kräftig der Hunger plagte, war er ganz froh, ein paar<br />

Nüsse zu essen, die er fand. Nur gut, dass die nervigen und stets neugie-<br />

Marco Gräther: Kapitel 25 85<br />

rigen Eichhörnchen immer wieder ein paar Nüsse verloren. Genauso wie<br />

die Früchte, die auf dem Boden lagen und die von den Wildschweinen nicht<br />

zertrampelt wurden. Aber richtig satt, wie nach einem guten Schnitzel oder<br />

einem Kartoffelsalat, wurde Dave natürlich nicht. Von den Gedanken an<br />

richtiges Essen wurde er nur noch hungriger, also schob er diesen Gedanken<br />

weit weg und versuchte, besser zu verstehen, was passiert war. Manch<strong>mal</strong><br />

fand er auch eine saubere Stelle in dem Fluss, wo er seinen Durst löschen<br />

konnte. Das war nicht immer so, die Geschwindigkeit des Flusses veränderte<br />

sich von reißend bis hin zu plätschernd. Manch<strong>mal</strong> war der Fluss auch<br />

ziemlich verschmutzt, viel Schlamm kam ihm da entgegen.<br />

Sein Nachtlager hatte er in einer sehr seltenen Baumformation gefunden, in<br />

der es nur einen Ein- und Ausgang gab. Dort konnte er sich halbwegs sicher<br />

fühlen, auch wenn die immer wieder am Eingang vorbeihuschendem Schatten<br />

ihm Angst machten. Einer dieser Schatten kam in seinen Unterschlupf,<br />

ohne sich Dave auch nur eine Sekunde anzuschauen. Doch Dave war das<br />

nicht geheuer, dass ein Kaninchen sich einfach in seinem Schlafplatz breit<br />

machte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Kaninchen machen<br />

zu lassen, weil es immer wieder nach Dave schnappte. Dave war zum Glück<br />

schneller als das Kaninchen und konnte so eine Bisswunde verhindern. Das<br />

hätte ihm noch gefehlt, in seinem Zustand gebissen zu werden. Vor lauter<br />

Erschöpfung schlief er ein.<br />

Als er am nächsten Morgen aufwachte bemerkter er sofort etwas Flauschiges<br />

an seinen Füßen. Er wusste noch, dass er aus dem Waisenhaus mit Schuhen<br />

geflüchtet war, aber er hatte sie im Laufe der Zeit weggeworfen, weil sie<br />

durch das Rennen im Wald durchlöchert waren. Er schaute sich das flauschige<br />

Etwas an, sah das Kaninchen. Anscheinend war es über Nacht etwas<br />

zutraulicher geworden und hatte bei ihm Schutz gesucht. Natürlich war es<br />

immer noch scheu.<br />

Dave nannte es Moriz. Er bemerkte einen Spreißel in Moriz’ rechter, ungekämmter,<br />

verfilzter Hinterpfote. Dave versuchte ihn dann zu entfernen, was<br />

ihm auch gelang.<br />

Moriz war so außer sich vor Freude, dass er Dave gleich schleckte. So folgte<br />

Moriz jetzt Dave überall hin. Da Dave jetzt keine Nüsse oder Früchte mehr<br />

fand, war er gezwungen, seinen Unterschlupf zu verlassen. Völlig am Ende<br />

seiner Kräfte schlief er unter einem halbwegs sicheren Baum ein. Er hatte<br />

Moriz im Arm, mit einem Gefühl von Freundschaft. Er träumte von Stimmen<br />

und etwas, das ihn wecken wollte.


86 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Als er aufwachte, bemerkte Dave, dass sein Traum nicht ein Traum war,<br />

sondern real. Ein Mann stand vor ihm und sprach auf ihn ein. Vor lauter<br />

Angst rannte er so schnell wie er konnte mit Moriz davon, der laut quiekte.<br />

Er rannte zurück zu der Baumformation, die ja sein sicherer Unterschlupf<br />

war. Dort zur Ruhe gekommen, bemerkte er den Schatten, der wartend vor<br />

dem Eingang stand. Dave machte sich bereit, Gegenwehr zu leisten, doch<br />

der Mann, der hinein kam, hielt Dave mit Leichtigkeit von sich weg. Da<br />

Dave nicht mehr viel Kraft hatte, halb am Verhungern und fast erfroren war,<br />

konnte er nicht viel ausrichten. <strong>Der</strong> Mann, der Dave immer noch fest hielt,<br />

war nicht der Mörder, sondern ein Jäger, der ihn zufällig gefunden hatte.<br />

<strong>Der</strong> Jäger stellte sich unter dem Namen Gustaf vor und wollte von Dave wissen,<br />

wer er war, was er hier machte und warum er so schwach aussehe. Dave<br />

sagte gar nichts, denn er vertraute ihm nicht. <strong>Der</strong> Jäger Gustaf nahm die beiden<br />

mit zu sich in seine Hütte. Als sie angekommen waren, bekam Dave erst<br />

<strong>mal</strong> warme und trockene Klamotten. Gustaf gab ihm eine Suppe zu essen,<br />

die Dave schon beim Eintreten in die Hütte gerochen hatte. Er aß die Suppe<br />

gierig auf, Moriz bekam Karotten.<br />

Dann schlief er völlig erschöpft ein. Es dauerte fast eine ganze Woche, bis<br />

Dave wieder bei Kräften war. Moriz hatte sich auch wieder erholt und blieb<br />

in der Nähe der Hütte. <strong>Der</strong> Jäger Gustaf brachte Dave dann mit seinem alten,<br />

klapprigen Auto in die Stadt zur Polizeistation. Die Polizei sollte Dave<br />

wieder zu seiner Familie bringen.<br />

Doch was Gustaf nicht ahnen konnte, war, dass Dave gar keine Familie mehr<br />

hatte. Er hatte niemanden, außer sich selbst.<br />

Matheus Werner: Kapitel 26 87<br />

Matheus Werner<br />

Kapitel 26<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Ich wurde da<strong>mal</strong>s, als ich im Waisenhaus war, sehr schlecht behandelt und<br />

geschlagen. Ich bin mit 13 abgehauen, denn ich hatte es im Waisenhaus nicht<br />

mehr ertragen. Ich hatte Glück, ich rannte weg vom Waisenhaus. Immer weiter<br />

weg. Und als das Waisenhaus schon einige hundert Meter entfernt war,<br />

kam ein Land Rover. <strong>Der</strong> Fahrer stieg aus und ich stieg hinten in den Laderaum<br />

ein. Ich sah eine Decke, die ich nahm und mich darunter versteckte. <strong>Der</strong><br />

Fahrer kam wieder, aber er bemerkte mich nicht. Ich fuhr immer weiter weg,<br />

und nach einigen Minuten machte der Fahrer eine Pause. Er stieg aus und ich<br />

erkannte meine Chance auch auszusteigen, die ich dann natürlich nutzte.<br />

Ich lief in einen Wald hinein. Es war schon dunkel, aber ich lief immer weiter<br />

in den dunklen Wald hinein. Ich hatte so einen Hunger, ich hätte ein ganzes<br />

Pferd essen können. Aber im Wald gab es nur Pilze und Nüsse, die ich nicht<br />

mochte, aber trotzdem sammelte, denn es war besser als nichts. Ich sammelte<br />

ein paar Pilze ein, von denen ich dachte, dass sie essbar sind. Ich biss von<br />

einem Pilz ein kleines Stück ab, um zu schmecken, ob die Pilze, die ich essen<br />

wollte, auch gut waren. Sie waren nicht so schlecht, wie ich dachte.<br />

Nach dem Essen legte ich mich hin und schlief ein. Am nächsten Morgen<br />

machte ich mich wieder auf den Weg nach nirgendwo. Ich lief und lief und<br />

lief, immer weiter, immer weiter.<br />

Plötzlich hörte ich ein Auto hupen. Ich dachte mir, dort müsste eine Straße<br />

sein oder sogar eine Stadt. Ich lief in die Richtung, wo ich das Auto gehört<br />

hatte und kam auf eine Straße. Ich ging die Straße entlang und sah eine Kirchenspitze,<br />

zu der ich ging, denn ich wusste, dass Kirchen immer offen haben.<br />

Als ich dort angekommen war, ging ich hinein. Ich merkte, dass die Kirche<br />

sehr alt war, denn die Wände bröckelten schon etwas ab.<br />

Als ich in der Kirche war und dort schon einige Zeit saß, kam ein Pfarrer zu<br />

mir. Er sprach sehr nett und er wollte von mir wissen, was ich hier draußen so<br />

alleine machte. Ich erzählte ihm alles: Dass ich von einem Waisenhaus abge-


88 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

hauen war, in den Wald, dort übernachtet hatte – und alles nur, weil ich es in<br />

diesem Waisenhaus nicht mehr ertragen hatte.<br />

Denn ich wurde dort immer von mehreren auf ein<strong>mal</strong> geschlagen. Ich erzählte<br />

ihm, wie ich geschlagen worden war, dass bei mir eine blutige Nase Alltag war<br />

und die Erzieher es gesehen, aber nichts dagegen unternommen hatten. Denn<br />

den Erziehern war es egal, ob wir Schmerzen hatten.<br />

<strong>Der</strong> Pfarrer war außer sich über dieses Waisenhaus. Er konnte gar nicht glauben,<br />

dass Kinder im Waisenhaus so schlecht behandelt werden können. Er<br />

versteckte mich in einem Hinterraum der Kirche. <strong>Der</strong> Pfarrer brachte mir jeden<br />

Tag Essen und Trinken, es ging mir hier in der Kirche sehr gut.<br />

Ich bin dort geblieben, bis er eine Pflegefamilie für mich gefunden hatte. <strong>Der</strong><br />

Pfarrer kannte ein Ehepaar, das Kinder haben wollte, aber die Frau konnte<br />

keine bekommen. <strong>Der</strong> Pfarrer sprach mit ihnen und sie wollten mich sehen.<br />

Sie hatten mich sofort mit zu sich nach Hause genommen.<br />

Ich wurde im Waisenhaus nicht vermisst. Glaubte ich. Ich hatte auf jeden Fall<br />

davon nichts gemerkt. Deshalb konnte ich ohne Probleme bei meinen neuen<br />

Eltern bleiben. Mir ging es dort sehr gut, denn ich hatte eine Familie, die mich<br />

sehr liebte. Ich liebte meine neuen Eltern auch sehr, den sie nahmen mir das<br />

Gefühl, nutzlos und allein auf dieser Welt zu sein. Sie schenkten mir Geborgenheit<br />

und ich fühlte mich bei meinen Eltern sehr wohl.<br />

Als ich fertig mit der Schule war, wurde ich Hausmeister in dem Waisenhaus,<br />

in dem ich früher gewesen war. Ich wollte dafür sorgen, dass es den Kindern<br />

im Waisenhaus nicht so schlecht ergehen musste wie es mir früher ergangen<br />

ist. In der Nähe des Waisenhauses war ein kleines Haus, schon fast eine Hütte,<br />

aber das war mir egal. Für mich hat der Platz gereicht, und bis zum Waisenhaus<br />

hatte ich es nicht sehr weit, es war gleich um die Ecke. Ich hatte diese<br />

schlimme Zeit hinter mir gelassen. Diese schlimme Zeit, in der ich immer geschlagen<br />

und schlecht behandelt worden war. Denn bei meiner neuen Familie<br />

ging es mir so gut, dass ich diese schlimmen Erinnerungen hinter mir gelassen<br />

und beschlossen hatte, neu anzufangen.<br />

Nur deshalb konnte ich dieses Waisenhaus wieder betreten. Ich hatte beschlossen,<br />

den Kindern im Waisenhaus ein besseres Leben zu schenken, damit<br />

es ihnen besser ging, als es mir ergangen war. Deshalb, und nur deshalb, habe<br />

ich diesen Job als Hausmeister im Waisenhaus angenommen.<br />

Kevin Akbulut: Kapitel 27 89<br />

Kevin Akbulut<br />

Kapitel 27<br />

Als die Polizei Dave fand, nahmen sie ihn mit aufs Revier. Es war ziemlich<br />

weit weg von dem Waisenhaus. Auf dem Weg hatte ihn einer der Polizisten<br />

nach seinem Namen gefragt, also sagte er ihm, dass er Dave heiße. Daraufhin<br />

fragte Dave ihn nach seinem Namen, obwohl er sehr nervös war, was<br />

jetzt passieren würde. Er antwortete und sagte, dass er Ernst heißt, aber<br />

Dave dürfte ihn auch mit seinem Vornamen ansprechen, den er daraufhin<br />

auch nannte, und zwar hieß er Christoph. <strong>Der</strong> zweite Polizist schien nicht so<br />

nett wie Christoph zu sein, er sagte während der ganzen Fahrt kein einziges<br />

Wort.<br />

Endlich kamen sie bei dem Revier an, Christoph hatte Dave die Tür aufgemacht,<br />

damit er raus konnte. <strong>Der</strong> andere Polizist stand neben der Tür und<br />

wollte wahrscheinlich aufpassen, dass Dave nicht wegrannte, aber Dave war<br />

viel zu nervös, als dass er hätte weglaufen können. Und er wusste auch gar<br />

nicht wohin.<br />

Also gingen sie rein, in einen kleinen Raum, wo ein Tisch und drei Stühle<br />

waren. Dave setzte sich auf einen von den Stühlen, auf den anderen setzte<br />

sich Christoph und der zweite Polizist holte ihnen erst<strong>mal</strong> was zu trinken.<br />

Dann stellte er sich auch endlich vor, er hieß Strong, Michael Strong.<br />

Dave wusste gar nicht, was jetzt auf ihn zukommen würde, also saß er ruhig<br />

da und trank etwas. Dann fing Michael an, ihn über das Waisenhaus etwas<br />

zu fragen.<br />

Michael: „Wurdest du oft von den anderen Kindern gehänselt oder waren sie<br />

alle deine Freunde?“<br />

Dave zog sich auf dem Stuhl zusammen und antwortete mit eingeschüchterter<br />

Stimme: „Die meisten von den Kindern haben mich immer gehänselt.“<br />

Christoph stand auf und lief rum, er kam auf Dave zu und fragte: „Was geschah<br />

vor den ganzen Morden? Hast du irgendwas gehört, oder wie bist du<br />

drauf aufmerksam geworden?“


90 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Dave setzte sich wieder aufrecht auf den Stuhl und überlegte, dann fing er<br />

an zu erzählen:<br />

„Am Anfang war alles noch ruhig, doch später wurde es ziemlich laut. Ich<br />

hörte, wie sie schrieen. Nicht nur die anderen Kinder, sondern auch die Erzieher,<br />

es war furchtbar.“<br />

Er zog sich wieder zusammen und fing an zu weinen. Da kam Christoph<br />

auf ihn zu und tröstete ihn, er sagte, dass es einfach noch zu früh sei, um<br />

darüber zu reden.<br />

Christoph: „Schlafen wir alle erst<strong>mal</strong> eine Nacht darüber, ist wohl besser<br />

für uns alle.“ Michael stimmte dem zu und sie gingen erst<strong>mal</strong> schlafen. Sie<br />

gingen ins nächste Zimmer, wo ein paar Betten standen, und dort schliefen<br />

sie dann.<br />

In dieser Nacht bekam Dave ziemliche Albträume. Darin kam der Teddy<br />

vor, den er von Jack bekommen hatte. <strong>Der</strong> Traum wurde immer schlimmer,<br />

Dave hörte wieder, wie alle schrieen, und sah, wie er auf sie los ging und alle<br />

tötete.<br />

Schweißnass stand er in seinem Bett und musste erst<strong>mal</strong> tief durchatmen.<br />

Da kam auch schon Christoph ins Zimmer und fragte, ob alles in Ordnung<br />

sei. Dave sagte natürlich ja, es war nur ein Albtraum.<br />

Christoph hat netterweise auch auf dem Revier geschlafen, um auf Dave aufzupassen.<br />

Er ging wieder auf sein Zimmer und sagte, Dave solle versuchen,<br />

ein bisschen weiter zu schlafen. Das versuchte er dann auch, und am nächsten<br />

Morgen kam Christoph in sein Zimmer, mit ein paar belegten Brötchen,<br />

und sagte, dass es jetzt erst <strong>mal</strong> Frühstück gab. Dave freute sich sehr,<br />

da er schon seit einer Weile dieses Gefühl im Bauch hatte – eine gähnende<br />

Leere.<br />

Nach dem Essen ging das Gespräch weiter. Christoph setzte sich auf einen<br />

Stuhl, rückte seine Jacke zurecht und fing an zu fragen: „Wie konntest du<br />

Jack entkommen?“<br />

Dave setzte sich aufrecht hin und erzählte, wie er entkommen konnte: „Ich<br />

floh aus dem Geheimgang, den ich <strong>mal</strong> entdeckt habe.“<br />

Michael fragte mit erstaunter Stimme: „Und Jack bemerkte nicht, dass du<br />

durch den Geheimgang geflohen bist?“<br />

Dave sagte: „Nein! Wie denn auch, es war alles viel zu laut, da die Kinder<br />

geschrieen haben.“ Christoph fragte: „Okay, als du durch den Geheimgang<br />

geflohen bist, bist du sofort in den Wald gerannt, oder?“<br />

Kevin Akbulut: Kapitel 27 91<br />

Dave überlegte. Es fiel ihm ein und er sagte: „Ach ja, dabei habe ich vergessen,<br />

den Teddy mitzunehmen, den mir Jack geschenkt hat.“ Michael fragte<br />

neugierig: „Welcher Teddy??“<br />

Dave antwortete: „Na der Teddy, den Jack mir geschenkt hatte, als er hier<br />

angefangen hat zu arbeiten.“<br />

Christoph sagte: „Aber als wir das Waisenhaus durchsuchten, haben wir<br />

keinen Teddy gefunden.“<br />

Dave sagte mit leicht erhöhter Stimme: „Ich bin mir aber ganz sicher, dass<br />

ich ihn dort gelassen habe!“<br />

Michael: „Hm, das ist merkwürdig, ich verstehe nicht, wieso der Bär nicht<br />

mehr da ist, vielleicht hat ihn Jack ja wieder mitgenommen. Aber ich weiß<br />

nicht, wieso er so was tun sollte. Und dass er überhaupt die Zeit dazu noch<br />

hatte, den Bären zu holen, wundert mich.“<br />

Plötzlich fragte Dave mit aufgeregter Stimme: „Was ist jetzt eigentlich mit<br />

Jack? Lebt er noch?“<br />

Da sagte Christoph mit beruhigender Stimme: „Keine Angst, er wird wohl<br />

nicht mehr am Leben sein. Er ist in einen Fluss gesprungen und seine Überlebenschance<br />

ist gleich null.“<br />

Dave sagte: „Puh, da kann ich ja beruhigt sein und muss keine Angst mehr<br />

haben, dass er mich sucht und töten will.“<br />

Michael: „Ja, ich denke, du kannst beruhigt sein und brauchst keine Angst<br />

mehr zu haben.“ Christoph sagte zum Ende noch: „Naja, ich denke, Dave<br />

kann uns dazu auch nicht mehr helfen. Es ist wirklich toll, dass du die<br />

Aussage überhaupt gemacht hast. Ich denke, das war es dann. Mehr Fragen<br />

haben wir dazu wohl auch nicht.“


92 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Marius Tobisch<br />

Kapitel 28<br />

Es war ein sonniger Morgen, als Dave in seinem Zimmer bei seiner neuen<br />

Familie aufwachte. Sie wohnten in einem schönen großen Haus am Rande<br />

von Oxford. Sie hatten einen schönen großen Garten um das Haus herum.<br />

Er hatte sehr nette Eltern, die sich gut um ihn kümmerten.<br />

„Hast du gut geschlafen?“, fragte seine Mutter, als Dave sich an den Frühstückstisch<br />

setzte.<br />

„Ja“, antwortete Dave lächelnd. Seine Mutter freute sich sehr, dass Dave jetzt<br />

bei ihnen war. Dave nahm sich ein Brötchen und schmierte es sich mit Marmelade.<br />

Nach dem Essen ging Dave hoch in sein Zimmer. Er warf sich aufs<br />

Bett und griff zu seinem Lieblingsbuch. Nach einer Weile kam seine Mutter<br />

hoch.<br />

„Und – hast du dich inzwischen bei uns eingelebt?“, fragte sie.<br />

„Ja, sogar sehr“, antwortete Dave zufrieden.<br />

„Das freut mich“, sagte seine Mutter beruhigt und fragte gespannt: „Gefällt<br />

dir dein Zimmer?“<br />

„Ja, ich muss mich aber erst noch daran gewöhnen, dass ich so viel Platz für<br />

mich habe“, sagte er lachend.<br />

Seine Mutter lachte mit ihm.<br />

„Okay, ich geh dann wieder in die Küche und koche das Mittagessen“, sagte<br />

sie, als sie aus dem Zimmer ging.<br />

Dave setzte sich aufs Bett und las, in die Geschichte vertieft, sein Buch.<br />

„Hier ist ein Paket für dich gekommen!“, hörte er seine Mutter von unten<br />

rufen, als er gerade an einer spannenden Stelle war. Verwundert ging Dave<br />

nach unten. Seine Mutter gab es ihm schnell in die Hand, weil sie wegen dem<br />

Essen gleich wieder zurück in die Küche musste.<br />

Dave nahm das Paket mit auf sein Zimmer. Er fragte sich, von wem dieses<br />

Paket sein konnte. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Dave<br />

entschied sich, das Paket vorerst nicht zu öffnen.<br />

„Essen ist fertig!“, hörte er dann seine Mutter rufen.<br />

Marius Tobisch: Kapitel 28 93<br />

Er ging nach unten und setzte sich an den Tisch.<br />

„Es gibt Spaghetti, dein Lieblingsessen“, sagte seine Mutter lächelnd.<br />

„Cool“, sagte Dave abwesend, weil er noch über das Paket nachdachte.<br />

Nach dem Essen ging er, ohne etwas zu sagen, in sein Zimmer. Dort machte<br />

er den Fernseher an. Es kam aber nichts Richtiges. Deshalb ging er raus und<br />

fuhr mit dem Fahrrad durch die Stadt. Er kam um fünf Uhr wieder nach<br />

Hause.<br />

„Und – wie war es draußen?“, fragte seine Mutter, als er zur Türe herein<br />

kam.<br />

„Ganz gut“, antwortete Dave.<br />

Er ging wieder in sein Zimmer und kam für den Rest des Abends nicht mehr<br />

nach unten. Am nächsten Morgen wachte Dave schon sehr früh auf. Lange<br />

überlegte er, bevor er das Paket öffnete.<br />

In dem Paket war – der alte Teddy aus dem Waisenhaus.<br />

Dave erschreckte sich und trat einen Schritt zurück. Dann sah er noch einen<br />

Brief, auf dem sein Name stand. Er traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Er<br />

ging zurück ins Bett und versuchte zu schlafen. Als er wieder aufwachte,<br />

hörte er seine Mutter rufen, dass es Frühstück gäbe.<br />

Dave ging runter und setzte sich an den Tisch.<br />

„Und, wie lang bist du schon wach?“, fragte seine Mutter.<br />

„Weiß nicht genau, vielleicht seit sieben Uhr“, antwortete Dave nach kurzem<br />

Überlegen.<br />

„Dann bist du ja schon lange wach“, sagte seine Mutter, auf die Uhr schauend.<br />

„Ja, aber ich konnte noch <strong>mal</strong> einschlafen“, antwortete Dave schnell.<br />

„Ah – und was war eigentlich in dem Paket, das neulich ankam?“, fragte<br />

seine Mutter neugierig.<br />

Dave wurde nervös und wusste nicht, was er sagen sollte.<br />

„Das waren nur noch ein paar Sachen aus dem Waisenhaus“, antwortete er<br />

zögernd.<br />

„Ach so“, antwortete seine Mutter ungläubig.<br />

Dave ging danach in sein Zimmer. Nach ein paar Minuten kam seine Mutter<br />

nach.<br />

„Darf ich <strong>mal</strong> in das Paket hineinschauen?“, fragte sie vorsichtig.<br />

„Ja“, sagte Dave zögernd.


94 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

„Was ist denn das für ein Teddy, und von wem ist der Brief?“, fragte seine<br />

Mutter überrascht.<br />

Daraufhin merkte Dave, dass es nicht gut wäre, sie jetzt zu belügen. Er erzählte<br />

seiner Mutter die ganze Geschichte, mit Jack und dem Amoklauf. Seine<br />

Mutter war schockiert, als sie das hörte und wunderte sich, dass sie davon<br />

nichts gewusst hatte. Dave erzählte auch, dass Jack in den Fluss gesprungen<br />

war und dass die Polizei glaubte, dass er tot sei.<br />

Nachdem Dave die Geschichte erzählt hatte, machten er und seine Mutter<br />

zusammen den Brief auf. Er war von Jack. In ihm stand geschrieben, dass<br />

Jack sich noch retten konnte, als ihn das Wasser fast umgebracht hätte. Er<br />

fragte Dave auch, wie es ihm gehe und ob er eine neue nette Familie gefunden<br />

hätte.<br />

Danach blieben sie noch kurz sitzen und sagten nichts.<br />

Darauf gingen sie runter und erzählten alles Daves Vater, damit es in Zukunft<br />

keine Komplikationen mehr geben würde.<br />

Daves Vater reagierte genau so schockiert wie seine Mutter.<br />

„Aber eins versteh ich nicht: Woher wusste Jack, wo ich wohne?“, fragte<br />

Dave verblüfft. Darauf wussten seine Eltern auch keine Antwort.<br />

Yves Biber & Niko Terschawetz: Kapitel 29 95<br />

Yves Biber & Niko Terschawetz<br />

Kapitel 29<br />

Lieber Dave,<br />

ich bin’s, Jack. Ja, ich lebe noch. Doch ich lebe im Verborgenen, fernab jeglicher<br />

Zivilisation.<br />

Ich werde nicht mehr mit Dir in Kontakt treten, da ich das Risiko nicht eingehen<br />

möchte, gefunden zu werden. Das heißt, dass dieser Brief hier der Letzte<br />

an Dich sein wird. Ich möchte weder, dass Du mich suchst oder sonst irgend<br />

etwas wegen mir unternimmst. Außerdem möchte ich mich bei Dir entschuldigen,<br />

für all das, was ich Dir angetan habe.<br />

Ich weiß, dass Du mir vielleicht noch irgend etwas sagen möchtest oder mich<br />

nach dem Grund für meine Tat fragen willst.<br />

Doch wird Dir das Fragenstellen nicht heute und nicht in Deinem restlichen<br />

Leben vergönnt sein. Daher erkläre ich vielleicht all das mit diesem Brief und<br />

helfe Dir dabei zu verstehen, wofür ich das alles getan habe.<br />

Anfangen tue ich am besten am Anfang.<br />

Ich wuchs wie Du in diesem Waisenhaus auf. Ich wurde wie Du dort früher<br />

immer geärgert und gemobbt. Deswegen gab ich Dir auch meinen Teddy, da<br />

Du mich am meisten an mich selbst erinnert hast. Ich wurde sogar von den<br />

da<strong>mal</strong>igen Betreuern geschlagen.<br />

<strong>Der</strong> Grund war meistens der, dass ich schwarz bin. Ich möchte, dass Du verstehst,<br />

dass ich Dich nie<strong>mal</strong>s hätte töten können. Ich schlich mich bei Euch als<br />

Hausmeister ein, um zu sehen, ob Ihr – die Kinder – immer noch angeschrieen<br />

werdet.<br />

Ich dachte mir, ich könnte es vielleicht verhindern. Doch da lag ich wohl<br />

falsch. Ich tötete diese Menschen, da sie es verdient hatten und es nicht wert<br />

waren, länger zu leben.


96 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Wärst Du so gemobbt worden wie ich, könntest Du mich vielleicht irgendwie<br />

verstehen. Ich würde dich mir sogar als meinen Bruder wünschen, doch das<br />

wird nicht möglich sein, und schon gar nicht nach meiner grausamen Tat.<br />

PS: Schau doch nach ganz unten in die Kiste!<br />

Viele Grüße, Jack Miller<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Ich weiß nun, dass ich das Falsche getan habe. Ich habe mich am Ende einfach<br />

meiner Rache und Wut hingegeben. Ich hätte mir ein anderes Ende für mein<br />

Buch gewünscht, doch es sollte nun <strong>mal</strong> so kommen. Ich werde weder entschuldigen<br />

noch bereuen, was ich getan habe, denn ich weiß, dass ich damit<br />

einem Menschen geholfen habe und ihm eine bessere Zukunft geben konnte.<br />

Ich lebe nun zurück gezogen und einsam in einem Wald. Auf einer Lichtung.<br />

Außerdem finde ich, dass ich hier sozusagen von meinem Wahn, dass jeder,<br />

der böse ist, sterben soll, erlöst wurde. Das verdanke ich dieser Ruhe.


<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>!<br />

<strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Ein Roman · Publikation der Prosa-Werkstatt in der Klasse 8b<br />

an der Schlossrealschule Stuttgart im Schuljahr 2008/2009<br />

Dozent: Tilman Rau · Verantwortliche Lehrerin: Rebecca Müller<br />

Literatur machen – Unterricht im Dialog:<br />

Schreibwerkstätten im Deutschunterricht<br />

Ein Projekt des Literaturhauses Stuttgart.<br />

In Kooperation mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung<br />

und den Seminareinrichtungen für Lehrerinnen und Lehrer<br />

in Baden-Württemberg.<br />

Gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.<br />

Copyright: Die Rechte für die einzelnen Beiträge liegen bei den Autoren.<br />

Die Rechte für die Gesamtausgabe liegen beim Literaturhaus Stuttgart.<br />

Kontakt: Literaturhaus Stuttgart, Erwin Krottenthaler<br />

Boschareal, Breitscheidstraße 4, 70174 Stuttgart<br />

Tel.: 0711 / 220 21 741<br />

Fax: 0711 / 220 21 748<br />

E-Mail: info@literaturhaus-stuttgart.de<br />

www.literaturmachen.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!