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Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

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6 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong> Fabian Laible: Kapitel 1 7<br />

Fabian Laible<br />

Kapitel 1<br />

In London, in der Liverpool Street 24, lebte Jack in einer 2-Zimmer-Wohnung.<br />

Da er zurzeit keiner Arbeit nachging, verbrachte er die meiste Zeit<br />

des Tages damit, Motorrad zu fahren. Aber nun schrieb er an einem Buch,<br />

weshalb er sein Hobby derzeit vernach lässigte. Nicht ein<strong>mal</strong> seine engsten<br />

Freunde hatten eine Ahnung, wovon das Buch handelte. Sie wussten nur<br />

eins: Dass Jack dieses Buch schrieb, um der Welt und sich selber etwas mitzuteilen.<br />

Wenn man das Buch nun aufschlug, so konnte man in krakeliger Schrift<br />

mehr als 100 Seiten lesen.<br />

Aus dem Buch von Jack.<br />

Ich betrat das Zimmer. Unter meinem zerfetzten Hemd zeichneten sich auf<br />

meinem nackten Rücken tiefe dunkelrote Striemen ab. Es tat höllisch weh,<br />

was einen auch nicht weiter wunderte, wenn man bedenkt, dass einer dieser<br />

blöden Erzieher die letzte halbe Stunde damit verbracht hatte, auf meinen<br />

Rücken einzuschlagen, mit einem dünnen Lederriemen, der vorne mit Gummis<br />

ummantelt war. Ich war wütend und knallte die Tür hinter mir zu, die<br />

ich dann wiederum mit einem Stuhl verbarrikadierte, sodass niemand mein<br />

Zimmer betreten konnte. Nun machte ich mich daran, meine Wunden, so gut<br />

es ging, mit einer Salbe zu versorgen. Als ich das erledigt hatte, warf ich mich<br />

aufs Bett und dachte darüber nach, wie es wäre, eine Familie zu haben – eine<br />

Mutter, einen Vater, eine …<br />

Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als ich ein Poltern und eine<br />

wütende Stimme auf dem Gang hörte. Jemand versuchte meine Zimmertür<br />

zu öffnen. Jemand schrie: „Jack, mach die Tür auf oder du kriegst noch mehr<br />

Schläge.“ Das war Mr. Anderson, der mich auch mit dem Riemen bearbeitet<br />

hatte. „Ich zähle jetzt auf 10, dann drücke ich die Tür ein“, hörte ich ihn sagen.<br />

Sollte mich wundern, wenn der überhaupt bis 10 zählen kann.<br />

Schon begann er: „1…“ Ich schlich lautlos zur Tür. „2…“ Unterwegs schnappte<br />

ich mir eine Schnur und befestigte sie am unteren Ende des Stuhlbeins. „3…,<br />

4…, 5…“ Leise schlich ich zurück zum Bett. „6…, 7…“ Ich rollte mich darunter.<br />

„8…“ Ich hob die Falltür an, die ich vor einem Jahr entdeckt hatte. „9…“<br />

Vorsichtig stieg ich hinab und wartete, mit der Schnur in der Hand, auf das,<br />

was unweigerlich passieren musste. „10!!!!!“ Ich zog kräftig an der Schnur, der<br />

Stuhl fiel um und Mr. Anderson, der gerade versucht hatte, die Tür mit der<br />

Kraft seines Körpers zu öffnen, flog ins Zimmer. Er blieb am Stuhl hängen und<br />

fiel mit voller Wucht auf die Nase. Aus Mr. Andersons Nase schoss sofort das<br />

Blut. Er wurde rasend vor Zorn und durchsuchte die Schränke nach mir. Er<br />

sah überall nach, aber ich hatte mich längst durch den Geheimgang aus dem<br />

Staub gemacht. Durch die dicken Wände des Ganges hörte ich gedämpft den<br />

dumpfen Klang der Speisesaalglocke. Was soll’s, schließlich konnte ich mich,<br />

zumindest heute, nicht blicken lassen.Nicht wenn Mr. Anderson dort war. Ich<br />

kroch weiter und kam schließlich zu der Stelle, an der durch die Ritzen zwischen<br />

dem Gestrüpp, das den Ausgang tarnte, Sonnenstrahlen in den Gang<br />

fielen. Ich kroch aus dem Gang und klopfte den Staub von meiner Kleidung<br />

ab.<br />

Ich ging zurück zum Waisenhaus und öffnete die Eingangstür. Zu meiner Erleichterung<br />

hatte sie der Hausmeister geölt. Ich schlich den verlassenen Korridor<br />

entlang und öffnete eine weitere Tür. Sie führte in ein Büro. Ich durchquerte<br />

es und presste mein Ohr an die Tür, die in das prunkvoll eingerichtete<br />

Teezimmer der Betreuer führte.<br />

„Was??“, schrie Mr. Johnson. „Er hat dir die Nase gebrochen und ist dann<br />

verschwunden?“<br />

„Ja“, antwortete Mr. Anderson. Man konnte richtig hören, dass er sich mit<br />

einem Kühlpack die Nase zuhielt und näselte. Was mich allerdings wunderte<br />

war, dass Mr. Steven, der Direktor des Hauses, nicht da war.<br />

„Dass ich nicht lache“, gluckste Mrs. Wood und schlürfte ihren Tee. „Ein ehe<strong>mal</strong>iger<br />

Elitekämpfer der Polizei lässt sich von einem Dreikäsehoch die Nase<br />

brechen!“<br />

„Was kann ich denn dafür, wenn er die Tür so geschickt entriegelte, dass ich<br />

ins Stolpern kam, hä?“, erwiderte Mr. Anderson.<br />

Ich stellte mir vor, wie sich Mrs. Wood und Mr. Johnson über den großen Mr.<br />

Anderson, mit einem Kühlpack auf der Nase und einer Tasse Tee in der Hand,

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