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Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

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14 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

Yves Biber<br />

Kapitel 3<br />

Es war kalt, Jack machte sich die Jacke zu. Er ließ den Blick über sein neues<br />

und altes Zuhause wandern. In ihm brodelten die Erinnerungen von da<strong>mal</strong>s,<br />

als er noch ein Kind hier gewesen war. Er beobachtete die Kinder, wie<br />

sie auf dem kaputten Spielplatz herum rannten – sie liefen kreischend in<br />

der Gegend herum und spielten Fangen. Eine laue Brise kam auf und streichelte<br />

ihm das Haar. Jack musste blinzeln, er war noch müde vom gestrigen<br />

Abend.<br />

Er setzte sich in Bewegung, Richtung Haus. Dort angekommen, schauderte<br />

er ein<strong>mal</strong> und trat ein. Er lief den Flur entlang und mit jedem Schritt fluteten<br />

alte Gedanken und Bilder in ihm auf. Jack ließ den Blick gesenkt und<br />

trottete vor sich hin. Er hatte das Zimmer bekommen, das früher ein<strong>mal</strong><br />

dem Menschen gehört hatte, dem er im Waisenhaus als Kind am meisten<br />

vertraut hatte. Er öffnete langsam und vorsichtig die Tür zu seinem Zimmer<br />

und legte sich in sein Bett.<br />

Vom lauten Geschrei der Kinder erwachte Jack. Er war verärgert, denn die<br />

letzte Nacht war viel zu kurz gewesen. Jack hatte sich zwar noch nicht alle<br />

Namen gemerkt, doch er wusste, von wem die Schreie kamen. Jack stand auf<br />

und zog sich an. Er wusch sich und frühstückte, danach lief er hinaus und<br />

beobachtete gelassen die Szene. Die Kinder und Lucas lachten Dave aus, weil<br />

er soeben über das ausgestreckte Bein von Lucas gestolpert war. Außerdem<br />

bewarfen sie Dave mit kleinen Steinen und Stöcken. Dave fing an zu weinen<br />

und zu brüllen. Ob er das aus Schmerzen oder aus Wut machte, wusste Jack<br />

nicht. Er wusste nur, dass Dave ihm Leid tat. Die anderen Kinder – und auch<br />

Betreuer – standen unschlüssig da und gafften vor sich hin.<br />

„Na, Jack“, fragte Mrs. Nowak, „wie gefällt’s dir hier?“<br />

Jack antwortete gehässig und abwertend: „Fast so toll wie früher hier. Und<br />

du willst dich immer noch nicht einmischen, was?“<br />

„Na und, warum sollte ich auch, diese Kinder haben doch sowieso nichts<br />

Yves Biber: Kapitel 3 15<br />

anderes im Kopf“, antwortete sie mit einem leicht gereizten Unterton.<br />

„Ach, das hier führt doch ohnehin zu nichts und wieder nichts, Mrs. Novak!“<br />

„Da haben Sie ein<strong>mal</strong> Recht, Jack! Und ehe ich es vergesse, haben Sie schon<br />

<strong>mal</strong> auf den Plan für heute geschaut?“<br />

„Nein, wieso, was ist denn heute so Besonderes hier los?“<br />

„Heute gehen Sie mit den Kindern nach dem Mittagessen in den Wald zum<br />

Spielen.“<br />

„Was?“, fragte Jack aufgebracht. „Ich habe mich noch nicht <strong>mal</strong> richtig eingelebt,<br />

und schon muss ich helfen?“<br />

„Ja, Jack, eigentlich wäre Mrs. Giggles heute dran gewesen, doch sie ist krank<br />

geworden. Und die anderen müssen sich um das Haus kümmern!“<br />

„Dann nehme ich aber Mr. Prob mit, ich kann ja nicht auf alle Kinder<br />

gleichzeitig aufpassen“, sagte Jack genervt, und schon war er verärgert und<br />

beleidigt weggegangen.<br />

Nach dem Mittagessen, das, wie Jack fand, schrecklich geschmeckt hatte,<br />

rief er: „Los jetzt, Kinder, zieht euch etwas Warmes an, denn im Wald ist es<br />

eiskalt!“ „Hey Jack, willst du dich denn nicht auch wärmer anziehen?“<br />

„Nein, Lisa, mir ist auch so schon warm genug. Und jetzt mach <strong>mal</strong> schneller,<br />

sonst müssen wir ohne dich losgehen!“<br />

Auf dem Weg zum Wald sprach Jack mit niemandem – mit wem denn auch?<br />

Es gab ja hier keinen, mit dem er seine Geheimnisse bereden konnte. Er lief<br />

hinter den Anderen her und träumte vor sich hin.<br />

Er beobachtete die Eichhörnchen, wie sie von Ast zu Ast sprangen und versuchten,<br />

sich zu fangen. Er beobachtete die Vögel, wie sie umher flogen und<br />

dabei den Wald mit ihrem schönen, hellen und fröhlichen Gezwitscher erfüllten.<br />

Er sah den Kindern hinterher, wie sie herumrannten und Fangen<br />

spielten.<br />

Er sah zu Mr. Prob hinüber und überlegte, was dieser beim Anblick der Kinder<br />

wohl dachte.<br />

Jack ging zu Mr. Prob und sagte: „Ich schau mich hier <strong>mal</strong> um.“<br />

Und schon war er wieder in Bewegung, jedoch lief er nicht zurück Richtung<br />

Haus, sondern tiefer in den Wald hinein. Jack lief und dachte nach, er dachte<br />

an die alten Zeiten und wie er hier früher gespielt hatte. Als er wieder aufblickte,<br />

war er verwundert, dass es schon dämmerte. Er machte sich wieder<br />

auf den Rückweg.

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