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Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

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48 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Corina Proschinger<br />

Kapitel 12<br />

Aus dem Buch von Jack:<br />

Als ich noch ein Kind war, lief ich eines Tages an dem Büro des da<strong>mal</strong>igen<br />

Chefs Mr. Rist vorbei und hörte laute Stimmen. Es hörte sich an wie<br />

eine Diskussion. Da ich sehr neugierig war und es mich auch ziemlich interessierte,<br />

um was es in dem Gespräch ging, blieb ich an der Tür stehen<br />

und versuchte zu lauschen, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen.<br />

Es war plötzlich sehr leise geworden im Chefbüro. Man hörte nur noch den<br />

Mann von der Bank leise husten. Dann fing der Mann von der Bank auf ein<strong>mal</strong><br />

an, dem Chef etwas vorzuwerfen, was man eindeutig an seinen Worten<br />

erkannte. Ich versuchte noch ein bisschen näher an die Tür zu treten, um dem<br />

Gespräch besser folgen zu können. Leider stieß ich versehentlich mit meinem<br />

Knie gegen die Tür und es ertönte kurz einen lauter Ton, der auch nicht unbemerkt<br />

blieb, denn es wurde ganz schnell still im Raum.<br />

Ich zitterte und hatte ziemlich große Angst erwischt zu werden, deshalb versteckte<br />

ich mich schnell neben der Tür, sodass man mich nicht sehen konnte,<br />

wenn jemand die Türe öffnete. Aber ich wartete vergebens, denn niemand öffnete<br />

die Tür. Also beschloss ich wieder näher vor die Tür zu gehen und zu lauschen.<br />

Ich hörte, wie Mr. Rist sich vor dem Mann von der Bank rechtfertigte.<br />

Er sagte: „Woher wollen Sie das wissen? Sie haben absolut keine Beweise, dass<br />

ICH das Geld ausgebe“, sagte Mr. Rist.<br />

Nach ein paar Minuten wurden beide etwas lauter. Anscheinend verstanden<br />

sich Mr. Rist und der Mann von der Bank nicht besonders gut, aber das überraschte<br />

mich nicht.<br />

Aber das Gespräch ging nicht darum, dass das Waisenhaus vielleicht geschlossen<br />

werden musste, da es Schulden hatte. Aber es erinnerte mich sehr daran.<br />

Denn in dem Gespräch ging es darum, dass Mr. Rist nicht das ganze Geld, das<br />

er von der Stadt für die Betreuung von den Kindern bekam, auch nur für die<br />

Kinder ausgab. Es war anscheinend zu viel Geld, das Mr. Rist für sich selbst<br />

ausgab, denn es machte sich irgendwie bemerkbar.<br />

Corina Proschinger: Kapitel 12 49<br />

Da<strong>mal</strong>s machte ich mir dann sehr viele Gedanken darüber. Ich fragte mich<br />

immer, für was er das Geld, das uns fehlte ausgab. Aber noch viel mehr beschäftigte<br />

mich die Frage: Wer hat das herausgefunden? War es etwa offensichtlich,<br />

dass er das Geld für sich ausgab? Oder wusste jemand mehr, als er<br />

eigentlich wissen sollte? Und wer war eigentlich die Person, die mit Mr. Rist<br />

diskutiert hatte? Ich wusste zwar, dass er von der Bank war, aber Genaueres<br />

wusste ich auch nicht. Da es mich so sehr interessierte, machte ich mich am<br />

darauf folgenden Tag auf, um mehr darüber zu erfahren.<br />

Es war ein sehr kalter und verregneter Tag, als ich noch <strong>mal</strong> versuchte, an<br />

Mr. Rists Büro zu lauschen. Nichts. Gar nichts. Anscheinend war niemand im<br />

Chefbüro. Man hörte einzig und allein den Regen langsam an den Fenstern<br />

runter tröpfeln. So langsam machte ich mir meine eigenen Vorstellungen und<br />

Gedanken darüber.<br />

Seit dem Vorfall im Chefbüro waren alle im Waisenhaus da<strong>mal</strong>s irgendwie<br />

anders. Alle außer den Kindern. Also alle, die davon nichts wussten. Die<br />

Stimmung war so angespannt, dass ich fast schon nachgefragt hätte, was los<br />

sei. Ich hätte so getan, als ob ich von nichts wüsste, aber die Wahrheit hätten<br />

sie mir sowieso nicht erzählt. Eine da<strong>mal</strong>ige Betreuerin, Mrs. Queensdale,<br />

verhielt sich besonders komisch in der Gegenwart von Mr. Rist.<br />

„Mrs. Queensdale, können Sie bitte die restlichen Unterlagen in mein Büro<br />

auf den Tisch legen, ich würde sie mir gerne ansehen.“<br />

„Sehen Sie nicht, ich habe genug zu tun“, antwortete sie mit einem nicht gerade<br />

schön klingenden Ton.<br />

Aber ich wusste natürlich nicht genau ob es daran lag oder einfach an der<br />

Tatsache, dass sie gerade sehr beschäftigt war mit den Kindern – und dann<br />

einfach dieses schlechte Wetter noch dazu. Ich denke, sie war deshalb so launisch.<br />

Schlaflose Nächte hatte ich damit verbracht, über die Situation nachzudenken.<br />

Aber nach ein paar Tagen hatte ich mir schon gar keine Hoffnungen<br />

mehr gemacht, noch mehr darüber herauszufinden. Denn irgendwann war<br />

es mir dann auch nicht mehr so wichtig, denn ich wusste, ich würde eh nicht<br />

mehr allzu viel darüber herausfinden.<br />

Aber jetzt war ich älter, ich war kein Kind mehr. Aber ich war immer noch<br />

der gleiche Mensch. Immer noch genauso neugierig wie früher. Als ich den<br />

Mann von der Bank zu Mrs. Browns Büro brachte, belauschte ich einen Teil<br />

des Gesprächs durch die Tür. Als ich dann erfuhr, dass das Waisenhaus vielleicht<br />

geschlossen werden musste, weil es Schulden hatte, fühlte ich mich wie

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