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Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen

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26 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />

nicht viel machen. Es war auch schon vorgekommen, dass sie schon zu zehnt<br />

vor mir standen. Zehn gegen mich.<br />

Ich konnte nichts machen. Ich war einfach zu schwach.<br />

Mir kam es vor, als würden sie mir wie Spione hinterherlaufen.<br />

Nicht gerade das tollste Gefühl, zu wissen, dass man ständig verfolgt wird.<br />

Als mir plötzlich einfiel, dass ich meine geliebte schwarze Armbanduhr auf<br />

dem Waschbecken liegen gelassen hatte, sprang ich wie ein Blitz auf und rannte<br />

ins Badezimmer, dorthin, wo meine Armbanduhr lag.<br />

Weil die Anderen nichts Besseres zu tun hatten, liefen sie mir jägerisch hinterher,<br />

dicht an meinen Fersen. Ich lief immer schneller und schneller, bis<br />

ich über meine eigenen Beine keine Kontrolle mehr hatte. Und schwupp fiel<br />

ich in hohem Bogen über das Parkett im Erdgeschoss. Kleine runde Fenster<br />

schmückten die Wände.<br />

Wenig Licht drang in die Diele ein. Noch ein Grund mehr, weshalb ich das<br />

Parkett mit meinem verwaschenen Pullover wischte. Ich lag auf dem Rücken.<br />

Meine Umgebung war verschwommen. Ich erkannte nur, dass sich alle Kinder<br />

über mich lustig machten.<br />

In einem dichten Kreis grenzten sie mich ein. Ich setzte mich auf.<br />

Nun sah ich, wie alle lachten. Tommy schnappte nur noch nach Luft. Ich fand<br />

das gar nicht witzig.<br />

„Na, sind wir hier zu schnell gelaufen?“, sagte er gemein.<br />

Ich sagte nichts.<br />

„Muss er sich wiederholen?“, fragte Cindy in einem bedrohlichen Tonfall.<br />

Erneut antwortete ich nicht.<br />

„Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen, oder was?“, sagte Tommy und schlug<br />

mir mit der Faust in den Bauch, sodass ich mich vor Schmerz nach vorne<br />

krümmte.<br />

„Aua“, schrie ich vor Schmerz und unterdrückte meine Tränen. Wie konnte<br />

man nur so gemein zu einem Menschen sein?<br />

„Warum macht ihr das? Lasst mich doch einfach in Ruhe! Ich habe euch nichts<br />

getan, und ihr behandelt mich wie ein Stück Dreck.“<br />

„Och“, sagte Zac und mischte sich ein.<br />

„Brauchst du jetzt auch noch eine Runde Mitleid?“, fuhr er fort.<br />

Nicht auch noch der! Ich schüttelte schüchtern den Kopf. Aus Angst, wieder<br />

geschlagen zu werden, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stand<br />

auf.<br />

Carolyn Gläßer: Kapitel 7 27<br />

Ich sah keinen Weg, mich alleine aus diesem Kreis zu befreien.<br />

„Wer hätte denn gedacht, dass unser kleiner Jack auch <strong>mal</strong> wieder aufsteht?“,<br />

riss mich Cindys Stimme aus meinen Gedanken. Alle fingen erneut an laut<br />

zu lachen.<br />

Unter diesem Gelächter hörte man nichts. Nicht <strong>mal</strong> meinem Atem konnte<br />

ich folgen.<br />

Ich spürte nur, wie er schnell durch meinen Körper fegte. Mein Herz hatte<br />

noch nie so schnell gepocht wie heute. Ich vermute, das war meine Angst.<br />

Plötzlich wurde es ganz still. Zuerst begriff ich nicht, warum.<br />

Doch dann ertönte die Stimme von Mr. Johnson. Er war meine letzte Hoffnung.<br />

Bei jedem Schritt, mit dem er sich uns näherte, knarrte das alte Parkett. Es<br />

war gruselig – wie in einem Spukschloss. Mr. Johnson warf ihnen böse Blicke<br />

zu.<br />

„Was soll das?“, fragte er laut. Ich zuckte zusammen. Ich staunte.<br />

So kannte ich ihn gar nicht. Er war eigentlich immer ein sehr ruhiger, geduldiger<br />

Mensch. <strong>Der</strong> einzige Nette in diesem Waisenhaus, dem ich etwas anvertrauen<br />

konnte. Und nur er wusste über meinen Zustand im Waisenhaus ganz<br />

genau Bescheid.<br />

Er hatte mir versprochen, immer für mich da zu sein.<br />

„Verdammt noch <strong>mal</strong>, was soll das?“, wiederholte er, dies<strong>mal</strong> lauter.<br />

Keiner antwortete ihm. Jetzt auf ein<strong>mal</strong> waren sie feige. Solche Vollidioten!<br />

Erst die Klappe nicht zu bekommen – und dann verstummen!<br />

So sind doch die Meisten. Mr. Johnson riss die Kette, die sie um mich gemacht<br />

hatten. Jeder Einzelne der zehn ging einen Schritt zurück. Mr. Johnson ging<br />

auf mich zu.<br />

„Bist du in Ordnung?“, flüsterte er mir ins Ohr.<br />

Es war so, als hätte ich einen Kloß im Hals. Ich bekam einfach kein Wort raus.<br />

Schlagartig drehte er sich um.<br />

„Verschwindet! Ich will euch heute Abend nicht mehr sehen!“, brüllte er sie<br />

an.<br />

Kaum zu glauben, dass diese freche Bande wirklich sofort wegging.<br />

„Komm, lass uns in mein Büro gehen“, forderte er mich auf und legte seine<br />

Hand um meine Schultern. Es war ein wohliges Gefühl. Langsam gingen wir<br />

dann in Richtung Büro. Dort war es warm und sehr gemütlich. Diese rote<br />

Wand faszinierte mich sofort. Und vor dieser roten Wand stand ein braunes

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