Erzähl mal! Der stille Zeuge - Literaturmachen
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70 <strong>Der</strong> <strong>stille</strong> <strong>Zeuge</strong><br />
Teddy schon alle gesehen. Sie machten sich lustig über mich. Sie zeigten mit<br />
den Fingern auf mich und schrieen: ,,Baby, Baby, Baby!“ Dann rannten sie<br />
lachend davon.<br />
In der Nacht plagten mich die Vorstellungen, wie sie mich morgen verspotten<br />
würden, und dies führte zu einer schlaflosen Nacht.<br />
Am nächsten Morgen, als wir im Klassenzimmer saßen, ging das Getuschel<br />
los. Die vier Jungs flüsterten den anderen zu, dass ich noch einen Teddy besaß.<br />
Ein lautes Gekicher und Gelächter erfüllte das Klassenzimmer. Da hatten alle<br />
wieder einen neuen Grund mich zu ärgern, und das nutzten sie aus. Es wurde<br />
Tag für Tag schlimmer, denn die Betreuer kümmerte es eigentlich nicht, sie reagierten<br />
nicht und ließen uns das selbst klären, da sie der Ansicht waren, dass<br />
wir schon groß genug wären, diesen kleinen Konflikt selbst unter einander zu<br />
lösen. Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen.<br />
An einem Abend lag ich traurig und auch verzweifelt im Bett und wusste keinen<br />
Ausweg.<br />
Ich dachte nach, was ich als nächstes tun sollte, denn langsam konnte ich<br />
dieses Leben nicht weiter ertragen. Zum ersten Mal kam mir ein neuer Gedanke,<br />
der Gedanke zu fliehen.<br />
Ich wusste, dass ich kein Kind mehr war und dass ich es schaffen würde, mich<br />
selbst zu versorgen und auf mich acht zu geben, denn hier wollte ich auf keinen<br />
Fall mehr bleiben. Ich wollte an einem Ort sein, wo ich gemocht und vielleicht<br />
auch geliebt werden würde, in einer Familie, in der ich mich geborgen fühlte.<br />
Am nächsten Tag griff Mr. Johnson endlich ein. Er fragte mich nach dem<br />
Grund des Konfliktes.<br />
Ich sagte ihm, dass die Jungs mich hänselten und sich lustig über mich machten,<br />
weil ich einen Teddy hatte. Würde er mich verstehen oder nicht? Natürlich<br />
verstand er mich nicht. Die Jungs und Mr. Johnson fingen an zu lachen.<br />
Dann wurde Mr. Johnson ernst und meinte: „Du bist jetzt schon 15 Jahre alt.<br />
Da brauchst du doch keinen Teddy mehr. Du kannst nicht mehr träumen,<br />
du musst das reale Leben sehen. Bring sofort deinen Teddy, ich werde ihn in<br />
meinem Büro aufbewahren!“<br />
Doch ich brauchte ihn gar nicht zu holen, denn die Jungs hatten ihn schon<br />
dabei. Sie hatten wahrscheinlich gesehen, wie ich meinen Teddy unter der<br />
Bettdecke versteckt hatte. Ich wollte nach ihm greifen, doch er war schon in<br />
den Händen von Mr. Johnson.<br />
Saskia Neun: Kapitel 20 71<br />
„Wenn du dein Zuhause hier ein<strong>mal</strong> verlassen wirst und dein eigenes Leben<br />
in die Hand nimmst, werde ich ihn dir sehr gerne wieder geben“, sagte Mr.<br />
Johnson.<br />
Diese Aussage versetze mich in einen Zustand tiefster Traurigkeit, denn ich<br />
dachte jede Sekunde an meinen Teddy, da ich die letzten paar Tage mit ihm<br />
alle meine Probleme besprochen hatte. Er fehlte mir. Er fehlte mir sogar sehr.<br />
Er war wie ein Bruder, eine Bezugsperson für mich geworden.<br />
Ich fühlte mich gedemütigt, hintergangen und alleine. Ganz alleine. Ohne einen<br />
Menschen. Ich rannte tränenüberströmt auf mein Zimmer. Jetzt war es<br />
sicher, ich würde abhauen, und zwar noch heute Nacht. Daran konnte mich<br />
keiner mehr hindern.<br />
Schon früh legte ich mich ins Bett, schmiedete den Fluchtplan und zeichnete<br />
ihn mir genau auf. Es war schwieriger, als ich gedacht hatte, denn ich wollte<br />
sicher gehen, dass mich keiner mehr aufspüren würde. Am Ende der langen<br />
Arbeit hatte ich meinen Fluchtplan genau festgelegt. Die ganzen Planungen<br />
waren sehr anstrengend, aber würden hoffentlich erfolgreich sein.<br />
Heute Nacht war es soweit. Heute würde ich abhauen. Das alte schreckliche<br />
Leben hätte dann endlich ein Ende. Die Flucht stand bevor. Ich spürte keine<br />
Müdigkeit, obwohl ich keinen Schlaf hatte. Doch eins wollte ich noch tun.<br />
Ich wollte meinen Teddy holen. Er war das Einzige, was ich hatte. Ich schlich<br />
mich, nur mit dem Nötigsten bepackt, langsam und leise aus meinen Zimmer<br />
in das Erdgeschoss, wo das Büro von Mr. Johnson war. Ich wusste, dass es<br />
einen Ersatzschlüssel hinter dem Heizkörper gab, da ich vor wenigen Tagen<br />
ein Gespräch zwischen dem Hausmeister und einem Betreuer verfolgt hatte,<br />
in dem es um den Schlüssel ging. Mit dem Schlüssel öffnete ich die Tür leise.<br />
<strong>Der</strong> Teddy saß lachend und vergnügt auf dem Schreibtisch, als er mich sah.<br />
Ich nahm ihn in meinen Arm, öffnete schnell das Fenster, sprang in den Hof<br />
und verschwand in der Dunkelheit.