Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen
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Literatur machen – Unterricht im Dialog:<br />
Schreibwerkstätten im Deutschunterricht<br />
<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>!<br />
<strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Ein Roman.<br />
Publikation der Prosa-Werkstatt<br />
an der Schlossrealschule Stuttgart<br />
Klasse 8b · Schuljahr 2008/2009
Literatur machen – Unterricht im Dialog:<br />
Schreibwerkstätten im Deutschunterricht<br />
<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>!<br />
<strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Ein Roman<br />
Publikation der Prosa-Werkstatt<br />
an der Schlossrealschule Stuttgart<br />
Klasse 8b · Schuljahr 2008/2009
2 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Impressum<br />
<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>! ist der aktuelle Werkstattbericht der Werkstatt für Prosa<br />
an der Schlossrealschule Stuttgart in der Klasse 8b im Schuljahr 2008/2009<br />
„Literatur machen – Unterricht im Dialog: Schreibwerkstätten im Deutschunterricht“<br />
Ein Projekt des Literaturhauses Stuttgart.<br />
In Kooperation mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung und den<br />
Seminareinrichtungen für Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg.<br />
Gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.<br />
Dozent: Tilman Rau<br />
Verantwortliche Lehrerin: Rebecca Müller<br />
Redaktion dieser Ausgabe: Tilman Rau und Rebecca Müller<br />
Layout: Jochen Starz – starz engineering<br />
Fotos: Tilman Rau, Yves Noir<br />
Copyright: Die Rechte für die einzelnen Beiträge liegen bei den Autorinnen<br />
und Autoren, für die Gesamtausgabe beim Literaturhaus Stuttgart<br />
Kontakt: Literaturhaus Stuttgart, Erwin Krottenthaler<br />
Boschareal, Breitscheidstraße 4, 70174 Stuttgart<br />
Tel. 0711/220 21 741, Fax 0711/220 21 748<br />
info@literaturhaus-stuttgart.de, www.literaturhaus-stuttgart.de<br />
Besuchen Sie auch die Internetseite für junge Literatur<br />
des Literaturhauses Stuttgart: www.literaturmachen.de<br />
<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>! erscheint mit freundlicher Unterstützung<br />
der Robert Bosch Stiftung GmbH Stuttgart<br />
Auflage 2009: 2.000 Exemplare<br />
Inhaltsverzeichnis 3<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Rebecca Müller / Tilman Rau: Den Leser das Fürchten lehren ............. 4<br />
Fabian Laible: Kapitel 1 ........................................................... 6<br />
Beverly Tidwell: Kapitel 2 ........................................................ 11<br />
Yves Biber: Kapitel 3 ............................................................... 14<br />
Jasmina Jooß: Kapitel 4 ........................................................... 18<br />
Antonia Prusina: Kapitel 5 ....................................................... 20<br />
Ali Hussein: Kapitel 6 ............................................................. 23<br />
Carolyn Gläßer: Kapitel 7 ......................................................... 25<br />
Fabian Ajtnik: Kapitel 8 .......................................................... 29<br />
Birgit Sonnleitner: Kapitel 9 ..................................................... 38<br />
Stephanie Ragoßnig: Kapitel 10 ................................................. 41<br />
Jakob Seitz: Kapitel 11 ............................................................. 44<br />
Corina Proschinger: Kapitel 12 ................................................. 48<br />
Paolo Mele: Kapitel 13 ............................................................. 51<br />
Simon Michel: Kapitel 14 ......................................................... 53<br />
Paula Schmidt: Kapitel 15 ........................................................ 55<br />
André Rebele: Kapitel 16 ......................................................... 58<br />
Leonard Böhmke: Kapitel 17 ..................................................... 61<br />
Katrin Epple: Kapitel 18 .......................................................... 63<br />
Daniel Falder: Kapitel 19 ......................................................... 67<br />
Saskia Neun: Kapitel 20 ........................................................... 69<br />
Lauren Rombach: Kapitel 21 ..................................................... 72<br />
Mareike Lang: Kapitel 22 ........................................................ 75<br />
Sajaed Iqbal: Kapitel 23 ........................................................... 78<br />
Philipp-Sebastian Meyer: Kapitel 24 ........................................... 80<br />
Marco Gräther: Kapitel 25 ....................................................... 84<br />
Matheus Werner: Kapitel 26 ..................................................... 87<br />
Kevin Akbulut: Kapitel 27 ........................................................ 89<br />
Marius Tobisch: Kapitel 28 ....................................................... 92<br />
Yves Biber & Niko Terschawetz: Kapitel 29 ................................... 95
4 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Rebecca Müller / Tilman Rau<br />
Den Leser das Fürchten lehren<br />
Ein Vorwort<br />
Willkommen im Jahre 1980, irgendwo in der englischen Provinz. Hier befindet<br />
sich ein herunter gekommenes Waisenhaus, in dem sich sonderbare<br />
Dinge ereignen. Im Zentrum der Ereignisse stehen Jack, der Hausmeister,<br />
der als Kind ebenfalls in diesem Waisenhaus lebte, sowie Dave, ein Junge,<br />
der besonders unter den Anfeindungen der anderen Kinder zu leiden hat.<br />
Und dann ist da noch ein Teddybär, der das Schicksal zweier Jungen mit-<br />
einander verbindet und sogar in Mordverdacht gerät.<br />
Klingt das alles ein wenig gruselig und eigenartig? Das soll es auch. Denn<br />
die Klasse 8b, die diesen Roman erdacht und geschrieben hat, wollte<br />
eine Geschichte erzählen, die das Unheimliche mit dem Alltäglichen,<br />
das Spannende mit dem Gewöhnlichen verbindet. Kurz: sie wollte einen<br />
Thriller schreiben, der die Leser das Fürchten lehrt.<br />
Dabei haben die Schülerinnen und Schüler keine Mühen gescheut. Denn<br />
es erfordert viel Arbeit, einen Roman zu planen, der aus 29 Kapiteln<br />
besteht, die alle logisch miteinander verknüpft sein müssen. Und dessen<br />
Handlung darüber hinaus auf zwei Ebenen angesiedelt ist, die zwanzig<br />
Jahre auseinander liegen.<br />
Rebecca Müller / Tilman Rau: Den Leser das Fürchten lehren 5<br />
Um dies alles zu bewältigen, wurden in der Klasse Arbeitsgruppen gebildet,<br />
die sich auf bestimmte Fragestellungen spezialisierten. Eine Gruppe kümmerte<br />
sich beispielsweise um die Figuren. Welche Charaktere spielen in der<br />
Geschichte eine Rolle? Wie heißen sie? (Es versteht sich von selbst, dass wir<br />
es hier vor allem mit englischen Namen zu tun haben.) Eine andere Gruppe<br />
beschäftigte sich eingehend mit dem Haus. Wie ist es aufgeteilt, wo befinden<br />
sich die Schlafsäle der Kinder, wo die Verstecke und Geheimgänge?<br />
Es war gar nicht so einfach, bei einer solchen Vielzahl von Details und Informationen<br />
den Überblick zu behalten. Dass es trotzdem geklappt hat, beweist<br />
dieses Buch. 29 spannende Kapitel, geschrieben von 29 Schülerinnen und<br />
Schülern.<br />
Jeder hat ein bisschen seines eigenen Stils und seiner persönlichen Note hinterlassen,<br />
doch nie hat die Klasse vergessen, dass sie an einem gemeinsamen<br />
großen Projekt arbeitet.<br />
Wir finden, dass sie ein beeindruckendes Ergebnis abgeliefert haben und<br />
bedanken uns für die Mühe und das Durchhaltevermögen.<br />
Und wir wünschen spannende und schöne Lesestunden!<br />
Rebecca Müller (Lehrerin)<br />
Tilman Rau (Dozent)
6 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong> Fabian Laible: Kapitel 1 7<br />
Fabian Laible<br />
Kapitel 1<br />
In London, in der Liverpool Street 24, lebte Jack in einer 2-Zimmer-Wohnung.<br />
Da er zurzeit keiner Arbeit nachging, verbrachte er die meiste Zeit<br />
des Tages damit, Motorrad zu fahren. Aber nun schrieb er an einem Buch,<br />
weshalb er sein Hobby derzeit vernach lässigte. Nicht ein<strong>mal</strong> seine engsten<br />
Freunde hatten eine Ahnung, wovon das Buch handelte. Sie wussten nur<br />
eins: Dass Jack dieses Buch schrieb, um der Welt und sich selber etwas mitzuteilen.<br />
Wenn man das Buch nun aufschlug, so konnte man in krakeliger Schrift<br />
mehr als 100 Seiten lesen.<br />
Aus dem Buch von Jack.<br />
Ich betrat das Zimmer. Unter meinem zerfetzten Hemd zeichneten sich auf<br />
meinem nackten Rücken tiefe dunkelrote Striemen ab. Es tat höllisch weh,<br />
was einen auch nicht weiter wunderte, wenn man bedenkt, dass einer dieser<br />
blöden Erzieher die letzte halbe Stunde damit verbracht hatte, auf meinen<br />
Rücken einzuschlagen, mit einem dünnen Lederriemen, der vorne mit Gummis<br />
ummantelt war. Ich war wütend und knallte die Tür hinter mir zu, die<br />
ich dann wiederum mit einem Stuhl verbarrikadierte, sodass niemand mein<br />
Zimmer betreten konnte. Nun machte ich mich daran, meine Wunden, so gut<br />
es ging, mit einer Salbe zu versorgen. Als ich das erledigt hatte, warf ich mich<br />
aufs Bett und dachte darüber nach, wie es wäre, eine Familie zu haben – eine<br />
Mutter, einen Vater, eine …<br />
Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als ich ein Poltern und eine<br />
wütende Stimme auf dem Gang hörte. Jemand versuchte meine Zimmertür<br />
zu öffnen. Jemand schrie: „Jack, mach die Tür auf oder du kriegst noch mehr<br />
Schläge.“ Das war Mr. Anderson, der mich auch mit dem Riemen bearbeitet<br />
hatte. „Ich zähle jetzt auf 10, dann drücke ich die Tür ein“, hörte ich ihn sagen.<br />
Sollte mich wundern, wenn der überhaupt bis 10 zählen kann.<br />
Schon begann er: „1…“ Ich schlich lautlos zur Tür. „2…“ Unterwegs schnappte<br />
ich mir eine Schnur und befestigte sie am unteren Ende des Stuhlbeins. „3…,<br />
4…, 5…“ Leise schlich ich zurück zum Bett. „6…, 7…“ Ich rollte mich darunter.<br />
„8…“ Ich hob die Falltür an, die ich vor einem Jahr entdeckt hatte. „9…“<br />
Vorsichtig stieg ich hinab und wartete, mit der Schnur in der Hand, auf das,<br />
was unweigerlich passieren musste. „10!!!!!“ Ich zog kräftig an der Schnur, der<br />
Stuhl fiel um und Mr. Anderson, der gerade versucht hatte, die Tür mit der<br />
Kraft seines Körpers zu öffnen, flog ins Zimmer. Er blieb am Stuhl hängen und<br />
fiel mit voller Wucht auf die Nase. Aus Mr. Andersons Nase schoss sofort das<br />
Blut. Er wurde rasend vor Zorn und durchsuchte die Schränke nach mir. Er<br />
sah überall nach, aber ich hatte mich längst durch den Geheimgang aus dem<br />
Staub gemacht. Durch die dicken Wände des Ganges hörte ich gedämpft den<br />
dumpfen Klang der Speisesaalglocke. Was soll’s, schließlich konnte ich mich,<br />
zumindest heute, nicht blicken lassen.Nicht wenn Mr. Anderson dort war. Ich<br />
kroch weiter und kam schließlich zu der Stelle, an der durch die Ritzen zwischen<br />
dem Gestrüpp, das den Ausgang tarnte, Sonnenstrahlen in den Gang<br />
fielen. Ich kroch aus dem Gang und klopfte den Staub von meiner Kleidung<br />
ab.<br />
Ich ging zurück zum Waisenhaus und öffnete die Eingangstür. Zu meiner Erleichterung<br />
hatte sie der Hausmeister geölt. Ich schlich den verlassenen Korridor<br />
entlang und öffnete eine weitere Tür. Sie führte in ein Büro. Ich durchquerte<br />
es und presste mein Ohr an die Tür, die in das prunkvoll eingerichtete<br />
Teezimmer der Betreuer führte.<br />
„Was??“, schrie Mr. Johnson. „Er hat dir die Nase gebrochen und ist dann<br />
verschwunden?“<br />
„Ja“, antwortete Mr. Anderson. Man konnte richtig hören, dass er sich mit<br />
einem Kühlpack die Nase zuhielt und näselte. Was mich allerdings wunderte<br />
war, dass Mr. Steven, der Direktor des Hauses, nicht da war.<br />
„Dass ich nicht lache“, gluckste Mrs. Wood und schlürfte ihren Tee. „Ein ehe<strong>mal</strong>iger<br />
Elitekämpfer der Polizei lässt sich von einem Dreikäsehoch die Nase<br />
brechen!“<br />
„Was kann ich denn dafür, wenn er die Tür so geschickt entriegelte, dass ich<br />
ins Stolpern kam, hä?“, erwiderte Mr. Anderson.<br />
Ich stellte mir vor, wie sich Mrs. Wood und Mr. Johnson über den großen Mr.<br />
Anderson, mit einem Kühlpack auf der Nase und einer Tasse Tee in der Hand,
8 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
lustig machten. Ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen, drehte mich um<br />
und ging raus auf den Korridor, rannte in mein Zimmer und brach dort in<br />
schallendes Gelächter aus.<br />
Nach ungefähr fünf Minuten hörte ich Schritte auf dem Korridor. Als die<br />
Tür auf ging, kamen drei Jungs ins Zimmer und blökten natürlich sofort los:<br />
„Mädchenjunge, Mädchenjunge!“ Und das alles nur, weil ich etwas weibliche<br />
Gesichtszüge hatte. Aber dafür werde ich mich noch revangieren, keine Sorge,<br />
ihr kleinen Nervensägen. Sie tänzelten um mich herum und lachten mich<br />
aus.<br />
„Ihr könnt froh sein, dass ich heute einen guten Tag habe“, sagte ich. „Ja ja“,<br />
sagten sie wie aus einem Mund. Ich drehte mich um und ging zurück zum<br />
Bett.<br />
„Jetzt haut er ab“, höhnte ihr Anführer. <strong>Der</strong> Mistkerl hieß Tommy.<br />
Ich warf mich aufs Bett und starrte zur Decke. Tommy nahm sein Kissen und<br />
knallte es mir mit voller Wucht in die Magengrube. Ich stöhnte und sprang<br />
sofort auf.<br />
Ich stürzte mich auf ihn und grub ihm meine Zähne in seine Schulter. Jason<br />
schrie laut auf. Die anderen standen wie versteinert da. Doch dann rannten<br />
sie los. Zac rannte in Richtung Teezimmer, aber Jason kam Tommy zur Hilfe.<br />
Sie versuchten, mich von ihm weg zu zerren, aber ich hatte mich schon zu fest<br />
in ihn verbissen. Als ich aber Schritte auf der Treppe hörte, ließ ich von ihm ab<br />
und sprang aus dem Fenster.<br />
Ich landete in einem Busch und rappelte mich sofort auf. Ich rannte so schnell,<br />
wie ich nur irgendwie konnte, in Richtung Geheimgang. Ich zerrte das Geäst<br />
auseinander und ließ mich in den dunklen Gang gleiten. Auf Knien kroch ich<br />
ihn entlang, bis ich zu einer Kreuzung aus zwei Gängen kam. Ich bog in den<br />
linken Gang und kroch weiter. Nach einer Minute kam ich in einen kleinen<br />
Raum. Dieser war mit einem umgedrehten Bierkasten, einer kleinen Kerze<br />
und jeder Menge Vorräten aus Brot, Wasser, Äpfeln und Konserven voll gestopft.<br />
Die Sachen hatte ich über Wochen heimlich nach unten geschleust. Ich<br />
setzte mich hin und zündete die Kerze mit einem Streichholz an. Ich schnappte<br />
mir einen Apfel und biss herzhaft hinein. Währenddessen dachte ich darüber<br />
nach, wie es nun weitergehen sollte. Dieses Leben hier kotzte mich an, ich<br />
hatte keine Freunde und auch unter den Betreuern nur einen, der es gut mit<br />
mir meinte. Nach gründlicher Überlegung beschloss ich, zurückzukehren und<br />
die Prügel, die ich kassieren würde, in Kauf zu nehmen. Ein<strong>mal</strong> mehr Prügel<br />
Fabian Laible: Kapitel 1 9<br />
war auch egal. Außerdem beschloss ich, meinen Geheimgang bei Gelegenheit<br />
näher zu erforschen. Bis jetzt kannte ich ja nur diese Kammer und den Ausgang.<br />
Ich blies die Kerze aus und kroch in Richtung Waisenhaus. Als ich die Tür<br />
unter meinem Bett anhob, schliefen die anderen Jungen bereits tief und fest.<br />
Ich kroch unter die Decke und machte die Augen zu.<br />
Am nächsten Morgen wurde ich unsanft aus dem Bett gerissen. Als ich die<br />
Augen öffnete, starrte mich Mr. Anderson mit wutverzerrtem Gesicht an.<br />
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du heute ausschlafen kannst“,<br />
schrie er.<br />
„Jetzt reg dich <strong>mal</strong> ab“, entgegnete ich und drehte mich weg.<br />
„Werd jetzt bloß nicht frech!“ Und mit diesen Worten nahm er mich, zerrte<br />
mich zum Waschbecken und tunkte meinen Kopf in eiskaltes Wasser. Ich<br />
strampelte und versuchte mich zu wehren, aber ich hatte keine Chance gegen<br />
Mr. Anderson. Ich bekam keine Luft mehr! Als ich dann schließlich dachte,<br />
dies<strong>mal</strong> würde er es schaffen und ich würde ertrinken, riss er mich hoch und<br />
mit den Worten: „Luft holen!“, tauchte er mich wieder unter. Das Ganze wiederholte<br />
er, bis ich fast ohnmächtig wurde und zu keiner Gegenwehr mehr<br />
fähig war.<br />
Als ich wieder zu mir kam, lag ich keuchend und mit rotem Kopf vor dem<br />
Waschbecken, in das mich Mr. Anderson mindestens 50 <strong>mal</strong> getunkt hatte.<br />
Als sich meine Atmung langsam wieder nor<strong>mal</strong>isiert hatte, stand ich auf und<br />
ging in Richtung Tür.<br />
Als ich wieder einigermaßen klar denken konnte, schwor ich mir, Mr. Anderson<br />
in Grund und Boden zu planieren. Allerdings brauchte ich dazu einen<br />
Plan. Ich setzte mich hin und dachte nach.<br />
Nach etwa fünf Minuten hörte ich die Essensglocke und ging in den Speisesaal.<br />
Unten erwartete mich ein wildes Durcheinander. Ich setzte mich auf einen<br />
Stuhl, der an einem Tisch in der Ecke stand. Fünf Minuten später wurde<br />
das Essen aus der Küche getragen. Wie immer bekamen die Betreuer als erstes<br />
ihr Essen, dann die anderen Kinder und erst am Schluss, wie immer, ich. Das<br />
Ganze dauerte so lange, dass ich erst zu Essen bekam, als die Betreuer schon<br />
fertig waren. Und bevor ich auch nur den ersten Bissen im Mund hatte, stand<br />
schon wieder Mr. Anderson vor mir. Er bäumte sich vor mir auf und schrie:<br />
„Was fällt dir eigentlich ein, dich hier blicken zu lassen?“
10 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Ich versuchte cool zu sein, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug, und<br />
antwortete: „Ich hab halt Hunger!“<br />
„Jetzt werd hier ja nicht frech!“ Seine Augen quollen schier über.<br />
„Lass mich in Ruhe“, sagte ich ruhig und stopfte mir eine Gabel Rührei in den<br />
Mund.<br />
>>> Klatsch
12 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
„Oh nein, Sie müssen sich erst bei der Chefin melden, dann können Sie mit<br />
der Arbeit beginnen. Aber da melden Sie sich erst morgen, weil sie schon<br />
nach Hause gefahren ist. Ihr jüngster Sohn hat heute nämlich Geburtstag.<br />
Aber Sie können sich noch umsehen. Melden Sie sich dann nachher bei mir,<br />
Zimmer 3, wenn Sie ins Haus reinkommen gleich rechts.“<br />
Jack war begeistert, dass die Betreuerin wie ein Wasserfall reden konnte.<br />
„Danke“, sagte Jack und lief ums Haus. Hinter dem Haus lief er den Weg<br />
entlang zu einem Bach. Es plätscherte ganz schön laut. Er setzte sich auf die<br />
Wiese und warf einen Stein ins Wasser. Doch als der Stein, den er warf, ins<br />
Wasser fiel, sah er, dass es kein Schatten war, sondern ein Schwarm Fische,<br />
der sich gerade auflöste. Er sah sich um und spürte, dass eine leichte Brise<br />
Wind in sein Gesicht blies.<br />
Jack ging an eine Stelle, wo er früher immer mit seinem Teddy gespielt hatte.<br />
Er beugte sich vor und grub in der Erde. Er zog einen Stein und einen<br />
bunten Stock heraus. Früher, als er hier gewohnt hatte, hatte er diesen Stein<br />
vergraben, und den Stock <strong>mal</strong>te er an und vergrub ihn ebenso dort. Als er<br />
damit fertig war, hatte er gesagt: „Wenn ich größer werde, werde ich diese<br />
zwei Sachen wieder ausgraben.“<br />
Und das hatte er ja jetzt auch gemacht.<br />
„Die Landschaft ist immer noch so schön, wie sie früher war“, sagte er.<br />
Plötzlich war es kälter geworden und die Sonne verschwand hinter den Wolken.<br />
Jack sagte: „Oh nein, heute ist wirklich ein trübes Wetter aber naja, ich glaube<br />
es wird Zeit, die Erkundungstour zu beenden und ins Haus zu gehen.“<br />
Ein paar Regentropfen platschten ins Wasser. Er rannte ins Haus und schaute<br />
durchs Fenster. Nach kurzer Zeit hörte es auf zu regnen. Jack lief aus dem<br />
Haus und trat aus Versehen in Matsch, er war ganz verdreckt und dachte<br />
sich, dass es hoffentlich Waschmaschinen gab. Er joggte zum Platz. Denn er<br />
wollte unbedingt sehen, ob der Spielplatz noch stand oder schon abgerissen<br />
war.<br />
„Ach Herrje, was ist denn mit dem Spielplatz passiert? <strong>Der</strong> sieht ja noch<br />
schlimmer aus als früher!“<br />
Er zog ein Foto aus seiner Tasche heraus, auf dem die Kinder zu sehen waren,<br />
die da<strong>mal</strong>s hier gespielt hatten mit Jack, auf dem schönen Spielplatz.<br />
Plötzlich sagte ein Kind hinter Jack: „Hallo! Ich glaube, Sie sind der neue<br />
Hausmeister, oder?“<br />
Beverly Tidwell: Kapitel 2 13<br />
Jack blieben die Augen stehen und er schaute das Bild an, und dann das<br />
Kind. Das Kind ähnelte Jack auf dem Foto, als er noch klein war. Es war<br />
erstaunlich.<br />
Das Kind frage erneut: „Hey, sind Sie der neue Hausmeister?“<br />
Jack sagte: „Ehmm…, ja, das bin ich, ja ja, ich bin der neue Hausmeister…“
14 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Yves Biber<br />
Kapitel 3<br />
Es war kalt, Jack machte sich die Jacke zu. Er ließ den Blick über sein neues<br />
und altes Zuhause wandern. In ihm brodelten die Erinnerungen von da<strong>mal</strong>s,<br />
als er noch ein Kind hier gewesen war. Er beobachtete die Kinder, wie<br />
sie auf dem kaputten Spielplatz herum rannten – sie liefen kreischend in<br />
der Gegend herum und spielten Fangen. Eine laue Brise kam auf und streichelte<br />
ihm das Haar. Jack musste blinzeln, er war noch müde vom gestrigen<br />
Abend.<br />
Er setzte sich in Bewegung, Richtung Haus. Dort angekommen, schauderte<br />
er ein<strong>mal</strong> und trat ein. Er lief den Flur entlang und mit jedem Schritt fluteten<br />
alte Gedanken und Bilder in ihm auf. Jack ließ den Blick gesenkt und<br />
trottete vor sich hin. Er hatte das Zimmer bekommen, das früher ein<strong>mal</strong><br />
dem Menschen gehört hatte, dem er im Waisenhaus als Kind am meisten<br />
vertraut hatte. Er öffnete langsam und vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer<br />
und legte sich in sein Bett.<br />
Vom lauten Geschrei der Kinder erwachte Jack. Er war verärgert, denn die<br />
letzte Nacht war viel zu kurz gewesen. Jack hatte sich zwar noch nicht alle<br />
Namen gemerkt, doch er wusste, von wem die Schreie kamen. Jack stand auf<br />
und zog sich an. Er wusch sich und frühstückte, danach lief er hinaus und<br />
beobachtete gelassen die Szene. Die Kinder und Lucas lachten Dave aus, weil<br />
er soeben über das ausgestreckte Bein von Lucas gestolpert war. Außerdem<br />
bewarfen sie Dave mit kleinen Steinen und Stöcken. Dave fing an zu weinen<br />
und zu brüllen. Ob er das aus Schmerzen oder aus Wut machte, wusste Jack<br />
nicht. Er wusste nur, dass Dave ihm Leid tat. Die anderen Kinder – und auch<br />
Betreuer – standen unschlüssig da und gafften vor sich hin.<br />
„Na, Jack“, fragte Mrs. Nowak, „wie gefällt’s dir hier?“<br />
Jack antwortete gehässig und abwertend: „Fast so toll wie früher hier. Und<br />
du willst dich immer noch nicht einmischen, was?“<br />
„Na und, warum sollte ich auch, diese Kinder haben doch sowieso nichts<br />
Yves Biber: Kapitel 3 15<br />
anderes im Kopf“, antwortete sie mit einem leicht gereizten Unterton.<br />
„Ach, das hier führt doch ohnehin zu nichts und wieder nichts, Mrs. Novak!“<br />
„Da haben Sie ein<strong>mal</strong> Recht, Jack! Und ehe ich es vergesse, haben Sie schon<br />
<strong>mal</strong> auf den Plan für heute geschaut?“<br />
„Nein, wieso, was ist denn heute so Besonderes hier los?“<br />
„Heute gehen Sie mit den Kindern nach dem Mittagessen in den Wald zum<br />
Spielen.“<br />
„Was?“, fragte Jack aufgebracht. „Ich habe mich noch nicht <strong>mal</strong> richtig eingelebt,<br />
und schon muss ich helfen?“<br />
„Ja, Jack, eigentlich wäre Mrs. Giggles heute dran gewesen, doch sie ist krank<br />
geworden. Und die anderen müssen sich um das Haus kümmern!“<br />
„Dann nehme ich aber Mr. Prob mit, ich kann ja nicht auf alle Kinder<br />
gleichzeitig aufpassen“, sagte Jack genervt, und schon war er verärgert und<br />
beleidigt weggegangen.<br />
Nach dem Mittagessen, das, wie Jack fand, schrecklich geschmeckt hatte,<br />
rief er: „Los jetzt, Kinder, zieht euch etwas Warmes an, denn im Wald ist es<br />
eiskalt!“ „Hey Jack, willst du dich denn nicht auch wärmer anziehen?“<br />
„Nein, Lisa, mir ist auch so schon warm genug. Und jetzt mach <strong>mal</strong> schneller,<br />
sonst müssen wir ohne dich losgehen!“<br />
Auf dem Weg zum Wald sprach Jack mit niemandem – mit wem denn auch?<br />
Es gab ja hier keinen, mit dem er seine Geheimnisse bereden konnte. Er lief<br />
hinter den Anderen her und träumte vor sich hin.<br />
Er beobachtete die Eichhörnchen, wie sie von Ast zu Ast sprangen und versuchten,<br />
sich zu fangen. Er beobachtete die Vögel, wie sie umher flogen und<br />
dabei den Wald mit ihrem schönen, hellen und fröhlichen Gezwitscher erfüllten.<br />
Er sah den Kindern hinterher, wie sie herumrannten und Fangen<br />
spielten.<br />
Er sah zu Mr. Prob hinüber und überlegte, was dieser beim Anblick der Kinder<br />
wohl dachte.<br />
Jack ging zu Mr. Prob und sagte: „Ich schau mich hier <strong>mal</strong> um.“<br />
Und schon war er wieder in Bewegung, jedoch lief er nicht zurück Richtung<br />
Haus, sondern tiefer in den Wald hinein. Jack lief und dachte nach, er dachte<br />
an die alten Zeiten und wie er hier früher gespielt hatte. Als er wieder aufblickte,<br />
war er verwundert, dass es schon dämmerte. Er machte sich wieder<br />
auf den Rückweg.
16 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Als er dann, es war schon sehr spät, wieder ins Kinderheim kam, fragte Mr.<br />
Prob leicht wütend: „Jack, wo bist du denn geblieben? Jetzt musste ich auch<br />
noch das machen, was eigentlich dein Job gewesen wäre, und zwar auf die<br />
Kinder aufpassen. Nächstes Mal musst du alleine gehen. Und ich mach mir<br />
dann einen schönen Tag!“<br />
„Es tut mir ja Leid, Mr. Prob, doch ich habe einfach vor mich hin gedöst und<br />
zu spät gemerkt, wie spät es ist.“<br />
„Tja, Jack: Dummheit schützt vor Strafe nicht, und jetzt noch eine gute<br />
Nacht!“<br />
Am nächsten Tag ging Jack wieder in den Wald, doch dieses Mal nicht, um<br />
spazieren zu gehen, sondern um auf die Kinder aufzupassen. Er marschierte<br />
mit den anderen Kindern zu einem Ort, den er am vorigen Abend entdeckt<br />
hatte. Als sie dort ankamen, rief Jack: „Wir sind da, ihr könnt jetzt spielen!“<br />
Die meisten Kinder rannten lachend über den Platz. Jack ahnte ja nicht, dass<br />
dies das erste Mal seit langem war, dass diese Kinder lachten.<br />
Da kam wieder Lisa zu ihm hin und fragte: „Jack, kannst du immer mit uns<br />
hierher kommen?“<br />
„Nein, Lisa, tut mir Leid, aber ich bin ja auch kein Betreuer, sondern nur der<br />
Hausmeister. Ich müsste eigentlich danach schauen, dass im Haus alles in<br />
Ordnung ist.“<br />
Lisa streckte ihm die Zunge raus und ging fort.<br />
Jack schaute ihr hinterher und lächelte in sich hinein.<br />
Als es wieder dämmerte, rief er die Anderen zusammen und ging mit ihnen<br />
zurück ins Kinderheim.<br />
Dort angekommen, aßen die Kinder ihr Abendbrot und gingen schlafen.<br />
Mr. Brown kam auf Jack zu und sagte: „Jack, die Abflussrohre tropfen, könntest<br />
du sie reparieren?“<br />
„Ja, klar doch! Ich mach das gleich morgen.“<br />
Am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, machte er sich auch sogleich an die<br />
Arbeit. Zu allererst räumte er den Geräteschuppen auf, dann hackte er Holz<br />
für den Ofen und brachte das Holz ins Haus.<br />
Anschließend reparierte er die Abflussrohre. Als er mit seiner Arbeit fertig<br />
war, wechselte er seine verschwitzen Kleider und ging Mittag essen. Als die<br />
Mittagspause zu Ende war, zog er wieder die Arbeitssachen an und machte<br />
sich an die Aufgabe, Tische, Stühle, Betten und Schränke zu reparieren.<br />
Yves Biber: Kapitel 3 17<br />
Er schaffte es erst fertig zu werden, als die Anderen wieder aus dem Wald<br />
kamen. Er aß mit ihnen zusammen und ging dann rasch in sein Zimmer,<br />
um sich zu waschen. Dann zog er sich um und plumpste wie ein Stein in sein<br />
Bett. Jack schlief sofort ein, so müde war er von seiner heutigen Arbeit.<br />
Jack träumte davon, wie er hier in diesem Kinderheim geschlagen worden<br />
war. Er wachte schweißgebadet auf.<br />
Er wusch sich das Gesicht und versuchte immer wieder einzuschlafen, doch<br />
immer wenn er kurz davor war, gingen ihm diese schrecklichen Bilder durch<br />
den Kopf und er wurde wieder hellwach. Irgendwann schließlich siegte doch<br />
die Müdigkeit und er fiel in einen unruhigen Halbschlaf.
18 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Jasmina Jooß<br />
Kapitel 4<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Es gab sozusagen eine Clique im Waisenhaus: Tommy, Jason, Zac und Cindy.<br />
Tommy war der Schlimmste von ihnen. Er war der Anführer der Bande. Er<br />
war der, der mich am meisten ärgerte.<br />
Ich wollte zum Beispiel mit den anderen Jungs mit den kleinen Autos spielen,<br />
die es für uns im Waisenhaus gab, aber immer wenn ich fragte, ob ich mitspielen<br />
dürfte, beleidigten sie mich und sagten, dass Dunkelhäutige bei ihnen<br />
nicht mitspielen dürften. Immer wenn sie das zu mir sagten, war ich immer<br />
total traurig!<br />
Wenn ich nicht gehen wollte, dann schmissen sie auch öfters <strong>mal</strong> mit den Autos<br />
nach mir. Aber dass sie nach mir warfen, war noch das Harmloseste! Auch<br />
wenn ich dann irgendwo saß und für mich allein spielte, kamen sie auf mich<br />
zu, und bevor ich weglaufen konnte, fingen sie an mich zu schlagen. Als ich<br />
dann versuchte mich loszureißen, weil sie mich festhielten, zerrissen sie meine<br />
Klamotten.<br />
Und auch die Betreuer wurden immer ungerechter und gemeiner. Ich erinnere<br />
mich, wie ich dann ein<strong>mal</strong> zu einem von ihnen ging und sagte, dass meine<br />
Klamotten von den anderen Kindern zerrissen worden waren, aber dieser Betreuer<br />
sagte nur, dass ich besser aufpassen sollte. Er behauptete auch noch,<br />
dass ich immer die anderen Kinder ärgerte – doch dabei ärgerten sie ja immer<br />
mich!<br />
Auch die anderen Betreuer waren nicht netter zu mir. Sie beleidigten mich<br />
ständig wegen meiner Hautfarbe und schrien mich immer an, auch wenn ich<br />
gar nichts gemacht hatte oder nichts dafür konnte. Die anderen Kinder bekamen<br />
nie Ärger, und wenn sie doch Schuld hatten, dann schoben sie immer<br />
alles auf mich. Die Betreuer glaubten das auch. Wenn ich was sagen wollte,<br />
wurde mir immer der Mund verboten.<br />
Jasmina Jooß: Kapitel 4 19<br />
Wenn ich mich dann <strong>mal</strong> durchsetzte, wurde ich immer bestraft und aufs Zimmer<br />
geschickt. Immer wenn ich dann auf mein Zimmer ging, kamen Tommy<br />
und seine Bande und ärgerten mich wieder. Wenn dann die Betreuer kamen,<br />
um mir zu sagen, was ich für eine Strafe bekam, rannten sie schnell weg.<br />
Und so wurde ich immer von allen geärgert, egal ob es die Betreuer oder die<br />
Kinder waren. Sie waren alle immer gemein zu mir.<br />
Ich hab immer gehofft, dass irgendwann eine nette Pflegefamilie kommen und<br />
mich adoptieren würde, aber immer haben alle gesagt, dass mich doch sowieso<br />
keiner will und dass sie schon gar keinen Dunkelhäutigen wollen.<br />
Irgendwann hatte ich aufgegeben daran zu glauben, weil niemand in den<br />
ganzen Jahren kam, um mich abzuholen. Und wenn eine Familie kam, um<br />
jemanden zu holen, war ich es nie!<br />
Ich war ein unglücklicher Junge, wurde geschlagen und beleidigt, hatte keine<br />
Freunde, weil ich dunkelhäutig war und keiner mit mir spielen wollte. Und<br />
viel Spaß im Waisenhaus hatte ich auch nie!
20 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Antonia Prusina<br />
Kapitel 5<br />
Am frühen Morgen musste Jack die Lampen im Esszimmer reparieren, als<br />
Dave in das Zimmer kam.<br />
Jack sprach Dave an: „Dave, was ist los mit dir, du siehst so bedrückt aus? Du<br />
kannst es mir erzählen, wenn du möchtest.“<br />
Dave hörte nicht zu. Er war nämlich sehr traurig.<br />
Jack probierte es noch ein<strong>mal</strong>: „Dave? Was ist los?“<br />
Dieses Mal hörte er und sagte: „Tut mir Leid, ich bin gerade nicht in der<br />
Stimmung zu reden.“ Dave ging weiter in Richtung Jungenzimmer, da kam<br />
Max und lief ihm hinterher. Max war einer der Gemeinen. Vor ihm lief Dave<br />
weg. Was sollte Jack nur tun? Er mochte Dave. Sollte er ihm helfen oder<br />
einfach weiter machen?<br />
Sein Herz befahl ihm, zu Dave zu gehen und ihm zu helfen. Dave lag in seinem<br />
Bett und versuchte ein Buch zu lesen, doch Max ärgerte ihn und nahm<br />
ihm das Buch weg.<br />
„Oh, will das Baby etwa lesen? Kann das Baby das überhaupt?“<br />
Dave versuchte sich zu wehren, doch gegen Max hatte er keine Chance. In<br />
diesem Moment kam Jack dazwischen.<br />
„Ihr zwei, hört jetzt sofort auf. Habt ihr verstanden? Max, ärger Dave nicht<br />
immer. Du kannst dich ja wohl nicht an Jungen in deinem Alter abreagieren,<br />
stimmt’s? Gegen die hättest du ja keine Chance – aber gegen kleinere<br />
Jungen!“<br />
Max streckte Dave die Zunge raus und ging aus dem Zimmer.<br />
„Was sollte das, Jack? Ich hätte ihn doch fertig machen können, ohne dich!“<br />
Jack aber fand das nicht so: „Nein, hättest du nicht. Max ist größer und älter<br />
als du, was hättest du gegen ihn denn bitte gemacht?“<br />
„Weiß ich nicht. Irgendwas wäre mir schon eingefallen. Selbst wenn nicht,<br />
was geht es dich an? Nur weil du ein Mann bist, denkst du, du könntest hier<br />
den Helden spielen?“<br />
Antonia Prusina: Kapitel 5 21<br />
„Nein Dave, ich wollte dir nur helfen. Ich wurde doch früher auch immer<br />
geärgert. Genau wie du! Mir hat aber da<strong>mal</strong>s niemand angeboten zu helfen,<br />
alle waren gemein zu mir. Verstehst du es jetzt vielleicht?“<br />
„Das ist so unfair, ich werde doch jetzt noch mehr geärgert.“<br />
Jack wusste jetzt nicht mehr weiter, aber irgendwie musste er ihm doch helfen.<br />
„Ich helfe dir gerne, du kannst immer zu mir kommen, wenn du Sorgen<br />
hast oder Kummer. Sag mir alles, wobei ich dir helfen kann. Vertrau mir!“<br />
„Vertrauen tue ich hier niemandem, hier sind alle gemein zu mir. Und dich<br />
kenne ich ja nicht ein<strong>mal</strong>!“<br />
Er ging jetzt aus dem Zimmer in den Garten, vielleicht konnte er ja doch<br />
noch ein bisschen spielen. Jack dachte nach: „Warum vertraut er mir nicht,<br />
bin ich so ein schlimmer Mann? Vielleicht ahnt er ja was von meinem großen<br />
Plan? Und wenn, dann sagt er es bestimmt der Chefin! Oh, ich weiß es<br />
einfach nicht. Ich rede morgen noch ein<strong>mal</strong> mit ihm, vielleicht ändert er<br />
seine Meinung doch noch.“<br />
Jack ging wieder in das Esszimmer, um die Lampen fertig zu reparieren.<br />
Durch das Fenster konnte er Dave beobachten. Er mochte ihn sehr, immer<br />
wenn er ihn sah, sah er sich selbst als Jungen.<br />
Am nächsten Tag wollte Jack noch ein<strong>mal</strong> mit Dave reden. Doch Dave war<br />
wieder ein<strong>mal</strong> traurig. Alle ärgerten ihn. Jack wollte helfen.<br />
„Dave, bist du wieder traurig, willst du reden?“<br />
„Ach lass mich doch in Ruhe, alle sollen mich in Ruhe lassen. Sie sind so<br />
gemein zu mir, Max hat mich wieder vor den Anderen blamiert. Es war<br />
so peinlich. Er hat gesagt, ich soll mit ihm spielen, und ich habe ihm geglaubt<br />
und habe mit ihm gespielt. Nach einer Weile hat er gesagt, wir sollen<br />
schaukeln gehen und er möchte mich anschubsen. Doch als ich mich auf die<br />
Schaukel setzte, ging sie kaputt. Max hatte mich dann so ausgelacht. Das<br />
war so peinlich für mich.“<br />
„Na gut, ich werde die Schaukel reparieren. Und dir gebe ich den Rat: Wehre<br />
dich, lass das nicht so auf dir sitzen. Du musst dich rächen!“<br />
Jack sagte das mit einem so psychischen Blick, dass Dave Angst bekam und<br />
dazu nur sagte: „Ja.“<br />
Er verließ den Raum und ging in die Toilette, um sich das Gesicht zu waschen.<br />
Währenddessen dachte Jack darüber nach, was in Dave vorging. Was<br />
genau er noch tun musste, damit für seinen Plan alles perfekt war. Ja, Dave
22 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
wird mich noch genau kennen lernen, dachte er, so wird er irgendwann <strong>mal</strong><br />
Vertrauen zu mir entwickeln! Doch kann er so lange warten?<br />
Dave hatte irgendwie Angst vor Jack. Was sollte er tun? Was wollte Jack tun?<br />
Warum wollte Jack unbedingt, dass er ihm vertraute? War es wirklich nur<br />
wegen der Sache mit dem Ärgern? Was sollte diese ganze Sache? Das waren<br />
alles sehr schwere Fragen, die er nur beantworten konnte, wenn er der Sache<br />
auf den Grund ging. Jack war sehr mysteriös. Aber trotzdem brauchte er<br />
endlich Antworten auf seine Fragen. So viele Gedanken waren gerade in<br />
seinem Kopf. Das machte ihn sehr müde. Auch die Sache mit Max. Er hatte<br />
gedacht, Max wollte jetzt doch mit ihm befreundet sein. Das Alleinsein<br />
machte ihn ganz verrückt. Während dem Nachdenken besiegte ihn seine<br />
Müdigkeit, er schlief ein.<br />
Jack packte währenddessen seine paar Kisten aus, die er aus seinem alten<br />
Zuhause mitgebracht hatte.<br />
Ali Hussein: Kapitel 6 23<br />
Ali Hussein<br />
Kapitel 6<br />
In einer der Kisten fand Jack seinen alten Teddybär. Er erinnerte sich daran,<br />
wie wichtig dieser Teddy für ihn gewesen war.<br />
Da<strong>mal</strong>s, als Jack im Waisenhaus lebte, hatten ihn fast alle Kinder nur gemobbt<br />
und nicht respektiert. Es war eine schlimme Zeit für Jack. Immer<br />
wenn er sich zum Essen hinsetzen wollte, zogen sie ihm den Stuhl weg, damit<br />
er hinfiel. Auch beim Fangen spielen stellten ihm die Kinder ein Bein,<br />
damit er stolperte und sich verletzte. Die Kinder konnten Jack nicht leiden.<br />
Die Betreuer bekamen sogar mit, dass Jack gemobbt wurde, doch sie reagierten<br />
nicht immer. Sogar die Betreuer konnten Jack nicht richtig leiden, weil<br />
er zu Beginn oft andere Kinder verprügelt hatte. Nur Mr. Johnson konnte<br />
Jack verstehen, denn er versetzte sich öfter in die Lage von Jack und wusste<br />
auch, wie schlecht und einsam Jack sich fühlte. Mr. Johnson war 24 Jahre<br />
Alt, ca. 1,80 Meter groß, er hatte schwarze Haare und war sehr nett. Als er<br />
Jack erklärte, dass er Fehler machte, sah er es ein.<br />
Jack konnte Mr. Johnson ebenso gut leiden, und er war sogar wie ein Vorbild<br />
für ihn. Jack hatte sich vorgenommen, niemanden mehr zu schlagen,<br />
zu treten, zu hauen oder zu verletzen. Jack sagte Mr. Johnson, dass es zu<br />
spät sei, sich zu verändern, denn alle Kinder hassten ihn ja schon. Jack versuchte<br />
immer wieder, sich mit den Kindern anzufreunden, doch die Kinder<br />
ignorierten ihn und meinten, dass sie keinen Schlägertypen gebrauchen<br />
könnten. Jack gab zu, dass er das erste und zweite Jahr im Waisenhaus gewalttätig<br />
gewesen war, doch er wusste nicht, warum sie ihn immer noch<br />
nicht akzeptierten, obwohl das schon vier Jahre her war.<br />
Jack war vier Jahre lang nur allein. Er hatte keine Freunde und er fühlte<br />
sich sehr einsam. Oft war es auch so, dass die Kinder ihn weg schickten,<br />
wenn er mit ihnen etwas unternehmen wollte oder wenn er mit ihnen spielen<br />
wollte.<br />
Jack hatte auch oft daran gedacht, Selbstmord zu begehen. Er versuchte schon<br />
ein paar Mal, sich zu erstechen, doch er hatte nie den Mut dazu. Eines Tages<br />
verlor Jack den Glauben daran, endlich Freunde zu finden. Also schlich er
24 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
sich in die Küche. Als er in der Küche ankam, schnappte er sich ein Messer.<br />
Er hob das Messer vor seine Brust, mit der Klinge an seinem Herzen. Er<br />
drückte langsam gegen seine Brust und er fing ein bisschen an zu weinen.<br />
Er hörte auf zu drücken und legte das Messer wieder weg.<br />
Er dachte noch <strong>mal</strong> darüber nach, was der beste Weg für ihn sei und nahm<br />
das Messer wieder in die Hand. Jetzt war die scharfe Klinge an seiner Pulsschlagader.<br />
Er spürte die eiserne Kälte der scharfen Klinge. Am Anfang ritzte<br />
er sich leicht. Er dachte an seine schlimme Zeit, ganz allein, und fing an,<br />
etwas stärker zu ritzen. Es waren keine kleinen Kratzer mehr. Blut tropfte in<br />
zirka einem Fünfsekundentakt auf den Boden. Er konnte nicht fassen, was<br />
er gerade tat.<br />
Plötzlich kam die Küchenfrau und sah Jack erschrocken an. Zuerst schaute<br />
sie ihn an, dann das Blut auf dem Boden, und dann wieder zu ihm.<br />
Sie sagte ihm, dass er langsam das Messer hinlegen und keinen Blödsinn<br />
machen sollte. Er ging zwei Schritte zurück und hörte nicht auf sie. Als Jack<br />
sich grade erstechen wollte und Schwung holte, kam Mr. Johnson gerade<br />
noch rechtzeitig. Schnell kam die Küchenfrau und nahm Jack das Messer<br />
aus der Hand. Seit diesem Tag schlossen sie immer die Küchentür zu, damit<br />
so etwas nie wieder passierte.<br />
Nach dieser Aktion von Jack erklärte Mr. Johnson ihm, dass er so was nicht<br />
machen sollte. Zwei Wochen lang dachte Jack viel darüber nach, was er machen<br />
sollte. Er entschied sich wieder dafür, Freunde zu suchen. Eines Tages<br />
lohnte es sich. Zwei Kinder mochten ihn jetzt und spielten manch<strong>mal</strong> mit<br />
ihm ein Spiel. Ein paar andere Kinder bemerkten, dass Jack sich verändert<br />
hatte und gingen zu ihm, um auch mit ihm zu spielen. Mit der Zeit mochten<br />
ihn immer mehr Kinder und Betreuer und er schaffte es, dass ihn jetzt jeder<br />
leiden konnte.<br />
Jack wurde unter den Kindern sehr beliebt. Mr. Johnson war sehr stolz auf<br />
Jack. Und auch Jack war stolz auf sich, dass er es geschafft hatte. Mr. Johnson<br />
war so stolz auf ihn, dass er ihm einen Teddybär schenkte. Er liebte den<br />
Teddybär sehr, denn immer wenn er den Teddybären ansah, fühlte er sich<br />
stolz und froh.<br />
Er vergaß nie die Zeit im Waisenhaus. <strong>Der</strong> Teddybär hatte ihn immer daran<br />
erinnert. Ebenso hatte er den Teddybären geliebt, weil er ihn von einer Person<br />
geschenkt bekommen hatte, die er sehr mochte. <strong>Der</strong> Teddy war auch wie<br />
ein Video für Jack. Immer wenn er den Teddy anschaute, erinnert er sich an<br />
die guten und schlechten Zeiten im Waisenhaus.<br />
Carolyn Gläßer: Kapitel 7 25<br />
Carolyn Gläßer<br />
Kapitel 7<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Ich weiß noch ganz genau, dass es ein Freitag war. Es hatte schon die ganze<br />
Woche geregnet, und wir konnten uns draußen nicht austoben. Also verging<br />
ein weiterer Tag in diesem farblosen, ungemütlichen Zimmer. Es war kalt –<br />
keine Heizung funktionierte.<br />
Dick in meine Decke eingemurmelt, beobachtete ich, wie der Regen leise an<br />
mein Fenster klopfte. Die Stimmung war angespannt! Kein Wunder, die ganze<br />
Woche konnte man nichts anderes tun als in die Schule zu gehen, zu essen,<br />
Hausaufgaben zu machen oder ein Buch zu lesen. Bei den Brettspielen wollen<br />
wir gar nicht erst anfangen! Mit diesen alten, vielleicht schon steinalten<br />
Brettspielen, mit denen wahrscheinlich schon Prinz Charles in seiner Kindheit<br />
gespielt hatte, wollte kein Kind spielen. Aus Angst ein Wort zu sagen, blieb<br />
uns nichts anderes übrig als zu schweigen. Uns allen fiel es schwer, denn wir<br />
wollten uns doch bewegen!<br />
Natürlich hatten wir auch einige Unruhestifter, wie den frechen Tommy und<br />
natürlich Jason, die sich an keine einzige Regel im Waisenhaus hielten.<br />
Die Betreuer interessierte das nicht sonderlich. Hinter ihrem Rücken konnte<br />
man alles anrichten. Und genau das wussten die beiden. Ich war ein Außenseiter<br />
mit nicht viel Selbstbewusstsein, muss ich zugeben. Unter meinem mangelnden<br />
Selbstbewusstsein litt ich sehr.<br />
Dauerhaftes Auslachen und Fertigmachen machten mich jeden Tag trauriger.<br />
Und jeden Tag verlor ich mehr und mehr von meinem Selbstbewusstsein. Ich<br />
verkroch mich schon in der kleinsten Ecke des Hauses, doch immer wieder lief<br />
es auf das Gleiche hinaus.<br />
Sie fanden mich überall. Sie konnten mich einfach nie in Ruhe lassen, genau<br />
wie heute. Ich versuchte, ihre ständigen Kommentare und Beleidigungen zu<br />
ignorieren, indem ich mich von den Unruhestiftern fern hielt und so tat, als<br />
wäre ich gar nicht in diesem Raum. Doch als einziger Außenseiter kann man
26 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
nicht viel machen. Es war auch schon vorgekommen, dass sie schon zu zehnt<br />
vor mir standen. Zehn gegen mich.<br />
Ich konnte nichts machen. Ich war einfach zu schwach.<br />
Mir kam es vor, als würden sie mir wie Spione hinterherlaufen.<br />
Nicht gerade das tollste Gefühl, zu wissen, dass man ständig verfolgt wird.<br />
Als mir plötzlich einfiel, dass ich meine geliebte schwarze Armbanduhr auf<br />
dem Waschbecken liegen gelassen hatte, sprang ich wie ein Blitz auf und rannte<br />
ins Badezimmer, dorthin, wo meine Armbanduhr lag.<br />
Weil die Anderen nichts Besseres zu tun hatten, liefen sie mir jägerisch hinterher,<br />
dicht an meinen Fersen. Ich lief immer schneller und schneller, bis<br />
ich über meine eigenen Beine keine Kontrolle mehr hatte. Und schwupp fiel<br />
ich in hohem Bogen über das Parkett im Erdgeschoss. Kleine runde Fenster<br />
schmückten die Wände.<br />
Wenig Licht drang in die Diele ein. Noch ein Grund mehr, weshalb ich das<br />
Parkett mit meinem verwaschenen Pullover wischte. Ich lag auf dem Rücken.<br />
Meine Umgebung war verschwommen. Ich erkannte nur, dass sich alle Kinder<br />
über mich lustig machten.<br />
In einem dichten Kreis grenzten sie mich ein. Ich setzte mich auf.<br />
Nun sah ich, wie alle lachten. Tommy schnappte nur noch nach Luft. Ich fand<br />
das gar nicht witzig.<br />
„Na, sind wir hier zu schnell gelaufen?“, sagte er gemein.<br />
Ich sagte nichts.<br />
„Muss er sich wiederholen?“, fragte Cindy in einem bedrohlichen Tonfall.<br />
Erneut antwortete ich nicht.<br />
„Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen, oder was?“, sagte Tommy und schlug<br />
mir mit der Faust in den Bauch, sodass ich mich vor Schmerz nach vorne<br />
krümmte.<br />
„Aua“, schrie ich vor Schmerz und unterdrückte meine Tränen. Wie konnte<br />
man nur so gemein zu einem Menschen sein?<br />
„Warum macht ihr das? Lasst mich doch einfach in Ruhe! Ich habe euch nichts<br />
getan, und ihr behandelt mich wie ein Stück Dreck.“<br />
„Och“, sagte Zac und mischte sich ein.<br />
„Brauchst du jetzt auch noch eine Runde Mitleid?“, fuhr er fort.<br />
Nicht auch noch der! Ich schüttelte schüchtern den Kopf. Aus Angst, wieder<br />
geschlagen zu werden, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stand<br />
auf.<br />
Carolyn Gläßer: Kapitel 7 27<br />
Ich sah keinen Weg, mich alleine aus diesem Kreis zu befreien.<br />
„Wer hätte denn gedacht, dass unser kleiner Jack auch <strong>mal</strong> wieder aufsteht?“,<br />
riss mich Cindys Stimme aus meinen Gedanken. Alle fingen erneut an laut<br />
zu lachen.<br />
Unter diesem Gelächter hörte man nichts. Nicht <strong>mal</strong> meinem Atem konnte<br />
ich folgen.<br />
Ich spürte nur, wie er schnell durch meinen Körper fegte. Mein Herz hatte<br />
noch nie so schnell gepocht wie heute. Ich vermute, das war meine Angst.<br />
Plötzlich wurde es ganz still. Zuerst begriff ich nicht, warum.<br />
Doch dann ertönte die Stimme von Mr. Johnson. Er war meine letzte Hoffnung.<br />
Bei jedem Schritt, mit dem er sich uns näherte, knarrte das alte Parkett. Es<br />
war gruselig – wie in einem Spukschloss. Mr. Johnson warf ihnen böse Blicke<br />
zu.<br />
„Was soll das?“, fragte er laut. Ich zuckte zusammen. Ich staunte.<br />
So kannte ich ihn gar nicht. Er war eigentlich immer ein sehr ruhiger, geduldiger<br />
Mensch. <strong>Der</strong> einzige Nette in diesem Waisenhaus, dem ich etwas anvertrauen<br />
konnte. Und nur er wusste über meinen Zustand im Waisenhaus ganz<br />
genau Bescheid.<br />
Er hatte mir versprochen, immer für mich da zu sein.<br />
„Verdammt noch <strong>mal</strong>, was soll das?“, wiederholte er, dies<strong>mal</strong> lauter.<br />
Keiner antwortete ihm. Jetzt auf ein<strong>mal</strong> waren sie feige. Solche Vollidioten!<br />
Erst die Klappe nicht zu bekommen – und dann verstummen!<br />
So sind doch die Meisten. Mr. Johnson riss die Kette, die sie um mich gemacht<br />
hatten. Jeder Einzelne der zehn ging einen Schritt zurück. Mr. Johnson ging<br />
auf mich zu.<br />
„Bist du in Ordnung?“, flüsterte er mir ins Ohr.<br />
Es war so, als hätte ich einen Kloß im Hals. Ich bekam einfach kein Wort raus.<br />
Schlagartig drehte er sich um.<br />
„Verschwindet! Ich will euch heute Abend nicht mehr sehen!“, brüllte er sie<br />
an.<br />
Kaum zu glauben, dass diese freche Bande wirklich sofort wegging.<br />
„Komm, lass uns in mein Büro gehen“, forderte er mich auf und legte seine<br />
Hand um meine Schultern. Es war ein wohliges Gefühl. Langsam gingen wir<br />
dann in Richtung Büro. Dort war es warm und sehr gemütlich. Diese rote<br />
Wand faszinierte mich sofort. Und vor dieser roten Wand stand ein braunes
28 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Sofa. Ich setzte mich, es war sehr bequem. Ich fühlte mich von Anfang an sehr<br />
wohl. Gegenüber von dem Sofa saß ein süßer Teddybär. Ich stand auf und griff<br />
nach dem Teddy. Mit ihm konnte ich schmusen wie mit keinem. Sofort hatte<br />
ich den Teddy in mein Herz geschlossen.<br />
Es war ein brauner Teddy, der ein bisschen größer als eine Wassermelone war.<br />
Er hatte schwarze Kulleraugen und ein weiches Fell. Er sah schon ein bisschen<br />
abgenutzt aus. Das störte mich aber nicht. Auf ein<strong>mal</strong> merkte ich die Blicke<br />
von Mr. Johnson.<br />
„Wenn du willst, schenke ich dir diesen Teddy“, sagte er sehr spontan und<br />
zauberte mir ein breites Lächeln ins Gesicht. „Du musst aber gut auf ihn aufpassen“,<br />
verordnete er mir. „Er war ein Geschenk meiner Großmutter. Sie ist<br />
vor einem halben Jahr gestorben und sie hat mir da<strong>mal</strong>s den Teddybär zu<br />
meinem sechsten Geburtstag geschenkt“, erklärte er mir. „Er ist schon 30 Jahre<br />
alt“, versicherte er mir.<br />
„Keine Sorge, Mr. Johnson“, sagte ich überzeugend. „Ich werde gut auf ihn<br />
aufpassen. Ich verstecke ihn sogar, damit ihn auch keiner findet und ihn mir<br />
wegnehmen kann“, erklärte ich ihm glücklich.<br />
„Jetzt ist der Teddy aber froh, wieder einen lieben Besitzer zu haben. Und ich<br />
verrate dir eins“, sagte er. „Er liebt es zu kuscheln.“<br />
Ich lachte zum ersten Mal seit langem wieder.<br />
Mr. Johnson hatte mir meinen sehnlichsten Wunsch aus den Augen abgelesen.<br />
Endlich hatte ich eine Sache, die mir anvertraut wurde. <strong>Der</strong> Bär war nun<br />
endlich meiner.<br />
Ich war stolz und umarmte Mr. Johnson.<br />
„Tausend Dank“, sagte ich und hüpfte glücklich in seinem Büro herum.<br />
<strong>Der</strong> Teddy flößte mir Mut ein, und dann war ich auch schon verschwunden.<br />
Ich lief noch schnell ins Badezimmer und legte mir meine Armbanduhr an.<br />
Mich wunderte es, dass die Armbanduhr immer noch an derselben Stelle lag,<br />
an der ich sie zurück gelassen hatte.<br />
Fabian Ajtnik: Kapitel 8 29<br />
Fabian Ajtnik<br />
Kapitel 8<br />
Dave war <strong>mal</strong> wieder langweilig. Ihm war immer langweilig, denn er hatte<br />
ja keine Freunde. Niemand wollte mit ihm spielen. Er legte sich in sein Bett,<br />
schaute nach oben an die Decke, die ganz schön kaputt war. Die Decke sah<br />
aus, als wäre dort eine Rakete eingeschlagen. Die Tapete ging ab, sie hing sogar<br />
ein bisschen hinunter – und man sah die einzelnen Bausteine, mit denen<br />
die Decke gebaut worden war. Die Decke war nicht mehr weiß und schön,<br />
sondern sie war schmutzig, verdreckt und sehr eklig.<br />
„Was kann ich heute bloß ganz alleine machen?“, fragte sich Dave. „Ich kann<br />
ja heute wieder <strong>mal</strong> Kinder anschauen, die sich amüsieren und Spaß haben.<br />
Oder soll ich <strong>mal</strong> versuchen, ob vielleicht doch ein Kind mit mir spielen<br />
will? Das lass ich <strong>mal</strong> lieber, denn ich weiß ja wieder, was rauskommt. Entweder:<br />
‚Ich habe gerade keine Zeit’ oder ,Ich will nicht mit dir spielen’ oder<br />
sie lachen mich einfach nur aus.“<br />
Dave blieb jetzt erst <strong>mal</strong> in seinem Bett liegen, bis Mr. Prob (einer der Betreuer)<br />
zehn Minuten später rief: „Essen ist fertig.“<br />
Dave schaute auf die Uhr. Es war gerade <strong>mal</strong> 18.21Uhr, neun Minuten früher<br />
als sonst. Er ärgerte sich natürlich nicht darüber, denn er hatte jetzt schon<br />
einen sehr großen Hunger. Er sprang aus seinem Bett, in seine selbst gemachten<br />
Hauschuhe, rannte zum Esstisch, setzte sich hin und fing an zu<br />
essen. Das Essen lief wie immer ab.<br />
Nachdem alle fertig waren, mussten sie sich alle waschen, Bett-fertig machen<br />
und so langsam ins Bett gehen.<br />
Bevor Dave ins Bett ging, schaute er noch ein<strong>mal</strong> auf die Uhr. Es war nun<br />
kurz nach 20 Uhr. Plötzlich sah Dave, wie Lucas und Matilda ihn sehr verwirrt<br />
anschauten und kurz darauf höllisch lachten. Dave hatte das Gefühl,<br />
dass die beiden irgend etwas im Schilde führten. Ihm gefiel das gar nicht,<br />
und so beobachtete er die beiden noch ein bisschen. Lucas und Mathilda<br />
saßen hinten in einer verschmutzten Ecke, als wollten sie nicht gesehen wer-
30 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
den – sie beobachteten ihn. Dave sah die beiden ganz genau, denn sie bekamen<br />
ab und zu, wenn sie Dave anschauten, höllische Lachanfälle. Lange hielt<br />
Dave es nicht mehr aus, die beiden zu beobachten und in seinen Gedanken<br />
herauszufinden, warum sie so höllisch lachten, denn er wurde immer müder<br />
und müder. Ein paar Minuten später schlief er schon ein.<br />
Dave wachte nur ein<strong>mal</strong> in der Nacht auf, durch ein merkwürdiges Kitzeln<br />
an seiner Nase, denn er war an seiner Nase sehr kitzelig. Er setzte sich ruhig<br />
auf sein Bett und schaute sich erst <strong>mal</strong> ein bisschen um. Als ihm nichts<br />
Merkwürdiges auffiel, legte er sich wieder hin und schlief ein.<br />
Am Morgen wachte er durch ein paar laute Kinder auf, die gerade spielten.<br />
Er schaute auf die Uhr. Es war gerade <strong>mal</strong> acht Uhr. Es war ganz schön früh<br />
für seine Verhältnisse, denn er schlief meistens bis neun Uhr. Es war ihm<br />
aber egal. Er hatte sowieso keine Lust mehr, weiter zu schlafen. Dave stieg<br />
mit einem lauten Gähnen aus seinem Bett in seine schönen blau-gelb gestreiften<br />
Hausschuhe. Die Hausschuhe hatte nämlich keiner, denn er hatte<br />
sie selber gemacht. Er hatte ganze zwei Wochen dafür gebraucht. Er hatte<br />
Stoffreste zusammen genäht, sodass es nett aussah.<br />
Als er in seine Hausschuhe schlüpfte, merkte er ein sehr komisches klebriges,<br />
flüssiges Gefühl. Er versuchte seine Hausschuhe wieder auszuziehen,<br />
um zu schauen, was dort drinnen war. Es ging aber nicht. Da merkte er, dass<br />
sein Fuß an dem Hausschuh festklebte. Er stand auf und versuchte durch<br />
Springen und Ziehen seinen Hausschuh loszubekommen. Er hörte ein paar<br />
Kinder, die ihn auslachten. Er drehte sich zu ihnen und sah, wie sie ihn auslachten.<br />
Dave fragte einen Neunjährigen, der Paul hieß und dabei stand, mit<br />
einer tiefen Stimme: „Warum lachst du mich denn aus?“<br />
Daraufhin antwortete Paul mit einem schäbigen Grinsen: „Du siehst mit<br />
deiner Schminke im Gesicht und dem Gehüpfe aus wie ein Clown im Training.“<br />
Dave fragte sich: Welche Schminke? Clown?<br />
Dave ging zur Toilette, mit einem hüpfenden Gang. Er schaute sich erst <strong>mal</strong><br />
im Spiegel an, und da sah er diese blöde Schminke auf seinem Gesicht. Wie<br />
ein Clown sah er wirklich aus. Dave wurde sehr traurig und sprach nun<br />
mit einer sehr traurigen Stimme zu dem Spiegel: „Ich finde es voll gemein<br />
von den anderen Kindern, dass sie mir solche fiesen Streiche spielen und<br />
mich die ganze Zeit ärgern. Niemand will mit mir spielen oder sonst etwas<br />
machen. Sie mögen oder lieben es sogar, dass man mich ärgert. Aber jetzt<br />
an die Arbeit!“<br />
Fabian Ajtnik: Kapitel 8 31<br />
Dave setzte sich auf eine Toilette, welche er als Sitzfläche benutzte. Nun<br />
machte er sich an die Arbeit, seinen selbst gemachten Hausschuh sehr vorsichtig<br />
zu entfernen, ohne dass der Hausschuh kaputt ging. Erst versuchte<br />
er es sehr vorsichtig, dann wurde er ein bisschen grober. Lange Zeit später<br />
hatte er es nun geschafft, den Hausschuh zu entfernen. Er ging dadurch nur<br />
vorne ein bisschen kaputt, was Dave sehr traurig machte, denn er wollte seine<br />
Hauschuhe nicht kaputt machen.<br />
„Aber was passiert ist, ist passiert!“, sprach er zu sich.<br />
Nun stand er ohne Hausschuhe in der Toilette. Er wollte die Hausschuhe<br />
nicht anziehen, bevor der Kleber dort drinnen nicht vollständig getrocknet<br />
war und man sie anziehen konnte, ohne dass die Füße wieder festklebten.<br />
Nun stand Dave von der Toilette auf und ging mit seinen Hauschuhen in der<br />
Hand in Richtung des Spiegels, wo er sich anschaute und sich dann an die<br />
Arbeit machte, mit Wasser diese bunte Schminke von seinem Gesicht wegzuwaschen.<br />
Am Anfang wollte es nicht wirklich klappen, aber dann wurde<br />
es besser und er bekam sie weg. Plötzlich ging die Tür der Toilette auf. Dave<br />
wollte sich schnell verstecken, damit er nicht gesehen wurde, aber es war<br />
zu spät Dave wurde gesehen. Wer hatte ihn gesehen? Es war der 14-jährige<br />
Tom. Er ging zu einer Toilette, machte sein Geschäft und sprach ihn kurz<br />
danach an: „Was war das denn für eine Aufführung? Du hast dich wirklich<br />
ganz schön blamiert, mit deiner Schminke im Gesicht und deinem Gehüpfe.“<br />
„Es finden sich zwei Kinder ganz toll, die mir mitten in der Nacht, wenn ich<br />
schlafe, einen Streich spielen, und wenn ich aufwache… Den Rest weißt du<br />
ja.“<br />
„Ich weiß ganz genau, wer dir den Streich gespielt hat, aber ich will etwas<br />
von dir, damit ich es dir verrate.“<br />
„Das wäre?“, fragte Dave mit einer sehr merkwürdigen Stimme.<br />
„Ich will von dir, dass du zu deinem Bett gehst, aber wie eine Robbe krabbelt.<br />
Dabei schreist du mit einem lauten Geschreie, damit es jeder hören<br />
kann: ‚Ich bin Dave, die Robbe, schaut mir alle zu!’“<br />
„Das mache ich nie, ich werde mich ja noch mehr blamieren, als ich mich eh<br />
schon blamiert habe“, antwortete Dave mit einer abweisenden Stimme.<br />
„Na gut! Es ist ja deine Entscheidung. Aber du willst doch bestimmt wissen,<br />
wer dir diesen Streich gespielt und deine Hausschuhe verklebt hat? Und<br />
noch dazu dich vor fast allen Kindern, und auch ein paar Betreuern, blamiert<br />
hat.“
32 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Nun ging Tom in Richtung der Tür und öffnete sie langsam, als wüsste er,<br />
dass Dave irgend etwas sagen würde. Die Tür quietschte, und plötzlich rief<br />
Dave Tom zurück: „Warte! Du hast ja Recht, ich will wissen, wer mir diesen<br />
gemeinen Streich gespielt hat. Komm noch ein<strong>mal</strong> in zehn Minuten, denn<br />
ich will es mir noch ein<strong>mal</strong> durch den Kopf gehen lassen.“<br />
Nun war Tom ganz verschwunden und hinausgegangen. Dave machte sich<br />
nun an die Arbeit, seine letzten Reste Schminke zu entfernen. Es war mühsam,<br />
nun die Reste von seinem Gesicht zu waschen. Er war aber schon nach<br />
kurzer Zeit fertig. Er ging nun raus, obwohl er noch zirka fünf Minuten Zeit<br />
hatte. Aber er wollte nicht länger in diesem Toilettenraum stehen. So öffnete<br />
Dave die Tür, und da stand Tom sogar schon.<br />
Dave sprach zu ihm: „Warum bist du schon hier?“<br />
„Keine Ahnung“, antwortete Tom. „Ach, und ich muss dir etwas sagen. Ich<br />
werde die beiden, die dir den Streich gespielt haben, nicht verraten. Ich werde<br />
es nur dir sagen und keinem anderen, aber nur, wenn du meine Aufgabe<br />
erfüllt hast. Bist du bereit?“<br />
„Nein, warte kurz“, antwortete Dave. Er atmetet noch ein<strong>mal</strong> tief ein und<br />
sprach dann leise vor sich hin: „Was ich nicht alles mache, nur um die zwei<br />
fiesen Kinder zu finden, die mir den Streich gespielt haben.“ Und am Schluss<br />
stöhnte er dann noch ein<strong>mal</strong>: „Okay, ich bin bereit.“<br />
„Du weißt, was du zu sagen hast.“<br />
„Ja!“<br />
„Okay, auf die Plätze, fertig, los. Du kannst starten und dich nun blamieren.“<br />
Tom fing an zu lachen. Dave legte sich vorsichtig auf den Boden und fing an,<br />
wie eine Robbe zu laufen und gleichzeitig kam eine tiefe Stimme aus seinem<br />
Mund:<br />
„Hört mir alle zu, ich bin Dave, eine Robbe.“<br />
Diesen Satz wiederholte er ein paar Mal und versuchte, wie eine Robbe zu<br />
seinem Bett zu gelangen. Um ihn herum standen fast alle Kinder des Waisenhauses<br />
und schauten und lachten Dave aus. Manche sagten, dass er nicht<br />
wirklich schlau wäre, genau das Gegenteil, und dass er sich blamieren würde.<br />
Das hörte Dave. Es machte ihn sehr fertig und er brach deswegen fast<br />
weinend zu Boden.<br />
„Haha, haha, schaut euch <strong>mal</strong> den Dave an. <strong>Der</strong> denkt, er sei eine Robbe.<br />
Ihm ist bestimmt langweilig und er hat nichts Besseres zu tun!“<br />
Fabian Ajtnik: Kapitel 8 33<br />
Daraufhin lachten eine Menge Kinder. Als er schon mehr als die Hälfte geschafft<br />
hatte und ihm nur noch ein paar Meter fehlten, standen plötzlich<br />
zwei große Beine vor ihm. Er schaute nach oben, und da sah er Mr. Prob, der<br />
mit ernstem Blick sagte. „Du, Dave, steh <strong>mal</strong> auf!“<br />
Dave gehorchte, denn er wollte keinen unnötigen Ärger verursachen und er<br />
würde mit 0% Chance gewinnen. Also stand er auf.<br />
„Ja, Mr. Prob, was ist denn?“<br />
„Was ist denn, Dave?“ Er wurde immer lauter. „Ich meine: Was machst du<br />
denn da?“<br />
„Mir ist langweilig, und ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte,<br />
also habe ich versucht, ein bisschen Aufmerksamkeit von den Kindern hier<br />
zu bekommen!“<br />
„Und das soll ich dir im Ernst glauben?“<br />
„Was anderes bleibt Ihnen wohl nicht übrig, denn es ist die komplette Wahrheit“,<br />
log er.<br />
„Na gut, ich glaube es dir, aber trotzdem – du hörst jetzt damit auf, und noch<br />
ein<strong>mal</strong> kommt das nicht vor, okay?“<br />
„Ja, Mr. Prob. Es kommt nie wieder vor. Tschüss!“<br />
„Tschüss!“<br />
Dave hörte nun mit dem Robben-Getue auf und machte sich auf den Weg,<br />
um Tom zu suchen, denn er wollte ihn fragen, ob er es ihm doch sagte.<br />
Er brauchte nicht lange dafür, denn Tom stand wie vorhin vor der Toilette.<br />
Er rührte sich von dort keinen Meter und sprach gerade mit einen paar anderen<br />
Kindern, die Lisa und Michael hießen. Dave wollte wissen, über was<br />
die drei sich unterhielten, und so ging er zu ihnen und lauschte.<br />
„Hast du gerade gesehen, was Dave gemacht hat? Er hat sich so richtig blamiert.“<br />
Das sagte Michael, und dann lachten alle drei.<br />
„Das stimmt wirklich“, meinte nun auch Tom.<br />
Dave wurde so richtig wütend auf Tom – und ein bisschen auf die anderen<br />
Kinder, aber am meisten war er auf Tom wütend, denn wenn er wusste, wer<br />
Dave den Streich gespielt hatte, hätte er es ihm auch ohne eine blöde Aufgabe<br />
sagen können. Aber er wollte ja wissen, wer ihm den Streich gespielt<br />
hatte, also mischte er sich in das Gespräch der drei ein. Tom sah, wie Dave<br />
kam – und so sagte er zu Lisa und Michael: „Könnt ihr bitte gleich wieder<br />
kommen, ich muss kurz mit Dave etwas bereden.“
34 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Die beiden gingen und Dave kam mit enttäuschtem Blick zu Tom.<br />
Dave sprach ihn an: „Hey Tom, du sagst mir bestimmt nicht, wer mir diesen<br />
Streich gespielt hat, denn ich habe die Aufgabe nicht erfüllt.“<br />
„Doch, ich sage es dir, denn ich und die anderen Kinder hatten eine Menge<br />
Spaß. Du hast dich wirklich ganz schön blamiert“, antwortete Tom mit<br />
Gelächter. „Du sahst echt komisch aus, als ob du krank wärst. Kommen wir<br />
nun zum Punkt. Ich wollte dir ja sagen, wer dir diesen Streich gespielt hat.<br />
Es waren Lucas und Matilda.“<br />
„Die zwei waren es also, und das soll ich dir wirklich glauben?“<br />
„Dir bleibt wohl nichts anderes übrig, denn ich habe sie zufällig in der Nacht<br />
gesehen, wie sie die Schminke in dein Gesicht kritzelten und solch ein klebriges<br />
Zeug in deine Schuhe machten.“<br />
„Diese Schweine!“, sagte Dave mit einer verzehrten Stimme, „denen werde<br />
ich es zeigen!“<br />
Er fing an, die beiden zu suchen. Aber sie waren nirgends zu finden. Er wollte<br />
nämlich mit den beiden reden und sie fragen, warum sie ihm diesen Streich<br />
gespielt hatten. Aber als Dave nach langem Suchen Lucas und Matilda immer<br />
noch nicht fand, beschloss er, sich auf den Weg zu machen, um einen<br />
Betreuer zu finden. Er wollte seine Geschichte einem Betreuer erzählen, die<br />
ganze Geschichte. Nach kurzer Zeit fand er endlich Mrs. Garrison und versuchte,<br />
ihr die Geschichte zu erzählen. Er fing an: „Mrs. Garrison, ich will<br />
Ihnen etwas sagen, mir haben in der Nacht, beziehungsweise heute, zwei<br />
Kinder namens Lucas und Matilda einen Streich gespielt. Das fing so an…“<br />
„Was soll ich jetzt deiner Meinung nach machen?“, fragte Mrs. Garison.<br />
„Man könnten mit den zweien, Lucas und Mathilda, reden und ihnen eine<br />
Strafe geben, damit sie es nicht noch ein<strong>mal</strong> machen.“<br />
„Aber warum soll ich dir das glauben, es kann jeder behaupten, dass die<br />
zwei es waren. Aber wenn du <strong>Zeuge</strong>n hast, dann würde ich es dir mehr glauben.<br />
Aber so? Nein!“<br />
„Ich habe <strong>Zeuge</strong>n!“, betonte er nun.<br />
„Und wen, wenn ich fragen darf?“<br />
„Tom! Er hat nämlich die beiden in der Nacht gesehen, wie sie mir die<br />
Schminke ins Gesicht schmierten und dieses klebrige Zeug in meine lieben,<br />
schönen, selbst gemachten Hausschuhe taten“, antwortete er stolz.<br />
„Dann machen wir uns <strong>mal</strong> auf die suche nach Tom!“, sagte Mrs. Garison.<br />
Die beiden machten sich nun auf die Suche nach Tom, um ihn zu befragen.<br />
Fabian Ajtnik: Kapitel 8 35<br />
Als die beiden ihn schon kurze Zeit später sahen, rief Mrs. Garison Tom zu<br />
sich: „Ich habe eine Frage an dich, die ich dir gerne stellen würde“, sagte<br />
Mrs. Garison.<br />
„Und die wäre?“, fragte Tom zurück.<br />
„Es geht um den Streich! Hast du irgend etwas gesehen? Wer den Streich<br />
gespielt oder wer Dave das angetan hat?“<br />
„Nein! Wie kommen Sie darauf?“<br />
Nun mischte sich Dave in das Gespräch ein: „Du hast mir doch ganz klar<br />
gesagt, du hast die beiden in der Nacht gesehen!“ Er wurde sehr viel lauter.<br />
„Nein, habe ich gar nicht gesagt. Ich war vielleicht in der Nacht wach, aber<br />
mehr auch nicht!“<br />
„Ist ja auch egal! Wenn er es nicht bezeugen kann und niemand anders auch,<br />
können wir beziehungsweise kann ich nichts machen“, meinte Mrs. Garison.<br />
Mrs. Garison machte sich nun auf den Weg. Als sie nicht mehr im Waisenhaus<br />
zu sehen war, ging Dave zu Tom: „Hey Tom. Warum hast du Mrs.<br />
Garison nicht die Wahrheit gesagt? Du hast ihr pur ins Gesicht gelogen!“<br />
„Ja, ich weiß. Aber ich habe Angst vor den beiden, und ich wollte Lucas und<br />
Mathilda nicht unbedingt verraten. Ich habe dir ja auch gesagt, dass ich dir<br />
nicht helfe!“<br />
„Ja, aber das finde ich ganz schön unfair von dir, Tom.“<br />
Dave rannte nun von Tom weg. Er rannte zu seinem Bett, fing an zu weinen<br />
und legte sich unter seine Bettdecke, damit keiner sah, wie er weinte.“<br />
In der Zwischenzeit hatte Jack der Hausmeister ein bisschen mitbekommen,<br />
was sie Dave so alles antaten. Jack tat es Leid, der arme Kleine hatte<br />
niemanden, er wurde gehänselt, geschlagen, gemobbt und vieles mehr. Jack<br />
wusste ganz genau, wie Dave sich fühlte. Er erinnerte sich für einen kurzen<br />
Augenblick daran, wie er immer von den anderen geärgert worden war.<br />
Das waren für ihn schwere Zeiten gewesen. Er war kurz vor einem Tränenausbruch:<br />
„<strong>Der</strong> arme kleine Dave und diese gemeinen“ – nun wurde er<br />
wütender – „Kinder, die werden es irgend wann <strong>mal</strong> zurückbekommen“,<br />
meinte Jack.<br />
Plötzlich erinnerte er sich daran, wie er von ein paar Kindern geärgert worden<br />
war. Jack ging da<strong>mal</strong>s weinend in sein Bett. Ein Betreuer kam vorbei<br />
und tröstete ihn erst <strong>mal</strong>. Als Jack nicht mehr weinte, gab der Betreuer ihm<br />
einen Teddybär und sagte: „Hier, ich habe einen Teddy für dich. Pass gut auf
36 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
ihn auf! Pass sehr gut auf ihn auf, ich meine, verliere ihn nicht und lasse ihn<br />
nie aus den Augen, denn er soll nicht verloren gehen!“<br />
Jack wurde erst jetzt so richtig klar, dass Dave genauso war wie er. <strong>Der</strong> Teddy,<br />
den er bekommen hatte, brauchte er jetzt nicht mehr, und da fiel Jack mit<br />
einem Gedankenblitz ein:<br />
„Ich schenke meinen Teddy Dave, wie ihn der Betreuer mir da<strong>mal</strong>s schenkte.<br />
Genau so mache ich das“, sprach er mit sich selber. „Mit diesem Teddy kann<br />
ich sowieso nichts mehr anfangen, da ich sowieso über dieses Alter hinaus<br />
bin, mit Teddys zu spielen. An diesem Teddy sind alle meine alten Erinnerungen<br />
gewesen, die ich nun hergebe, sogar verschenke.“<br />
Jack machte sich erst ein<strong>mal</strong> in seinem Zimmer auf die Suche nach dem<br />
Teddy, denn er wusste überhaupt nicht, wo er war. Denn er hatte ihn schon<br />
lange nicht mehr gesehen. Er suchte überall, in jeder Kiste und in jeder Ecke,<br />
bis er ihn endlich, ganz verstaubt, hinter einer Kiste fand. Er nahm ihn dort<br />
heraus und putzte den Staub von dem Teddy ab. Da sah er, dass der Teddy<br />
nicht wirklich toll aussah, denn ihm fehlte das rechte Auge und ein bisschen<br />
Füllung kam heraus. Das war ihm aber egal. In diesem Teddy steckten seine<br />
schlimmen Zeiten im Waisenhaus.<br />
Jack machte sich nun mit seinem alten Teddy und Daves neuem Teddy auf<br />
den Weg, um Dave zu suchen, denn er wollte ihn Dave mit seinen eigenen<br />
Händen überreichen. Er suchte und suchte ihn, und nach langem Suchen<br />
fand er ihn weinend in einer Ecke sitzen.<br />
„Hey, ich bin Jack, der Hausmeister. Was ist denn mit dir? Haben dich <strong>mal</strong><br />
wieder ein paar Kinder geärgert?“<br />
„Mich haben gerade eben wieder ein Haufen Kinder geärgert und fertig gemacht.“<br />
Nun betonte er laut, aber so, dass es keiner hörte: „Ich hasse hier in<br />
diesem Waisenhaus alle Kinder, ich hasse hier einfach alles!“<br />
„Ich verstehe das. Ich war früher genauso wie du. Ich wurde immer geärgert<br />
in diesem Waisenhaus“, sprach er mitleidend mit ihm.<br />
„Was, Sie waren früher auch in diesem Waisenhaus und wurden dort genauso<br />
geärgert wie ich!“<br />
„Genau. Ich hatte keinen einzigen Freund, und als ich jemanden brauchte,<br />
war niemand da!<br />
Mir hat früher ein Betreuer einen Teddy geschenkt, weil ich niemanden<br />
hatte, und so wurde der Teddy mein Freund, obwohl es sich ein bisschen<br />
komisch anhört, das war mir früher aber egal.“<br />
Fabian Ajtnik: Kapitel 8 37<br />
Nun wurde Dave ein bisschen glücklicher, denn er hatte einen, mit dem er<br />
richtig reden konnte und der ihn verstand.<br />
„Ich habe etwas für dich, das ich dir mit ganzem Herzen gebe. Es ist mein…“<br />
Und nun wurde er ein bisschen leiser. “…alter Teddy!“<br />
„Das kann ich doch nicht annehmen!“<br />
„Doch, das kannst du!“ Und Jack überreichte mit Stolz seinen alten Teddy.<br />
„Er ist halt ein bisschen kaputt, weil er auch ein bisschen älter ist. Aber das<br />
ist doch nicht so schlimm, oder?“<br />
Dave nahm glücklich den kaputten Teddy an und Jack ging, denn er musste<br />
wieder an seine Arbeit – eine kaputte Tür reparieren.<br />
Vor dem Gehen sagte er noch ein<strong>mal</strong>: „Du, Dave! Pass gut auf den Teddy<br />
auf, ist das klar!“<br />
„Mach ich. Versprochen!“, antwortete er stolz.<br />
Als Jack fast hinter einer Tür verschwunden war, rief Dave noch ein<strong>mal</strong> hinterher:<br />
„Danke! Und komm mich bald wieder besuchen.“<br />
Dave wusste nicht genau, ob er es noch hörte, aber das war auch nicht so<br />
schlimm.<br />
Er war sehr glücklich, denn keiner in diesem Waisenhaus war so nett wie<br />
Jack und schenkte ihm etwas.<br />
Er ging in sein Bett, mit seinem neuen Teddy, umarmte ihn und sprach,<br />
damit es jeder hören konnte: „Mein neuer Freund – Teddy.“
38 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Birgit Sonnleitner<br />
Kapitel 9<br />
„Jaaack?“<br />
Jack stand im Hausflur und wechselte gerade die kaputte Glühbirne aus, als<br />
Mrs. Nowak durch das ganze Haus nach ihm rief.<br />
„Jaaack?! Komm <strong>mal</strong> schnell in die Küche, der Abfluss ist schon wieder verstopft!“<br />
Jack stieg von der Leiter und schaute auf die Uhr. Es war 7.30 Uhr, die Kinder<br />
schrieen und lachten aus dem Esszimmer. War ja auch klar, es war Frühstückszeit,<br />
obwohl man es nicht mehr wirklich Frühstück nennen konnte,<br />
da es jeden Montag, und das schon seit Jack hier war, Brot und die immer<br />
gleiche Marmelade gab. Alle schrieen durcheinander und stritten, wer das<br />
Meiste bekam. Als er kurz reinschaute, wusste er auch, warum sie lachten.<br />
Dave wurde <strong>mal</strong> wieder mit der Marmelade beworfen und ausgelacht.<br />
Mr. Brown saß daneben, las Zeitung und aß Spiegeleier mit Speck. Es interessierte<br />
ihn gar nicht, was die Kinder machten. Sie waren ihm sowieso egal.<br />
Er schaute kurz hoch, sah Jack mit einem kalten Blick an und grummelte<br />
etwas in der Art von „Guten Morgen!“.<br />
Jack grüßte zurück und machte sich schleunigst auf den Weg in die Küche,<br />
da Mrs. Nowak wieder nach ihm schrie, dies<strong>mal</strong> nur etwas lauter und wütender.<br />
Als er ankam, sah er dann auch das Problem. Denn als er die Tür auf machte,<br />
kam ihm schon eine Ladung Wasser entgegen geschwemmt, und mittendrin<br />
stand Mrs. Nowak und sagte: „Ich habe die Marmeladengläser abgespült<br />
und danach Kartoffeln für die Kartoffelsuppe heute Abend in das Becken<br />
geschält. <strong>Der</strong> Abfluss verstopfte und ich konnte das Wasser nicht abdrehen,<br />
weil der Wasserhahn auch schon so lange klemmt.“<br />
Er fasste ins Wasser, machte den Abfluss frei und versuchte, den Dreck in<br />
den Mülleimer zu werfen, doch als er merkte, dass der auch noch klemmte,<br />
nahm er sich vor, die Küche heute Nachmittag auf Vordermann zu bringen,<br />
wenn niemand da war. Das Abflussrohr sollte auch <strong>mal</strong> wieder dringenst<br />
Birgit Sonnleitner: Kapitel 9 39<br />
gereinigt werden. Jack versuchte das Wasser abzudrehen, was ihm aber erst<br />
nach dem vierten Versuch gelang. Dann ging er zum Wandschrank, holte<br />
einen Eimer und einen Lappen und wischte das Wasser auf.<br />
Danach ging er hoch, wo die verstopften Jungs-Toiletten auf ihn warteten.<br />
Nach ungefähr einer Stunde war er fertig, dann ging er runter in die leere<br />
Küche, da Mrs. Nowak zu Mr. Brown ins Wohnzimmer gegangen war, um<br />
sich mit ihm vor das Radio zu setzen und die Nachrichten zu hören. Jack<br />
ging ins Esszimmer, um den Tisch abzuräumen, damit er ihn nachher reparieren<br />
konnte. Doch zu seiner Verwunderung traf er dort Dave, der auf dem<br />
Boden saß und leise wimmerte.<br />
Jack fragte Dave, was mit ihm los war, obwohl er es ja eigentlich wusste.<br />
Dave versuchte sich rauszureden: „Ich wollte gerade aufstehen und meinen<br />
Teller nehmen, da ist er auf mein T-Shirt gefallen.“ Jack sah den Teddy neben<br />
Dave liegen und wollte nach ihm greifen, doch Dave war schneller und<br />
drückte ihn an sich.<br />
Jack schickte ihn hoch, damit er duschte, weil er voller Marmelade war. Jack<br />
ging mit und sah, dass das Licht in der Dusche flackerte.<br />
„Nicht schon wieder eine Lampe“, dachte er leicht verärgert.<br />
Nachdem Dave geduscht hatte, wechselte Jack die Glühbirne aus und fuhr<br />
ihn zur Schule.<br />
Im Auto fragte Jack noch, was er in der Schule heute für Fächer hatte, doch<br />
Dave antwortete nicht. Als Jack wieder im Waisenhaus ankam, ging er<br />
gleich ins Esszimmer, um den Tisch zu reparieren, weil er wackelte und man<br />
immer kleckerte, wen man dort aß.<br />
Mr. Brown ging zu ihm und fing ein Gespräch an. Er erzählte Jack zum Beispiel,<br />
dass er in Scheidung lebte und nicht genug Geld hatte, um seine Wohnung<br />
zu bezahlen. Dass die Arbeit mit den Kindern sehr schwer war und<br />
nicht gut bezahlt wurde, deshalb kümmerten sich die Betreuer nicht so um<br />
die Kinder. Jack hörte aufmerksam zu und reparierte noch in paar Stühle.<br />
Am Schluss seines Redeschwalls lobte Mr. Brown Jack, weil er ein guter Zuhörer<br />
war, obwohl Jack nicht viel tat außer zuhören und reparieren. Jack war<br />
sowieso schon überrascht, dass ausgerechnet Mr. Brown auf ein<strong>mal</strong> zu ihm<br />
kam, da er der zurückhaltendste Betreuer von allen war.<br />
Nach einer halben Stunde, nachdem er noch ein bisschen was in der Küche<br />
getan hatte, kamen auch schon die Kinder mit lautem Geschrei aus der
40 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Schule zurück und stürmten ins Esszimmer, da es immer gleich nach der<br />
Schule, also um 13.30 Uhr, Mittagessen gab. Jack ging raus da er nicht mitessen<br />
wollte. Er wollte noch ein bisschen was im Garten machen, bevor es<br />
dunkel wurde.<br />
Er holte einen Rechen und einen Rasenmäher aus dem Schuppen. Mit dem<br />
Rasenmäher hätte er fast einen Feuersalamander getötet, doch er sah ihn im<br />
letzten Moment und setzte ihn neben einen großen Stein. Bis es dunkel wurde,<br />
rechte er alle Blätter zusammen und hatte auch schon einen großen Teil<br />
gemäht und das Gras und die Blätter auch schon weggebracht. Kurz bevor es<br />
ganz dunkel wurde, ging er wieder ins Haus und zündete sich eine Kerze an,<br />
da es bei ihm unten in seiner Kellerwohnung kein Licht gab.<br />
Er legte sich in sein Bett, blies die Kerze aus und schlief mit Gedanken an<br />
den morgigen Tag ein.<br />
Stephanie Ragoßnig: Kapitel 10 41<br />
Stephanie Ragoßnig<br />
Kapitel 10<br />
Am Morgen wachte Jack von dem Geschrei der Kinder auf. Das Geschrei<br />
war ganz schön laut, sie spielten schon am frühen Morgen laute Spiele und<br />
tobten wie die Irren in dem Waisenhaus herum.<br />
Bevor es Frühstück gab, ging er ins Esszimmer. Es war ein großer Saal, der<br />
sehr dunkel war. In der Mitte stand ein großer Tisch mit vielen Stühlen.<br />
Die Betreuer Mrs. Nowak, Mr. Prob und Mr. Brown waren auch im Esszimmer,<br />
sie deckten den Tisch für die Kinder, denn Morgens waren die Kinder<br />
immer sehr laut, weil sie sehr hungrig waren. Für die Betreuer war das immer<br />
sehr anstrengend, deswegen waren sie morgens nie so gut gelaunt.<br />
Jack wollte schon seit langem mit ihnen über Dave reden. Ob jetzt der richtige<br />
Zeitpunkt war?<br />
Vertrauen haben sie ja schon zu mir, dachte er sich.<br />
Jack ging zu ihnen und sagte mit freundlicher Stimme: „Guten Morgen!<br />
Mich beschäftigt schon seit einigen Tagen etwas: Mir ist aufgefallen, dass<br />
Dave von den anderen Kindern gehänselt wird.“<br />
Die Betreuer schauten sich an und schwiegen erst <strong>mal</strong> einen kurzen Augenblick.<br />
Dann antwortete Mrs. Nowak mit einer unwissenden Stimme: „Was<br />
meinst du, wie wird er gehänselt?“<br />
Sie drehten sich um und stellten noch die restlichen Teller auf den Tisch.<br />
Keiner hörte ihm richtig zu.<br />
Jack erzählte ihnen davon, was er gesehen hatte: „Die Kinder lachen über<br />
Dave und machen ihn immer schlecht. Er hat keine Freunde hier und fühlt<br />
sich sichtlich unwohl!“<br />
Mr. Brown verdrehte die Augen und machte den Vorschlag, sich hinzusetzen<br />
und über das so genannte Problem zu diskutieren.<br />
Keiner hatte große Lust dazu, aber sie waren einverstanden und setzten sich<br />
an den Tisch.<br />
„Ach was, das kommt dir nur so vor“, sagte Mr. Prob.<br />
Mr. Brown stimmte ihm zu: „Die Kinder spielen doch nur. Mach dir <strong>mal</strong><br />
keinen Kopf deswegen.“
42 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
„Aber findet ihr nicht, dass die Kinder übertreiben? Vielleicht sollten wir<br />
<strong>mal</strong> Spiele mit ihnen spielen, bei denen sie Teams bilden sollen. Da können<br />
wir Dave gut mit einbeziehen. Oder seinen Geburtstag groß feiern. Das fände<br />
er bestimmt ganz toll“, sagte Jack.<br />
Man sah deutlich, wie wichtig die Kinder für Jack waren, er sah sehr betrübt<br />
aus wegen Dave.<br />
Mrs. Nowak schaute Jack genervt an und sagte: „Was sollen wir? Wir sind<br />
hier, um zu schauen, dass es den Kindern gut geht und nicht, um mit ihnen<br />
zu spielen und um Geburtstage zu feiern. Das kostet auch nur… So viel Geld<br />
haben wir nicht, und die anderen Kinder kämen sich ungerecht behandelt<br />
vor. Und dann würde er noch mehr ausgegrenzt werden.“<br />
Jack erwiderte mit etwas gereizter Stimme: „Dann machen wir für alle eine<br />
Geburtstagsfeier. Dave geht es nicht gut. Ihr solltet euch um ihn kümmern.<br />
Okay, das mit dem Geld stimmt, aber wenn wir die Kinder fragen, ob sie das<br />
machen wollen, was sie bestimmt wollen, helfen sie vielleicht dabei, Geld<br />
zu sammeln. Sie könnten zum Beispiel Rasen mähen, Autos waschen oder<br />
Zeitungen austragen. Dann hätten sie sogar gleich eine Beschäftigung, und<br />
ihr hättet mehr Freizeit. Und mit etwas Glück wären sie auch etwas leiser,<br />
weil sie erschöpft wären.<br />
Mr. Prob überlegte kurz, sagte aber dann: „Jack hat schon Recht. Die Kinder<br />
hätten dann vielleicht endlich eine Beschäftigung.“<br />
Mr. Brown und Mrs. Nowak schauten Mr. Prob sauer an. Man sah deutlich,<br />
wie Mr. Probs Blick immer ängstlicher wurde.<br />
Sein Blick senkte sich nach unten, er flüsterte: „Nein Jack, das ist eine dumme<br />
Idee.“<br />
„Nein, das können wir nicht machen. Die Kinder sollen sich alleine beschäftigen,<br />
auch ohne einen Job. Sie haben hier so viel Platz. Sie können in den<br />
Wald gehen, sie haben Spielsachen, und für die Schule müssen sie auch lernen“,<br />
sagte Mr. Brown.<br />
Mrs. Nowak wurde alles zu viel.<br />
Sie ging aus dem Zimmer in die Küche, und die Übrigen hinter ihr her. Sie<br />
zeigte auf den Herd, auf den Kühlschrank und auf den Wasserhahn.<br />
Mrs. Nowak sagte: „Schau dich hier <strong>mal</strong> um! <strong>Der</strong> Herd ist total alt, wir<br />
bräuchten einen viel größeren Kühlschrank. Und der Wasserhahn ist auch<br />
kaputt. Bevor wir Geburtstage feiern, muss erst <strong>mal</strong> das Haus renoviert werden.<br />
Das ist viel wichtiger als die Kinder.“<br />
Stephanie Ragoßnig: Kapitel 10 43<br />
Auf ein<strong>mal</strong> schrie Jack: „WAS?? Die Küche ist wichtiger als die Kinder? Das<br />
kann nicht sein, das sind Gegenstände. Die haben Jahre ausgehalten, ein<br />
paar mehr geht auch noch… Aber die Kinder haben nur eine Kindheit, und<br />
die sollten sie auch genießen!“<br />
Mrs. Nowak antwortete ihm, etwas beleidigt: „Was geht dich das eigentlich<br />
an? Deine Kindheit ist vorbei, und du bist nur der Hausmeister. Also mach<br />
auch lieber das, was ein Hausmeister macht!“<br />
Sie zeigte auf die Küche und sprach zu ihm in einem bestimmenden Ton:<br />
„Deine Arbeit ist es, Sachen zu reparieren, nicht, dich um die Kinder zu<br />
kümmern.“<br />
Jack widersprach: „Wenn ich das machen soll, was ein Hausmeister macht,<br />
dann macht ihr das, was Betreuer machen.“<br />
Mr. Brown sagte: „Wir sollten uns alle <strong>mal</strong> beruhigen. Wir sind erwachsene<br />
Menschen, und wir sollten uns auch so benehmen.“<br />
Die Betreuer und Jack schauten sich nur an, ohne ein Wort zu sagen.
44 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Jakob Seitz<br />
Kapitel 11<br />
Jack ging nach dem Streit hinaus auf den Hof, um sich zu beruhigen. Er fegte<br />
den Hof wie ein Irrer, um sich abzuregen. Er fegte den Boden, als wäre er<br />
ein Ball und Jack selbst der Baseballschläger. Es kam so rüber, als würde er<br />
denken, dass er sich in einem Spiel befände. Er fegte selbst in den kleinsten<br />
Ecken und ließ dem Dreck keine Chance. Er putzte die Fenster, bis man<br />
nicht mehr sah, dass dort überhaupt eine Fensterscheibe war. Er reparierte<br />
das kaputte Schloss an der Speisekammer.<br />
Doch plötzlich hörte er einen Ruf vom Hoftor. Es war Herr Friedrich von der<br />
Bank. Als Jack ihn sah und ihn gemustert hatte, fragte er ihn: „Was kann ich<br />
für Sie tun?“<br />
Herr Friedrich kuckte auf das alte Waisenhaus, das so aussah, als wäre es aus<br />
dem Krieg, weil die Farbe an den Wänden schon größtenteils abgebröckelt<br />
war und es sehr viele Löcher im Dach gab.<br />
Er erwiderte: „Ich bin Herrn Friedrich von der örtlichen Bank und ich<br />
möchte gerne mit der Heimleitung sprechen!“<br />
Jack war erschrocken und dachte, wohl lieber nicht.<br />
„Okay, bitte folgen Sie mir.“<br />
Jack brachte ihn durch das Eingangstor durch den Flur ins zweite Stockwerk,<br />
vorbei an den Zimmern der Kinder, die nicht gerade groß waren. Er sah am<br />
Ende des Flures im zweiten Stockwerk, weit hinter dem Büro der Chefin,<br />
wie ein kleines Mädchen, etwa dreizehn Jahre alt, von Mr. Brown geschubst<br />
wurde, weil es nicht laufen wollte. Das Mädchen weinte. Mr. Brown lachte<br />
laut.<br />
Jack dachte an seine Kindheit und wollte dem armen Mädchen helfen. Er<br />
wollte am liebsten den Betreuer fertig machen, ihn überkam Wut. Er sprach<br />
mit leiser Stimme, dass Herr Friedrich kurz warten sollte und dass er gleich<br />
wieder komme. Herr Friedrich willigte ein und setzte sich auf eine Bank, auf<br />
der sonst die Kinder saßen. Sie war zu klein für Herrn Friedrich und sehr<br />
bunt ange<strong>mal</strong>t – wie für die Kinder geschaffen.<br />
Jakob Seitz: Kapitel 11 45<br />
Herr Friedrich machte seine Aktentasche auf und holte einen Ordner mit<br />
Information über das Waisenhaus heraus. Jack ging währenddessen ans andere<br />
Ende des Flures, auf Mr. Brown zu, um den Übeltäter anzumotzen. Als<br />
er ihn erreichte, ließ Mr. Brown das Kind endlich los.<br />
Jack schrie mit lauter Stimme den Betreuer an: „Warum machen Sie das!?<br />
Wie können Sie nur so ein kleines Mädchen schubsen, es ist doch noch ein<br />
kleines Kind und kann sich nicht wehren. Wie würden Sie es finden, wenn<br />
ich Sie jetzt schubsen würde und Sie könnten sich nicht wehren?“<br />
Mr. Brown war erschrocken, weil ihn sonst niemand ansprach, wenn er so<br />
etwas machte.<br />
„Sie haben mir nichts zu sagen. Sie sind nur der Hausmeister. Gehen Sie<br />
wieder Dreck fegen und lassen Sie mich bitte in Ruhe!“<br />
Jack war stinksauer und kochte vor Wut: „Lassen Sie das Kind in Ruhe!“<br />
Mr. Brown ließ das Kind los und lief entmutigt weg. Das kleine Mädchen<br />
bedankte sich bei seinem Retter Jack. Jack hatte sich wieder beruhigt und<br />
flüsterte dem kleinen Mädchen ins Ohr: „Wenn er das noch <strong>mal</strong> macht,<br />
dann sag mir sofort Bescheid. Er und die Anderen werden alle noch ihre<br />
Lektion lernen!“<br />
Das Mädchen bedankte sich noch ein<strong>mal</strong> und ging dann in ihr Zimmer.<br />
Jack schlenderte zurück zu Herrn Friedrich und sagte: „So, alles geklärt,<br />
bitte folgen Sie mir weiter!“<br />
Sie standen vor der braunen alten Holztür, hinter der die Chefin wichtige<br />
Telefonate vom einzigen Telefon im ganzen Haus führte. Das Telefon sah so<br />
aus, als wäre es schon tausende Mal benutzt worden. Es war sehr alt und hatte<br />
eine rauchschwarze Farbe. Wenn man eine Nummer wählen wollte, musste<br />
man an einem kleinen, schwarzbraunen Drehrad drehen. Jack klopfte<br />
zwei<strong>mal</strong> gegen die alte braune Eichentür. <strong>Der</strong> Herr von der Bank und Jack<br />
warteten einige Momente, bis die kleine ältere Dame die Tür öffnete. Die<br />
Türe war nachts meist abgeschlossen. Die Chefin sah Jack und Herrn Friedrich<br />
mit ihren pechschwarzen Augen an, als wären sie Außerirdische mit<br />
Riesenköpfen. Dann, nachdem sie die beiden gemustert hatte, fragte sie mit<br />
einem Stirnrunzeln und ihrer krächzenden Stimme: „Was kann ich für die<br />
Herren tun?“<br />
Jack kuckte etwas verdutzt, weil sie so freundlich war. Er konnte einen kleinen<br />
Blick ins Büro erhaschen. Er konnte in der Mitte des großen Raumes<br />
einen bambusbraunen Schreibtisch sehen, und an der Seite standen viele
46 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Schränke mit Ordnern und Akten, vermutlich von den Kindern. Gegenüber<br />
der Tür war ein Fenster mit blutroten Vorhängen.<br />
Die Chefin sah ihn an, als würde sie ihn gleich anfallen wie ein Hund einen<br />
Hasen, weil er nicht antwortete.<br />
Als er diesen Blick spürte, sprach er erschrocken: „Herr Friedrich ist von der<br />
Bank und möchte mit Ihnen sprechen!“<br />
Sie wirkte leicht irritiert und bat den Mann von der Bank herein. Jack lief<br />
instinktiv hinterher, doch die Chefin knallte ihm die braune Holztür direkt<br />
vor der Nase zu.<br />
Jack wurde leicht wütend und wollte die Tür am liebsten auftreten oder dagegen<br />
klopfen. Doch er konnte sich beherrschen. Er legte sein Ohr an die<br />
braune Tür.<br />
Er hörte die Chefin mit ihrer Raben-ähnlichen Stimme wütend fragen: „Was<br />
wollen Sie von uns?“<br />
Die Stimme von Herrn Friedrich hörte sich leicht verängstigt an: „Ich<br />
komme wegen der Schulden, die Sie und das Waisenhaus haben, wissen Sie<br />
nicht mehr? Vor zwei Jahren haben Sie einen Kredit für den Ausbau des Waisenhauses<br />
bekommen. Doch ich sehe keine Veränderung. Die Rückzahlung<br />
ist übrigens auch schon zeit drei Monaten fällig. Wenn Sie der Rückzahlung<br />
nicht nachkommen, werden Sie eine Anzeige erhalten und das Waisenhaus<br />
muss eventuell geschlossen werden.“<br />
Die Chefin stand von ihrem roten Sessel auf und schrie Herrn Friedrich an:<br />
„Was soll aus den ganzen Kindern werden?“<br />
Sie versuchte Herrn Friedrich zu beeinflussen, obwohl ihr die Kinder egal<br />
waren. Doch dieser kuckte nur verdutzt und hob die Stimme an: „Die Kinder<br />
würden auf Familien verteilt werden, und außerdem denken wir, dass<br />
Sie die anderen Zuschüsse von unserer Bank nicht für das Wohl der Kinder<br />
ausgegeben haben!“<br />
Jetzt sah man der Chefin richtig an, dass sie stinksauer war: „Das muss ich<br />
mir doch nicht bieten lassen. Sie können nichts beweisen!“<br />
Herr Friedrich stand auf und ging in Richtung Tür. Er blieb an der Tür<br />
stehen und sagte: „Wir behalten Sie im Auge. Passen Sie auf, was Sie machen…“<br />
Die Chefin stand ebenfalls auf und zeigte mit ihrer alten Hand auf die Tür:<br />
„Ja, ja, gehen Sie jetzt bitte. Lassen Sie mich und das Waisenhaus in Frieden!“<br />
Jakob Seitz: Kapitel 11 47<br />
Als Herr Friedrich die Türklinke runterdrückte, rannte Jack schnell weg.<br />
Herr Friedrich ging schnellen Schrittes den Flur hinunter, vorbei an den<br />
Zimmern, raus auf den Hof zu seinem Auto. Er stieg ein. Währenddessen<br />
hörte man ihn sagen: „Haha, du wirst bald nicht mehr stehen!“<br />
Er meinte vermutlich das Waisenhaus. Wenn man durch die Fensterscheibe<br />
der Chefin kucken konnte, sah man, dass sie regelrecht ausrastete und Zeug<br />
durch die Gegend warf.<br />
Jack musste ein bisschen schmunzeln.
48 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Corina Proschinger<br />
Kapitel 12<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Als ich noch ein Kind war, lief ich eines Tages an dem Büro des da<strong>mal</strong>igen<br />
Chefs Mr. Rist vorbei und hörte laute Stimmen. Es hörte sich an wie<br />
eine Diskussion. Da ich sehr neugierig war und es mich auch ziemlich interessierte,<br />
um was es in dem Gespräch ging, blieb ich an der Tür stehen<br />
und versuchte zu lauschen, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen.<br />
Es war plötzlich sehr leise geworden im Chefbüro. Man hörte nur noch den<br />
Mann von der Bank leise husten. Dann fing der Mann von der Bank auf ein<strong>mal</strong><br />
an, dem Chef etwas vorzuwerfen, was man eindeutig an seinen Worten<br />
erkannte. Ich versuchte noch ein bisschen näher an die Tür zu treten, um dem<br />
Gespräch besser folgen zu können. Leider stieß ich versehentlich mit meinem<br />
Knie gegen die Tür und es ertönte kurz einen lauter Ton, der auch nicht unbemerkt<br />
blieb, denn es wurde ganz schnell still im Raum.<br />
Ich zitterte und hatte ziemlich große Angst erwischt zu werden, deshalb versteckte<br />
ich mich schnell neben der Tür, sodass man mich nicht sehen konnte,<br />
wenn jemand die Türe öffnete. Aber ich wartete vergebens, denn niemand öffnete<br />
die Tür. Also beschloss ich wieder näher vor die Tür zu gehen und zu lauschen.<br />
Ich hörte, wie Mr. Rist sich vor dem Mann von der Bank rechtfertigte.<br />
Er sagte: „Woher wollen Sie das wissen? Sie haben absolut keine Beweise, dass<br />
ICH das Geld ausgebe“, sagte Mr. Rist.<br />
Nach ein paar Minuten wurden beide etwas lauter. Anscheinend verstanden<br />
sich Mr. Rist und der Mann von der Bank nicht besonders gut, aber das überraschte<br />
mich nicht.<br />
Aber das Gespräch ging nicht darum, dass das Waisenhaus vielleicht geschlossen<br />
werden musste, da es Schulden hatte. Aber es erinnerte mich sehr daran.<br />
Denn in dem Gespräch ging es darum, dass Mr. Rist nicht das ganze Geld, das<br />
er von der Stadt für die Betreuung von den Kindern bekam, auch nur für die<br />
Kinder ausgab. Es war anscheinend zu viel Geld, das Mr. Rist für sich selbst<br />
ausgab, denn es machte sich irgendwie bemerkbar.<br />
Corina Proschinger: Kapitel 12 49<br />
Da<strong>mal</strong>s machte ich mir dann sehr viele Gedanken darüber. Ich fragte mich<br />
immer, für was er das Geld, das uns fehlte ausgab. Aber noch viel mehr beschäftigte<br />
mich die Frage: Wer hat das herausgefunden? War es etwa offensichtlich,<br />
dass er das Geld für sich ausgab? Oder wusste jemand mehr, als er<br />
eigentlich wissen sollte? Und wer war eigentlich die Person, die mit Mr. Rist<br />
diskutiert hatte? Ich wusste zwar, dass er von der Bank war, aber Genaueres<br />
wusste ich auch nicht. Da es mich so sehr interessierte, machte ich mich am<br />
darauf folgenden Tag auf, um mehr darüber zu erfahren.<br />
Es war ein sehr kalter und verregneter Tag, als ich noch <strong>mal</strong> versuchte, an<br />
Mr. Rists Büro zu lauschen. Nichts. Gar nichts. Anscheinend war niemand im<br />
Chefbüro. Man hörte einzig und allein den Regen langsam an den Fenstern<br />
runter tröpfeln. So langsam machte ich mir meine eigenen Vorstellungen und<br />
Gedanken darüber.<br />
Seit dem Vorfall im Chefbüro waren alle im Waisenhaus da<strong>mal</strong>s irgendwie<br />
anders. Alle außer den Kindern. Also alle, die davon nichts wussten. Die<br />
Stimmung war so angespannt, dass ich fast schon nachgefragt hätte, was los<br />
sei. Ich hätte so getan, als ob ich von nichts wüsste, aber die Wahrheit hätten<br />
sie mir sowieso nicht erzählt. Eine da<strong>mal</strong>ige Betreuerin, Mrs. Queensdale,<br />
verhielt sich besonders komisch in der Gegenwart von Mr. Rist.<br />
„Mrs. Queensdale, können Sie bitte die restlichen Unterlagen in mein Büro<br />
auf den Tisch legen, ich würde sie mir gerne ansehen.“<br />
„Sehen Sie nicht, ich habe genug zu tun“, antwortete sie mit einem nicht gerade<br />
schön klingenden Ton.<br />
Aber ich wusste natürlich nicht genau ob es daran lag oder einfach an der<br />
Tatsache, dass sie gerade sehr beschäftigt war mit den Kindern – und dann<br />
einfach dieses schlechte Wetter noch dazu. Ich denke, sie war deshalb so launisch.<br />
Schlaflose Nächte hatte ich damit verbracht, über die Situation nachzudenken.<br />
Aber nach ein paar Tagen hatte ich mir schon gar keine Hoffnungen<br />
mehr gemacht, noch mehr darüber herauszufinden. Denn irgendwann war<br />
es mir dann auch nicht mehr so wichtig, denn ich wusste, ich würde eh nicht<br />
mehr allzu viel darüber herausfinden.<br />
Aber jetzt war ich älter, ich war kein Kind mehr. Aber ich war immer noch<br />
der gleiche Mensch. Immer noch genauso neugierig wie früher. Als ich den<br />
Mann von der Bank zu Mrs. Browns Büro brachte, belauschte ich einen Teil<br />
des Gesprächs durch die Tür. Als ich dann erfuhr, dass das Waisenhaus vielleicht<br />
geschlossen werden musste, weil es Schulden hatte, fühlte ich mich wie
50 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
früher, als ich noch klein war. Für mich war es die gleiche Situation, ich wusste<br />
als Einziger über das Gespräch Bescheid. Und natürlich Mrs. Brown und der<br />
Mann von der Bank, aber davon abgesehen war ich sonst der Einzige. Aber<br />
dies<strong>mal</strong> war es doch ein wenig anders.<br />
Das Gespräch zwischen Mrs. Brown und dem Mann von der Bank war ruhiger.<br />
Es war irgendwie auch ein trauriges Gespräch. Sie diskutierten kaum,<br />
redeten nur davon, wie sie das Waisenhaus noch retten konnten. Aber dies<strong>mal</strong><br />
verstand ich selten ein Wort.<br />
Ich verstand, wie der Mann von der Bank sagte: „Wissen Sie, ich kann verstehen,<br />
dass Sie gerne hier in dem Waisenhaus arbeiten und sich auch gerne<br />
um das Waisenhaus kümmern, aber die Schulden sind in diesem Jahr einfach<br />
noch viel höher als in dem Jahr zuvor.“<br />
„Kann man denn das Waisenhaus nicht durch irgend etwas retten?“, fragte<br />
Mrs. Brown.<br />
„Nun ja, ich werde mich erkundigen, wie viele Schulden Sie in den letzten<br />
Monaten noch dazu bekommen haben, denn ich habe leider nur noch die Gesamtsumme<br />
von den letzten Jahren. Die jetzige Summe wurde mir leider noch<br />
nicht zugestellt. Ich werde in den nächsten Tagen noch ein<strong>mal</strong> bei Ihnen vorbei<br />
schauen und Ihnen berichten, wie hoch der Schuldenbetrag in der letzten<br />
Zeit gestiegen ist“, sagte der Mann von der Bank.<br />
Mehr hatte ich leider nicht verstanden. Trotzdem hätte ich gerne mehr von<br />
dem Gespräch mitbekommen, aber irgendwann musste es ja rauskommen,<br />
dass das Waisenhaus Schulden hat, und dass es deswegen vielleicht geschlossen<br />
werden muss.<br />
Trotzdem machte ich mir wieder meine eigenen Gedanken darüber und fragte<br />
mich, warum es solche hohen Schulden hatte. Ich wusste zwar, dass es nichts<br />
bringen würde, wenn ich mir selber vorstelle, wie es sein könnte, da ich ja<br />
wusste, was es mir früher gebracht hatte. Nur noch mehr Ungewissheit. Ich<br />
konnte natürlich nicht davon ausgehen, dass ich die Antwort bald erfahren<br />
würde.<br />
Aber irgendwann werde ich es ja erfahren, hoffe ich.<br />
Paolo Mele: Kapitel 13 51<br />
Paolo Mele<br />
Kapitel 13<br />
Lange Zeit nachdem Herr Friedrich gegangen war, war Jack, wie immer <strong>mal</strong><br />
wieder, auf dem Weg, etwas zu reparieren. Dieses Mal handelte es sich um<br />
die Tür des Speisesaals. Eine Schraube hatte sich gelöst, und schon bei der<br />
kleinsten Bewegung quietschte die Türe lautstark.<br />
Auf dem Weg dorthin fiel ihm wieder auf, wie Annika und Max sich im Aufenthaltsraum<br />
schlugen. Beide gaben sich harte Tritte und Schläge ins Gesicht,<br />
bis Max dann <strong>mal</strong> so richtig ausholte, sodass er mit voller Kraft mitten<br />
in Annikas Gesicht traf. Annika sackte nun zu Boden. Sie hatte Nasenbluten<br />
bekommen, und beim Anblick von Blut wurde ihr immer übel. Jack dachte<br />
sich: Die Arme! Sie tut mir so leid, aber ich kann ihr nicht helfen. Wenn ich<br />
doch nur etwas unternehmen könnte!<br />
Schreiend saß sie nun da. Das versuchte Jack dann zu ignorieren. Er beobachtete<br />
trotz des Vorfalls immer noch den Aufenthaltsraum, und auch,<br />
dass alle Betreuer, die vorbeiliefen, alles ignorierten und die Kinder das tun<br />
ließen, was sie wollten, und sich nicht um sie kümmerten.<br />
Mrs. Nowak war auch eine vom ihnen und Jack sah auch sie. Er versuchte<br />
sie zur Rede zu stellen und ging hin, doch dies merkte sie schnell. Ihr lässiglockerer<br />
Gang sah jetzt eher so aus, als wäre ein furchteinflößender Hund<br />
hinter ihr her.<br />
Wie so oft saß auch wieder Dave da, in der Zimmerecke, weinend unter einer<br />
weißen Decke, mit Jacks Ex-Teddy unterm Arm. Das kam Jack sehr bekannt<br />
vor, und schon nach kurzer Zeit konnte er es sich nicht mehr mit ansehen.<br />
Er lief zu Mr. Browns Büro, klopfte und wartete, bis er hinein durfte. Mr.<br />
Brown war sehr damit beschäftigt, einen Rahmen mit dem Bild seiner Familie<br />
zu putzen.<br />
Er fragte ungeduldig: „Was wollen Sie denn nun schon wieder, Mr. Miller?“<br />
Jack sagte fest entschlossen zu Mr. Brown:<br />
„Fällt Ihnen eigentlich nicht auf, wie schlecht es den Kindern geht?“
52 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
„Was denn zum Beispiel? Ich sehe nichts, wo eine Veränderung nötig ist,“<br />
meinte Mr. Brown.<br />
„Zum Beispiel Annika und Max, sie schlugen sich brutal, und keiner der<br />
vielen Betreuer, die vorbei liefen und alles beobachtet hatten, unternahmen<br />
etwas dagegen. Das ist sehr schlecht…“<br />
„So, jetzt halten Sie <strong>mal</strong> den Mund. Ich sehe hier keinen Grund etwas zu<br />
unternehmen, und deshalb bleibt auch alles so, wie es ist“, sagte Mr. Brown<br />
nun mit erhobener Stimme.<br />
„So, und jetzt halten Sie auch <strong>mal</strong> den Mund, denn wenn sich hier nicht<br />
schleunigst etwas ändert, dann werde ich das tun, verstanden?“<br />
Wütend verließ Jack das Büro und knallte die Türe hinter sich zu. Ganz<br />
außer sich und zugleich auch traurig, Dave nicht helfen zu können, ging er<br />
auf sein Zimmer. Alleine und eingeschlossen blieb er den restlichen Tag dort<br />
und überlegte, was er nun tun könnte, da ja keiner auf ihn hören wollte. Wie<br />
sehr und wie oft, dachte sich Jack, wurde er selbst früher gehänselt, ausgelacht,<br />
beleidigt, belästigt. Und wie er darunter gelitten hatte!<br />
Das drang Jack nun immer stärker ins Bewusstsein. Er wollte nicht, dass<br />
Dave nun das Gleiche mitmachen musste wie Jack selbst. Er wollte schleunigst<br />
etwas ändern, und das schon sehr, sehr bald. Und er hatte auch schon<br />
eine kleine Vorstellung, was das sein würde.<br />
Jack hörte nun das Quietschen der Türe des Speisesaals.<br />
„Mist“, schrie Jack, „ich habe vergessen, die Türe zu reparieren!“<br />
Simon Michel: Kapitel 14 53<br />
Simon Michel<br />
Kapitel 14<br />
Eines Nachts wachte Dave auf. Er meinte er hätte Schreie gehört. Ein leises,<br />
unterdrücktes Schreien. Schnell bekam er Angst und zog sich die Bettdecke<br />
bis zu seinem Kinn hoch. Ihm wurde auf ein<strong>mal</strong> unheimlich. Alles war so<br />
still, es war eine Toten<strong>stille</strong> in seinem Zimmer. Er blickte sich schnell um<br />
und schaute hinter sich. Doch er sah nur die Wand. Als er ein Rascheln<br />
hörte, befiel in die Angst und er blickte in seinem Zimmer herum. Alles<br />
war still und die anderen Kinder schliefen alle. Er wollte nach seinem Teddy<br />
greifen, doch er fand ihn nicht. Er drehte seinen Kopf herum und sah im<br />
Mondschein, dass er weg war.<br />
Kurze Zeit später hörte er wieder diese Geräusche. Sie kamen aus dem Flur.<br />
Er richtete sich auf und sah in Richtung Tür. Dort war alles dunkel.<br />
Nach einem kurzen Zögern setzte er einen Fuß auf den kalten Boden. Dann<br />
kam der zweite Fuß und er wusste nicht, wie ihm geschah, aber seine Füße<br />
schienen am Erfrieren zu sein. Eine unglaubliche Kälte umfasste seine Füße.<br />
Er wimmerte auf und sprang zurück ins Bett. Er schaute sich um, ob einer<br />
der anderen wach geworden war. Doch alle schliefen tief und fest.<br />
Er überlegte sich, wann und wie der Teddy weggekommen sein könnte. Im<br />
fiel nichts ein. Er wusste nicht, wo er sein konnte. Doch eins wusste er ganz<br />
sicher: Jemand musste ihn weggenommen haben.<br />
Er dachte an die anderen Kinder. Ob sie jetzt vielleicht noch wach waren<br />
und ihn <strong>mal</strong> wieder ärgern wollten und ihm Angst einjagen?<br />
Nach weiteren Geräuschen im Flur verschwanden jedoch die Gedanken.<br />
Man merkte ihm an, wie viel Angst er hatte. Er wurde ganz bleich, wusste<br />
nicht, wie ihm geschah, doch da stand er schon mitten im Zimmer.<br />
Er schlich auf seinen Zehenspitzen bis zur Tür. Als er vor ihr stand, merkte<br />
man ihm die Angst an, die er hatte, weil er nicht wusste, was auf ihn warten<br />
würde. Ob vielleicht ein Monster hinter der Tür war oder ein Betreuer, der<br />
einfach nur gestolpert war und am Boden lag? Oder etwa ein Einbrecher, der<br />
gerade versuchte die Tür zum Büro aufzumachen?
54 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Er kam von den Gedanken ab, als er wieder diese Geräusche wahrnahm.<br />
Es hörte sich an wie ein leises Schreien. Er berührte leicht den Türgriff und<br />
machte die Tür leise auf.<br />
Es war dunkel. <strong>Der</strong> gesamte Flur war dunkel. Er lief zirka einen Meter und<br />
bleibt dann stehen. Er zitterte und schaute sich um. Nichts. Nach kurzer Zeit<br />
stand er vor dem Lichtschalter. Er wollt das Licht anmachen, doch es ging<br />
nicht. Das Licht ließ sich nicht einschalten. Er versuchte es noch <strong>mal</strong> und<br />
noch <strong>mal</strong>, doch es klappte nicht.<br />
Nun lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er dachte wieder an Einbrecher<br />
– oder vielleicht sogar an einen Mörder. Kurz bevor ihn diese Gedanken<br />
total überfielen, schlich er wieder leise zurück. Plötzlich stolperte er und<br />
knallte auf den Boden. Nach kurzer Zeit richtete er sich auf und fasste sich<br />
ans Knie.<br />
<strong>Der</strong> ganze Flur war dunkel, doch er roch Blut. Er wusste nicht, wie ihm<br />
geschah. Blutete er am Knie oder woher sollte der Geruch kommen? Als er<br />
wieder leise Geräusche hörte, wurde im kalt ums Herz. Vielleicht war doch<br />
ein Mörder im Haus. Als ihn diese Gedanken überfielen, wusste er nicht<br />
mehr weiter. Er rannte lautstark den Flur entlang, zu seinem Zimmer.<br />
Dort angekommen, fasste er sich an das blutende Knie und schaute sich um.<br />
Er sah nichts, das ganze Haus war dunkel. Er öffnete langsam die Tür und<br />
trat in das Zimmer. Alles war still, die anderen Kinder schliefen alle. Er lief<br />
durch das Zimmer und legte sich in sein Bett, riss die Bettdecke bis an sein<br />
Kinn und versuchte zu schlafen. Aber an Schlaf war nicht zu denken, er<br />
musste einfach die ganze Zeit an die Geräusche im Flur denken. An den<br />
Blutgeruch und an die Kälte, die ihn überfallen hatte.<br />
Er beschäftigte sich die ganze Zeit mit diesen Fragen, doch einige Zeit später<br />
schlief er schon tief und fest.<br />
Paula Schmidt: Kapitel 15 55<br />
Paula Schmidt<br />
Kapitel 15<br />
Dave wurde von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch sein Fenster schienen.<br />
Das taten sie hier sehr selten. Denn Fenster waren in solchen Zimmern<br />
wie in seinem selten. Er hatte sehr unruhig geschlafen. Wie viel Uhr war es?<br />
Er schaute auf den Wecker, es war kurz nach acht.<br />
Er musste sich beeilen, sonst würde er zu spät zum Frühstück kommen.<br />
Also zog er schnell seine verdreckte Hose an. Max hatte ihn gestern in den<br />
Schlamm geschubst. Sein T-Shirt sah auch nicht besser aus. Er rannte die<br />
Treppen runter. Es waren schon alle da. Außer Mrs. Nowak. Wahrscheinlich<br />
steckte sie im Stau. Sie gehörte zu den wenigen der Betreuer, die nicht<br />
im Heim wohnten.<br />
Es gab <strong>mal</strong> wieder Marmeladenbrot. Jeden Morgen das Gleiche. Er hasste es.<br />
Es klingelte. Adoptiveltern konnten es nicht sein, denn es war noch zu früh.<br />
Es war ein Polizist. Er verschwand mit Mrs. Giggles, der Leiterin des Heims,<br />
in ihrem Büro. Dave konnte ihn nur kurz sehen, er hatte kurze Haare, eine<br />
Fliegerbrille, war sehr schlank und etwa um die 35 Jahre alt.<br />
Alle fingen an zu tuscheln. Nur Dave nicht. Mit wem denn auch? Mr. Prob<br />
bat die Kinder ungewöhnlich freundlich um Ruhe. Wahrscheinlich wegen<br />
dem Polizisten. Als sie nach ungefähr einer halben Stunde wieder aus dem<br />
Büro kamen, befragte er die restlichen Betreuer. Dann befragte er Jack.<br />
Mittlerweile war das Frühstück vorbei. Die Kinder sollten sich nun für die<br />
Schule fertig machen. Dave hatte keine Lust, er wollte lieber lauschen, was<br />
der Polizist wissen wollte. <strong>Der</strong> Polizist reichte Jack die Hand.<br />
„Hallo, ich heiße Michael.“<br />
Jack nahm die Hand und nickte ihm zu. „Jack.“<br />
Michael fragte: „Wie gut kannten Sie Mrs. Nowak?“<br />
„Nicht sehr gut. Wenn wir uns <strong>mal</strong> unterhalten haben, dann meistens über<br />
die Kinder. Ich glaube, sie hat <strong>mal</strong> erwähnt, dass sie alleine lebt.“<br />
<strong>Der</strong> Polizist drehte seinen Kuli zwischen den Fingern.
56 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
„Haben Sie sich gestern mit ihr unterhalten?“, fragte er mit einem eindringlichen<br />
Blick.<br />
„Ja, wir haben über eines der Kinder geredet“, sagte Jack locker.<br />
„Über wen?“<br />
Michael legte seinen Kuli aus der Hand.<br />
„Über Dave.“<br />
Langsam wurde er zögerlicher mit seinen Antworten. Hatte er mit Mrs. Nowaks<br />
Verschwinden zu tun?<br />
„Mögen Sie ihn? Mag sie ihn? Hatten sie einen Konflikt?“<br />
Michael lehnte sich erwartungsvoll im Stuhl zurück. Jack überspielte seine<br />
Unruhe gekonnt, doch durch ein kleines Loch in der Wand konnte Dave<br />
sehen, wie seine Finger unruhig aber lautlos gegen die Rückseite des Stuhls<br />
tippten.<br />
„Ich mag ihn sogar sehr. Sie hatte wohl keinen engen Bezug zu ihm, aber wir<br />
haben uns nicht gestritten.“<br />
Michael sah kurz an die Decke und dachte nach.<br />
„Könnte ich mit dem Jungen sprechen?“<br />
Jack sah erleichtert aus, als er sagte: „Ich hole ihn!“<br />
Dave rannte um die Ecke, um dann wie durch Zufall in der Nähe zu sein,<br />
damit nicht auffiel, dass er sie belauscht hatte.<br />
Jack kam mit seinem freundliche Lächeln auf ihn zu.<br />
Jack sagte zu ihm: „Na, Kleiner. Wie geht’s dir?“<br />
„Gut. Dir? Was ist denn?“, fragte er mit einem breiten Lächeln.<br />
Er ging in die Knie, um auf Daves Höhe zu sein.<br />
„Mir geht’s auch ganz gut. <strong>Der</strong> Polizist will mit dir reden, aber du brauchst<br />
keine Angst zu haben. Du hast nichts getan. Er stellt dir nur ein paar Fragen.“<br />
Wie kam er darauf, dass Dave Angst hatte? Mit einem breiten Lächeln sagte<br />
er: „Ich habe keine Angst.“<br />
<strong>Der</strong> Polizist winkte ihm zu. Er ging zu ihm. Er schloss die Tür hinter sich<br />
und setzte sich ihm gegenüber hin.<br />
Michael: „Hallo, du bist David, nicht wahr? Ich heiße Michael“, sagte er mit<br />
einem warmen Lächeln.<br />
Dave ließ sich in den Stuhl fallen<br />
„Hallo, ja. Was wollen Sie?“<br />
Nun blickte der Polizist ernst.<br />
Paula Schmidt: Kapitel 15 57<br />
„Ich wollte dir ein paar Fragen stellen. Magst du Jack sehr?“<br />
Dave: „Ja. Er ist der Einzige, der nett zu mir ist. Die anderen Kinder ärgern<br />
und schlagen mich immer, und den Betreuern ist es egal. Aber Jack nicht. Er<br />
hilft mir als Einziger.“<br />
Michael überlegte kurz. „Wie hat Mrs. Nowak sich dir gegenüber verhalten?“<br />
Dave antwortete traurig. „Sie war meist sehr abweisend. Ich musste mich<br />
selbst gegen die Anderen wehren.“<br />
Dave musste daran denken, wie ihn die anderen schikanierten, mit Stöcken<br />
schlugen, ihn in den Dreck schubsten... Ihm stiegen Tränen in die Augen,<br />
aber er schluckte sie schnell wieder runter.<br />
Michael schaute ihn ernst an.<br />
„Hmm, hat Jack sich darüber aufgeregt?“<br />
Dave antwortete eilig: „Nein! Darf ich jetzt zur Schule gehen?“<br />
Michael lächelte. „Danke, das reicht mir. Viel Spaß in der Schule.“
58 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
André Rebele<br />
Kapitel 16<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Es war bereits Abend und die Nacht war halb angebrochen und ich war mit<br />
Luke, einem der anderen Jungen, draußen spielen. Wir haben Verstecken gespielt.<br />
Ich hatte mich als erster versteckt, und danach hatte Luke sich in dem<br />
Geheimversteck versteckt, wo ich mich immer vor den Anderen versteckt und<br />
Schutz gesucht hatte. Als ich mich versteckte, fand Luke mich nicht. Nach<br />
zehn Minuten war es Nacht. Es war stockdunkel. Luke hatte Angst, alleine<br />
im Wald herum zu laufen und rannte zum Waisenhaus zurück. Ohne mich<br />
zu warnen.<br />
Ich wunderte mich, wo Luke nur geblieben war. Ich lief los, um ihn zu suchen.<br />
Doch ich fand ihn nicht. Ich rief nach ihm, doch er antwortete nicht. Ich dachte,<br />
dass ihm etwas passiert sei.<br />
Als ich auf dem Weg zum Waisenhaus war, raschelte es im Gebüsch. Ich lief<br />
schneller, ich rannte förmlich. Als ich fast angekommen war, stellte sich eine<br />
schwarze Person in den Weg. Ich bekam einen Schock. Ich wollte an der Gestalt<br />
vorbei laufen, doch die schwarze Gestalt stellte sich in den Weg und hielt<br />
mich auf und schleuderte mich auf den Boden.<br />
Mr. Anderson sagte, mit einem bösen Ton:<br />
„Was sucht du hier? Du müsstest schon im Waisenhaus sein.“<br />
„Es tut mir leid, Mr. Anderson, ich musste Luke suchen, wir haben Verstecke<br />
gespielt und er musste mich suchen… und dann…“, sagte ich mit weinender<br />
Stimme zu Mr. Anderson.<br />
Mr. Anderson schrie: „Sei ruhig, du Wurm! Halt deine klappe!“<br />
Ich war ruhig gestellt durch die Ansage von Mr. Anderson. Mr. Anderson<br />
packte mich am Kragen und schleppte mich ins Waisenhaus. Als wir im Waisenhaus<br />
angekommen waren, schloss Mr. Anderson sich mit mir in seinem<br />
Zimmer ein. Mr. Anderson setzte sich auf den Stuhl und sagte: „Was soll ich<br />
jetzt mit dir machen? Soll ich dir eine Tracht Prügel verpassen oder was…?<br />
Schlag <strong>mal</strong> vor!“<br />
André Rebele: Kapitel 16 59<br />
Ich sprach mit wimmernder Stimme: „Nein, nein, nichts, gar nichts, bitte<br />
nichts! Lassen Sie mich gehen, bitte!“<br />
Ich hatte panische Angst und ich weinte sehr. Mr. Anderson lief im Kreis, lachte<br />
und überlegte sich, wie ich daraus lernen konnte, für das, was ich gemacht<br />
hatte. Mr. Anderson ging zur Tür und verriegelte sie, sodass ich nicht flüchten<br />
konnte. Ich stand in der Ecke und weinte immer noch.<br />
Dann plötzlich sprach Mr. Anderson, halb so wie ein Psychopath: „Na los, zieh<br />
dich aus!“<br />
Ich schaute Mr. Anderson an und nahm meinen ganzen Mut zusammen.<br />
„Schnauze! Zieh dich selber aus“, sagte ich mit plötzlich wütender Stimme.<br />
Ich war erleichtert und fühlte mich toll danach. Doch dann: „Oha“, sagte Mr.<br />
Anderson verblüfft und lachte. „Du bist doch nicht so ein Feigling, wie ich<br />
dachte.“<br />
Mr. Anderson war sprachlos, er wusste nicht, was er sagen sollte. Ich bin zur<br />
Tür gelaufen, machte sie auf, doch dann: „Nein, so geht das nicht“, schrie Mr.<br />
Anderson und warf sich gegen die Tür. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass<br />
ich dich jetzt einfach so gehen lasse!“<br />
Mr. Anderson lächelte mich an. Ich wurde misstrauisch und blieb einfach stehen.<br />
Plötzlich musste ich grinsen. Mr. Anderson grinste ebenfalls und legte<br />
sich auf das Bett und sagte: „Hol mir ein Glas mit einer Aspirin-Tablette.“<br />
„Okay.“<br />
Ich wollte grade rausgehen, da sagte Mr. Anderson noch <strong>mal</strong>: „Aber Gnade<br />
dir Gott, wenn du abhaust, dann werde ich dir Beine machen, verstanden!“,<br />
schrie er und lachte nur noch.<br />
Ich lief zur Küche, nahm ein Glas, füllte es mit Wasser und musste nur noch<br />
die Tabletten finden. Ich dachte mir, was für Tabletten noch <strong>mal</strong>, und dann<br />
sah ich die Schlaftabletten. Ich kippte die ganze Packung hinein, als Rache für<br />
Mr. Anderson. Als ich alles getan hatte, was Mr. Anderson gesagt hatte, ging<br />
ich ins Zimmer, gab ihm das Glas und dachte mir: „Trink alles!“<br />
Mr. Anderson exte das Glas leer und lachte, doch dann taumelte er plötzlich<br />
und sagte mit düsterer Stimme: „Was hast du da getan?“<br />
Ich lachte und sagte: „Ich glaub <strong>mal</strong>, ich habe zu viel vom Schlafmittel hinein<br />
gekippt, ups.“<br />
Ich lachte und sah, wie Mr. Anderson zu Boden ging. Als Mr. Anderson am Boden<br />
lag und sich nicht bewegte, stand ich auf und sagte mit psychopathischer<br />
Stimme: „Hehe, tot, jetzt hast du’s.“
60 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Ich war so mit Hass bestückt, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat, und<br />
deshalb nahm ich ein Messer und schnitt mich am Arm, sodass es aussah, als<br />
hätte Mr. Anderson mich gequält. Ich rannte aus dem Zimmer und schrie.<br />
Es kam sofort ein Betreuer und versorgte meine Wunde und fragte: „Was ist<br />
passiert?“<br />
Ich sprach mit einem vorgetäuschten Weinen: „Er hat gesagt, dass ich ein Glas<br />
mit Wasser holen sollte und mit Schlafmittel, extra in so einem Behälter. Er<br />
hat das ganze Schlafmittel hinein gekippt und getrunken und lachte. Er griff<br />
mich dann mit einem Messer an.“<br />
Die Betreuerin war geschockt und sprach: „Geh in dein Zimmer, deine Wunde<br />
muss jetzt ausheilen, okay?“<br />
Ich rannte in mein Zimmer und verkroch mich im Bett.<br />
Alle Betreuer gingen in Mr. Andersons Zimmer und haben die Leiche entsorgt<br />
und alles wieder vergessen.<br />
Leonard Böhmke: Kapitel 17 61<br />
Leonard Böhmke<br />
Kapitel 17<br />
Dave wachte in seinem voll geschwitzten Bett auf. Sein Gesicht war Schweißgebadet,<br />
er legte sich wieder zurück und dachte nach. Dave musste die ganze<br />
Zeit an die schrecklichen Geräusche aus der Nacht denken. Wo waren<br />
die hergekommen? Er überlegte. Also von oben waren sie nicht gekommen.<br />
Vielleicht wollten ihn die Anderen nur wieder fertig machen, das Übliche<br />
eben. Er dachte an Jack und wie er sich immer verhielt. Warum war er so<br />
nett zu ihm?<br />
Es mochte ihn doch eh keiner. Warum hatten ihn seine Eltern da<strong>mal</strong>s nur im<br />
Stich gelassen? Warum...??? Warum...??? Tausend Fragen gingen ihm durch<br />
den Kopf! Er wollte Jack suchen und ihn fragen, ob er auch diese gruseligen<br />
Geräusche gehört hatte. Also wenn sie nicht von oben gekommen waren,<br />
dann waren sie wohl von unten gekommen . Also musste er alles absuchen.<br />
Leichter gesagt als getan, denn Daves Zimmer lag im obersten Stockwerk. Er<br />
überlegte: Sollte er das ganze Waisenhaus nach den Geräuschen absuchen<br />
oder war das wieder nur ein schlechter Scherz von den Anderen? Wieder<br />
gingen ihm viele verschiedenen Fragen durch den Kopf.<br />
Er schaute auf die Uhr, es war halb zehn. Er entschloss sich, erst <strong>mal</strong> frühstücken<br />
zu gehen. Als er unten ankam, war er der einzige, der noch nicht<br />
gegessen hatte. Er ging zum Büffet und nahm sich eine Schüssel und füllte<br />
seine Lieblings-Cornflakes rein. Doch erst dann bemerkte er, dass die Milch<br />
alle war. Dave ging in die Küche und holte neue. Er setzte sich an einen Tisch<br />
und fing an zu essen. Heute sollte ein Basketball-Turnier stattfinden. Dave<br />
wollte ein bisschen zuschauen.<br />
Als er einen Schritt vor die Türe machte, kam ihm schon Max entgegen. Er<br />
wusste, was das bedeutete, denn Dave hatte Max gestern ein Bein gestellt.<br />
Dave rannte und rannte, doch Max trabte nur hinter ihm her. Einen Moment<br />
nicht auf gepasst, und schon – WUSCH! – rannte Dave auch schon<br />
gegen die Kellertür. Dave öffnete die Kellertür langsam und sie fing an zu<br />
knarren. Er erschrak, doch das sollte ihn nicht hindern.
62 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Er schnappte nach Luft und ging ganz, ganz langsam die Treppe runter, die<br />
Dielen waren morsch und knarrten bei jeder Bewegung. Er fühlte sich gleich<br />
nicht wohl, weil es hier stank und eiskalt war. Da kam er auch schon zu dem<br />
nor<strong>mal</strong>en Keller. Er ging weiter die Treppen runter. Unter diesen befanden<br />
sich zwei Gewölbekeller. In einem wurden Lebensmittel gelagert und im anderen<br />
befanden sich Sachen, die der Hausmeister zum Arbeiten im Waisenhaus<br />
brauchte. Putzmittel, Besen, Heckenscheren… und viele andere Werkzeuge.<br />
Das wusste er von Jack, er hatte ihm viel über seine Arbeit erzählt.<br />
Dave wollte auch <strong>mal</strong> Hausmeister werden, aber nicht im Waisenhaus, weil<br />
es ihn sonst immer wieder an die schlechten Zeiten erinnern würde.<br />
Er ging zu dem ersten Gewölbekeller. Er öffnete die Tür und stand im Vorratskeller.<br />
Hier war nichts Auffälliges zu sehen, außer leeren Apfelsaftflaschen<br />
und vielen Gemüsekisten war nichts mehr in diesem Raum. Er ging<br />
zur zweiten Tür und kam in ein wahres Werkzeug-Chaos. Auch hier war<br />
nichts Auffälliges zu sehen. Nur ein Werkzeug-Chaos und ein große Kiste,<br />
wo eine Plane drüber lag.<br />
Er wollte grade wieder hoch gehen, als es ihn plötzlich blendend interessierte,<br />
was unter der Plane war. Überall waren Werkzeuge auf dem Boden<br />
verstreut, aber das machte ihm nichts aus. Er warf ein Blick auf seine Taschenuhr<br />
– es war schon 11.00 Uhr. Heute gab es sein Lieblingsessen: Pfannkuchen.<br />
Mittagessen gab es immer um 12.00 Uhr, also hatte er noch eine<br />
Stunde Zeit.<br />
Er ging zur Plane und hob sie hoch... er erschrak, der Schweiß tropfte ihm<br />
vom Gesicht. Er fing an zu schreien, doch hier unten konnte ihn keiner hören.<br />
Plötzlich stand Jack hinter ihm. Dave musterte seine blauen Augen, es waren<br />
die selben wie seine eigenen. Auch das Haar lag gleich. Die Ähnlichkeit war<br />
verblüffend.<br />
Jack fragte: „Was machst du denn hier? Ich habe dir doch gesagt, du sollst<br />
hier nicht hin, komm, wir gehen nach oben…!“<br />
Katrin Epple: Kapitel 18 63<br />
Katrin Epple<br />
Kapitel 18<br />
„Hallo Dave, na, habe ich dich jetzt erschreckt?“, erklang plötzlich eine<br />
Stimme hinter ihm.<br />
Es war Jack. Dave wollte Jack fragen, was er da so geheimnisvoll in der Hand<br />
hinter seinem Rücken hatte, aber er hatte Angst. Zu seiner Überraschung<br />
sagte Jack zu ihm: „<strong>Der</strong> Teddy ist für dich“, und gab ihm den Teddy. „Du<br />
musst sehr gut auf ihn aufpassen, aber du darfst ihn niemandem zeigen oder<br />
sagen, dass du ihn hast. Denn du weißt ja, dass hier im Waisenhaus Kinder<br />
und Erwachsene getötet worden sind, und das war der Teddy hier. Denn<br />
sonst trifft dich die ganze Schuld, denn der Teddy gehört ja jetzt dir, weil ich<br />
ihn dir ja geschenkt habe,“ antwortete Jack streng.<br />
Erst verstand Dave nicht, was Jack da erzählte, denn wie sollte das denn gehen,<br />
dass ein Teddy Menschen tötet, fragte er sich einen kurzen Augenblick.<br />
Doch dann verstand er, was Jack ihm gerade gesagt hatte. Da unterbrach ihn<br />
Jack in seinen Gedanken und fragte ihn: „Hast du das verstanden, Dave, du<br />
darfst niemandem etwas von diesem Teddy erzählen.“<br />
„Ja, Jack, ich habe dich sehr wohl verstanden und ich verspreche dir, dass<br />
ich nichts erzähle oder den Teddy je<strong>mal</strong>s erwähnen werde“, sagte Dave mit<br />
ängstlicher Stimme.<br />
Darauf antwortete ihm Jack: „Das ist sehr gut, stell dir einfach vor, du besitzt<br />
den Teddy nicht, aber er soll dich beschützen!“<br />
Nach diesem Gespräch ging Jack weg und Dave stand ganz alleine mit dem<br />
Teddy in der Hand da. <strong>Der</strong> Teddy sah ganz schön unheimlich aus, so klein,<br />
verschrumpelt, kaputt – und ehrlich gesagt, Dave hätte ihm einen Mord zugetraut,<br />
aber er wusste ja, dass Teddys nicht morden können. Jetzt stellte sich<br />
nur noch eine Frage: Wo sollte er ihn aufbewahren, ohne dass ihn jemand<br />
fand und entdeckte und dann vielleicht die Polizei rief und Dave in Schwierigkeiten<br />
brachte? Oder Dave sich sogar selbst, wenn er ihn sah und es dann<br />
nicht aushielt, dass dies ein Mörderteddy war.
64 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Mist, da kamen Schritte, es war die Chefin, und was jetzt? Wohin sollte er<br />
mit dem Teddy in der Hand gehen, ohne dass sie ihn sah, und den Teddy<br />
auch nicht?<br />
Schnell, ich sollte mich beeilen, dachte Dave. Ich hab’s, dachte sich Dave,<br />
den Teddy erst in einen der Gewölbekeller, dann gehe ich hoch in mein Zimmer,<br />
und nachher, wenn alle schlafen, hole ich ihn und lege ihn in meinen<br />
Schrank, ganz nach hinten in die kleine Kiste die ich dort versteckt halte.<br />
Und niemand weiß, was sich darin befindet, dann wird auch hoffentlich keiner<br />
ahnen, dass sich darin Jacks Teddy befindet. Ja, das ist die Lösung!<br />
Vorsichtig legte Dave den Teddy hinter einer der Kisten ab und schlich sich<br />
dann leise und ein wenig ängstlich aus dem Keller, die Treppe hinauf in sein<br />
Zimmer, wo die anderen Kinder waren und spielten, ihn aber nicht beachteten.<br />
Er setzte sich auf sein Bett und grübelte. Andauernd stellte er sich die<br />
Frage: WARUM?? Was für einen Grund hatte der Teddy, Menschen zu töten,<br />
bzw. sein Besitzer? Moment <strong>mal</strong>, sein Besitzer? Aber das würde ja heißen,<br />
dass Jack der Mörder war und jetzt Dave die Schuld in die Schuhe schieben<br />
wollte, damit keiner auf ihn kam, weil er ihm ja „seinen Teddy“ geschenkt<br />
hatte und wusste, dass Dave sich nicht in Schwierigkeiten bringen wollte<br />
und so die ganze Sache für sich behalten würde!<br />
Das war gut geplant, aber was für einen Grund gab es, dass Jack so viele<br />
Menschen tötete? Das musste doch irgendeinen Grund haben, aber welchen?<br />
Und wie konnte Dave ihn herausfinden, ohne dass Jack ahnte, dass er<br />
ihn verdächtigte?<br />
Die anderen Kinder bekamen nichts davon mit, dass Dave sich Gedanken<br />
machte, denn er glaubte, sie planten gerade wieder etwas, wie sie ihm wieder<br />
einen Streich spielen konnten. Aber das ließ er sich ab sofort nicht mehr<br />
gefallen, denn durch die Geschichte mit dem Teddy hatte er wieder sehr viel<br />
Selbstvertrauen bekommen, und sie wussten nicht, woher das kam.<br />
Sie würden sich noch ganz schön wundern! Dave hoffte, dass sein Plan funktionierte,<br />
so wie er sich das auch vorstellte, und dass die Enttäuschung nachher<br />
nicht so groß war, wie er es sich vorgestellt hatte.<br />
Mittlerweile war es Nacht geworden, und es war die Zeit gekommen, in der<br />
Dave versuchen musste, den Teddy sicher in seinem Schrank zu verstecken.<br />
Ganz leise schlich er sich auf den Flur, um die Anderen nicht zu wecken,<br />
denn das wäre ganz schlecht gewesen. Und von Jack durfte Dave sich auch<br />
nicht erwischen lassen.<br />
Katrin Epple: Kapitel 18 65<br />
Dave war schon fast unten, als auf ein<strong>mal</strong> das Licht im Keller anging, und<br />
er konnte sich nicht erklären, wie das jetzt gegangen war, denn er hatte es<br />
ja extra nicht angemacht. Als Dave sich umdrehte, sah er erst einen großen<br />
Schatten, und dann erkannte er, wer dieser Schatten war: Es war Jack, der<br />
auf ihn gewartet hatte. Dave blieb wie versteinert stehen und sagte erst<strong>mal</strong><br />
nichts, um abzuwarten, was Jack jetzt mit ihm vorhatte.<br />
Doch er schien ganz freundlich, viel zu freundlich, seiner Meinung nach,<br />
denn eigentlich hätte er doch stocksauer auf ihn sein müssen, oder etwa<br />
nicht?! Eiskalt lief es Dave den Rücken hinunter, er bekam Gänsehaut und<br />
Schweißausbrüche, denn vielleicht war er ja jetzt das nächste Mordopfer,<br />
und vielleicht hatte Jack das bei den anderen Toten auch so gemacht wie<br />
jetzt. Aber das war ja nur eine Vermutung, und Dave hoffte, dass sich diese<br />
Vermutung nicht bestätigen würde, ein Mordopfer von Jack zu werden.<br />
Jack fragte, was Dave alleine im Keller machte.<br />
Dave antwortete ihm: „Du hast doch gesagt, dass ich den Teddy in ein Versteck<br />
bringen soll und dass ich ihn niemandem zeigen darf. Und an diese<br />
Anweisung habe ich mich gehalten. Und nun bin ich hier, um ihn zu holen<br />
und jetzt zu verstecken, denn vorher hätten es ja (fast) alle mitbekommen,<br />
und das wäre nicht sehr schlau gewesen, oder?“<br />
„Da hast du Recht, Dave“, hörte er Jack reden. „Dave, wo willst du denn den<br />
Teddy verstecken?“, fragte Jack mit einem finsteren Ton.<br />
„Das sage ich dir nicht, denn du hast gesagt, niemand darf wissen, wo er<br />
sich befindet. Also somit darfst du das auch nicht!“, gab Dave Jack ein wenig<br />
ängstlich zur Antwort.<br />
„Sei <strong>mal</strong> nicht so vorlaut, Dave, du weißt, ich könnte dich ja auch bei der Polizei<br />
verraten, nicht nur du dich selbst. Denk daran!“, schrie Jack Dave an!<br />
Dave bekam Angst vor Jack, und so beschloss Dave, den Keller ohne den<br />
Teddy zu verlassen und ihn morgen sicher zu verstecken. Denn jetzt hatte<br />
Dave zu große Angst vor Jack, und er würde Jack auch zutrauen, das er ihm<br />
auflauerte, um zu erfahren, wo sich der Teddy nun befand. Und das wollte<br />
er auf keinen Fall riskieren, auch nicht, dass Jack ihn bei der Polizei verriet,<br />
denn dann würde Dave ihn auch verraten können, aber das brachte ihn<br />
nicht weiter, denn er hatte keine Beweise, sondern nur Vermutungen!!<br />
Es wurde nun Zeit ins Bett zu gehen und diesen Tag und diese Gedanken für<br />
heute zu beenden, dachte Dave und schlief ein. Plötzlich wachte Dave mitten<br />
in der Nacht auf, wegen eines schrecklichen Albtraums. Er hatte geträumt,
66 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
dass ihn Jack bei der Polizei verraten hatte, die ihn nun verhaftete, weil Jack<br />
der Polizei die ganze Geschichte erzählt hatte und sich selbst nicht erwähnt<br />
hatte, sondern er hatte Dave die alleinige Schuld zugeschoben. Dave hörte<br />
die Sirenen der Polizeiautos.<br />
Dann wachte Dave auf, denn seine Zimmertür ging auf und ein Lichtstrahl<br />
kam herein. Es war Jack, der nach Dave schauen wollte, denn dieser redete<br />
und Jack hörte dies und wollte wissen, was mit ihm los war. Jack hatte gehört,<br />
was Dave für Laute von sich gab. Er hatte seine Hand auf Daves Schulter<br />
gelegt und versucht, ihn aufzuwecken. Es hatte funktioniert. Allerdings<br />
erschrak Dave und schreckte hoch und schlug um sich. Jack versuchte, ihn<br />
zu beruhigen, und dies gelang ihm auch, denn sie mussten auf die anderen<br />
Kinder aufpassen, dass sie nichts mitbekamen. Denn Dave hatte ja über die<br />
Geschichte mit dem Teddy gesprochen. Als Dave wieder zu sich gekommen<br />
war, war er sehr erleichtert, dass dieser Albtraum nun vorbei war, er nicht<br />
von der Polizei festgenommen und von Jack verraten worden war.<br />
Jack verließ das Zimmer, ohne einen Ton von sich zu geben. Dave legte sich<br />
wieder nieder und schlief augenblicklich ein. Am nächsten Morgen konnte<br />
er sich schon nicht mehr an diesen Traum erinnern, als Jack ihn darauf ansprach.<br />
Das gefiel Jack natürlich, denn so konnte er sicher sein, dass Dave niemandem<br />
von dem Teddy erzählen würde. Für diesen Tag ließ Jack Dave in Ruhe,<br />
und er kümmerte sich auch nicht weiter um den Teddy.<br />
Daniel Falder: Kapitel 19 67<br />
Daniel Falder<br />
Kapitel 19<br />
Dave hielt den Teddy fest in der Hand. In seinem Kopf hörte er immer wieder<br />
Jacks Worte. Mit dem Gedanken, dass der Teddy den Mord begangen<br />
haben sollte, schaute er ihm in sein wolliges, unschuldiges Knopfaugen-<br />
Gesicht und versuchte, Jack zu glauben.<br />
Noch nie hatte er in seinem ganzen Leben irgendwo gehört, gesehen oder gelesen,<br />
dass Teddys Morde begingen. Er konnte ihm einfach nicht glauben.<br />
Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Jack war es, der Dreck am Stecken<br />
hatte. Wieso sollte er ihm sonst so ein Märchen von mordenden Teddys auf<br />
die Nase binden?<br />
Jack war es, der den Mord begangen hatte! Er musste nachts zu ihm gekommen<br />
sein, um sich den Teddy zu nehmen und sich wieder raus geschlichen<br />
haben. Dann sollte alles so aussehen, als ob der Teddy den Mord begangen<br />
hätte. <strong>Der</strong> Teddy sollte sich nachts rausschleichen, die Betreuerin ermorden,<br />
und wenn Dave die Leiche fand, hätte Jack ihm den Teddy zurückgegeben.<br />
<strong>Der</strong> ganze Mord war geplant!<br />
Dave hatte große Angst. Was sollte er tun? Wie konnte er sich schützen?<br />
Wenn Jack so nahe an ihn herankommen konnte, um sich den Teddy wegzunehmen,<br />
konnte er ihm auch gefährlich werden. Aber warum tat er ihm<br />
nichts? Ihm stellten sich tausende von Fragen. Warum? ... Warum war er<br />
so nett zu ihm? … Warum tat er ihm nichts? … Warum mordete er? …<br />
Warum?<br />
Dave fühlte sich hintergangen und war enttäuscht, als er einsehen musste,<br />
von Jack belogen zu werden. Er konnte zwar nie jemandem vertrauen, aber<br />
er hatte fast das Gefühl gehabt, dass er in Jack eine Person gefunden hatte,<br />
der man vertrauen, oder die man als Freund bezeichnen konnte. Diese Person<br />
hatte er nun wahrscheinlich verloren.<br />
Um sich von dem Geschehenen abzulenken, wollte er sich etwas zu Trinken<br />
holen. Völlig in Gedanken versunken, lief er den Flur entlang und bemerkte<br />
die kommende Gefahr zu spät.
68 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Die anderen Kinder spielten ihm <strong>mal</strong> wieder einen Streich. Sie spannten einen<br />
Draht vor die Treppe. Mitten im Gegröle der anderen Kinder, stürzte er<br />
die Treppe hinunter. Im Flug merkte Dave erst, wie viele Stufen die Treppe<br />
überhaupt hatte, und er hoffte, dass der Flug bald ein Ende haben würde.<br />
Er hörte die anderen Kinder laut lachen und schreien. Schmerz durchdrang<br />
seinen Körper wie ein Pfeil. Es war aber nicht nur der Schmerz, sondern<br />
auch das Gefühl, nichts zu bedeuten. Immer war er das Opfer. Dave wusste<br />
nicht ein<strong>mal</strong>, warum. Er machte doch genau das, was andere auch machen,<br />
er machte doch nie etwas falsch.<br />
Die anderen Kinder standen in einem Kreis um ihn herum und starrten ihn<br />
an. Einer von ihnen bespuckte ihn sogar. Keiner hielt es für nötig, ihm eine<br />
Hand entgegen zu strecken oder ihn zu fragen, ob alles klar sei.<br />
Als er versuchte aufzustehen, wurde Dave wieder auf den Boden geschubst.<br />
Wieder landete er auf dem dick angeschwollenen Knie.<br />
Gerade wollte er einen schmerzdurchströmten Schrei von sich geben, da<br />
stand Jack wie ein Schrank hinter ihm und übernahm die Rolle, die eigentlich<br />
einem von den Betreuern zustand. Da die sich aber <strong>mal</strong> wieder zu bequem<br />
waren, nach den Kindern zu schauen, fragte Jack, was hier passiert<br />
sei.<br />
Die anderen Kinder halfen Dave sofort wie Unschuldsengel beim Aufstehen<br />
und sagten, er sei über seine eigenen Beine gestolpert. Jack spürte, dass sie<br />
logen. Er schaute Dave tief in seine verheulten Augen, sah die Unschuld und<br />
die Tränen.<br />
Außerdem sah Jack noch das Misstrauen, das Dave ihm gegenüber zeigte.<br />
Als Dave endlich wieder auf beiden Beinen stand und auf dem Weg zur Küche<br />
war, spürte er die Blicke der Anderen.<br />
Nachdem er endlich sein Glas Wasser in der Hand hielt, merkte er, wie Jack<br />
ständig zu ihm rüber schaute, während er den Boden putzte. Es sah so aus,<br />
als ob Jack sich um ihn sorgte. Während Dave ein wenig über die Sache von<br />
vorhin nachdachte, merkte er, wie das Vertrauen zu Jack wieder wuchs.<br />
Er fühlte sich, als hätte er noch einen großen Bruder, der sich um ihn kümmerte,<br />
der ihm Schutz bieten konnte, der für ihn da war, wenn man Hilfe<br />
brauchte.<br />
Dave überlegte sich, ob er sich bei Jack bedanken sollte, für das, was er vorher<br />
für ihn getan hatte. Wie ein Messerstich bohrte sich aber die Erinnerung<br />
an den Mord wieder durch seinen Körper.<br />
Saskia Neun: Kapitel 20 69<br />
Saskia Neun<br />
Kapitel 20<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Tot. Endlich! – Er war tot. Hatte ich das geträumt oder war dies wirklich<br />
wahr?! War ich jetzt von der Quälerei erlöst?<br />
Ich holte meinen Teddy aus dem Versteck und hielt ihn erst<strong>mal</strong> einfach nur in<br />
meinen Armen fest und war dankbar, dass er da war und mir einfach nur zuhörte.<br />
Denn die Bilder, die ich sah und die Geräusche, die ich hörte, nämlich<br />
das Tropfen der Überdosis Schlafmittel, das ich langsam ins Milchglas tropfen<br />
ließ, das Mr. Anderson jeden Abend trank, kamen und gingen. Es war nicht<br />
sehr angenehm, denn jeder Tropfen führte zum sicheren Tod meines bösen<br />
Betreuers Mr. Anderson. Das alles machte mich verrückt, die ganze Situation,<br />
denn ich hatte einen Menschen getötet, auch wenn er böse gewesen war und<br />
es verdient hatte.<br />
Ich war ganz in meiner eigenen Welt, in einer, wo nur ich und mein Teddy<br />
lebten. Doch plötzlich hörte ich ein Lachen aus der Richtung der Tür. Das Lachen<br />
riss mich aus meinen Gedanken! Ich blickte dorthin und sah vier Jungs,<br />
die bei mir auf der Etage wohnten. Wir konnten uns gegenseitig nicht leiden,<br />
und das bekam ich von ihrer Seite auch zu spüren. Sie sahen mich mit meinem<br />
Teddy da sitzen, den ich fest umschlungen in meinen Armen hielt. Ich spürte,<br />
wie ich rot anlief, weil ich etwas in meinen Armen hielt, das nicht meinem<br />
Alter gerecht war. Ich hatte durch ihr Lachen wirklich das Gefühl, dass ich<br />
noch ein Kleinkind war, doch ich wusste, dass es nicht stimmte, denn es war<br />
nur die Einsamkeit, die mich zum Kleinkind machte. Alles, was ich wollte,<br />
war eine Familie oder Freunde, doch davon konnte ich nur träumen. Ich hatte<br />
ja niemanden, mit dem ich sprechen konnte, wie die anderen Kinder, denn zu<br />
denen fühlte ich mich nicht hingezogen, weil sie mich nicht so akzeptierten,<br />
wie ich war.<br />
Meine Vertrauensperson war der Teddy. Schnell versuchte ich, ihn hinter mir<br />
verschwinden zu lassen, doch dies brachte nichts, denn sie hatten meinen
70 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Teddy schon alle gesehen. Sie machten sich lustig über mich. Sie zeigten mit<br />
den Fingern auf mich und schrieen: ,,Baby, Baby, Baby!“ Dann rannten sie<br />
lachend davon.<br />
In der Nacht plagten mich die Vorstellungen, wie sie mich morgen verspotten<br />
würden, und dies führte zu einer schlaflosen Nacht.<br />
Am nächsten Morgen, als wir im Klassenzimmer saßen, ging das Getuschel<br />
los. Die vier Jungs flüsterten den anderen zu, dass ich noch einen Teddy besaß.<br />
Ein lautes Gekicher und Gelächter erfüllte das Klassenzimmer. Da hatten alle<br />
wieder einen neuen Grund mich zu ärgern, und das nutzten sie aus. Es wurde<br />
Tag für Tag schlimmer, denn die Betreuer kümmerte es eigentlich nicht, sie reagierten<br />
nicht und ließen uns das selbst klären, da sie der Ansicht waren, dass<br />
wir schon groß genug wären, diesen kleinen Konflikt selbst unter einander zu<br />
lösen. Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen.<br />
An einem Abend lag ich traurig und auch verzweifelt im Bett und wusste keinen<br />
Ausweg.<br />
Ich dachte nach, was ich als nächstes tun sollte, denn langsam konnte ich<br />
dieses Leben nicht weiter ertragen. Zum ersten Mal kam mir ein neuer Gedanke,<br />
der Gedanke zu fliehen.<br />
Ich wusste, dass ich kein Kind mehr war und dass ich es schaffen würde, mich<br />
selbst zu versorgen und auf mich acht zu geben, denn hier wollte ich auf keinen<br />
Fall mehr bleiben. Ich wollte an einem Ort sein, wo ich gemocht und vielleicht<br />
auch geliebt werden würde, in einer Familie, in der ich mich geborgen fühlte.<br />
Am nächsten Tag griff Mr. Johnson endlich ein. Er fragte mich nach dem<br />
Grund des Konfliktes.<br />
Ich sagte ihm, dass die Jungs mich hänselten und sich lustig über mich machten,<br />
weil ich einen Teddy hatte. Würde er mich verstehen oder nicht? Natürlich<br />
verstand er mich nicht. Die Jungs und Mr. Johnson fingen an zu lachen.<br />
Dann wurde Mr. Johnson ernst und meinte: „Du bist jetzt schon 15 Jahre alt.<br />
Da brauchst du doch keinen Teddy mehr. Du kannst nicht mehr träumen,<br />
du musst das reale Leben sehen. Bring sofort deinen Teddy, ich werde ihn in<br />
meinem Büro aufbewahren!“<br />
Doch ich brauchte ihn gar nicht zu holen, denn die Jungs hatten ihn schon<br />
dabei. Sie hatten wahrscheinlich gesehen, wie ich meinen Teddy unter der<br />
Bettdecke versteckt hatte. Ich wollte nach ihm greifen, doch er war schon in<br />
den Händen von Mr. Johnson.<br />
Saskia Neun: Kapitel 20 71<br />
„Wenn du dein Zuhause hier ein<strong>mal</strong> verlassen wirst und dein eigenes Leben<br />
in die Hand nimmst, werde ich ihn dir sehr gerne wieder geben“, sagte Mr.<br />
Johnson.<br />
Diese Aussage versetze mich in einen Zustand tiefster Traurigkeit, denn ich<br />
dachte jede Sekunde an meinen Teddy, da ich die letzten paar Tage mit ihm<br />
alle meine Probleme besprochen hatte. Er fehlte mir. Er fehlte mir sogar sehr.<br />
Er war wie ein Bruder, eine Bezugsperson für mich geworden.<br />
Ich fühlte mich gedemütigt, hintergangen und alleine. Ganz alleine. Ohne einen<br />
Menschen. Ich rannte tränenüberströmt auf mein Zimmer. Jetzt war es<br />
sicher, ich würde abhauen, und zwar noch heute Nacht. Daran konnte mich<br />
keiner mehr hindern.<br />
Schon früh legte ich mich ins Bett, schmiedete den Fluchtplan und zeichnete<br />
ihn mir genau auf. Es war schwieriger, als ich gedacht hatte, denn ich wollte<br />
sicher gehen, dass mich keiner mehr aufspüren würde. Am Ende der langen<br />
Arbeit hatte ich meinen Fluchtplan genau festgelegt. Die ganzen Planungen<br />
waren sehr anstrengend, aber würden hoffentlich erfolgreich sein.<br />
Heute Nacht war es soweit. Heute würde ich abhauen. Das alte schreckliche<br />
Leben hätte dann endlich ein Ende. Die Flucht stand bevor. Ich spürte keine<br />
Müdigkeit, obwohl ich keinen Schlaf hatte. Doch eins wollte ich noch tun.<br />
Ich wollte meinen Teddy holen. Er war das Einzige, was ich hatte. Ich schlich<br />
mich, nur mit dem Nötigsten bepackt, langsam und leise aus meinen Zimmer<br />
in das Erdgeschoss, wo das Büro von Mr. Johnson war. Ich wusste, dass es<br />
einen Ersatzschlüssel hinter dem Heizkörper gab, da ich vor wenigen Tagen<br />
ein Gespräch zwischen dem Hausmeister und einem Betreuer verfolgt hatte,<br />
in dem es um den Schlüssel ging. Mit dem Schlüssel öffnete ich die Tür leise.<br />
<strong>Der</strong> Teddy saß lachend und vergnügt auf dem Schreibtisch, als er mich sah.<br />
Ich nahm ihn in meinen Arm, öffnete schnell das Fenster, sprang in den Hof<br />
und verschwand in der Dunkelheit.
72 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Lauren Rombach<br />
Kapitel 21<br />
Jack war gerade dabei, ein dreckiges Rohr vom Abwasser zu befreien, als<br />
die raue und eher männliche Stimme der Waisenhauschefin durch das ganze<br />
Haus ertönte (es war drei Stockwerke hoch und eher eins von der alten<br />
Sorte). Wie schon so oft rief sie Jack, denn sie hatte immer irgend etwas<br />
auszusetzen. Das lag aber nur daran, dass Jack meistens die Arbeiten nicht<br />
gründlich oder sogar nur halb fertig machte.<br />
„Mister Jack Hausmeister, sofort in mein Büro!“<br />
Natürlich machte Jack dies dann auch und lief vom Badezimmer im ersten<br />
Stock in das gegenüberliegende große Büro der Chefin.<br />
„Ja, Mrs. Garison?”, fragte Jack mit einem missmutigen Unterton. Er schaute<br />
grimmig, aber auch ein wenig ängstlich in ihr dickes und mit Haaren überwuchertes<br />
Gesicht. Die hat sich bestimmt lange nicht mehr die Augenbrauen<br />
gezupft, dachte Jack grimmig. Und diese Hornbrille. Plötzlich schreckte<br />
er von seinen Tagträumen auf.<br />
„Mister Jack Hausmeister, Sie werden gefeuert, wenn das so weiter geht, ich<br />
dulde das nicht mehr lange!”, schrie Mrs. Garison wieder ein<strong>mal</strong> durchs<br />
ganze Haus.<br />
„Was habe ich denn schon wieder angestellt?”, fragte Jack in einem sanften,<br />
aber auch ärgerlichen Ton.<br />
„Das werde ich Ihnen schon zeigen, Sie Nichtskönner. Sie können nicht <strong>mal</strong><br />
einen Stuhl reparieren. Und schauen Sie sich dieses Rohr im Badezimmer<br />
an. Widerlich!” Mit diesen Worten verzog sie das Gesicht. „Und schauen Sie<br />
hier…” Sie zeigte auf ein Regal, eines der vielen in ihrem Büro. „Hier, dieses<br />
Regal, das ist doch nicht repariert.“<br />
Jack wandte sich in Gedanken dem Regal zu. Es sah eigentlich gar nicht<br />
schlecht aus. Alles war repariert, es war stabil, jedoch leicht schräg.<br />
<strong>Der</strong> Inhalt war schlimmer als das Regal selbst, denn darin stapelten sich<br />
ziemlich hässliche Puppen und Figuren, die aussahen, als hätten sie gerade<br />
so den 1. Weltkrieg überlebt. Die meisten davon hatten schottische Rö-<br />
Lauren Rombach: Kapitel 21 73<br />
cke und Umhänge an. Eine zum Beispiel hatte weit abstehende Haare, war<br />
leicht verbrannt, schaute jedoch immer noch vergnügt drein. Sie hatte, wie<br />
einige ihrer Sorte, nur dunkelrote Stofffetzen von Kartoffelsäcken an und<br />
war nicht gerade nor<strong>mal</strong> portioniert, also eher dick. Jack runzelte die Stirn,<br />
wandte sich aber wieder Mrs. Garison zu.<br />
„Nennen Sie das repariert, Mister Jack Hausmeister? Ja? Nennen Sie das R-<br />
E-P-A-R-I-E-R-T? Nein, ich denke nicht, oder?”<br />
Nun war Mrs. Garison auf 180.<br />
„Entschuldigen Sie, Mrs. Garison, es wird nicht mehr vorkommen…!”<br />
Denn mein Plan ist schon bald zu Ende, fügte Jack in seinen gruseligen<br />
Gedanken hinzu. „Nichts, entschuldigen Sie Mrs. Garison. Nichts, es wird<br />
nicht mehr vorkommen. Denken Sie, damit kommen Sie bei mir durch?<br />
Nein, dies<strong>mal</strong> nicht. Sie sollen richtig arbeiten, wie ein HAUSMEISTER.<br />
Haben Sie das langsam <strong>mal</strong> verstanden, Sie Nichtskönner? Am Anfang hat<br />
es doch auch geklappt, jetzt lerne ich Sie von ihrer richtigen Seite kennen,<br />
nicht wahr?”, kreischte sie jetzt noch aufgebrachter.<br />
Sie setzte sich auf ihren Stuhl, denn für sie war das alles sehr anstrengend.<br />
Sie war ja nicht eine von der nor<strong>mal</strong>en Breite. Im Gegensatz zu ihr sah der<br />
eigentlich durchtrainierte und gut gebaute Jack nicht gerade vielsagend aus.<br />
Nun stand Jack wie ein Häufchen Elend da, er hatte sich schon oft bei Mrs.<br />
Garison durchgesetzt, doch heute konnte er nichts mehr sagen. Er war ihr<br />
ausgeliefert, in Zukunft musste er wirklich alles so machen, wie sie es wollte,<br />
denn sonst könnte er die armen kleinen Kinder nicht vor diesem Waisenhausleben<br />
retten, und das war ja sein Plan.<br />
„Mrs. Garison, in Zukunft werde ich es besser machen, aber hören Sie auf,<br />
mich die ganze Zeit Nichtskönner zu nennen, klar?”, murmelte Jack leise vor<br />
sich hin. Er ging ein Schritt näher an die Tür des Büros, um gleich wegzulaufen,<br />
wenn das Gespräch vorbei war.<br />
„Wie bitte, ich soll Sie nicht mehr Nichtskönner nennen? Was denken Sie<br />
denn, wer Sie sind… äh… ja, gehen Sie jetzt und arbeiten Sie <strong>mal</strong> vernünftig!”,<br />
keuchte Mrs. Garison von ihrem Stuhl zu Jack.<br />
Er schaute grinsend in ihr überdimensionales Gesicht.<br />
„Tschüss, Mrs. Garison, und übrigens: Ich habe jetzt Feierabend, und den<br />
habe ich auch verdient, denn den können Sie mir ja wohl doch nicht nehmen,<br />
oder?“, schrie er und lief ins Bad.
74 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Mrs. Garison kam nicht hinterher, Jack hatte wieder ein<strong>mal</strong> gewonnen, auch<br />
wenn er es vor ein paar Minuten noch nicht geglaubt hätte. Vom Garten, der<br />
hinter dem Büro lag, hörte er das Gekreische der Chefin, als sie gerade dabei<br />
war, die Kinder anzuschnauzen.<br />
Jack arbeitete weiter an dem dreckigen Rohr, diese Arbeit verabscheute er,<br />
sie war das Schlimmste an dem ganzen Hausmeisterjob.<br />
„Hoffentlich hat das alles bald ein Ende”, dachte Jack vor sich hin.<br />
Während des Streites war Dave in seinem Zimmer im zweiten Stock und lag<br />
traurig in seinem Bett. Vom Flur hörte er lautes Lachen der anderen Jungs.<br />
Sie hatten den Streit zwischen Jack und der Chefin mitgehört und lachten<br />
nun ihr schrilles Lachen, das Dave verabscheute.<br />
„Haha, Nichtskönner, er ist ein Nichtskönner!”, schrieen Lucas und Tom.<br />
„Haha, habt ihr das gehört, er ist ein Nichtskönner!“<br />
Sie rannten durch das ganze Haus und verstreuten ihre Nachricht darin,<br />
und spätestens jetzt hatte es jeder gehört.<br />
„Er hat hier alles repariert, er ist kein Nichtskönner!”, dachte Dave besorgt<br />
vor sich hin.<br />
Er wollte einschlafen, doch mit dem lauten Gebrüll von draußen war nicht<br />
an Schlaf zu denken. Als er jedoch so müde war und seine Augen fast zuklappten,<br />
nahm er seinen geliebten Teddy und schlief ein.<br />
An diesem Abend saß Jack vor dem einzigen Fernseher im Haus und genoss<br />
seinen Feierabend. Nebenher schaute er sich ein Fußballspiel von FC Chelsea<br />
gegen Madrid an. Er war in Gedanken bei dem Streit vom Mittag. Jack<br />
hatte wirklich gefürchtet, dass er seinen geliebten Feierabend verlieren würde,<br />
doch das war nun Schnee von gestern. Darüber war er stolz. In seinen<br />
Gedanken vertieft, schlief er, wie fast alle in diesem Haus, ein.<br />
Mareike Lang: Kapitel 22 75<br />
Mareike Lang<br />
Kapitel 22<br />
Als Dave in dieser Nacht wegen einem Albtraum aufwachte, war sein Teddy<br />
wieder verschwunden.<br />
„Wo ist nur mein geliebter Teddy?“, dachte er ängstlich, dann hörte er<br />
schreckliche Geräusche und Schreie. Von wo kamen diese furchteinflößenden<br />
Geräusche bloß her? Dave zog ängstlich seine Hausschuhe an und<br />
ging vorsichtig zur Tür, die er auf machen wollte, um zu schauen, was das<br />
für Geräusche waren. Aber irgendwie wollte die Tür nicht aufgehen, sie war<br />
verschlossen.<br />
Dave hörte plötzlich nebenan ein Mädchen stottern: „Es pass– ieren schreck–<br />
schreckliche Di– dinge!“<br />
Dave rief: „Was für Dinge, hallo, hörst du mich?“<br />
Das Mädchen antwortete nicht mehr, und auf ein<strong>mal</strong> war es ganz still. Ihm<br />
lief es eiskalt den Rücken hinunter, man hörte nichts mehr, kein Schreien,<br />
keine schrecklichen Geräusche, nichts. Er dachte noch <strong>mal</strong> an das Mädchen,<br />
das vorhin gerufen hatte, es war wahrscheinlich Marie gewesen, die ihr<br />
Zimmer neben Dave hatte.<br />
„Doch wo war bloß der Teddy?“, dachte Dave.<br />
Er suchte wirklich überall, unter seinem Bett, in seinem Schrank, in Toms<br />
Schrank, in seiner Tasche unter seiner Bettdecke, fand ihn aber dann doch<br />
nicht. Als er dann wieder in sein Bett gehen wollte, um ein wenig zu schlafen,<br />
zog er seine Hausschuhe so heftig aus, dass einer mit voller Geschwindigkeit<br />
an die Wand knallte. Da passierte es: Ein Stück der Tapete löste sich ab<br />
und dahinter kam ein Geheimgang hervor, der nicht größer als eine Schuhschachtel<br />
war. Er tastete ihn ab und fand dabei einen Zettel. Dave holte ihn<br />
raus und faltete ihn auf. Es war ein Bild, wahrscheinlich von einem Jungen<br />
der Jack hieß, da der Name an einer Ecke des Bildes stand. Auf dem Bild<br />
konnte man einen Jungen, ein verbranntes Haus und einen Teddy erkennen.<br />
<strong>Der</strong> Teddy sah genau so aus wie Daves Teddy.
76 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Dave legte das Bild weg und tastete den Geheimgang weiter ab, als er plötzlich<br />
etwas Weiches anfasste. Er holte es heraus und sah, dass es sein geliebter<br />
TEDDY war. Als er den Teddy gerade umarmen wollte, hörte er die Stimme<br />
von Jack: „Schnell, ruft den Arzt, ich habe Tom gefunden, er ist tot, glaube<br />
ich. Schnell, schnell, beeilt euch!“<br />
Da schaute sich Dave um und bemerkte, dass das Bett von Tom leer war. Nur<br />
Lucas lag noch in seinem Bett und schnarchte vor sich hin. Da rief Dave so<br />
laut nach Hilfe, dass Lucas endlich aufwachte.<br />
Dave sagte: „Tom ist nicht mehr im Zimmer und die Tür ist verschlossen.“<br />
Lucas antwortete: „Jetzt beruhige dich doch erst <strong>mal</strong>, das hast du bestimmt<br />
nur geträumt.“<br />
„Nein, das habe ich nicht, ich habe Jack rufen hören, dass Tom tot sein soll,<br />
das habe ich bestimmt nicht geträumt!“<br />
Lucas ging zur Tür und öffnete sie.<br />
„Schau, sie ist nicht verschlossen. Komm, gehen wir Tom suchen, der ist<br />
bestimmt nur in der Küche und frisst sich voll.“<br />
Lucas und Dave liefen auf den Gang hinaus und gingen zur Küche.<br />
„Und wo soll er hier sein, hier ist keine Menschenseele“, sagte Dave.<br />
Lucas sagte darauf: „Ja, dann suchen wir halt wo anders.“<br />
Sie waren gerade auf dem Weg zum Klo, als sie Blutspuren entdeckten.<br />
Lucas sagte: „Komm, wir laufen den Blutspuren hinterher.“<br />
„Nein lieber nicht“, sprach Dave, „das ist viel zu gefährlich.“<br />
„Es wird schon nichts passieren“, rief Lucas und rannte hinter den Blutspuren<br />
her. „Komm – oder hast du Angst?“<br />
Lucas verschwand gerade um die Ecke, als Dave rief: „Warte, ich komm ja<br />
schon!“<br />
Dave rannte Lucas und den Blutspuren hinterher. Da Dave Lucas nicht mehr<br />
sah, folgte er jetzt nur noch den Blutspuren.<br />
„Lucas“, rief er, „Lucas, wo bist du?“<br />
Doch er antwortete nicht. Dave wurde immer langsamer und langsamer, bis<br />
er ganz stehen blieb.<br />
Er überlegte: „Was ist, wenn Lucas entführt wurde, dann bin ich jetzt ja ganz<br />
allein, ich habe Angst, ich schwitze ja.“<br />
Dave lief der Schweiß wie ein Wasserfall übers Gesicht, dazu hatte er auch<br />
noch Gänsehaut, ihm war kalt, eiskalt. Doch Dave lief einfach weiter und<br />
weiter, an den Blutspuren entlang, bis er jemanden rufen hörte: „Dave, wo<br />
bist du denn?“<br />
Mareike Lang: Kapitel 22 77<br />
Dave rief ängstlich: „Wer ist da und wo bist du?“<br />
„Ich bin es, Lucas, ich bin in unserem Zimmer, ich habe Angst bekommen<br />
und dachte, du bist bestimmt wieder in unser Zimmer gegangen“, rief Lucas.<br />
Dave wollte zurück in sein Zimmer rennen, als er auf ein<strong>mal</strong> vor sich Tom<br />
sah. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht.<br />
„Jemand muss ihn umgebracht haben und dann schnell weg gelaufen sein,<br />
deswegen wahrscheinlich die Blutspuren“, dachte sich Dave.
78 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Sajaed Iqbal<br />
Kapitel 23<br />
Dave stand vor der Leiche. Er berührte aus Versehen die Hand der Leiche<br />
und bekam solche Angst, dass er anfing zu weinen. Er musste weinen, nicht<br />
weil er traurig war, sondern weil er Angst hatte. Was sollte er tun? Eine<br />
Leiche lag vor ihm und er stand davor.<br />
<strong>Der</strong> Verdacht konnte auf ihn gelenkt werden. Sollte er es jemandem sagen<br />
oder einfach wegrennen? Er wusste es nicht. Schließlich rannte er einfach<br />
weg, ohne zu wissen, wohin er rannte. Dann kam er in ein Zimmer, das sehr<br />
dunkel war. Er lief ins Zimmer hinein und trat in eine Pfütze. Er konnte<br />
nicht erkennen, was es war. Dave tastete die Wand nach einem Lichtschalter<br />
ab. Als er ihn fand, machte er das Licht an. Er erstarrte, ihm lief es eiskalt<br />
den Rücken hinunter. Er konnte es nicht fassen: Er stand in einer Pfütze aus<br />
Blut. Eine Leiche lag auf einem Tisch und aus ihrem Kopf tropfte Blut. Es<br />
bildete sich eine Pfütze, in der Dave nun stand. Seine Augen wurden groß,<br />
er bekam Gänsehaut und er konnte sich kein Stück bewegen. Er stand nur da<br />
und schaute umher. Schließlich versuchte er, einen Schritt zu machen und es<br />
klappte sehr mühsam, denn seine Schuhe waren so schwer geworden, dass er<br />
nicht mehr richtig laufen konnte.<br />
Dann, als er ein paar Schritte gemacht hatte, versuchte er die Leiche zu erkennen.<br />
Es war ein Betreuer, der Dave auch immer vernachlässigt hatte, aber<br />
trotzdem musste er wieder weinen. Dave setzte sich in eine Ecke des Raums<br />
und sah die ganze Zeit die Leiche an und weinte, so sehr, dass seine Tränen<br />
auf das Blut tropften und sich mit dem Blut vermischten.<br />
Er zog seine Schuhe aus, denn wenn er mit den Schuhen umherlief, dann<br />
lenkte er nur den Verdacht auf sich. Plötzlich hörte er etwas herunter fallen.<br />
Es war ein Gegenstand neben der Leiche, der ihn in Panik versetzte.<br />
Er konnte nicht mehr richtig atmen und atmete so heftig, dass ihm die Luft<br />
weg blieb. Aber trotzdem rannte er wieder los. Er wollte einfach nur weg,<br />
er rannte und rannte, bis er wieder in ein dunkles Zimmer kam. Er machte<br />
das Licht an und sah wieder nur Leichen. Dave rannte wieder weg, er wusste<br />
Sajaed Iqbal: Kapitel 23 79<br />
nicht, wohin. Er wusste nicht, was er nun machen sollte, er rannte einfach<br />
nur und sah überall nur Leichen, nur Tote.<br />
Er rannte immer noch, und plötzlich blieb er vor einer Tür stehen, die verschlossen<br />
war. Er konnte Schreie hören und eine Stimme, die ihm sehr bekannt<br />
erschien. Es war Jack, ja, das war er.<br />
Dave schaute durch das Türloch und erkannte eine Person, die auf dem Boden<br />
um ihr Leben flehte. Es war ein Betreuer, und vor dem Betreuer stand<br />
Jack mit einem blutigem Messer in der Hand. Dave konnte nicht hinschauen.<br />
Er traute sich einfach nicht – und da war es geschehen. Dave hörte drei<br />
laute Schreie von dem Betreuer. Er wusste nicht, wo er sich verstecken sollte,<br />
denn wenn ihn Jack sehen würde, würde er ihn auch umbringen. Und da<br />
sah er eine große Blumenvase, hinter der er sich versteckte. Jack kam aus<br />
dem Zimmer. Dave konnte erkennen, dass Jack viele Blutspritzer an seinen<br />
Kleidern hatte. Und dass seine Hände voller Blut waren.<br />
Jack lief in Daves Richtung, ganz genau auf ihn zu. Er musste jetzt seinen<br />
Atem anhalten, denn von dem vielem Rennen war Dave aus der Puste, aber<br />
jetzt ging es um Leben oder Tod und er hielt seine Luft an. Jack stand immer<br />
noch vor ihm. Dave konnte nicht mehr. Er musste jetzt einfach atmen, sonst<br />
würde er noch ersticken. Und da, in der letzten Sekunde, rannte Jack weg<br />
und Dave atmete heftig auf und hustete ein paar<strong>mal</strong>.<br />
Er kam vorsichtig hinter der Vase hervor und schlich sich in das Zimmer,<br />
in dem Jack gerade war. Alles war zerwühlt, ein zerschlagener Spiegel stand<br />
vor ihm, auf dem Blut zu erkennen war. Er suchte schließlich nach der Leiche,<br />
aber sie war nicht zu finden. Dave konnte es nicht verstehen. Wohin<br />
konnte die Leiche verschwunden sein? Er schaute unter dem Tisch nach,<br />
aber da war sie auch nicht. Er musste die Leiche finden, denn der Betreuer,<br />
der gerade getötet worden war, hatte ihm <strong>mal</strong> sein Geld weggenommen, und<br />
das wollte er wieder haben.<br />
Dave suchte immer noch, aber dann schaute er zu einem Schrank hinüber<br />
und sah, dass aus dem Schrank Blut floss. Er machte den Schrank auf und<br />
die Leiche fiel genau auf ihn. Er schrie laut auf, und gleich darauf hielt er sich<br />
den Mund zu. Hoffentlich hatte ihn niemand gehört, dachte er erschrocken<br />
vor sich hin. Er holte aus den Taschen der Leiche das Geld raus und rannte<br />
schnell davon und versteckte sich in einem seiner Verstecke. Er rannte wieder<br />
in das Zimmer, in dem er sich am Anfang versteckt hatte. Er versteckte<br />
sich unter der Bettdecke, und trotz Panik schlief Dave ein.
80 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Philipp-Sebastian Meyer<br />
Kapitel 24<br />
Als Dave aufwachte, herrschte eine grauenvolle Stille. Überall war es dunkel.<br />
In der Ferne sah er ein schwaches Licht. Irgendwo brannte noch eine<br />
Kerze.<br />
Er bemerkte, dass es kein Traum war. Er presste die Augen zusammen und<br />
tastete sich vorwärts. Als er auf etwas Glattem ausrutschte, fiel er über ein<br />
totes Mädchen. Entsetzt riss er die Augen auf. Überall war Blut. Lisa lag vor<br />
ihm auf dem Boden, aus ihrem Hals ragte ein Messer, die weißen Wände<br />
waren voller Blut.<br />
Dave geriet in Panik. Was, wenn der Mörder noch in der Nähe war?<br />
Schnell stand er wieder auf. Seine Beine und Hände waren voller Blut. Er<br />
rannte in den Waschraum, um sich das Blut abzuwaschen. Er drehte den<br />
Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über seine Hände laufen. Schließlich<br />
spritzte er einige Hände voll in sein heißes Gesicht. Er wusch sich die<br />
Hände und ging dann hinüber zur Wanne, um seine Beine zu waschen.<br />
Als er näher kam, sah er Max in der Wanne liegen. Das Wasser war rot von<br />
dem Blut. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Wieso lag er im<br />
Wasser? Dave drehte den Jungen um. Weit aufgerissene Augen starrten ihn<br />
an. Er taumelte ein paar Schritte zurück. Ihm wurde übel und er spürte, wie<br />
er sich übergeben musste. Schnell öffnete er die Toilette und übergab sich.<br />
Dann kauerte er sich neben der Kloschüssel zusammen, als versuchte er,<br />
sich zu verstecken. Dabei sah er unter der Trennwand ein paar regungslose<br />
Beine liegen.<br />
Er sprang auf und rannte hinaus. Er wollte nicht sehen, was dort noch für<br />
Körperteile lagen. Über die Hintertreppe rannte er hinunter in die Küche.<br />
Am Tisch saßen Mrs. Giggles und Mrs. Garison. Sie hatten die Arme und<br />
Köpfe auf den Tisch gelegt. Es sah aus, als ob sie schliefen. Die Kerze flackerte.<br />
Er fühlte Erleichterung, als er die beiden sah. Sie konnten ihm helfen.<br />
Als er näher kam, bemerkte er einen ekligen Gestank. Es knirschte unter<br />
seinen Schuhen. Auf dem Boden lagen Erbrochenes und kaputtes Geschirr.<br />
Philipp-Sebastian Meyer: Kapitel 24 81<br />
Er rüttelte Mrs. Giggles an der Schulter. Sie bewegte sich nicht. Aus dem<br />
Rücken von Mrs. Garison sah er einen Gegenstand herausragen. Es war eine<br />
Axt, die weißen Wände und der weiße Boden waren voller Blut. Ein abgehackter<br />
Finger lag auf dem Tisch. Wem gehörte er? Er wusste es nicht.<br />
Er sah sich in der Küche um. Er brauchte Licht. In den Schränken suchte<br />
er nach einer Taschenlampe. Er konnte keine finden. Aus einer Schublade<br />
nahm er sich ein Messer. Vielleicht konnte er sich schützen, wenn der Mörder<br />
kam. Er nahm die Kerze vom Tisch. Die Tür zur Speisekammer stand<br />
offen. Er traute sich nicht, hineinzusehen.<br />
Über eine weitere Treppe gelangte Dave in den Keller. Er blieb auf der oberen<br />
Treppenstufe stehen. In der einen Hand hielt er das Messer, in der anderen<br />
die Kerze. Sollte er hinuntergehen? Sicherlich lagen noch einige Tote<br />
im Keller, und der Mörder konnte sich gut da unten verstecken. Vielleicht<br />
wartete er schon auf ihn.<br />
Da! Ein Poltern im Keller!<br />
Vor Schreck ließ er die Kerze fallen. Sie erlosch sofort. Er überlegte, ob er<br />
Streichhölzer in der Küche gesehen hatte. Nein, die Betreuer hielten sie immer<br />
unter Verschluss, und er wusste nicht, wo. Ohne Licht traute er sich<br />
nicht in den Keller. Er beschloss, in das Büro zu gehen. Dort gab es ein Telefon.<br />
Er musste Hilfe holen und lief nach oben.<br />
Dann stand er vor der Bürotür. Er drückte sie einen Spalt auf und sah hinein.<br />
Mr. Prob lag hinten in der Ecke. Auch er war tot. Sein Kopf hing eigenartig<br />
zur Seite. Vielleicht war sein Genick gebrochen. Er atmete tief ein und<br />
versuchte, nicht an seine Angst zu denken.<br />
Dann ging er hinein. Auf dem altmodischen Schreibtisch herrschte Unordnung,<br />
alles lag durcheinander und war auf dem Boden verstreut. Er griff<br />
zum Telefon, aber dann sah er, dass das Telefonkabel durchtrennt war. In<br />
der Ecke des Raumes stand eine Couch. Mit der blauen Decke, die auf der<br />
Couch lag, deckte er Mr. Prob zu. Er wollte nicht länger diese offenen Augen<br />
sehen.<br />
Dann legte er sich einen Moment hin und dachte nach. Wo war der Mörder?<br />
War er noch im Haus?<br />
Er wusste nicht, was er tun sollte. Immer wieder blickte er zu dem Toten in<br />
der Ecke. Er hatte fürchterliche Angst. Am besten war es, wenn er sich verstecken<br />
würde. Jack hatte ihm viele Verstecke im Haus gezeigt. Dort würde<br />
ihn niemand finden.
82 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Er bemerkte, wie müde er wurde. Die Aufregung machte sich bemerkbar.<br />
Seine Augen brannten vom Weinen und ehe er einschlief, stand er lieber<br />
wieder auf. Er konnte nicht hier bleiben. Er blickte sich um, ehe er wieder<br />
aus dem Büro ging.<br />
Im Haus war es immer noch still, als er den Flur entlang schlich. Am Fuß<br />
der Treppe sah er eine Gestalt liegen. Arme und Beine waren unnatürlich<br />
verrenkt. Er schaute nach oben, das Geländer war zerbrochen. Er sah wieder<br />
auf die Gestalt herab. Unter dem Kopf von Anika hatte sich eine große<br />
Blutlache gebildet. War Anika gefallen oder hatte der Mörder sie gestoßen?<br />
Er wusste es nicht.<br />
Dave beugte sich hinab, als ihn etwas berührte.<br />
Er schrie laut.<br />
Anika hatte nach seiner Hand gegriffen. Ihre Lippen bewegten sich. Ganz<br />
dicht ging er mit seinem Ohr an ihren Mund.<br />
„Jack“, flüsterte sie. Sie spuckte Blut.<br />
Was hatte das zu bedeuten?<br />
„Ich hole Hilfe, beweg dich nicht“, sagte er zu ihr.<br />
Langsam rollte eine Träne an ihrer Wange hinab. Er musste schlucken. Vorsichtig<br />
strich er ihr die Haare aus der Stirn.<br />
Dann atmete er tief ein und stieg über Anika hinweg. Leise schlich er die<br />
Treppe hinauf. Oben angekommen, hörte er Polizeisirenen. Er rannte zum<br />
Fenster und sah hinunter.<br />
Unten im Hof lag noch eine tote Person. Sie sah klein aus. Er konnte nicht<br />
erkennen, wer es war, obwohl es draußen langsam hell wurde. Aber das Blut<br />
konnte er gut erkennen. Er schluckte.<br />
Ich muss hier weg, dachte er, ich muss mich verstecken, ehe sie kommen.<br />
Im oberen Flur tastete er an der Wand. Über dem elektrischen Kerzenleuchter<br />
gab es einen kleinen Hebel. Er musste sich strecken, um ihn zu erreichen.<br />
Plötzlich klickte es und eine kleine Klappe öffnete sich. Schnell kroch er<br />
hinein und kauerte sich zusammen. Er konnte nichts sehen und sich kaum<br />
bewegen.<br />
Das Versteck war ein langer, sch<strong>mal</strong>er Gang. Er hatte ihn schon ein<strong>mal</strong><br />
zusammen mit Jack angeschaut. Aber da<strong>mal</strong>s hatte er eine Taschenlampe<br />
dabei gehabt.<br />
Philipp-Sebastian Meyer: Kapitel 24 83<br />
Er beschloss, eine Weile zu warten. Wenn er sich bewegte, blieben ihm<br />
Spinnweben im Gesicht kleben. Er fand das ekelig. Schnell wischte er mit<br />
der Hand über das Gesicht.<br />
Hinter sich hörte er ein leises Rascheln. Er zuckte zusammen. Kam der Mörder?<br />
In der Ferne sah er zwei winzige Punkte leuchten. Erleichtert seufzte er auf.<br />
Es war nur eine kleine Maus. Die hatte genau so viel Angst wie er, sagte Jack<br />
immer zu ihm, wenn sie die Verstecke durchsuchten.<br />
Dann hörte er die Stimmen. Die Polizisten durchsuchten das Haus. Sie kamen<br />
näher und blieben fast vor seinem Versteck stehen. Sie waren aufgeregt<br />
und konnten nicht fassen, wie so etwas Schreckliches in einem Waisenhaus<br />
passieren konnte. Sie redeten davon, dass sich einige der Kinder und Betreuer<br />
retten konnten. Diese hatten die Polizei verständigt.<br />
Ein Mädchen hatte sich in einem Schrank unter der Wäsche versteckt. Sie<br />
lebte, aber er konnte den Namen nicht verstehen, den sie sagten.<br />
Er fühlte sich einsam und verlassen. Er musste an den Teddy denken und<br />
ihm kamen wieder die Tränen.<br />
War er schuld? Hätte er mehr auf den Teddy achten müssen? Wo war Jack?<br />
Er wusste es nicht. Er war noch ein Kind. Was sollte er tun? Es gab nur einen<br />
Weg für ihn:<br />
ER MUSSTE VOR DEM MÖRDER FLIEHEN.
84 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Marco Gräther<br />
Kapitel 25<br />
Das Versteck unter der Treppe, das Jack ihm gezeigt hatte, war so perfekt,<br />
dass er von den Polizisten nicht gefunden werden konnte.<br />
Gott sei Dank gab es den Geheimausgang, durch den er fliehen konnte. Dave<br />
erhoffte sich von dieser Flucht, endlich frei zu sein von diesem Horrorhaus.<br />
In dem Haus, in dem er immer wieder geärgert worden war und in dem er<br />
nie Hilfe bekommen hatte. Als er fast schon draußen war, hielt er inne. Er<br />
wurde sich bewusst, dass er, bevor er frei sein konnte, erst noch über die<br />
Fußballwiese musste, um in den halbwegs sicheren Wald zu gelangen. Dave<br />
schaute nach rechts, nach links, die ganze Wiese entlang, um sicher zu sein,<br />
dass er ungesehen in den Wald kam und nicht doch noch von den Polizisten<br />
oder dem Mörder entdeckt wurde.<br />
Als er es für sicher empfand, rannte er einfach so schnell er konnte über<br />
die Wiese, die für diese späte Stunde schon sehr feucht war, bis er in den<br />
rettenden Wald kam.<br />
Dort angekommen, immer noch ängstlich, überall den lauernden Mörder<br />
zu sehen, rannte er einfach weiter, bis er sich übergab und stehen bleiben<br />
musste. Wie lange er schon in diesem finsteren, dunklen und unheimlichen<br />
Wald voller Laub am Boden lief, wusste er nicht. Da er sich nicht an die<br />
Sonne halten konnte, die vollkommen von den riesigen Bäumen verschluckt<br />
wurde, hatte er keinerlei Orientierung.. Es konnte sein, dass es eine Woche<br />
war, oder aber auch schon drei Wochen, aber das vermochte er nicht mehr<br />
zu sagen.<br />
Als er jedoch hin und wieder an eine Lichtung kam, ging er nie aus dem<br />
Schatten der Bäume, um sich versteckt zu halten. Er hatte immer noch<br />
Angst, dass der Mörder hier irgendwo auf ihn lauern würde. Auf den Lichtungen<br />
war, Gott sei Dank, keine Menschenseele zu sehen, es schien einfach<br />
nur die Sonne.<br />
Da Dave nun auch kräftig der Hunger plagte, war er ganz froh, ein paar<br />
Nüsse zu essen, die er fand. Nur gut, dass die nervigen und stets neugie-<br />
Marco Gräther: Kapitel 25 85<br />
rigen Eichhörnchen immer wieder ein paar Nüsse verloren. Genauso wie<br />
die Früchte, die auf dem Boden lagen und die von den Wildschweinen nicht<br />
zertrampelt wurden. Aber richtig satt, wie nach einem guten Schnitzel oder<br />
einem Kartoffelsalat, wurde Dave natürlich nicht. Von den Gedanken an<br />
richtiges Essen wurde er nur noch hungriger, also schob er diesen Gedanken<br />
weit weg und versuchte, besser zu verstehen, was passiert war. Manch<strong>mal</strong><br />
fand er auch eine saubere Stelle in dem Fluss, wo er seinen Durst löschen<br />
konnte. Das war nicht immer so, die Geschwindigkeit des Flusses veränderte<br />
sich von reißend bis hin zu plätschernd. Manch<strong>mal</strong> war der Fluss auch<br />
ziemlich verschmutzt, viel Schlamm kam ihm da entgegen.<br />
Sein Nachtlager hatte er in einer sehr seltenen Baumformation gefunden, in<br />
der es nur einen Ein- und Ausgang gab. Dort konnte er sich halbwegs sicher<br />
fühlen, auch wenn die immer wieder am Eingang vorbeihuschendem Schatten<br />
ihm Angst machten. Einer dieser Schatten kam in seinen Unterschlupf,<br />
ohne sich Dave auch nur eine Sekunde anzuschauen. Doch Dave war das<br />
nicht geheuer, dass ein Kaninchen sich einfach in seinem Schlafplatz breit<br />
machte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Kaninchen machen<br />
zu lassen, weil es immer wieder nach Dave schnappte. Dave war zum Glück<br />
schneller als das Kaninchen und konnte so eine Bisswunde verhindern. Das<br />
hätte ihm noch gefehlt, in seinem Zustand gebissen zu werden. Vor lauter<br />
Erschöpfung schlief er ein.<br />
Als er am nächsten Morgen aufwachte bemerkter er sofort etwas Flauschiges<br />
an seinen Füßen. Er wusste noch, dass er aus dem Waisenhaus mit Schuhen<br />
geflüchtet war, aber er hatte sie im Laufe der Zeit weggeworfen, weil sie<br />
durch das Rennen im Wald durchlöchert waren. Er schaute sich das flauschige<br />
Etwas an, sah das Kaninchen. Anscheinend war es über Nacht etwas<br />
zutraulicher geworden und hatte bei ihm Schutz gesucht. Natürlich war es<br />
immer noch scheu.<br />
Dave nannte es Moriz. Er bemerkte einen Spreißel in Moriz’ rechter, ungekämmter,<br />
verfilzter Hinterpfote. Dave versuchte ihn dann zu entfernen, was<br />
ihm auch gelang.<br />
Moriz war so außer sich vor Freude, dass er Dave gleich schleckte. So folgte<br />
Moriz jetzt Dave überall hin. Da Dave jetzt keine Nüsse oder Früchte mehr<br />
fand, war er gezwungen, seinen Unterschlupf zu verlassen. Völlig am Ende<br />
seiner Kräfte schlief er unter einem halbwegs sicheren Baum ein. Er hatte<br />
Moriz im Arm, mit einem Gefühl von Freundschaft. Er träumte von Stimmen<br />
und etwas, das ihn wecken wollte.
86 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Als er aufwachte, bemerkte Dave, dass sein Traum nicht ein Traum war,<br />
sondern real. Ein Mann stand vor ihm und sprach auf ihn ein. Vor lauter<br />
Angst rannte er so schnell wie er konnte mit Moriz davon, der laut quiekte.<br />
Er rannte zurück zu der Baumformation, die ja sein sicherer Unterschlupf<br />
war. Dort zur Ruhe gekommen, bemerkte er den Schatten, der wartend vor<br />
dem Eingang stand. Dave machte sich bereit, Gegenwehr zu leisten, doch<br />
der Mann, der hinein kam, hielt Dave mit Leichtigkeit von sich weg. Da<br />
Dave nicht mehr viel Kraft hatte, halb am Verhungern und fast erfroren war,<br />
konnte er nicht viel ausrichten. <strong>Der</strong> Mann, der Dave immer noch fest hielt,<br />
war nicht der Mörder, sondern ein Jäger, der ihn zufällig gefunden hatte.<br />
<strong>Der</strong> Jäger stellte sich unter dem Namen Gustaf vor und wollte von Dave wissen,<br />
wer er war, was er hier machte und warum er so schwach aussehe. Dave<br />
sagte gar nichts, denn er vertraute ihm nicht. <strong>Der</strong> Jäger Gustaf nahm die beiden<br />
mit zu sich in seine Hütte. Als sie angekommen waren, bekam Dave erst<br />
<strong>mal</strong> warme und trockene Klamotten. Gustaf gab ihm eine Suppe zu essen,<br />
die Dave schon beim Eintreten in die Hütte gerochen hatte. Er aß die Suppe<br />
gierig auf, Moriz bekam Karotten.<br />
Dann schlief er völlig erschöpft ein. Es dauerte fast eine ganze Woche, bis<br />
Dave wieder bei Kräften war. Moriz hatte sich auch wieder erholt und blieb<br />
in der Nähe der Hütte. <strong>Der</strong> Jäger Gustaf brachte Dave dann mit seinem alten,<br />
klapprigen Auto in die Stadt zur Polizeistation. Die Polizei sollte Dave<br />
wieder zu seiner Familie bringen.<br />
Doch was Gustaf nicht ahnen konnte, war, dass Dave gar keine Familie mehr<br />
hatte. Er hatte niemanden, außer sich selbst.<br />
Matheus Werner: Kapitel 26 87<br />
Matheus Werner<br />
Kapitel 26<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Ich wurde da<strong>mal</strong>s, als ich im Waisenhaus war, sehr schlecht behandelt und<br />
geschlagen. Ich bin mit 13 abgehauen, denn ich hatte es im Waisenhaus nicht<br />
mehr ertragen. Ich hatte Glück, ich rannte weg vom Waisenhaus. Immer weiter<br />
weg. Und als das Waisenhaus schon einige hundert Meter entfernt war,<br />
kam ein Land Rover. <strong>Der</strong> Fahrer stieg aus und ich stieg hinten in den Laderaum<br />
ein. Ich sah eine Decke, die ich nahm und mich darunter versteckte. <strong>Der</strong><br />
Fahrer kam wieder, aber er bemerkte mich nicht. Ich fuhr immer weiter weg,<br />
und nach einigen Minuten machte der Fahrer eine Pause. Er stieg aus und ich<br />
erkannte meine Chance auch auszusteigen, die ich dann natürlich nutzte.<br />
Ich lief in einen Wald hinein. Es war schon dunkel, aber ich lief immer weiter<br />
in den dunklen Wald hinein. Ich hatte so einen Hunger, ich hätte ein ganzes<br />
Pferd essen können. Aber im Wald gab es nur Pilze und Nüsse, die ich nicht<br />
mochte, aber trotzdem sammelte, denn es war besser als nichts. Ich sammelte<br />
ein paar Pilze ein, von denen ich dachte, dass sie essbar sind. Ich biss von<br />
einem Pilz ein kleines Stück ab, um zu schmecken, ob die Pilze, die ich essen<br />
wollte, auch gut waren. Sie waren nicht so schlecht, wie ich dachte.<br />
Nach dem Essen legte ich mich hin und schlief ein. Am nächsten Morgen<br />
machte ich mich wieder auf den Weg nach nirgendwo. Ich lief und lief und<br />
lief, immer weiter, immer weiter.<br />
Plötzlich hörte ich ein Auto hupen. Ich dachte mir, dort müsste eine Straße<br />
sein oder sogar eine Stadt. Ich lief in die Richtung, wo ich das Auto gehört<br />
hatte und kam auf eine Straße. Ich ging die Straße entlang und sah eine Kirchenspitze,<br />
zu der ich ging, denn ich wusste, dass Kirchen immer offen haben.<br />
Als ich dort angekommen war, ging ich hinein. Ich merkte, dass die Kirche<br />
sehr alt war, denn die Wände bröckelten schon etwas ab.<br />
Als ich in der Kirche war und dort schon einige Zeit saß, kam ein Pfarrer zu<br />
mir. Er sprach sehr nett und er wollte von mir wissen, was ich hier draußen so<br />
alleine machte. Ich erzählte ihm alles: Dass ich von einem Waisenhaus abge-
88 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
hauen war, in den Wald, dort übernachtet hatte – und alles nur, weil ich es in<br />
diesem Waisenhaus nicht mehr ertragen hatte.<br />
Denn ich wurde dort immer von mehreren auf ein<strong>mal</strong> geschlagen. Ich erzählte<br />
ihm, wie ich geschlagen worden war, dass bei mir eine blutige Nase Alltag war<br />
und die Erzieher es gesehen, aber nichts dagegen unternommen hatten. Denn<br />
den Erziehern war es egal, ob wir Schmerzen hatten.<br />
<strong>Der</strong> Pfarrer war außer sich über dieses Waisenhaus. Er konnte gar nicht glauben,<br />
dass Kinder im Waisenhaus so schlecht behandelt werden können. Er<br />
versteckte mich in einem Hinterraum der Kirche. <strong>Der</strong> Pfarrer brachte mir jeden<br />
Tag Essen und Trinken, es ging mir hier in der Kirche sehr gut.<br />
Ich bin dort geblieben, bis er eine Pflegefamilie für mich gefunden hatte. <strong>Der</strong><br />
Pfarrer kannte ein Ehepaar, das Kinder haben wollte, aber die Frau konnte<br />
keine bekommen. <strong>Der</strong> Pfarrer sprach mit ihnen und sie wollten mich sehen.<br />
Sie hatten mich sofort mit zu sich nach Hause genommen.<br />
Ich wurde im Waisenhaus nicht vermisst. Glaubte ich. Ich hatte auf jeden Fall<br />
davon nichts gemerkt. Deshalb konnte ich ohne Probleme bei meinen neuen<br />
Eltern bleiben. Mir ging es dort sehr gut, denn ich hatte eine Familie, die mich<br />
sehr liebte. Ich liebte meine neuen Eltern auch sehr, den sie nahmen mir das<br />
Gefühl, nutzlos und allein auf dieser Welt zu sein. Sie schenkten mir Geborgenheit<br />
und ich fühlte mich bei meinen Eltern sehr wohl.<br />
Als ich fertig mit der Schule war, wurde ich Hausmeister in dem Waisenhaus,<br />
in dem ich früher gewesen war. Ich wollte dafür sorgen, dass es den Kindern<br />
im Waisenhaus nicht so schlecht ergehen musste wie es mir früher ergangen<br />
ist. In der Nähe des Waisenhauses war ein kleines Haus, schon fast eine Hütte,<br />
aber das war mir egal. Für mich hat der Platz gereicht, und bis zum Waisenhaus<br />
hatte ich es nicht sehr weit, es war gleich um die Ecke. Ich hatte diese<br />
schlimme Zeit hinter mir gelassen. Diese schlimme Zeit, in der ich immer geschlagen<br />
und schlecht behandelt worden war. Denn bei meiner neuen Familie<br />
ging es mir so gut, dass ich diese schlimmen Erinnerungen hinter mir gelassen<br />
und beschlossen hatte, neu anzufangen.<br />
Nur deshalb konnte ich dieses Waisenhaus wieder betreten. Ich hatte beschlossen,<br />
den Kindern im Waisenhaus ein besseres Leben zu schenken, damit<br />
es ihnen besser ging, als es mir ergangen war. Deshalb, und nur deshalb, habe<br />
ich diesen Job als Hausmeister im Waisenhaus angenommen.<br />
Kevin Akbulut: Kapitel 27 89<br />
Kevin Akbulut<br />
Kapitel 27<br />
Als die Polizei Dave fand, nahmen sie ihn mit aufs Revier. Es war ziemlich<br />
weit weg von dem Waisenhaus. Auf dem Weg hatte ihn einer der Polizisten<br />
nach seinem Namen gefragt, also sagte er ihm, dass er Dave heiße. Daraufhin<br />
fragte Dave ihn nach seinem Namen, obwohl er sehr nervös war, was<br />
jetzt passieren würde. Er antwortete und sagte, dass er Ernst heißt, aber<br />
Dave dürfte ihn auch mit seinem Vornamen ansprechen, den er daraufhin<br />
auch nannte, und zwar hieß er Christoph. <strong>Der</strong> zweite Polizist schien nicht so<br />
nett wie Christoph zu sein, er sagte während der ganzen Fahrt kein einziges<br />
Wort.<br />
Endlich kamen sie bei dem Revier an, Christoph hatte Dave die Tür aufgemacht,<br />
damit er raus konnte. <strong>Der</strong> andere Polizist stand neben der Tür und<br />
wollte wahrscheinlich aufpassen, dass Dave nicht wegrannte, aber Dave war<br />
viel zu nervös, als dass er hätte weglaufen können. Und er wusste auch gar<br />
nicht wohin.<br />
Also gingen sie rein, in einen kleinen Raum, wo ein Tisch und drei Stühle<br />
waren. Dave setzte sich auf einen von den Stühlen, auf den anderen setzte<br />
sich Christoph und der zweite Polizist holte ihnen erst<strong>mal</strong> was zu trinken.<br />
Dann stellte er sich auch endlich vor, er hieß Strong, Michael Strong.<br />
Dave wusste gar nicht, was jetzt auf ihn zukommen würde, also saß er ruhig<br />
da und trank etwas. Dann fing Michael an, ihn über das Waisenhaus etwas<br />
zu fragen.<br />
Michael: „Wurdest du oft von den anderen Kindern gehänselt oder waren sie<br />
alle deine Freunde?“<br />
Dave zog sich auf dem Stuhl zusammen und antwortete mit eingeschüchterter<br />
Stimme: „Die meisten von den Kindern haben mich immer gehänselt.“<br />
Christoph stand auf und lief rum, er kam auf Dave zu und fragte: „Was geschah<br />
vor den ganzen Morden? Hast du irgendwas gehört, oder wie bist du<br />
drauf aufmerksam geworden?“
90 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Dave setzte sich wieder aufrecht auf den Stuhl und überlegte, dann fing er<br />
an zu erzählen:<br />
„Am Anfang war alles noch ruhig, doch später wurde es ziemlich laut. Ich<br />
hörte, wie sie schrieen. Nicht nur die anderen Kinder, sondern auch die Erzieher,<br />
es war furchtbar.“<br />
Er zog sich wieder zusammen und fing an zu weinen. Da kam Christoph<br />
auf ihn zu und tröstete ihn, er sagte, dass es einfach noch zu früh sei, um<br />
darüber zu reden.<br />
Christoph: „Schlafen wir alle erst<strong>mal</strong> eine Nacht darüber, ist wohl besser<br />
für uns alle.“ Michael stimmte dem zu und sie gingen erst<strong>mal</strong> schlafen. Sie<br />
gingen ins nächste Zimmer, wo ein paar Betten standen, und dort schliefen<br />
sie dann.<br />
In dieser Nacht bekam Dave ziemliche Albträume. Darin kam der Teddy<br />
vor, den er von Jack bekommen hatte. <strong>Der</strong> Traum wurde immer schlimmer,<br />
Dave hörte wieder, wie alle schrieen, und sah, wie er auf sie los ging und alle<br />
tötete.<br />
Schweißnass stand er in seinem Bett und musste erst<strong>mal</strong> tief durchatmen.<br />
Da kam auch schon Christoph ins Zimmer und fragte, ob alles in Ordnung<br />
sei. Dave sagte natürlich ja, es war nur ein Albtraum.<br />
Christoph hat netterweise auch auf dem Revier geschlafen, um auf Dave aufzupassen.<br />
Er ging wieder auf sein Zimmer und sagte, Dave solle versuchen,<br />
ein bisschen weiter zu schlafen. Das versuchte er dann auch, und am nächsten<br />
Morgen kam Christoph in sein Zimmer, mit ein paar belegten Brötchen,<br />
und sagte, dass es jetzt erst <strong>mal</strong> Frühstück gab. Dave freute sich sehr,<br />
da er schon seit einer Weile dieses Gefühl im Bauch hatte – eine gähnende<br />
Leere.<br />
Nach dem Essen ging das Gespräch weiter. Christoph setzte sich auf einen<br />
Stuhl, rückte seine Jacke zurecht und fing an zu fragen: „Wie konntest du<br />
Jack entkommen?“<br />
Dave setzte sich aufrecht hin und erzählte, wie er entkommen konnte: „Ich<br />
floh aus dem Geheimgang, den ich <strong>mal</strong> entdeckt habe.“<br />
Michael fragte mit erstaunter Stimme: „Und Jack bemerkte nicht, dass du<br />
durch den Geheimgang geflohen bist?“<br />
Dave sagte: „Nein! Wie denn auch, es war alles viel zu laut, da die Kinder<br />
geschrieen haben.“ Christoph fragte: „Okay, als du durch den Geheimgang<br />
geflohen bist, bist du sofort in den Wald gerannt, oder?“<br />
Kevin Akbulut: Kapitel 27 91<br />
Dave überlegte. Es fiel ihm ein und er sagte: „Ach ja, dabei habe ich vergessen,<br />
den Teddy mitzunehmen, den mir Jack geschenkt hat.“ Michael fragte<br />
neugierig: „Welcher Teddy??“<br />
Dave antwortete: „Na der Teddy, den Jack mir geschenkt hatte, als er hier<br />
angefangen hat zu arbeiten.“<br />
Christoph sagte: „Aber als wir das Waisenhaus durchsuchten, haben wir<br />
keinen Teddy gefunden.“<br />
Dave sagte mit leicht erhöhter Stimme: „Ich bin mir aber ganz sicher, dass<br />
ich ihn dort gelassen habe!“<br />
Michael: „Hm, das ist merkwürdig, ich verstehe nicht, wieso der Bär nicht<br />
mehr da ist, vielleicht hat ihn Jack ja wieder mitgenommen. Aber ich weiß<br />
nicht, wieso er so was tun sollte. Und dass er überhaupt die Zeit dazu noch<br />
hatte, den Bären zu holen, wundert mich.“<br />
Plötzlich fragte Dave mit aufgeregter Stimme: „Was ist jetzt eigentlich mit<br />
Jack? Lebt er noch?“<br />
Da sagte Christoph mit beruhigender Stimme: „Keine Angst, er wird wohl<br />
nicht mehr am Leben sein. Er ist in einen Fluss gesprungen und seine Überlebenschance<br />
ist gleich null.“<br />
Dave sagte: „Puh, da kann ich ja beruhigt sein und muss keine Angst mehr<br />
haben, dass er mich sucht und töten will.“<br />
Michael: „Ja, ich denke, du kannst beruhigt sein und brauchst keine Angst<br />
mehr zu haben.“ Christoph sagte zum Ende noch: „Naja, ich denke, Dave<br />
kann uns dazu auch nicht mehr helfen. Es ist wirklich toll, dass du die<br />
Aussage überhaupt gemacht hast. Ich denke, das war es dann. Mehr Fragen<br />
haben wir dazu wohl auch nicht.“
92 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Marius Tobisch<br />
Kapitel 28<br />
Es war ein sonniger Morgen, als Dave in seinem Zimmer bei seiner neuen<br />
Familie aufwachte. Sie wohnten in einem schönen großen Haus am Rande<br />
von Oxford. Sie hatten einen schönen großen Garten um das Haus herum.<br />
Er hatte sehr nette Eltern, die sich gut um ihn kümmerten.<br />
„Hast du gut geschlafen?“, fragte seine Mutter, als Dave sich an den Frühstückstisch<br />
setzte.<br />
„Ja“, antwortete Dave lächelnd. Seine Mutter freute sich sehr, dass Dave jetzt<br />
bei ihnen war. Dave nahm sich ein Brötchen und schmierte es sich mit Marmelade.<br />
Nach dem Essen ging Dave hoch in sein Zimmer. Er warf sich aufs<br />
Bett und griff zu seinem Lieblingsbuch. Nach einer Weile kam seine Mutter<br />
hoch.<br />
„Und – hast du dich inzwischen bei uns eingelebt?“, fragte sie.<br />
„Ja, sogar sehr“, antwortete Dave zufrieden.<br />
„Das freut mich“, sagte seine Mutter beruhigt und fragte gespannt: „Gefällt<br />
dir dein Zimmer?“<br />
„Ja, ich muss mich aber erst noch daran gewöhnen, dass ich so viel Platz für<br />
mich habe“, sagte er lachend.<br />
Seine Mutter lachte mit ihm.<br />
„Okay, ich geh dann wieder in die Küche und koche das Mittagessen“, sagte<br />
sie, als sie aus dem Zimmer ging.<br />
Dave setzte sich aufs Bett und las, in die Geschichte vertieft, sein Buch.<br />
„Hier ist ein Paket für dich gekommen!“, hörte er seine Mutter von unten<br />
rufen, als er gerade an einer spannenden Stelle war. Verwundert ging Dave<br />
nach unten. Seine Mutter gab es ihm schnell in die Hand, weil sie wegen dem<br />
Essen gleich wieder zurück in die Küche musste.<br />
Dave nahm das Paket mit auf sein Zimmer. Er fragte sich, von wem dieses<br />
Paket sein konnte. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Dave<br />
entschied sich, das Paket vorerst nicht zu öffnen.<br />
„Essen ist fertig!“, hörte er dann seine Mutter rufen.<br />
Marius Tobisch: Kapitel 28 93<br />
Er ging nach unten und setzte sich an den Tisch.<br />
„Es gibt Spaghetti, dein Lieblingsessen“, sagte seine Mutter lächelnd.<br />
„Cool“, sagte Dave abwesend, weil er noch über das Paket nachdachte.<br />
Nach dem Essen ging er, ohne etwas zu sagen, in sein Zimmer. Dort machte<br />
er den Fernseher an. Es kam aber nichts Richtiges. Deshalb ging er raus und<br />
fuhr mit dem Fahrrad durch die Stadt. Er kam um fünf Uhr wieder nach<br />
Hause.<br />
„Und – wie war es draußen?“, fragte seine Mutter, als er zur Türe herein<br />
kam.<br />
„Ganz gut“, antwortete Dave.<br />
Er ging wieder in sein Zimmer und kam für den Rest des Abends nicht mehr<br />
nach unten. Am nächsten Morgen wachte Dave schon sehr früh auf. Lange<br />
überlegte er, bevor er das Paket öffnete.<br />
In dem Paket war – der alte Teddy aus dem Waisenhaus.<br />
Dave erschreckte sich und trat einen Schritt zurück. Dann sah er noch einen<br />
Brief, auf dem sein Name stand. Er traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Er<br />
ging zurück ins Bett und versuchte zu schlafen. Als er wieder aufwachte,<br />
hörte er seine Mutter rufen, dass es Frühstück gäbe.<br />
Dave ging runter und setzte sich an den Tisch.<br />
„Und, wie lang bist du schon wach?“, fragte seine Mutter.<br />
„Weiß nicht genau, vielleicht seit sieben Uhr“, antwortete Dave nach kurzem<br />
Überlegen.<br />
„Dann bist du ja schon lange wach“, sagte seine Mutter, auf die Uhr schauend.<br />
„Ja, aber ich konnte noch <strong>mal</strong> einschlafen“, antwortete Dave schnell.<br />
„Ah – und was war eigentlich in dem Paket, das neulich ankam?“, fragte<br />
seine Mutter neugierig.<br />
Dave wurde nervös und wusste nicht, was er sagen sollte.<br />
„Das waren nur noch ein paar Sachen aus dem Waisenhaus“, antwortete er<br />
zögernd.<br />
„Ach so“, antwortete seine Mutter ungläubig.<br />
Dave ging danach in sein Zimmer. Nach ein paar Minuten kam seine Mutter<br />
nach.<br />
„Darf ich <strong>mal</strong> in das Paket hineinschauen?“, fragte sie vorsichtig.<br />
„Ja“, sagte Dave zögernd.
94 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
„Was ist denn das für ein Teddy, und von wem ist der Brief?“, fragte seine<br />
Mutter überrascht.<br />
Daraufhin merkte Dave, dass es nicht gut wäre, sie jetzt zu belügen. Er erzählte<br />
seiner Mutter die ganze Geschichte, mit Jack und dem Amoklauf. Seine<br />
Mutter war schockiert, als sie das hörte und wunderte sich, dass sie davon<br />
nichts gewusst hatte. Dave erzählte auch, dass Jack in den Fluss gesprungen<br />
war und dass die Polizei glaubte, dass er tot sei.<br />
Nachdem Dave die Geschichte erzählt hatte, machten er und seine Mutter<br />
zusammen den Brief auf. Er war von Jack. In ihm stand geschrieben, dass<br />
Jack sich noch retten konnte, als ihn das Wasser fast umgebracht hätte. Er<br />
fragte Dave auch, wie es ihm gehe und ob er eine neue nette Familie gefunden<br />
hätte.<br />
Danach blieben sie noch kurz sitzen und sagten nichts.<br />
Darauf gingen sie runter und erzählten alles Daves Vater, damit es in Zukunft<br />
keine Komplikationen mehr geben würde.<br />
Daves Vater reagierte genau so schockiert wie seine Mutter.<br />
„Aber eins versteh ich nicht: Woher wusste Jack, wo ich wohne?“, fragte<br />
Dave verblüfft. Darauf wussten seine Eltern auch keine Antwort.<br />
Yves Biber & Niko Terschawetz: Kapitel 29 95<br />
Yves Biber & Niko Terschawetz<br />
Kapitel 29<br />
Lieber Dave,<br />
ich bin’s, Jack. Ja, ich lebe noch. Doch ich lebe im Verborgenen, fernab jeglicher<br />
Zivilisation.<br />
Ich werde nicht mehr mit Dir in Kontakt treten, da ich das Risiko nicht eingehen<br />
möchte, gefunden zu werden. Das heißt, dass dieser Brief hier der Letzte<br />
an Dich sein wird. Ich möchte weder, dass Du mich suchst oder sonst irgend<br />
etwas wegen mir unternimmst. Außerdem möchte ich mich bei Dir entschuldigen,<br />
für all das, was ich Dir angetan habe.<br />
Ich weiß, dass Du mir vielleicht noch irgend etwas sagen möchtest oder mich<br />
nach dem Grund für meine Tat fragen willst.<br />
Doch wird Dir das Fragenstellen nicht heute und nicht in Deinem restlichen<br />
Leben vergönnt sein. Daher erkläre ich vielleicht all das mit diesem Brief und<br />
helfe Dir dabei zu verstehen, wofür ich das alles getan habe.<br />
Anfangen tue ich am besten am Anfang.<br />
Ich wuchs wie Du in diesem Waisenhaus auf. Ich wurde wie Du dort früher<br />
immer geärgert und gemobbt. Deswegen gab ich Dir auch meinen Teddy, da<br />
Du mich am meisten an mich selbst erinnert hast. Ich wurde sogar von den<br />
da<strong>mal</strong>igen Betreuern geschlagen.<br />
<strong>Der</strong> Grund war meistens der, dass ich schwarz bin. Ich möchte, dass Du verstehst,<br />
dass ich Dich nie<strong>mal</strong>s hätte töten können. Ich schlich mich bei Euch als<br />
Hausmeister ein, um zu sehen, ob Ihr – die Kinder – immer noch angeschrieen<br />
werdet.<br />
Ich dachte mir, ich könnte es vielleicht verhindern. Doch da lag ich wohl<br />
falsch. Ich tötete diese Menschen, da sie es verdient hatten und es nicht wert<br />
waren, länger zu leben.
96 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Wärst Du so gemobbt worden wie ich, könntest Du mich vielleicht irgendwie<br />
verstehen. Ich würde dich mir sogar als meinen Bruder wünschen, doch das<br />
wird nicht möglich sein, und schon gar nicht nach meiner grausamen Tat.<br />
PS: Schau doch nach ganz unten in die Kiste!<br />
Viele Grüße, Jack Miller<br />
Aus dem Buch von Jack:<br />
Ich weiß nun, dass ich das Falsche getan habe. Ich habe mich am Ende einfach<br />
meiner Rache und Wut hingegeben. Ich hätte mir ein anderes Ende für mein<br />
Buch gewünscht, doch es sollte nun <strong>mal</strong> so kommen. Ich werde weder entschuldigen<br />
noch bereuen, was ich getan habe, denn ich weiß, dass ich damit<br />
einem Menschen geholfen habe und ihm eine bessere Zukunft geben konnte.<br />
Ich lebe nun zurück gezogen und einsam in einem Wald. Auf einer Lichtung.<br />
Außerdem finde ich, dass ich hier sozusagen von meinem Wahn, dass jeder,<br />
der böse ist, sterben soll, erlöst wurde. Das verdanke ich dieser Ruhe.
<strong>Erzähl</strong> <strong>mal</strong>!<br />
<strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Ein Roman · Publikation der Prosa-Werkstatt in der Klasse 8b<br />
an der Schlossrealschule Stuttgart im Schuljahr 2008/2009<br />
Dozent: Tilman Rau · Verantwortliche Lehrerin: Rebecca Müller<br />
Literatur machen – Unterricht im Dialog:<br />
Schreibwerkstätten im Deutschunterricht<br />
Ein Projekt des Literaturhauses Stuttgart.<br />
In Kooperation mit dem Landesinstitut für Schulentwicklung<br />
und den Seminareinrichtungen für Lehrerinnen und Lehrer<br />
in Baden-Württemberg.<br />
Gefördert durch die Robert Bosch Stiftung.<br />
Copyright: Die Rechte für die einzelnen Beiträge liegen bei den Autoren.<br />
Die Rechte für die Gesamtausgabe liegen beim Literaturhaus Stuttgart.<br />
Kontakt: Literaturhaus Stuttgart, Erwin Krottenthaler<br />
Boschareal, Breitscheidstraße 4, 70174 Stuttgart<br />
Tel.: 0711 / 220 21 741<br />
Fax: 0711 / 220 21 748<br />
E-Mail: info@literaturhaus-stuttgart.de<br />
www.literaturmachen.de