Wo das Chaos die Ordnung ist - Literaturmachen
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Z e i t u n g f ü r r e P O r t A g e n<br />
Zum frühstück Sauerkrautsaft<br />
Eine ganz besondere Spielart der Reportage <strong>ist</strong><br />
der so genannte Selbstversuch. Ein Reporter begibt<br />
sich dabei me<strong>ist</strong> in eine mehr oder minder<br />
unangenehme oder gefährliche Situation und<br />
hält seine Erlebnisse in einem Text fest. So hat<br />
beispielsweise ein Reporter des SZ-Magazins<br />
während des letzten Oktoberfestes jeden Tag<br />
an der immergleichen Stelle im Bierzelt gesessen<br />
und dabei höchst skurrile Beobachtungen<br />
und Bekanntschaften gemacht. Der Schauspieler<br />
und Ex-MTV-Moderator Chr<strong>ist</strong>ian Ulmen<br />
hat sich für <strong>das</strong>selbe Magazin ein einwöchiges<br />
Schweigegelübde auferlegt.<br />
Die Reihe solcher Experimente ließe sich fortsetzen.<br />
Wir tun <strong>die</strong>s. Denn einige der Schüle-<br />
Das Holzschild, <strong>das</strong> am Rande der Heilbronner<br />
Straße, gegenüber der Haltestelle Eckartshaldenweg<br />
zwischen giftgrünen Sträuchern hervorlugt,<br />
fällt kaum auf. Die Autofahrer sind zu<br />
schnell, um <strong>die</strong> violetten Buchstaben auf blätternder<br />
Farbe wahrzunehmen, <strong>die</strong> Konzerte,<br />
rinnen und Schüler der Projektklasse 11b haben<br />
sich <strong>die</strong>ser Form der Reportage angenommen.<br />
Sie haben sich für einen Tag in den Rollstuhl<br />
gesetzt, auf vegane Ernährung umgestellt oder<br />
sich einem einwöchigen Heilfasten unterzogen,<br />
inklusive morgendlichem Sauerkrautsaft-<br />
Trinken. Und zwar aus dem wichtigsten Beweggrund,<br />
der einen Reporter antreibt: Neugierde.<br />
Doch Neugierde kann auch an Orte führen, <strong>die</strong><br />
fernab solcher Selbstkasteiung liegen. Zu den<br />
Stuttgarter Wagenhallen zum Beispiel, <strong>die</strong> sich<br />
in den letzten Jahren zu einem subkulturellen<br />
Zentrum der Stadt gemausert haben. Oder an<br />
jene zahlreichen Stellen, an denen silberfarbene<br />
Leihfahrräder auf ihre Nutzer warten. Das<br />
Themenspektrum der Reportagen <strong>ist</strong> auch in<br />
<strong>die</strong>sem Jahr sehr breit gefächert. Die Schüle-<br />
Biergartenabende im Sommer oder kleinere<br />
Auftritte ankündigen. Die Straßenbahninsassen<br />
sind me<strong>ist</strong>ens zu weit entfernt und <strong>die</strong> Passanten<br />
bestehen größtenteils aus Mitarbeitern<br />
der Versicherung gleich um <strong>die</strong> Ecke, <strong>die</strong> entweder<br />
schon im Morgengrauen mit verschlafenen<br />
n- o 03<br />
unterricht im Dialog – Literaturhaus Stuttgart und eberhard-Ludwigs-gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009<br />
Carla Schürjann<br />
<strong>Wo</strong> <strong>das</strong> <strong>Chaos</strong> <strong>die</strong> <strong>Ordnung</strong> <strong>ist</strong><br />
Eine Begegnung mit den Wagenhallen des Stuttgarter Nordareals.<br />
Die Wagenhallen bieten den Künstlern viel Platz für ausgefallene Projekte.<br />
rinnen und Schüler haben sich <strong>die</strong>se Themen<br />
selbst ausgesucht, selbstständig recherchiert<br />
und umgesetzt.<br />
Unser Dank gilt allen Einrichtungen, Institutionen<br />
und Privatpersonen, <strong>die</strong> sich als Interview-<br />
partner zur Verfügung gestellt und einen Blick<br />
hinter ihre Kulissen gestattet haben. Besonders<br />
hervorheben möchten wir an <strong>die</strong>ser Stelle den<br />
Radiosender bigFM. Zum Ende des Schuljahres<br />
haben wir gemeinsam <strong>das</strong> Studio und <strong>die</strong> Redaktion<br />
von bigFM besichtigt und interessante<br />
und kurzweilige Einblicke in <strong>die</strong> Arbeit eines<br />
Radiosenders erhalten.<br />
Jetzt wünschen wir viel Spaß beim Blättern<br />
und Lesen!<br />
Katharina Dargan (Lehrerin)<br />
und Tilman Rau (Dozent)<br />
Gesichtern zur Arbeit eilen, oder aber sich zielstrebig<br />
bei Abenddämmerung zurück nach Hause<br />
begeben.<br />
Wer <strong>das</strong> Schild mit all seinen versteckten Hinweisen<br />
und Informationen wahrnimmt, <strong>die</strong><br />
Treppen und den mit Kies bestreuten Weg hinab<br />
läuft, der trifft auf keinen <strong>die</strong>ser Menschen.<br />
Denn hier scheint der Alltag jegliche Bedeutung<br />
zu verlieren. Am besten, man lässt ihn auf<br />
der Straße zurück und versucht gar nicht erst,<br />
ihn mit <strong>die</strong>sem Ort bekannt zu machen. Vielmehr<br />
trifft man auf ein Sammelsurium zusammengetragener<br />
und neu verwerteter Dinge, <strong>die</strong><br />
kreuz und quer verteilt ihren Platz einnehmen.<br />
Hier <strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>Chaos</strong> <strong>die</strong> <strong>Ordnung</strong>. Und inmitten<br />
<strong>die</strong>ses <strong>Chaos</strong> tauchen <strong>die</strong> altbekannten Wagenhallen<br />
des Nordbahnhof-Areals auf; <strong>die</strong> großen<br />
Gebäude aus roten Backsteinen und den spitzen<br />
Glasdachplatten, <strong>die</strong> einen an <strong>die</strong> Zeit der<br />
Industrialisierung erinnern. Das sind sie also,<br />
<strong>die</strong> Wagenhallen, <strong>die</strong> schon so viele Verwandlungen<br />
erlebten und deren Zukunft und Bedeutung<br />
für <strong>die</strong> kommende Zeit noch in den Sternen<br />
steht.<br />
Früher hatten <strong>die</strong> Wagenhallen eine ganz andere<br />
Bedeutung als heute: Sie wurden zum<br />
Unterstellen von Loks der Königlich Württem-<br />
bergischen Eisenbahn genutzt. Während des<br />
Krieges wurden in ihnen Flugzeuge repariert<br />
und Jahre später, nach einer Modernisierung,<br />
wurden dort <strong>die</strong> Busse des Regionalverkehrs<br />
der SSB gewartet. Irgendwann standen sie<br />
dann leer, <strong>die</strong> Hallen, bis sie von einer handvoll<br />
Künstler neu entdeckt wurden.<br />
Fortsetzung auf Seite 2
Seite 2 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 3<br />
Fortsetzung von Seite 1<br />
Diese Entdeckung war für jene Künstler <strong>die</strong><br />
große Hoffnung auf <strong>die</strong> Möglichkeit, ihr Leben<br />
in ähnlicher Weise weiterleben und ihren Beruf<br />
weiterführen zu können. Denn ihre Ateliers<br />
und <strong>Wo</strong>hnungen in den alten Posthäusern am<br />
hinteren Ende des Nordbahnhofviertels sollten<br />
Opfer geplanter Bauaufträge werden: den Kunstschaffenden<br />
drohte der Rauswurf.<br />
Da kam <strong>die</strong> Neuentdeckung der ungenutzten<br />
Industriefläche wie gerufen. Es gründete sich<br />
eine Initiative von 17 Architekten und Künstlern,<br />
<strong>die</strong> sich bei der Stadt für <strong>die</strong> Nutzung jener<br />
Fläche bewarb. Nachdem der erste Versuch<br />
mangels eines geeigneten, finanzkräftigen<br />
Konzepts scheiterte, schaltete sich ein gewisser<br />
Jürgen Karle, Schrott- und Metallhändler des<br />
inneren Nordbahnhof-Areals, ein. Er brauchte<br />
einerseits Lagerfläche für seine Schätze – damit<br />
verbunden auch jemanden, der darauf aufpasste;<br />
andererseits konnte er nun <strong>die</strong> restliche<br />
Fläche an eben <strong>die</strong>se Künstler vermieten. Bald<br />
wurde <strong>die</strong> Vereinigung offiziell von der Stadt<br />
anerkannt und der Kunstverein „Wagenhallen<br />
e.V.“ ins Leben gerufen. Das alles geschah im<br />
Frühling des Jahres 2004.<br />
Durch <strong>die</strong>se neue Vereinigung von Künstlern<br />
entstand nach und nach eine neue Kunstszene<br />
in Stuttgart, deren Bedeutung und Vielfalt in<br />
den letzten Jahren immer weiter zugenommen<br />
hat. Die Hallen <strong>die</strong>nen längst nicht mehr nur<br />
als Nutzfläche im Sinne von Ateliers und Aufbewahrung,<br />
sondern werden ganz konkret als<br />
Schauplätze vieler Inszenierungen, Konzerte,<br />
oder anderer Auftritte genutzt. Neben Ausstellungen<br />
finden auch Tango- und Theaterabende<br />
in den Räumen statt. Kleine Bars für Sommerabende<br />
und Sport-Spiele, sowie Theateraufführungen<br />
im Freien sorgen für mehr Publikum.<br />
Auch <strong>die</strong> offiziellen Kulturinstitutionen haben<br />
den Charme und <strong>das</strong> Potenzial des Geländes<br />
entdeckt: Räume werden vermietet, Inszenierungen<br />
in Auftrag gegeben; seit einigen Jahren<br />
wirken <strong>die</strong> Künstler der Wagenhallen auch<br />
an Kulturprojekten wie der „Langen Nacht der<br />
Museen“ mit.<br />
Künstler wie Stefan Bonbaci (44) und Chr<strong>ist</strong>of<br />
„Paper“ Blattmacher (36). Stefan absolvierte<br />
<strong>das</strong> Gymnasium und ging danach zur Staatlichen<br />
Akademie der Bildenden Künste auf der<br />
Weißenhofsiedlung in Stuttgart-Nord. Nach Beendigung<br />
seines Studiums entdeckte auch er<br />
iMPreSSuM<br />
Bulletin <strong>ist</strong> der aktuelle Werkstattbericht der<br />
Werkstatt für Reportage am Eberhard-Ludwigs-<br />
Gymnasium Stuttgart. Das Gesamtprojekt<br />
„Unterricht im Dialog – Schreibwerkstätten<br />
im Deutschunterricht“ wird vom Literaturhaus<br />
Stuttgart in Kooperation mit dem Landesin-<br />
stitut für Schulentwicklung und den Seminar-<br />
einrichtungen für Lehrerinnen und Lehrer in<br />
Baden-Württemberg durchgeführt.<br />
Auflage 750 Exemplare.<br />
<strong>die</strong> Wagenhallen für sich und richtete sich dort<br />
ein Atelier ein. Neben seinen eigenen Kreationen<br />
hilft er bei der Verwirklichung von Inszenierungen<br />
anderer Künstler mit. Nun mag sich<br />
<strong>die</strong> Frage stellen, ob <strong>das</strong> denn zum Leben reiche.<br />
Diese Frage muss er mit Nein beantworten.<br />
Seit einigen Jahren unterrichtet er Kunst und<br />
Kunstgeschichte an verschiedenen Schulen und<br />
an der Akademie am Killesberg. Klar spiele <strong>das</strong><br />
Geld eine Rolle in seinem Leben, meint er, jedoch<br />
eine ganz andere als vielleicht für einen<br />
„Normalbürger“: „Ohne Geld komme ich nicht<br />
an meine Materialien. Und wie soll ich meine<br />
Ideen verwirklichen, ohne Finanzierung?“,<br />
fragt er und reibt sich <strong>die</strong> schmutzigen Hände.<br />
Sein Gesicht <strong>ist</strong> gezeichnet von tiefen Falten<br />
und seine Augen sehen müde aus. Er <strong>ist</strong> gerade<br />
dabei, seinem Freund oder Kollegen zu helfen –<br />
<strong>die</strong>se Unterscheidung scheint es hier nicht zu<br />
geben, denn hier kennt jeder jeden, und wer<br />
Hilfe braucht, dem wird geholfen.<br />
Seit vier Stunden versuchen <strong>die</strong> beiden, eine<br />
Installation für einen Tanzauftritt der etwas<br />
anderen Art aufzubauen. Die Tanzperfor-<br />
Der riesige Rock <strong>die</strong>nt als Dekoration für <strong>die</strong><br />
Tanzperformance „Umgestülpt“<br />
Dozent – Tilman Rau<br />
Verantwortliche Lehrerin – Katharina Dargan<br />
redaktion <strong>die</strong>ser Ausgabe<br />
Tilman Rau und Katharina Dargan<br />
Layout – Jochen Starz – starz engineering<br />
Copyright – Die Rechte für <strong>die</strong> einzelnen<br />
Beiträge (Text und Bild) liegen bei den<br />
Autorinnen und Autoren, für <strong>die</strong> Gesamtausgabe<br />
beim Literaturhaus Stuttgart.<br />
Die Fotos wurden, wenn nicht anders benannt,<br />
von den Autorinnen und Autoren gemacht.<br />
mance „Umgestülpt“ soll hier nächste <strong>Wo</strong>che<br />
stattfinden und wie immer läuft es nicht nach<br />
Plan. „Hier <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Kunst der Improvisation gefragt“,<br />
erklärt Stefan und schaut nachdenklich<br />
auf den weißen Rock aus Fallschirmleinen<br />
hinab. Die Aufgabe <strong>ist</strong> es, <strong>die</strong>sen riesigen<br />
Rock an <strong>die</strong> Decke der Halle zu befördern, so<strong>das</strong>s<br />
es später aussieht, als schwebe ein Zelt<br />
in der Luft. Der Rock <strong>ist</strong> an dem einen Ende<br />
mit einem Strick befestigt, der amateurhaft<br />
über ein Rad an der Decke gespannt wurde.<br />
Improvisation <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Spezialität von Chr<strong>ist</strong>of<br />
„Paper“ Blattmacher, der eigentlich Techniker<br />
im Bereich des Filmbaus <strong>ist</strong>. „Paper <strong>ist</strong> bekannt<br />
für seine Spezialeffekte“, witzelt Stefan und<br />
klopft seinem Freund auf <strong>die</strong> Schulter. Dieser<br />
kniet auf dem Boden und bastelt an dem Reifen<br />
des Rocks herum. Seine Zunge schiebt sich über<br />
<strong>die</strong> Lippen, der Mund <strong>ist</strong> leicht geöffnet – in<br />
<strong>die</strong>ser Form bleiben seine Gesichtszüge, bis „Paper“<br />
<strong>die</strong> Lösung für sein Problem gefunden hat,<br />
dann entspannt es sich wieder. Er fährt sich mit<br />
der Hand durchs Haar und beäugt kritisch <strong>die</strong><br />
Installation. „Das <strong>ist</strong> zu instabil“, sagt er dann.<br />
„Also noch mal von vorn“, schließt Stefan und<br />
zieht sich wieder <strong>die</strong> Handschuhe an.<br />
Mittlerweile <strong>ist</strong> es halb neun und draußen wird<br />
es dunkel. Die zwei sind müde, wollen aber noch<br />
nicht aufgeben. In ihren Gesichtern spiegelt<br />
sich ihr Bedürfnis wider, <strong>die</strong>ses Werk ideegetreu<br />
umzusetzen. Man sieht ihnen an, <strong>das</strong>s sie<br />
ihren Beruf als Berufung sehen – als Traum, der<br />
nichts oder kaum etwas mit Geld zu tun hat,<br />
sondern mit der Suche nach dem eigentlichen<br />
Selbst und dessen Verwirklichung. Auch steht<br />
hier <strong>die</strong> Zeit nicht im Verhältnis zur Le<strong>ist</strong>ung,<br />
sie <strong>ist</strong> nur da und vergeht – mal schneller, mal<br />
langsamer.<br />
Fragt sich, wie viel Zeit noch bleibt, bis <strong>die</strong> Stadt<br />
ihre Bulldozer auf <strong>die</strong> Wagenhallen loslässt. Die<br />
Baupläne für eine neue Schule und <strong>die</strong> Verlegung<br />
der Fernwärme im Nordbahnhof-Areal sind<br />
gemacht. Langsam aber sicher machen sich Zeichen<br />
einer größeren Baustelle breit. Wie genau<br />
alles laufen wird, wissen <strong>die</strong> Bauarbeiter selbst<br />
noch nicht, nur, <strong>das</strong>s erstmal <strong>die</strong> alten Rohre<br />
rausgeholt und verlegt werden müssen. Dann<br />
wird man weiter sehen. Bis dahin beleben <strong>die</strong><br />
Künstler noch <strong>das</strong> Gebiet als „Gespenster der<br />
Wagenhallen“. Was aus ihnen und ihrer Arbeit<br />
wird, wenn sie den Baggern Platz machen müssen,<br />
bleibt offen.<br />
Kontakt – Erwin Krottenthaler<br />
Literaturhaus Stuttgart, Boschareal,<br />
Breitscheidstraße 4, D-70174 Stuttgart<br />
Tel. 0711/220 21 741, Fax 0711/220 21 748<br />
info@literaturhaus-stuttgart.de<br />
www.literaturhaus-stuttgart.de<br />
Besuchen Sie auch <strong>die</strong> Seite für junge<br />
Literatur des Literaturhauses Stuttgart<br />
www.literaturmachen.de<br />
Bulletin erscheint mit freundlicher<br />
Unterstützung der robert Bosch<br />
Stiftung gmbH Stuttgart.<br />
Jakob Hermle<br />
Jeder zehntel Millimeter<br />
muss stimmen<br />
Auf <strong>die</strong> Feinheiten kommt es an – ein Besuch bei einem Stuttgarter Geigenbauer<br />
Die geigenbauerwerkstatt <strong>ist</strong> sehr still. Beim<br />
Betreten des Ladens von Antoine Muller spürt<br />
man, wie ungewöhnlich er <strong>ist</strong>. in dem Laden<br />
geht jedes gefühl von großstadt verloren.<br />
Diese neue, beschauliche umgebung <strong>ist</strong> so<br />
anders, als es der rege Verkehr, der regen,<br />
der graue Himmel und <strong>die</strong> Kälte draußen eben<br />
noch waren. Der kleine, angenehm warme,<br />
eher dunkle Verkaufsraum und <strong>die</strong> Violinen<br />
und Celli hinter dem Ladentisch in einem<br />
großen glasschrank, von denen sofort mein<br />
Blick angezogen wurde, vermitteln eine nostalgische,<br />
ehrfurchtsvolle Stimmung und alles<br />
kommt einem plötzlich noch viel stiller vor.<br />
Es war der 23. Januar 2009. Die Werkstatt war<br />
noch um vieles faszinierender als der Verkaufsraum.<br />
Auf den Werkbänken lagen allerlei Werkzeuge,<br />
wie feine Schnitzmesser und Klingen,<br />
Feilen und andere Werkzeuge, <strong>die</strong> man sonst<br />
vor allem zur künstlerischen Bearbeitung von<br />
Holz benutzen würde. Aber <strong>die</strong> Werkzeuge waren<br />
nicht <strong>das</strong> Wesentliche, sondern <strong>die</strong> reparaturbedürftigen<br />
oder halbfertigen Violinen und Celli.<br />
Überall hingen an den Wänden entlang, direkt<br />
unter der Decke, fertig gebaute oder fertig reparierte<br />
Violinen, abholbereit für <strong>die</strong> Kunden. In<br />
der Werkstatt fand ich Antoine Muller und zwei<br />
seiner Angestellten. Wir begrüßten uns und begannen<br />
mit dem Interview.<br />
Herr Muller <strong>ist</strong> in Luxemburg geboren und aufgewachsen<br />
und spielte als Kind mit Bege<strong>ist</strong>erung<br />
Klavier und Viola. Mit 14 Jahren entschied er<br />
sich, Geigenbauer zu werden, was sich dann als<br />
<strong>die</strong> richtige Entscheidung erwies. Die Ausbildung<br />
zum Geigenbauer <strong>ist</strong> eine handwerkliche Ausbildung<br />
und dauert drei Jahre im Betrieb, dort hat<br />
man Berufsschulunterricht und Ausbildung im<br />
Betrieb parallel. Er schloss <strong>die</strong> Ausbildung mit einer<br />
Gesellenprüfung ab und arbeitete dann drei<br />
Jahre lang als Geselle in Helsinki, danach noch<br />
weitere zwei Jahre in Paris. Als ihm angeboten<br />
wurde, <strong>die</strong> Werkstatt zu übernehmen, in der er<br />
heute arbeitet, absolvierte er <strong>die</strong> Me<strong>ist</strong>erprüfung<br />
und übernahm den Betrieb. Das war 1994. Ohne<br />
zu überlegen bestätigte er, <strong>das</strong>s er den Beruf des<br />
Geigenbauers wieder ergreifen würde und sehr<br />
zufrieden mit seinem Beruf sei.<br />
Im weiteren Verlauf des Interviews lernte ich<br />
sehr viel über den Geigenbau. Für den Bau einer<br />
Geige rechnet man durchschnittlich 200 Arbeitsstunden<br />
für eine einzige Person, es darf an einer<br />
Geige nämlich nie mehr als eine Person gearbeitet<br />
haben. Die Hölzer, <strong>die</strong> man zum Bau so einer<br />
Geige benötigt, sind eigentlich immer Fichte für<br />
<strong>die</strong> Decke der Instrumente und Ahorn für den<br />
Boden, allerdings kann <strong>das</strong> Bodenholz bei Cello<br />
und Bratsche auch mal aus Pappel sein. Andere<br />
Hölzer werden nie verwendet, da <strong>das</strong> Klangergebnis<br />
dann alles andere als der Klang einer Geige,<br />
Bratsche oder eines Cellos wäre. Diese Hölzer<br />
holt sich der Geigenbauer natürlich nicht mit<br />
einer Axt, Bäume fällend aus dem Wald, sondern<br />
er bezieht sie von so genannten Tonholzhändlern,<br />
spezialisierten Sägewerken, <strong>die</strong> speziell<br />
für den Bau von Streichinstrumenten <strong>das</strong> Holz<br />
beschaffen und aufarbeiten, es auf besondere<br />
Weise schneiden und lagern, so<strong>das</strong>s man daraus<br />
<strong>die</strong> Instrumente so bauen kann, wie man es sich<br />
vorstellt. Die sehr verschiedenen und me<strong>ist</strong>ens<br />
auch sehr schönen Farbtöne erhalten <strong>die</strong> Instrumente<br />
allerdings nicht vom Holz selbst, sondern<br />
von Naturharzpigmenten in den Lacken, mit denen<br />
man es einerseits zum Schutz, andererseits<br />
fürs Aussehen bearbeitet. Vielleicht hat sich ja<br />
auch schon mal jemand gefragt, wie eigentlich<br />
<strong>die</strong> Geige dem enormen Druck der Saiten standhält.<br />
Die sind nämlich so stark über dem Steg<br />
gespannt (sonst würden sie ja auch nicht schnell<br />
genug schwingen können, um einen Ton zu erzeugen),<br />
<strong>das</strong>s auf einer Geige ungefähr 30 Kilogramm<br />
lasten, auf einem Cello sogar 50 Kilogramm.<br />
Das Geheimnis liegt einfach darin, <strong>das</strong>s<br />
<strong>die</strong> Decke der Geige nach außen gewölbt <strong>ist</strong>. So<br />
kann sie nicht einbrechen. Dennoch würde sie<br />
auf Dauer nachgeben, wäre da nicht der so genannte<br />
Stimmstock. Der Stimmstock, oder auch<br />
Stimme, steht wie ein Stützpfeiler zwischen Boden<br />
und Decke der Geige. So stützt er vom Boden<br />
aus <strong>die</strong> ja ohnehin schon sehr robuste Decke zusätzlich,<br />
so<strong>das</strong>s <strong>die</strong> Konstruktion in sich stabil<br />
bleibt und nie ohne überlastende äußere Einwirkung<br />
brechen wird. Ohne den Stimmstock und<br />
den Bassbalken, ein vertikal in <strong>die</strong> Geigendecke<br />
eingepasster „Balken“, würde <strong>die</strong> Geige allerdings<br />
auch sehr schwach klingen.<br />
Bei all den Konstruktionsregeln muss man nämlich<br />
natürlich immer noch darauf achten, <strong>das</strong>s<br />
der Klang der Geige ein Guter wird, schließlich<br />
<strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>die</strong> eigentliche Schwierigkeit und <strong>das</strong> ei-<br />
Den Unterschied zwischen einer industriell<br />
gefertigten und einer per Hand<br />
hergestellten Geige kann man hören.<br />
gentliche Ziel. Daher muss man beim Bau einer<br />
Geige jeden Teil der Konstruktion so fein wie<br />
möglich ausarbeiten, denn fast alles an der Geige<br />
<strong>ist</strong> klangbestimmend: Die ständig variierenden<br />
Eigenschaften des Holzes, <strong>die</strong> Umrisse und Wölbungen,<br />
sowie <strong>die</strong> Stärkenverteilung im Korpus,<br />
einschließlich Platzierung und Gestaltung der F-<br />
Löcher sind sehr entscheidend. Der Stimmstock,<br />
<strong>die</strong> Ausformung des Stegs, <strong>die</strong> Wahl der Saiten<br />
und der Geigenhals sind nicht weniger wichtig.<br />
Für den außenstehenden Betrachter, sogar für<br />
den durchschnittlichen Geigenspieler, sind all<br />
<strong>die</strong>se Einzelheiten und Unterschiede nicht erkennbar.<br />
Für den normalen Menschen sieht jede<br />
Geige bis auf Farbe und natürlich Größe genau<br />
gleich aus. Bei <strong>die</strong>sen Unterschieden handelt<br />
es sich auch nur um zehntel Millimeter. Jetzt<br />
könnte man sich natürlich fragen: Warum gibt<br />
es dann heutzutage nicht <strong>die</strong> perfekte Geige, in<br />
allem vollkommen, <strong>die</strong> man dann maschinell in<br />
Massenproduktion herstellt? Man hat <strong>die</strong> Geige<br />
doch jetzt Jahrhunderte lang erforscht? Die Antwort<br />
<strong>ist</strong>: Man weiß, <strong>das</strong>s es nicht funktionieren<br />
wird, man weiß aber nicht, wieso.<br />
Antonio Stradivari baute zu seiner Zeit Geigen,<br />
<strong>die</strong> heute noch zu den Besten der Welt gehören.<br />
Also haben natürlich einige Geigenbauer versucht,<br />
Geigen herzustellen, <strong>die</strong> genauso gut wie<br />
<strong>die</strong> Stradivaris waren, indem sie seine Geigen<br />
auf den zehntel Millimeter genau kopierten. Die<br />
Ergebnisse aber waren enttäuschend. Als ob Geigen<br />
einzigartig seien. Das <strong>ist</strong> auch der Grund,<br />
warum industriell hergestellte Billiginstrumente<br />
aus China keine hochwertigen Geigen sein können.<br />
„Die wirklich billigen Instrumente von dort<br />
sind me<strong>ist</strong>ens so beschaffen, <strong>das</strong>s man sie nicht<br />
sinnvoll spielen kann, <strong>das</strong>s sie kein gutes Werkzeug<br />
für Musiker sind“, erklärt Antoine Muller.<br />
„Um sie so herzurichten, <strong>das</strong>s sie brauchbar sind,<br />
müsste man ein Vielfaches von ihrem ursprünglichen<br />
Wert investieren, insofern <strong>ist</strong> es in der<br />
Regel rausgeschmissenes Geld.“<br />
Antoine Muller baut Violinen, Violas und Celli,<br />
also <strong>das</strong> komplette Streichquartett, wozu der<br />
Kontrabass nicht zählt. Bögen werden in der<br />
Regel nicht von Geigenbauern, sondern von Bogenbauern<br />
hergestellt, dennoch repariert Muller<br />
Bögen. Im Gegensatz zu vielen anderen Geigenbauern<br />
baut Herr Muller normalerweise keine<br />
h<strong>ist</strong>orischen Instrumente, wie zum Beispiel <strong>die</strong><br />
Barockvioline, <strong>die</strong> nach einer anderen Bauweise<br />
gebaut wird als <strong>die</strong> heute gängigen Instrumente.<br />
Er hat aber schon mal welche gebaut.<br />
Ansonsten nimmt Muller natürlich auch, oder<br />
sogar überwiegend Restaurationen an Instrumenten<br />
vor. Bei seinen Instrumenten besteht<br />
vor allem bei den kleineren Geigengrößen für<br />
Kinder <strong>die</strong> Möglichkeit, ein Instrument nicht<br />
gleich zu kaufen, sondern vorerst zu mieten,<br />
was er selbst auch für Geigenanfänger empfiehlt,<br />
<strong>die</strong> sich ihrer Sache noch nicht ganz sicher sind.<br />
Antoine Muller, dessen Werkstatt sich im Stuttgarter<br />
Osten an der Kreuzung von Achalmstraße<br />
und Hausmannstraße befindet, spielt heute<br />
noch Kammermusik auf der Bratsche, zeitweise<br />
auch in Orchester.
Seite 4 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 5<br />
Später Dienstagnachmittag im Calwer-Eck-Bräu<br />
in der Stuttgarter Innenstadt. Die Gaststätte,<br />
<strong>die</strong> mit dem Titel „Erste Stuttgarter Lokalbrauerei“<br />
wirbt, <strong>ist</strong> zu <strong>die</strong>ser Zeit wie jeden Tag gut<br />
besucht. Es herrscht eine gemütliche Stimmung<br />
und der typische Geruch von schwäbischer Küche<br />
hängt in der Luft. Wer hier einkehren will,<br />
sollte allerdings schon <strong>Wo</strong>chen vorher einen<br />
Platz reservieren. Denn hierher kommt man<br />
nicht nur wegen des guten Essens, sondern vielmehr<br />
wegen des einzigartigen Biers. Immerhin<br />
handelt es sich hier nicht nur um ein normales<br />
Lokal, sondern vielmehr um eine Hausbrauerei.<br />
Stuttgarts kleinste, um genau zu sein. Das<br />
Calwer-Eck-Bräu war ganz vorne mit dabei, als<br />
es darum ging, seinen Gästen etwas ganz Besonderes<br />
zu bieten, etwas, <strong>das</strong> nicht in jeder<br />
Gaststätte angeboten wird.<br />
Klaus Schöning, damaliger Besitzer des Calwer-<br />
Eck-Bräus, eröffnete <strong>die</strong> Gaststätte am 24. April<br />
1987. Zur damaligen Zeit war in den me<strong>ist</strong>en<br />
Stuttgarter Gaststätten eine me<strong>ist</strong> einseitige<br />
Gästestruktur zu finden. Also war es <strong>das</strong> Ziel,<br />
ein Lokal zu etablieren, welches ein Anlaufpunkt<br />
für keine bestimmte Zielgruppe, sondern<br />
für jedes Alter und jede Stimmungslage war. Ein<br />
voller Erfolg, wie sich bald herausstellen sollte.<br />
Und auch heute, mehr als 20 Jahre später, <strong>ist</strong><br />
<strong>das</strong> Calwer-Eck-Bräu immer noch ein gastronomischer<br />
Dauerbrenner. Noch jetzt, wie auch damals<br />
schon, können <strong>die</strong> Gäste <strong>das</strong> Brauen des<br />
hauseigenen Bieres hautnah miterleben. Allein<br />
eine Glastür trennt <strong>die</strong> Brauerei vom Lokal. Verantwortlich<br />
für <strong>die</strong> Brauerei im Calwer-Eck <strong>ist</strong><br />
Braume<strong>ist</strong>er Jürgen Hartl, der bereits seit acht<br />
Jahren hier tätig <strong>ist</strong>. Mit einem weiteren Mitarbeiter<br />
in der Brauerei <strong>ist</strong> er zuständig für den<br />
täglichen Nachschub an frischem Gerstensaft.<br />
Und <strong>das</strong> am Calwer-Eck gebraute Bier wird auch<br />
nicht, wie so viele Biere, erst durch halb Deutschland<br />
transportiert, sondern fast ausschließlich<br />
in der eigenen Gaststätte ausgeschenkt. Nur<br />
ein kleiner Teil wird an zwei Gaststätten in der<br />
Region geliefert. Arbeitszeiten ab 6 Uhr in der<br />
Frühe für einen Lokalbrauer mögen dem einen<br />
oder anderen ungewöhnlich vorkommen. Es <strong>ist</strong><br />
aber tatsächlich so, <strong>das</strong>s ein sogenannter Sud,<br />
aus dem später um <strong>die</strong> 40 Hektoliter, also 4000<br />
Liter Calwer-Eck-Bräu gewonnen werden, um<br />
<strong>die</strong> 14 Stunden in Anspruch nehmen kann. Und<br />
zuständig hierfür <strong>ist</strong> im Calwer-Eck Bierbrauer<br />
Jürgen Hartl.<br />
Eine anstrengende Arbeit, <strong>die</strong> sich aber voll<br />
auszahlt - dank dem hauseigenen Bier kann <strong>das</strong><br />
Calwer-Eck auf viele Stammgäste zählen. Und<br />
Benedict Ohnemüller<br />
gastronomischer Dauerbrenner<br />
mit einzigartigem Bier<br />
Ein Besuch in Stuttgarts kleinster Brauerei, dem Calwer-Eck-Bräu<br />
auch der Braume<strong>ist</strong>er selbst trinkt sein eigenes<br />
Bier immer noch am liebsten. Denn dank 100%iger<br />
Handarbeit beim Brauen und wechselnder<br />
Rohstoffe variiert der Geschmack des Bieres<br />
von Tag zu Tag.<br />
Insgesamt werden ungefähr 130 Sud in der Lokalbrauerei<br />
hergestellt, <strong>das</strong> sind also 4800 Hektoliter<br />
im Jahr. Eine beachtliche Summe, wenn<br />
man bedenkt, <strong>das</strong>s es Calwer-Eck-Bräu nur in<br />
drei Gaststätten zu kaufen gibt. Ausgeschenkt<br />
wird übrigens nur im 0,2- und 0,3-Liter-Glas,<br />
dadurch hat der Gast auch immer ein frisches<br />
Bier vor sich. Wer bei <strong>die</strong>sen vergleichsweise<br />
kleinen Gläsern Nachschubsorgen hat, kann beruhigt<br />
sein: Denn im Calwer-Eck wird dem Gast<br />
so lange automatisch immer ein frisches Bier<br />
gebracht, bis er den Bierdeckel auf <strong>das</strong> Glas legt<br />
und damit signalisiert: „Genug für heute...“<br />
Wer doch lieber selbst Hand anlegen möchte,<br />
bestellt einfach einen „Pitcher“ – einen frisch<br />
gezapften 1,5-Liter-Krug zum selbst einschenken.<br />
Außer den ganzjährig gebrauten Bieren, wie<br />
dem Calwer-Eck-Pils oder dem Hefeweizen,<br />
werden zu verschiedenen Anlässen auch Saisonbiere<br />
gebraut, wie z.B. <strong>das</strong> Volksfestbier,<br />
Maibock, Sommerbier, Weihnachtsbier und<br />
Schwarzbier. Aber egal welche Sorte, immer<br />
gilt <strong>das</strong> Motto: Qualität statt Quantität. Wer<br />
alkoholfreies Bier sucht, wird im Calwer-Eck<br />
allerdings nicht fündig werden; aufgrund der<br />
komplizierten Braumethode wäre hierfür der<br />
Aufwand zu groß.<br />
Normalerweise steigt in der Gastronomie der<br />
Bierumsatz im Sommer immer kräftig an. Im<br />
Calwer-Eck-Bräu hingegen wird, auch wegen<br />
eines fehlenden Biergartens und ständig wechselnder<br />
Saisonbiere, zwischen Oktober und Dezember<br />
deutlich mehr Bier als im Sommer verkauft.<br />
Die vier Grundstoffe des Bieres sind auch hier<br />
Wasser, Malz, Hopfen und Hefe. Dabei <strong>ist</strong> Wasser<br />
mit mehr als 90% der Hauptbestandteil des<br />
Bieres. Im Calwer-Eck wird untypischerweise<br />
normales Leitungswasser verwendet, <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en<br />
Brauereien nutzen dagegen me<strong>ist</strong> qualitativ<br />
hochwertigeres Quellwasser. Der bei weitem<br />
größte Anteil des Wassers jedoch wird auch zum<br />
Reinigen und Kühlen verwendet, doch konnten<br />
hier in den letzten Jahren der Umwelt zuliebe<br />
deutliche Einsparungen erzielt werden. Wurden<br />
früher bis zu 25 Hektoliter, also 2500 Liter<br />
Frischwasser für <strong>die</strong> Produktion eines Hektoliters<br />
Bier benötigt, so sind es heute nur noch<br />
5 Hektoliter Frischwasser. Die Hefe bezieht <strong>das</strong><br />
Calwer-Eck von größeren Brauereien, der Hopfen<br />
hingegen kommt aus der Hallertau in Bay-<br />
ern. Reste, <strong>die</strong> nach dem Brauvorgang übrig<br />
bleiben, <strong>die</strong>nen als nährstoffreiches Tierfutter<br />
und werden abends in <strong>die</strong> Wilhelma ausgeliefert.<br />
Ein auch deutlich sichtbarer Unterschied<br />
zwischen dem Bier vom Calwer-Eck-Bräu und<br />
dem Bier industrieller Brauereien, wie Öttinger<br />
oder Hofbräu, besteht wohl darin, <strong>das</strong>s im<br />
Calwer-Eck ausschließlich unfiltriertes, also naturtrübes<br />
Bier produziert wird. Und auch hierin<br />
kann man sich von anderen Gaststätten, <strong>die</strong><br />
ausschließlich Bier von großen Brauereien verkaufen,<br />
deutlich unterscheiden. Natürlich <strong>ist</strong><br />
<strong>das</strong> Brauen relativ kleiner Biermengen wie im<br />
Calwer-Eck im Zweifel teurer als <strong>die</strong> Herstellung<br />
in Großbrauereien, und <strong>die</strong>ser Kostennachteil<br />
kann auch dadurch nicht vollständig ausgeglichen<br />
werden, <strong>das</strong>s der Aufwand für Transportkosten<br />
und für den von den Herstellern und<br />
Händlern kalkulierten Gewinn entfällt. Dafür<br />
sind <strong>die</strong> Gäste aber gerne bereit, für ein Glas<br />
Bier aus der Hausbrauerei ein paar Cent mehr<br />
zu bezahlen.<br />
Braume<strong>ist</strong>er Jürgen Hartl <strong>ist</strong> zuständig<br />
für <strong>die</strong> Qualität des hauseigenen Bieres.<br />
Daher hat sich <strong>die</strong> Idee, den Gästen ein kühles<br />
Bier aus der hauseigenen Brauerei zu servieren,<br />
inzwischen schon zu einem richtigen Markt<br />
entwickelt. Im Internet werden heute schon<br />
schlüsselfertige Hausbrauereien angeboten.<br />
Für eine kleine Brauerei mit einer Jahreskapazität<br />
von 500 Hektolitern, <strong>die</strong> ca. 40 m² Platz<br />
benötigt, müssen rund 100.000 Euro in <strong>die</strong><br />
Anlagentechnik investiert werden. Und wer<br />
Kahle Wände, von denen der Putz bereits ab-<br />
bröckelt. Akten und Ordner, <strong>die</strong> sich auf den<br />
Regalen dicht an dicht reihen und sich über<br />
dem alten Holzschreibtisch mit passendem<br />
Holzstuhl verteilen. So sahen <strong>die</strong> Büros der Zentralen<br />
Stelle der Landesjustizverwaltung zur<br />
Aufklärung nationalsozial<strong>ist</strong>ischer Verbrechen<br />
aus, als Kurt Schrimm sie <strong>das</strong> erste Mal betrat.<br />
„Es sieht aus wie vor hundert Jahren. Und sehen<br />
Sie? Es durfte noch geraucht werden“, stellt<br />
er mit einem kleinen Schmunzeln fest. Auf dem<br />
Schreibtisch steht neben der Schreibmaschine<br />
ein alter Aschenbecher aus dickem Glas. Auch<br />
gab es bis vor neun Jahren keinen PC im Haus,<br />
nur Karteien. Karteien, <strong>die</strong> unendliches Leid<br />
beinhalten: <strong>die</strong> grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus.<br />
Eines <strong>die</strong>ser Verbrechen sollte im „Ulmer Einsatzkommando-Prozess“<br />
gesühnt werden, doch<br />
während des Prozesses entdeckte man eine Gesetzeslücke,<br />
<strong>die</strong> zur Gründung der Zentralen<br />
Stelle führte. Es gab damals Hinweise auf weitere<br />
Verbrechen <strong>die</strong>ser Art. Unter anderem in<br />
Konzentrationslagern in vom ehemaligen Deutschen<br />
Reich besetzten Ländern.<br />
Da aber ein Staatsanwalt nur für einen lokalen<br />
Bereich zuständig <strong>ist</strong>, konnten Verbrechen,<br />
besonders Massenverbrechen, <strong>die</strong> außerhalb<br />
Deutschlands stattfanden, nicht verfolgt werden.<br />
Daher wurde im Jahr 1958 <strong>die</strong> Zentrale<br />
Stelle gegründet. Ihr Zuständigkeitsbereich<br />
erstreckt sich über alle Länder der Welt. Ihre<br />
Aufgabe <strong>ist</strong> es, überall dort zu ermitteln, wo<br />
Verbrechen begangen wurden oder wohin <strong>die</strong><br />
Täter geflohen sind.<br />
Für <strong>die</strong> Bundesrepublik besteht eine Wiedergutmachungspflicht.<br />
Diese verpflichtet sie, eine<br />
Straftat für <strong>die</strong> noch lange leidenden Opfer zu<br />
rächen.<br />
Trotzdem wird der Justiz immer wieder vorgeworfen,<br />
sie hätte zu wenig gegen <strong>die</strong> NS-Verbrechen<br />
getan. „Das Ausland sieht <strong>das</strong> aber ganz<br />
anders“, sagt der Leiter der Zentralen Stelle,<br />
Kurt Schrimm, und fügt hinzu: „Normalerweise<br />
ermitteln <strong>die</strong> Siegermächte, und nicht der Verlierer<br />
gegen sich selbst.“<br />
Doch <strong>das</strong> Ziel der Ermittlungen <strong>ist</strong> nicht unbedingt<br />
<strong>die</strong> Bestrafung der Verbrecher. So sagte<br />
eine alte Jüdin, <strong>die</strong> von Polen nach Amerika<br />
geflohen war, zu Kurt Schrimm einmal: „Auf<br />
<strong>die</strong>sen Tag habe ich gewartet.“ Egal ob ein Täter<br />
gefasst wird oder nicht, Hauptsache <strong>die</strong> Menschen<br />
zeigen Interesse an den vielen grausamen<br />
Taten und ihren Opfern.<br />
sich eine solche Hausbrauerei in <strong>die</strong> Gaststätte<br />
stellt, macht <strong>die</strong>s nur, wenn es sich unter dem<br />
Strich lohnt.<br />
Inzwischen <strong>ist</strong> es Abend geworden, in der Brauerei<br />
laufen noch <strong>die</strong> letzen Aktionen des Tages,<br />
<strong>das</strong> gebraute Bier wurde inzwischen in <strong>die</strong><br />
Tanks im Keller umgepumpt, in denen es nun<br />
zwischen zwei und drei <strong>Wo</strong>chen reift, je nach<br />
Bedarf. Und auch <strong>die</strong> Gaststätte füllt sich all-<br />
Delia Soder<br />
Die nazi-Jäger<br />
Ein Besuch in der Zentralen Stelle<br />
der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung<br />
nationalsozial<strong>ist</strong>ischer Verbrechen<br />
in Ludwigsburg<br />
Zu den spektakulärsten Fällen zählten <strong>die</strong><br />
1963/64 stattfindenden Auschwitzprozesse, sowie<br />
der Majdanekprozess, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Zentrale<br />
Stelle in Gang gesetzt wurden. Durch deren Größe<br />
und <strong>die</strong> vielen Zeugen erfuhr <strong>die</strong> Öffentlichkeit<br />
erstmals Näheres über <strong>die</strong> Grausamkeiten<br />
und Massenverbrechen der Nationalsozial<strong>ist</strong>en<br />
und <strong>die</strong> Arbeit der Zentralen Stelle.<br />
Früher begann eine Ermittlung durch einen<br />
Anfangsverdacht. Man versuchte den oder <strong>die</strong><br />
Verdächtigen durch Akten des betroffenen Konzentrationslagers<br />
zu ermitteln. War <strong>die</strong>s erfolgreich,<br />
so wurden Zeugen gesucht und zu dem<br />
ausstehenden Prozess geladen.<br />
Heute gibt es in Deutschland keine Verbrechen<br />
mehr zu ermitteln. Und durch einen konkreten<br />
Namen in einer KZ-Akte <strong>ist</strong> niemand mehr zu<br />
Von <strong>die</strong>sem Gebäude in Ludwigsburg aus<br />
machen Kurt Schrimm und seine Mitarbeiter<br />
Jagd auf Nazi-Verbrecher.<br />
© Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg<br />
mählich wieder, und auch heute, mitten unter<br />
der <strong>Wo</strong>che, glaubt man wieder an ein volles<br />
Haus und einen großen Ausschank.<br />
Denn rechnet man <strong>die</strong> gesamte Produktionsmenge<br />
seit Gründung der „1. Stuttgarter Lokalbrauerei“<br />
auf <strong>die</strong> Stuttgarter Bevölkerung<br />
um, hat innerhalb all <strong>die</strong>ser Jahre jeder Stuttgarter<br />
schon weit über zehn Gläser Calwer-Eck-<br />
Bräu getrunken – zum <strong>Wo</strong>hl!<br />
finden. Das kann daran liegen, <strong>das</strong>s es in einigen<br />
Ländern, wie der Ukraine, Russland oder Weißrussland,<br />
kaum schriftliche Aufzeichnungen<br />
gibt. Die einzigen Belege für einen möglichen<br />
Täter liefern <strong>die</strong> Anklagen und Prozesse nach<br />
einer Kriegsgefangenschaft des Verdächtigen in<br />
<strong>die</strong>sen Ländern. Andere NS-Verbrecher ließen<br />
sich falsche Ausweise vom Roten Kreuz erstellen,<br />
um ungehindert nach Südamerika auswandern<br />
zu können.<br />
So sind <strong>die</strong> Ermittler von Ludwigsburg acht bis<br />
zehn <strong>Wo</strong>chen im Jahr für Untersuchungen im<br />
Ausland unterwegs. Neben den ermittelnden<br />
vier Richtern und zwei Staatsanwälten arbeiten<br />
ein Polizeibeamter, sowie zwölf weitere Personen<br />
in der Zentralen Stelle. Für <strong>die</strong> internationale<br />
Verständigung sorgen Dolmetscher, <strong>die</strong><br />
für eine gewisse regionale Arbeitsteilung verantwortlich<br />
sind. Die übrigen Mitarbeiter sind<br />
für <strong>die</strong> 1,6 Millionen Karten der Kartei zuständig,<br />
<strong>die</strong> oftmals auch als Hilfe für <strong>die</strong> Staatsanwaltschaft<br />
<strong>die</strong>nt, falls <strong>die</strong>se auch ermittelt.<br />
Die Zentrale Stelle beschafft <strong>die</strong> Dokumente,<br />
<strong>die</strong> sie als Beweismaterial für wichtig hält,<br />
selbst. Doch Zeugenvernehmungen werden<br />
auch von der Polizei übernommen. Nach den<br />
Ermittlungen wird ein Fall an <strong>die</strong> Staatsanwaltschaft<br />
weitergegeben, da <strong>die</strong> Zentrale<br />
Stelle keine Anklagekompetenz besitzt. Trotz-<br />
dem werden Kollegen von Kurt Schrimm öfters<br />
als Fachkundige zu Prozessen geladen. Er selbst<br />
führte Prozesse gegen nationalsozial<strong>ist</strong>ische<br />
Verbrecher. Ein solcher Prozess kann ein bis<br />
fünf Jahre dauern.<br />
Augenzeugenberichte seien oft schwer zu ertragen,<br />
erzählt Kurt Schrimm, „aber <strong>das</strong> darf nicht<br />
ans Herz gehen, sonst geht´s nicht“. Er hatte<br />
Kollegen, <strong>die</strong> es nicht schafften, ihre Arbeit<br />
vom Privaten zu trennen und deshalb nach ein<br />
oder zwei Monaten ihren Beruf aufgaben.<br />
Doch was <strong>die</strong> Ermittler von Ludwigsburg aufdecken,<br />
wird auf Karteien festgehalten. Diese<br />
Karteien werden nach der Auflösung der Zentralen<br />
Stelle zur Staatsanwaltschaft gebracht.<br />
Sie sollen niemals verloren gehen, so<strong>das</strong>s ihr<br />
Inhalt nie vergessen wird. Die Auflösung <strong>ist</strong> jedoch<br />
absehbar: Eines Tages wird es nichts mehr<br />
zu ermitteln geben. Länder wie Italien oder <strong>die</strong><br />
Ukraine sind im Gegensatz zu Russland und<br />
Brasilien bereits abgearbeitet. Daher vermutet<br />
Kurt Schrimm, <strong>das</strong>s es wohl nach seiner Pensionierung<br />
in fünf Jahren keinen Nachfolger<br />
mehr für ihn geben wird: „Aber man kann nie<br />
wissen.“
Seite 6 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 7<br />
Veronika Sinnig<br />
Menschenretter<br />
mit gutem<br />
Spürsinn und<br />
vier Beinen<br />
Auf dem Parkplatz neben dem Waldfriedhof<br />
stechen <strong>die</strong> grell orange leuchtenden einsatzfahrzeuge<br />
des roten Kreuzes aus dem<br />
mit Schnee bedeckten Wald heraus. es <strong>ist</strong><br />
kalt, doch <strong>das</strong> hindert weder <strong>die</strong> menschlichen<br />
noch <strong>die</strong> vierbeinigen Mitglieder der<br />
rettungshundestaffel Stuttgart daran, zum<br />
vereinbarten trainingsgelände zu kommen.<br />
Während <strong>die</strong> Hunde noch in ihren Boxen warten,<br />
wird <strong>die</strong> erste Suche organisiert. Dafür<br />
werden zwei Versteckpersonen, Figuranten<br />
genannt, benötigt, sowie eine Person, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
geeigneten Verstecke auswählt und dann <strong>das</strong><br />
Startsignal zur Suche geben kann. Diese Aufgabe<br />
übernehmen normalerweise <strong>die</strong> Ausbilder,<br />
doch heute macht <strong>das</strong> Annika Rösner, um für<br />
<strong>die</strong> im April anstehende Prüfung gewappnet<br />
zu sein. Mit ihren 22 Jahren <strong>ist</strong> sie eines der<br />
jüngsten Mitglieder. Der etwas stämmige Ilhan<br />
Ayaydin (32) und Gisela Becker (48) haben sich<br />
bereit erklärt, <strong>die</strong> ersten Figuranten zu sein.<br />
Ausgerüstet mit zwei dunkelgrünen Schlafsäcken<br />
und Isomatten laufen sie gutgelaunt mit<br />
Annika Rösner zusammen in den Wald.<br />
Die Anderen müssen bei den Fahrzeugen warten,<br />
damit sie <strong>die</strong> Verstecke nicht kennen. Doch<br />
Annika bleibt mit ihnen über Funk in Kontakt.<br />
So kann ein echter Einsatz möglichst real nachgestellt<br />
werden. Nach ca. 100 Metern schickt<br />
Annika Rösner Gisela Becker rechts neben den<br />
Weg ins Gestrüpp. Dort steigt sie in den Schlafsack<br />
und kauert sich hinter ein paar Baumstämme.<br />
200 Meter weiter wird auch Ilhan Ayaydin<br />
ins Gestrüpp geschickt. Das Einsteigen in den<br />
Schlafsack <strong>ist</strong> gar nicht so einfach. Geschafft.<br />
Dann gibt Annika per Funk <strong>das</strong> Signal, <strong>das</strong>s<br />
sich <strong>das</strong> erste Team, bestehend aus einem Rettungshundeführer<br />
und einem Rettungshund,<br />
auf den Weg zur Schranke machen kann, <strong>die</strong> als<br />
Startpunkt vorher ausgewählt wurde.<br />
Tina Hauser (49), eine zierliche Brünette mit<br />
Brille und einem freundlichen Lächeln, macht<br />
mit ihrer schon neunjährigen blonden Labradorhündin<br />
Aika den Anfang. „Ein Pärchen wird<br />
vermisst. Spaziergänger haben beobachtet, wie<br />
es sich gestritten hat, und dort unten an der<br />
Wegkreuzung haben sie sich getrennt. Auf der<br />
linken Seite des Weges wird <strong>das</strong> Suchgebiet vom<br />
Friedhofszaun eingegrenzt.“<br />
Das sind <strong>die</strong> einzigen Informationen, <strong>die</strong> Tina<br />
Hauser für <strong>die</strong> Suche von Annika Rösner erhält.<br />
Jetzt legt sie Aika, <strong>die</strong> schon aufgeregt<br />
mit dem Schwanz wedelt, ein Ledergeschirr an,<br />
woran ein kleines Glöckchen befestigt wurde:<br />
„Damit wir <strong>die</strong> Hunde auch nachts hören können.“<br />
Das Anlegen des Geschirrs <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Signal<br />
für den Hund: Gleich beginnt <strong>die</strong> Suche. Doch<br />
bevor Tina Hauser Aika los schickt, lässt sie <strong>die</strong><br />
Hündin in Richtung Suchgelände Sitz machen,<br />
beugt sich runter und zeigt in <strong>die</strong> Richtung, in<br />
der Aika suchen soll.<br />
Dann leint sie Aika ab und spricht <strong>das</strong> erlösende<br />
„Such Aika“. Sofort rennt <strong>die</strong> Hündin<br />
los, aber nicht geradeaus, sondern nach rechts.<br />
Von den Rufen ihres Frauchens unbeeindruckt,<br />
bahnt Aika sich den Weg durchs Gestrüpp, <strong>das</strong><br />
klingelnde Glöckchen begleitet sie. Schon nach<br />
wenigen Sekunden ertönt ein lautes Bellen.<br />
Tina rennt in <strong>die</strong>se Richtung und findet Gisela<br />
Becker, <strong>die</strong> nun Aika ihre Bestätigung gibt:<br />
Wurststückchen aus einer kleinen Tupperbox.<br />
Dann spielt Gisela ein wildes Zerrspiel mit Aika.<br />
„Es <strong>ist</strong> ganz wichtig, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Figuranten <strong>die</strong><br />
Hunde richtig belohnen, damit <strong>die</strong> Hunde lernen,<br />
<strong>das</strong>s es sich lohnt, nach Menschen zu suchen.<br />
Auch nach jedem echten Einsatz wird für<br />
<strong>die</strong> Hunde eine kurze Erfolgssuche mit unseren<br />
Figuranten gemacht. So bleibt <strong>die</strong> Motivation<br />
bei den Hunden hoch.“ Das erklärt Tina Hauser.<br />
„Aika <strong>ist</strong> schon sehr erfahren und arbeitet<br />
ziemlich selbstständig. Der Wind hat Giselas<br />
Geruch in unsere Richtung getragen, deshalb<br />
wusste Aika genau, wohin sie rennen musste,<br />
schon bevor ich sie los geschickt hatte. Manchmal<br />
<strong>ist</strong> sie aber auch zu selbstständig. Einmal<br />
<strong>ist</strong> sie auf ihrer Suche so weit von mir weggerannt,<br />
<strong>das</strong>s ich ihr Bellen gar nicht mehr hören<br />
konnte.“<br />
Jetzt geht <strong>die</strong> Suche aber noch weiter, denn<br />
<strong>die</strong> zweite Person muss auch gefunden werden.<br />
Kein Problem für Aika, auch Ilhan Ayadin findet<br />
sie nach kurzer Zeit. Per Funk muss jetzt nach<br />
dem Fund der „Vermissten“ der Staffelleitung<br />
Bescheid gegeben werden. Auch meldet Annika,<br />
<strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> nächste Team zur Schranke<br />
aufmachen kann. Auf dem Weg zurück trottet<br />
Aika langsam hinterher. „Man darf <strong>das</strong> nicht<br />
unterschätzen. Für uns war <strong>das</strong> gerade ein kleiner<br />
Spaziergang, aber der Hund <strong>ist</strong> <strong>die</strong> ganze<br />
Zeit gerannt und hat konzentriert gesucht. Das<br />
<strong>ist</strong> sowohl körperlich als auch ge<strong>ist</strong>ig anstrengend“,<br />
bemerkt Annika.<br />
Als nächstes sind Jörg Ulmer (39) und seine<br />
vitale, vierjährige, schwarze Labradorhündin<br />
Leyha mit der Suche an der Reihe. Der Unterschied<br />
zu Aikas Suchverhalten <strong>ist</strong> deutlich erkennbar:<br />
Leyha schaut immer wieder zu Jörg<br />
und läuft zu ihm zurück, woraufhin Jörg sie<br />
wieder zum Suchen schickt. Als Leyha dann<br />
Ilhan findet, bellt sie kurz, läuft aber wieder<br />
zu Jörg zurück. „Leyhas größtes Problem <strong>ist</strong>,<br />
<strong>das</strong>s sie nicht beim Figuranten bleibt“, meint<br />
Annika Rösner. Nach der dritten Suche wird<br />
Ilhan in seinem Versteck abgelöst, damit er<br />
auch mit seiner Hündin trainieren kann.<br />
Ein Besuch beim Training<br />
der Rettungshundestaffel Stuttgart Bei manchen Einsätzen <strong>ist</strong> <strong>die</strong> psychische<br />
Belastung für <strong>die</strong> ehrenamtlichen Helfer<br />
extrem hoch, trotzdem opfern sie gern<br />
ihre Freizeit, um Anderen zu helfen.<br />
Auf dem Weg zu den Fahrzeugen erzählt er:<br />
„Alle Rettungshundeführer arbeiten ehrenamtlich,<br />
aber es <strong>ist</strong> schon mehr als nur ein Hobby.<br />
Erstmal <strong>ist</strong> der Zeitaufwand für <strong>das</strong> Training<br />
sehr groß. Wir trainieren jeden Mittwoch und<br />
Samstag. Dann muss jeder Hundeführer eine<br />
Ausbildung zum Rettungssanitäter machen, und<br />
<strong>die</strong> Rettungshundeprüfung muss alle 18 Monate<br />
wiederholt werden. Außerdem kann man eben<br />
nicht planen, wann ein Einsatz stattfindet. Da<br />
kommt es öfters vor, <strong>das</strong>s man sich zum Beispiel<br />
am <strong>Wo</strong>chenende von der Arbeit entspannen<br />
will, und plötzlich wird man mit einer SMS<br />
zu einem Einsatz gerufen.“<br />
Auch <strong>Wo</strong>lfgang Straub (54), Gründer und Leiter<br />
der Hundestaffel Stuttgart, weiß, <strong>das</strong>s sich<br />
nicht jeder für <strong>die</strong>se Tätigkeit eignet: „Die<br />
emotionale Belastung <strong>ist</strong> oft sehr hoch. Als ein<br />
ehemaliger Hundeführer mit seinem Hund einen<br />
Toten aufgefunden hatte, nahm ihn <strong>die</strong>ses<br />
Erlebnis psychisch so mit, <strong>das</strong>s er <strong>die</strong> Arbeit in<br />
der Rettungshundestaffel nicht mehr weiterführen<br />
konnte. Die häufigsten Einsätze aber<br />
sind vermisste, ältere Menschen, dann auch<br />
Jogger, Mountainbiker oder Reiter, <strong>die</strong> wir im<br />
Wald suchen müssen. Doch <strong>das</strong> Tolle an <strong>die</strong>ser<br />
Arbeit <strong>ist</strong> nicht nur eine sinnvolle Beschäftigung<br />
mit dem Hund, sondern auch, <strong>das</strong>s man<br />
nette Menschen kennen lernt.“<br />
Mittlerweile sind schon fünf Stunden vergangen,<br />
und <strong>das</strong> letzte Team hat seine Suche<br />
absolviert. Bei manchen frieren schon <strong>die</strong> Füße,<br />
doch um <strong>die</strong> Prüfung in zwei Monaten bestehen<br />
zu können, <strong>ist</strong> regelmäßiges Training notwendig,<br />
egal bei welchem Wetter.<br />
Erfahrene Retterin: Aika <strong>ist</strong> darauf trainiert,<br />
Menschen aufzuspüren, <strong>die</strong> vermisst werden.<br />
Es herrscht eine vertraute Atmosphäre in der<br />
Schule. Jeder scheint hier jeden zu kennen.<br />
Auch <strong>die</strong> Lehrer kennen nicht nur <strong>die</strong>jenigen<br />
Schüler, <strong>die</strong> sie unterrichten. Zurzeit gibt es<br />
hier 90 Schülerinnen und Schüler von den Klassen<br />
eins bis neun, sowie 16 Lehrerinnen und<br />
Lehrer.<br />
In <strong>die</strong> <strong>die</strong>sjährige 6. Klasse gehen 10 Kinder im<br />
Alter von 11 bis 14 Jahren aus insgesamt sieben<br />
verschiedenen Nationen, zwei von ihnen sind<br />
Deutsche. Jeder Schüler sitzt alleine an einem<br />
Tisch. An den Wänden hängen bunte Bilder,<br />
größtenteils von den Kindern selbst gemalt,<br />
sowie eine Deutschlandkarte. Die me<strong>ist</strong>en<br />
Schüler kommen aus sozial schwachen Familien,<br />
nur wenige Eltern kümmern sich richtig<br />
um sie. Die Berger Schule <strong>ist</strong> eine Förderschule<br />
für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten.<br />
Als sich <strong>die</strong> Sechstklässler mit ihrer Klassenlehrerin<br />
Karin Reichert noch über <strong>das</strong> <strong>Wo</strong>chenende<br />
unterhalten, geht <strong>die</strong> Türe auf und <strong>die</strong><br />
Klassensprecher Kevin, Ronza und Ben kommen<br />
herein. Denn gerade war Schülersprecherwahl.<br />
Die 14-jährige Ronza verkündet <strong>das</strong> Ergebnis:<br />
„Erster Schulsprecher <strong>ist</strong> Hassan, Zweite <strong>ist</strong><br />
Dilek und Dritter <strong>ist</strong> Abdullah.“ Allgemeines<br />
Gemurmel geht durch <strong>die</strong> Klasse. Die 13-jährige<br />
Sefkije meint: „Dilek <strong>ist</strong> OK, aber Hassan<br />
und Abdullah schlagen immer!“ Auch <strong>die</strong> anderen<br />
Schüler sind wenig bege<strong>ist</strong>ert von dem<br />
Wahlergebnis. Doch Karin Reichert möchte erst<br />
einmal den Begriff SMV klären. Das gab es nämlich<br />
bisher noch nicht an der Berger Schule. Die<br />
Schüler raten: „Schulgemeinschaft“, „Schul…“<br />
– Nachdem Frau Reichert ein bisschen auf <strong>die</strong><br />
Sprünge hilft, kommt Vildan schließlich auf<br />
„Schülermitverantwortung!“ Das erste, was <strong>die</strong><br />
Schüler sich von der SMV versprechen <strong>ist</strong>: „Länger<br />
Pause!“ Sie sehen jedoch schnell ein, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> gar nicht so toll <strong>ist</strong>, da sie dann länger in<br />
der Schule bleiben müssten.<br />
Nachdem der Begriff SMV ausführlich geklärt<br />
wurde, geht es mit dem Deutschunterricht weiter.<br />
Edita soll <strong>die</strong> Lesemappen austeilen. In den<br />
Schnellheftern <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Geschichte vom Erfinder<br />
der Blindenschrift, Louis Braille, abgeheftet.<br />
Jedes Kind soll einen Abschnitt daraus vorlesen.<br />
Die Me<strong>ist</strong>en lesen etwas stockend, und<br />
manchmal fragt jemand dazwischen: „<strong>Wo</strong> sind<br />
wir?“ Jedes für <strong>die</strong> Kinder schwierige <strong>Wo</strong>rt, wie<br />
zum Beispiel Schüttelfrost, Tuberkulose oder<br />
Organ<strong>ist</strong> wird von Karin Reichert ausführlich<br />
erklärt. Dadurch wird öfter vom eigentlichen<br />
Thema abgeschweift. Sefkije erzählt dann zum<br />
Beispiel, <strong>das</strong>s sie auch mal Fieber und Schüttelfrost<br />
hatte, und Vildan möchte auch etwas erzählen,<br />
hört damit aber überhaupt nicht mehr<br />
auf. Am Ende weiß sie wahrscheinlich selbst<br />
nicht mehr, was sie sagen wollte und <strong>die</strong> anderen<br />
haben auch nichts verstanden. Trotzdem<br />
hört <strong>die</strong> Lehrerin zu, nickt und bricht Vildans<br />
Redeschwall schließlich höflich ab: „Aha, gut,<br />
dann lesen wir jetzt mal weiter.“ Nachdem jedes<br />
Kind einen Abschnitt gelesen hat, <strong>ist</strong> große<br />
Pause.<br />
Kathrin Österle<br />
Jedes Kind hat<br />
seine Stärken<br />
und Schwächen<br />
In der Berger Schule in Stuttgart läuft der<br />
Unterricht anders ab als an anderen Schulen<br />
Danach geht es mit Mathe weiter. Karin Reichert<br />
ruft ein paar Schüler auf, <strong>die</strong> eine Reihe<br />
aus dem kleinen Einmaleins aufsagen müssen.<br />
Bei den Einen klappt <strong>das</strong> schon ganz gut, Andere<br />
haben noch Schwierigkeiten. Deshalb betont<br />
<strong>die</strong> Lehrerin, <strong>das</strong>s jedes Kind seine Stärken und<br />
Schwächen habe: „Ben <strong>ist</strong> gut in Mathe, kann<br />
aber nicht gut lesen, Vildan dagegen kann gut<br />
schreiben, wunderbar malen, <strong>ist</strong> aber schlecht<br />
in Mathe.“<br />
Dann teilt Karin Reichert ein Blatt mit Übungen<br />
zum kleinen Einmaleins aus. Alle machen konzentriert<br />
ihre Aufgaben. Manchmal flüstert jemand<br />
oder spickt ein bisschen bei den Anderen.<br />
„Kein Geschmotze bitte, schön muss es aussehen“,<br />
mahnt <strong>die</strong> Lehrerin. Außerdem verlangt<br />
sie, <strong>das</strong>s nächstes Jahr, in der 7. Klasse, alle <strong>das</strong><br />
kleine Einmaleins beherrschen, Plus und Minus<br />
rechnen, und außerdem gut lesen können. Wer<br />
in der Stunde nicht mit dem Blatt fertig wurde,<br />
muss es als Hausaufgabe machen.<br />
Das nächste Fach <strong>ist</strong> WZG (Welt-Zeit-Gesellschaft).<br />
Es geht um eine Reise von Sylt nach<br />
Garmisch. Derya soll an <strong>die</strong> Tafel kommen und<br />
auf der Karte zeigen, wo Sylt liegt. Etwas verunsichert<br />
zeigt sie auf <strong>die</strong> Nordsee, rutscht<br />
ein bisschen mit dem Finger herum und findet<br />
schließlich Sylt. Danach soll Kevin noch etwas<br />
vorlesen. Da es jedoch sehr unruhig in der Klasse<br />
wird und <strong>die</strong> Konzentration nachlässt, beendet<br />
<strong>die</strong> Klassenlehrerin heute etwas früher als<br />
sonst den Unterricht.<br />
Nach dem Unterricht möchte <strong>die</strong> 13-jährige Vildan<br />
ihr noch <strong>die</strong> Bilder zeigen, <strong>die</strong> sie in der<br />
Kunst-AG gemalt hat. Sie geht dort jeden Don-<br />
nerstag nach der Schule mit großer Bege<strong>ist</strong>erung<br />
hin. Im Schulhaus wurden einige ihrer<br />
Kunstwerke aufgehängt, und sie <strong>ist</strong> sehr stolz<br />
darauf.<br />
An drei Tagen der <strong>Wo</strong>che wird in der Berger<br />
Schule ein preiswertes Mittagessen angeboten,<br />
welches Martina Höschele, Hauswirtschafts-,<br />
TW-, und Sportlehrerin, mit Schülern der 9.<br />
Klasse kocht. Fast alle aus der Klasse essen dort<br />
und es schmeckt ihnen. An zwei Tagen der <strong>Wo</strong>che<br />
werden <strong>die</strong> Schüler außerhalb der Schule<br />
auch nachmittags betreut. Bis zur fünften Klasse<br />
gehen <strong>die</strong> Kinder dann nach der Schule ins<br />
Spielhaus, <strong>die</strong> Sechst- und Siebtklässler gehen<br />
ins Jugendhaus-Ost, und <strong>die</strong> Acht- und Neuntklässler<br />
gehen ins Werkstatthaus. Außerdem<br />
wird von Schülern des Heidehof-Gymnasiums<br />
Hausaufgabenbetreuung und Englischnachhilfe<br />
angeboten.<br />
Bis zur neunten Klasse kann man <strong>die</strong> Berger<br />
Schule besuchen. Anschließend kann ein Berufsvorbereitungsjahr<br />
an der Max-Eyth-Schule<br />
folgen. Ziel <strong>ist</strong> es, dort den Hauptschulabschluss<br />
zu schaffen. Vildan will später mal<br />
Krankenschwester oder Lehrerin werden „aber<br />
<strong>das</strong> ändert sich vielleicht noch, wenn ich älter<br />
bin“. Sefkije will Kassiererin oder Frisörin werden,<br />
Serhan Frisör. Die Anderen wissen es noch<br />
nicht.<br />
Karin Reichert <strong>ist</strong> 56 Jahre alt und unterrichtet<br />
seit 1999 an der Berger Schule. Sie hat sechs<br />
Semester Grund- und Hauptschullehrerin an der<br />
PH stu<strong>die</strong>rt und anschließend 4 Semester ein<br />
Zusatzstudium, welches sie zur Sonderschullehrerin<br />
ausbildete. Heute müsste man gleich Sonderpädagogik<br />
stu<strong>die</strong>ren, erklärt sie. Ihren Beruf<br />
mache sie gerne, „es <strong>ist</strong> immer sehr kurzweilig<br />
und macht sehr viel Spaß“. Aber anstrengend<br />
findet sie es trotzdem. „Mir <strong>ist</strong> wichtig, <strong>das</strong>s<br />
<strong>die</strong> Kinder mit Eifer und Spaß lernen und ihre<br />
eigene Le<strong>ist</strong>ung wertschätzen. Und <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Eltern<br />
sehen, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> Kind anstrengt, auch<br />
wenn <strong>die</strong> Geschw<strong>ist</strong>er an Regelschulen sind“,<br />
meint sie.<br />
Die Schüler der 6. Klasse sind alle motiviert<br />
und geben ihr Bestes, <strong>das</strong> erkennt Karin Reichert<br />
sehr an und sie <strong>ist</strong> zuversichtlich, <strong>das</strong>s<br />
jeder von ihnen einmal einen Beruf ausüben<br />
wird.<br />
In der 6. Klasse der Berger Schule sind insgesamt sieben Nationalitäten vertreten.
Seite 8 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 9<br />
Auch noch im hohen Alter gesund durchs Leben<br />
zu gehen, wird heutzutage zum Ziel vieler<br />
Menschen. Dafür <strong>ist</strong> man auch bereit, sich auf<br />
Fitnessgeräten zu quälen oder den täglichen<br />
Versuchungen beim Essen und Trinken zu widerstehen.<br />
Deshalb sind vor allem Diäten und<br />
Ernährungstipps groß in Mode. Eine der ältesten<br />
Entschlackungs- und Reduktionsdiäten<br />
<strong>ist</strong> <strong>das</strong> Heilfasten. Schon Hippokrates (460-370<br />
v.Chr.) schwor auf <strong>das</strong> Fasten als Heilmittel:<br />
„Wer stark, gesund und jung bleiben will,<br />
sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft<br />
und heile sein Weh eher durch Fasten<br />
als durch Medikamente.“<br />
Doch wer kann sich schon vorstellen, fünf Tage<br />
lang rund um <strong>die</strong> Uhr nichts zu essen? Ist es<br />
schwierig, eine solche Heilfastenwoche auszuhalten?<br />
Macht Fasten tatsächlich fit?<br />
Um <strong>die</strong>se Fragen zu beantworten, entschloss<br />
ich mich, in den Faschingsferien eine solche<br />
Fastenwoche durchzuführen. Wie es mir dabei<br />
erging, hielt ich protokollarisch fest und verfasste<br />
<strong>die</strong>sen Artikel.<br />
Am Anfang einer Fastenkur steht <strong>die</strong> ausführliche<br />
Information über eventuelle Risiken und<br />
ob <strong>die</strong> eigene körperliche Verfassung <strong>das</strong> Fasten<br />
zulässt. Da ich keine besonderen Krankheiten<br />
oder Beeinträchtigungen habe und deswegen<br />
auch keine Medikamente einnehmen muss,<br />
konnte ich mit dem Fasten beginnen. Der erste<br />
Schritt war <strong>die</strong> Ausarbeitung meines Fastenprogramms<br />
nach Buchinger und Lützner (siehe<br />
Tabelle).<br />
Während der gesamten Fastenzeit durfte ich so<br />
viel stilles Mineralwasser und Tee trinken, wie<br />
ich wollte.<br />
entlastungstag: Sonntag, 22. Februar 2009.<br />
Heute beginne ich meine Fastenwoche. Um meinen<br />
Magen-Darm-Trakt auf <strong>die</strong> bevorstehende<br />
Nahrungskarenz vorzubereiten, darf ich den<br />
ganzen Tag nur ca. 250g gekochten Reis mit<br />
ein wenig ungesüßtem Apfelmus essen. Morgens<br />
bin ich noch stark und denke, es wird<br />
kein Problem, doch <strong>das</strong>s heute der Geburtstag<br />
meiner Schwester <strong>ist</strong>, macht es mir nicht grade<br />
leicht. Denn während meine Familie schon<br />
mittags anfängt, Kuchen zu schlemmen, hocke<br />
ich vor meiner Schüssel Reis. Doch mit ein wenig<br />
Überwindungskraft schaffe ich es gut durch<br />
den Tag. Allerdings gehe ich früh ins Bett, da<br />
meine Eltern mit meiner Schwester und ihrer<br />
Austauschschülerin aus Italien zur Feier des<br />
Tages in eines meiner Lieblingsrestaurants zum<br />
Essen gehen.<br />
Maximilian Kuhn<br />
Qual oder Bewusstseins-<br />
erweiterung?<br />
Heilfasten – ein Selbstversuch.<br />
fastentag 1: Der Sauerkrautsaft gleich nach<br />
dem Aufstehen trifft mich hart, und <strong>das</strong> auch<br />
noch in den Ferien! Doch er tut seine Wirkung<br />
und ich spüre allmählich den Drang, <strong>die</strong> Toilette<br />
aufzusuchen. Durch ein wenig Lesen und<br />
Internetsurfen versuche ich mich abzulenken<br />
und <strong>die</strong> Zeit zur nächsten Mahlzeit zu überbrücken.<br />
Diese besteht allerdings leider nur aus einer<br />
warmen Gemüsebrühe, welche nicht gerade<br />
besonders sättigend <strong>ist</strong>. Gegen Spätnachmittag<br />
<strong>ist</strong> meine Psyche von Müdigkeit, Langeweile<br />
und dem Knurren meines Magens beherrscht,<br />
jedoch finde ich keine Motivation, an <strong>die</strong> frische<br />
Luft zu gehen oder Freunde zu treffen, um<br />
mich abzulenken. Und so verbringe ich den Rest<br />
des Tages mit einem Buch im Bett. Abends gibt<br />
es noch mal eine Portion Gemüsebrühe und ein<br />
Glas Obstsaft – welche Gaumenfreude!<br />
fastentag 2: Vorsichtig öffne ich <strong>die</strong> Augen<br />
und denke mit Schrecken an <strong>die</strong> nächsten 12<br />
Stunden Hungern, <strong>die</strong> bis heute Abend noch vor<br />
mir liegen. Doch als ich aufstehe und mich ein<br />
wenig strecke, fühle ich mich erstaunlich wach<br />
und fit – fitter als an anderen Morgen ohne<br />
Hungern. Mein Speiseplan sieht heute nicht<br />
viel anders aus als gestern, doch wenigstens<br />
muss ich zum Frühstück nicht <strong>die</strong>sen furchtbaren<br />
Sauerkrautsaft hinunterwürgen. Meine<br />
Entlastungstag Re<strong>ist</strong>ag<br />
Motivation etwas zu unternehmen, <strong>ist</strong> aus unerfindlichen<br />
Gründen zurückgekehrt und ich<br />
beschließe, den Tag mit Freunden zu verbringen<br />
und nicht wieder von Morgens bis Abends<br />
in meinem Bett herumzuliegen. Als ich abends<br />
nach Hause komme, würde ich schon gerne etwas<br />
anderes essen als Gemüsebrühe, doch ich<br />
finde mich langsam mit der Situation ab.<br />
fastentag 3: Auf dem Fastenplan steht wieder<br />
Sauerkrautsaft zum Frühstück. Dieser tut wiederum<br />
prompt seine Wirkung, obwohl mir nicht<br />
klar <strong>ist</strong>, wie da noch etwas abgeführt werden<br />
kann. Jetzt geht es mir wirklich gut. Ich bin<br />
gut gelaunt und unternehmungslustig. Doch<br />
tagsüber <strong>ist</strong> nichts los und ich entscheide mich<br />
dazu, abends ein wenig mit Freunden auszugehen.<br />
Nach meiner allabendlichen Gemüsebrühe<br />
fahre ich also los in <strong>die</strong> Stadt, um mich dort mit<br />
ihnen zu treffen. Als wir eine Kneipe gefunden<br />
haben, kann ich jedoch nur ein stilles Wasser<br />
bestellen und muss natürlich sofort erklären,<br />
was mit mir los <strong>ist</strong> und ob ich gesund bin.<br />
fastentag 4: Ich bin fit und habe keinen Hunger,<br />
allerdings möchte ich mir ständig <strong>die</strong> Zähne<br />
putzen, da ich ständig einen komischen Geschmack<br />
im Mund habe.<br />
fastentag 5: Schon wieder Sauerkrautsaft, aber<br />
morgen <strong>ist</strong> der erste Aufbautag!<br />
Aufbautag 1: Nach dem morgendlichen Anis-<br />
Fenchel-Kümmeltee, welcher mich immer an<br />
Krankheitstage in meiner Kindheit erinnert,<br />
darf ich einen Apfel essen. Ein solches Erlebnis<br />
war es noch nie vorher für mich gewesen, einen<br />
Apfel zu essen. Wie saftig, knackig und frisch<br />
der Geschmack sich auf meiner Zunge entfaltet!<br />
Als ich mittags dann auch noch eine richtige<br />
Morgens Mittags Abends<br />
Fastentag 1 Darmentleerung Gemüsebrühe Obstsaft<br />
mit Sauerkrautsaft Gemüsebrühe<br />
Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Fastentag 2 Anis-Fenchel-Kümmeltee Warmer Gemüsesaft Obstsaft<br />
Gemüsebrühe<br />
Fastentag 3 Darmentleerung Gemüsebrühe Gemüsebrühe<br />
mit Sauerkrautsaft Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Fastentag 4 Anis-Fenchel-Kümmeltee Gemüsebrühe Gemüsebrühe<br />
Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Fastentag 5 Darmentleerung Warmer Gemüsesaft Obstsaft<br />
mit Sauerkrautsaft Gemüsebrühe<br />
Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Aufbautag 1 Anis-Fenchel-Kümmeltee Gemüsesuppe Gemüsesuppe<br />
Vormittags: 1 Apfel mit Nudeln Knäckebrot, Joghurt<br />
Nachmittags: 1 Apfel Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Aufbautag 2 Anis-Fenchel-Kümmeltee Salat, Kartoffeln Knäckebrot<br />
Sauerkrautsaft, Karottengemüse Kräuterquark, Tomate<br />
Trinkmolke Joghurt Anis-Fenchel-Kümmeltee<br />
Vormittags: 1 Apfel<br />
Gemüsesuppe mit Nudeln essen darf, bin ich<br />
schon sehr zufrieden und ausgesprochen satt.<br />
Das hätte ich nie gedacht, sonst <strong>ist</strong> eine solche<br />
Portion Suppe eher eine Vorspeise für mich. Das<br />
Knäckebrot, <strong>die</strong> restliche Gemüsesuppe und der<br />
Joghurt am Abend sind schon fast zu viel für<br />
mich. Doch den Rest des Abends verbringe ich<br />
wieder in der Stadt mit ein paar Freunden.<br />
Wer benutzt <strong>die</strong> eigentlich? Diese silbernen<br />
fahrräder mit dem roten „Deutsche Bahn“-<br />
Zeichen auf dem rahmen, von denen etwa<br />
zehn Stück an einer Station stehen? An über<br />
60 Stationen allein in Stuttgart und der näheren<br />
umgebung kann man sie ausleihen,<br />
aber wie oft sieht man denn jemanden damit<br />
herumfahren?<br />
Nun... Allein im letzten Jahr gab es 3700 aktive<br />
Nutzer <strong>die</strong>ses Call a Bike-Systems. Und es<br />
werden immer mehr. Angefangen hat alles mit<br />
einem Versuch vor sechs Jahren in Frankfurt.<br />
Inzwischen ex<strong>ist</strong>iert ein komplettes Netz der<br />
Fahrräder auch in Berlin, München, Köln, Stuttgart<br />
und Karlsruhe. Bis zum Ende des Jahres<br />
<strong>ist</strong> geplant, in 100 deutschen Städten jeweils<br />
mindestens eine kleine Radstation am Bahnhof<br />
zu errichten.<br />
Nicht nur Stadttour<strong>ist</strong>en, sondern auch gerade<br />
<strong>die</strong> städtischen Anwohner kommen momentan<br />
auf den Geschmack, spontan <strong>das</strong> Fahrrad anstatt<br />
den Bus zu nehmen. Miriam H. <strong>ist</strong> Architekturstudentin<br />
in Stuttgart und benutzt <strong>die</strong><br />
Räder seit etwa einem Jahr: „Im Winter fahr<br />
ich dann doch lieber Bus und Bahn, aber gerade<br />
jetzt im Frühling hab ich es wiederentdeckt.“<br />
Ihr altes Fahrrad wurde geklaut, und so kam sie<br />
auf <strong>die</strong> Idee, sich bei „Call a Bike“ anzumelden.<br />
Das sollte „eigentlich nur eine vorübergehende<br />
Lösung“ sein, aber inzwischen besitzt sie kein<br />
eigenes Rad mehr.<br />
Von 2007 bis 2008 gab es einen Zuwachs von<br />
83 Prozent an Nutzern <strong>die</strong>ses Fahrradverleihs.<br />
DB-Rent, ein Tochterunternehmen der Deutschen<br />
Bahn mit insgesamt 200 Mitarbeitern,<br />
hat <strong>das</strong> Projekt Call a Bike ins Leben gerufen.<br />
Das System <strong>ist</strong> ganz einfach: Im Internet kann<br />
man sich als Nutzer reg<strong>ist</strong>rieren lassen. Dabei<br />
gibt man nur in einem kleinen Informationsfeld<br />
seine Daten an und zahlt 5 Euro. Diese 5<br />
Euro stehen einem danach wieder als Call a Bike-Fahrtguthaben<br />
zur Verfügung. Um sich ein<br />
Fahrrad auszuleihen, wählt man mit dem Mobiltelefon<br />
kostenlos eine Nummer, <strong>die</strong> auf den<br />
Marvin Marquardt<br />
Aufbautag 2: Endgültig <strong>das</strong> letzte Mal Sauerkrautsaft<br />
und dazu noch Molke! Wie eklig!<br />
Doch der Apfel macht es wieder gut und mittags<br />
kann ich schon fast eine richtige Mahl-<br />
zeit zu mir nehmen: Salat, Kartoffeln, Karottengemüse<br />
und als Nachtisch noch Joghurt.<br />
Immer noch erstaunlich, wie schnell ich satt<br />
bin! Nach meinem leckeren Abendessen mit<br />
„Das Auto bleibt inzwischen<br />
me<strong>ist</strong>ens stehen“<br />
Call a Bike – Die Leihfahrräder der Deutschen Bahn erfreuen sich immer größerer Beliebtheit.<br />
Fahrrädern steht, und kurz darauf wird einem<br />
der PIN-Code, mit dem <strong>das</strong> Fahrrad entsichert<br />
wird, per SMS zugesendet und man hat darauf<br />
Zugriff. Man kann nun so lange mit einem erstklassigen,<br />
voll verkehrstauglichen Fahrrad mit<br />
acht Gängen umherfahren, wie <strong>das</strong> Guthaben<br />
reicht. Wenn man genug vom Fahrradfahren hat<br />
und am Ziel oder wieder an der Ausgangsstation<br />
<strong>ist</strong>, wird <strong>das</strong> Fahrrad einfach wieder angekettet<br />
und wartet dort auf den nächsten Nutzer.<br />
Wer beim Fahrradfahren mal ein Päuschen<br />
braucht oder schnell in einen Laden oder etwas<br />
besichtigen will, kann sein Vehikel auch an Ort<br />
und Stelle verriegeln. Die Weiterfahrt kann danach<br />
erfolgen, ohne Angst haben zu müssen,<br />
<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Fahrrad geklaut wird. Leider läuft <strong>die</strong><br />
Uhr während <strong>die</strong>ser Sperre weiter.<br />
Da <strong>die</strong> Stadt <strong>die</strong>ses System unterstützt und der<br />
Deutschen Bahn einen Zuschuss zahlt, <strong>ist</strong> es<br />
nur hier in Stuttgart möglich, <strong>die</strong> erste halbe<br />
Stunde umsonst zu fahren. Jede folgende Minute<br />
kostet 8 Cent. Die Deutsche Bahn wirbt mit<br />
Sätzen wie „Mobiler durch <strong>die</strong> City“ – doch <strong>ist</strong><br />
man <strong>das</strong> auch?<br />
Matthias T. stimmt dem eindeutig zu. Er <strong>ist</strong> 32<br />
Jahre alt, und seit er in seiner Freizeit mit Call a<br />
Bike unterwegs <strong>ist</strong>, „steht <strong>das</strong> Auto mehr, als es<br />
gefahren wird. Innerhalb der Stadt benutze ich<br />
es fast gar nicht mehr.“ Inzwischen kennt er<br />
fast alle Stuttgarter Ausleihstationen. Dass er<br />
ein Fahrrad abgeben wollte und es keine Stellplätze<br />
mehr gab oder <strong>das</strong>s keine Räder mehr<br />
zur Verfügung standen, <strong>ist</strong> ihm bisher noch nie<br />
passiert. Der Service <strong>ist</strong> seiner Meinung nach<br />
„erste Sahne“. Aufmerksam auf Call a Bike <strong>ist</strong> er<br />
durch einen Bekannten geworden, und er würde<br />
es auch „jedem Stuttgarter ohne zu zögern<br />
weiterempfehlen“.<br />
Einen kleinen Nachteil hat <strong>die</strong>ses so praktische<br />
System aber auch: Ohne Handy funktioniert<br />
es einfach nicht. Doch wer erst einmal <strong>die</strong>se<br />
(heutzutage kleine) Hürde genommen hat, dem<br />
wird beim Benutzen <strong>die</strong>ser Leihfahrräder nichts<br />
mehr im Weg stehen.<br />
Kräuterquark, Knäckebrot und Tomate gehe ich<br />
guter Laune zum Tanzen.<br />
fazit: 3 kg Gewichtsabnahme, gute Laune,<br />
besondere Geschmacksempfindung und spürbare<br />
körperliche wie auch ge<strong>ist</strong>ige Fitness<br />
sind es wert, <strong>die</strong>se Erfahrung einmal zu machen.<br />
Abholbereit: An den zahlreichen Stationen in<br />
Stuttgart warten <strong>die</strong> rot-silbernen Drahtesel<br />
auf Kundschaft.<br />
© Tilman Rau<br />
Das Schloss der Fahrräder wird mit einem<br />
PIN-Code entriegelt, den man sich<br />
per SMS aufs Handy schicken lassen kann.<br />
© Tilman Rau<br />
Weitere Informationen<br />
und Reg<strong>ist</strong>rierung im Internet:<br />
www.callabike.de
Seite 10 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 11<br />
Auf den ersten Blick wirkt Daniel Benjamin<br />
wie jeder andere auch. Wie einer unter vielen.<br />
er wohnt in einer kleinen Stadt mit knapp<br />
9000 einwohnern in der nähe von Stutt-<br />
gart. Sein Zuhause nennt er seit zwei Jahren<br />
ein altes fachwerkhaus, in dem man besser<br />
Hausschuhe anzieht, denn sonst wäre es zu<br />
kalt. Hier lebt er zusammen mit seiner frau<br />
eleni. in seiner freizeit liest er gerne, schaut<br />
filme oder besucht Museen. und er freut sich<br />
immer, wenn er seine nachbarn sieht und<br />
mit ihnen ein „Schwätzchen“ halten kann.<br />
Doch gelangt man über <strong>die</strong> alte Holztreppe<br />
in den zweiten Stock seines Hauses, entdeckt<br />
man ein kleines tonstudio mit Drumset und<br />
gitarren. Daniel Benjamin <strong>ist</strong> Musiker.<br />
Spricht man ihn auf Musik an, beginnen seine<br />
Augen zu funkeln und man erkennt seine<br />
Bege<strong>ist</strong>erung und Leidenschaft für sie. Insbesondere<br />
über sein neues Album spricht Daniel<br />
Benjamin liebend gerne. Fünf Monate harte<br />
Arbeit, bis August 2008, hat ihn sein zweites<br />
offizielles Album mit dem vieldeutigen Titel<br />
„There’s A Monster Under Your Deathbed“ gekostet.<br />
„Das <strong>ist</strong> eine Zeile aus einem der Songs<br />
auf dem Album“, erklärt er. „Man könnte es so<br />
deuten, <strong>das</strong>s gewisse Dinge einen im Sterben<br />
doch noch einholen, oder <strong>das</strong>s es einem egal<br />
<strong>ist</strong>, ob Monster unter dem Bett sind.“ Die ersten<br />
1000 Exemplare des Albums sind alle von Hand<br />
gemacht: Karikaturen vom Künstler kleben auf<br />
Pappe. Die Blätter werden von einem Bastband<br />
zusammengehalten und durch Pergaminpapier<br />
getrennt. Zwischen den beiden letzten Papp-<br />
Musiker mit Eule: Daniel Benjamin posiert als<br />
Harry Potter-Double. Ansonsten zaubert er<br />
lieber mit Schlagzeug, Gitarre und Stimme.<br />
© Daniel Benjamin<br />
papieren <strong>ist</strong> <strong>die</strong> CD aufbewahrt und eine Plastikhülle<br />
schützt <strong>das</strong> handgemachte Album.<br />
Insgesamt werden 5000 CDs produziert. Im August<br />
2009 wird <strong>das</strong> Album veröffentlicht und<br />
für schlappe 15 Euro zu kaufen sein.<br />
Doch er produziert Musik nicht nur sehr gerne,<br />
er <strong>ist</strong> auch ein bege<strong>ist</strong>erter Musikhörer.<br />
Zu jeder Musikrichtung fällt ihm spontan ein<br />
Künstler oder eine Band ein, dessen oder deren<br />
Musik er toll findet. So <strong>ist</strong> er zum Beispiel im<br />
Pop-Bereich ein Fan von U2, hingegen in der<br />
Klassik mag er Philip Glass am liebsten, Extoll<br />
im Genre Death Metal und in der Electro- und<br />
Houserichtung hört er gerne Joy Electric. Ein<br />
Grund für <strong>die</strong>se Vielseitigkeit könnte <strong>die</strong> Tatsache<br />
sein, <strong>das</strong>s sich <strong>die</strong> Vielseitigkeit nicht nur<br />
auf Musikrichtungen bezieht, sondern auch auf<br />
<strong>die</strong> Vielzahl der Musikinstrumente, <strong>die</strong> Daniel<br />
Benjamin mehr oder weniger gut beherrscht.<br />
Sein Paradeinstrument <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Schlagzeug, aber<br />
auch Gitarre und Bassgitarre kann er gut spielen,<br />
außerdem <strong>ist</strong> er dabei, Streichinstrumente<br />
zu erlernen.<br />
Angefangen hat alles im Alter von fünf Jahren.<br />
Damals spielte er <strong>das</strong> erste Mal im Sommerurlaub<br />
auf Bongotrommeln herum. Von da an ließ<br />
ihn <strong>die</strong> Musik nicht mehr los. Ein paar Jahre<br />
später fing er an Schlagzeug zu spielen und<br />
hatte bereits mit 12 Jahren seine erste Band.<br />
Damals arbeiteten sie ein Jahr lang an einem<br />
Lied. Daraufhin folgten kleine Auftritte vor<br />
Freunden, dann in der Schule – und von da an<br />
ging alles Schlag auf Schlag: Das erste eigene<br />
Konzert, <strong>das</strong> erste eigene Demotape und wildfremde<br />
Leute, <strong>die</strong> auf einen zukommen.<br />
Nach der 11. Klasse brach Daniel Benjamin dann<br />
aufgrund der Musik <strong>die</strong> Schule ab, was er bis<br />
zum heutigen Tage nicht bereut. Er fing eine<br />
Ausbildung zum Erzieher an, <strong>die</strong> er dann jedoch<br />
wieder abbrach, um mit Gelegenheitsjobs, wie<br />
z.B. Nachtwächter in einer Mülldeponie, sein<br />
Geld zu ver<strong>die</strong>nen.<br />
Heute kann der 29-Jährige von seiner Musik leben,<br />
wenn auch nicht sehr gut. Er gibt deshalb<br />
zusätzlich noch Schlagzeugunterricht. Doch<br />
er will unabhängig von Geld sein, denn er bezeichnet<br />
<strong>die</strong> Musik als sein Lebenswerk. „Mit 80<br />
mache ich hundertprozentig immer noch Musik“,<br />
sagt er. Daniel Benjamin sieht sich selbst<br />
aber lieber als Kompon<strong>ist</strong>, weniger als Musiker<br />
oder Künstler, denn bei seinen Liedern <strong>ist</strong> ihm<br />
<strong>die</strong> Musik wichtiger als der Text: „Ich habe eine<br />
Sammlung von Texten, <strong>die</strong> ich immer wieder<br />
erweitere, und schreibe dann <strong>die</strong> Musik, suche<br />
einen passenden Text aus und überarbeite den<br />
Song dann noch einmal, damit Musik und Text<br />
Mara Seitzer<br />
Zum Musiker geboren<br />
Daniel Benjamin gehört zu den vielversprechendsten jungen Popmusikern<br />
der Stuttgarter Region<br />
genau aufeinander abgestimmt sind.“ Das Wichtigste<br />
<strong>ist</strong> ihm dabei <strong>die</strong> Tatsache, <strong>das</strong>s es seine<br />
eigene Musik <strong>ist</strong>. Mit covern kann er nicht viel<br />
anfangen, er drückt sich lieber mit viel Fantasie<br />
und Einfühlungsvermögen selbst in seinen<br />
Liedern aus.<br />
Seine Musikrichtung beschreibt Daniel Benjamin<br />
als „Easy L<strong>ist</strong>ening“. Ähnlich wie bei Pop-<br />
Musik soll sie Jung und Alt in jeder Lebenssituation<br />
ansprechen. „Meine Musik soll besonders<br />
sein, aber jeder soll sie verstehen können.“ Mit<br />
<strong>die</strong>sem Erfolgsgeheimnis will Daniel Benjamin<br />
noch viel weiter kommen, als er es bisher <strong>ist</strong>.<br />
„Ich sehe mich selbst erst im untersten Viertel<br />
der Karriereleiter.“ Sein Ziel <strong>ist</strong>, befreit Musik<br />
machen zu können, ganz und gar unabhängig<br />
von Geld, und keinesfalls als so genanntes<br />
„One-Hit-<strong>Wo</strong>nder“ in <strong>die</strong> deutschen Charts aufzusteigen<br />
und genauso schnell wieder abzufallen.<br />
Denn mit seiner jetzigen Situation <strong>ist</strong> Daniel<br />
Benjamin nicht unzufrieden: 2000 verkaufte<br />
Platten und Konzerte in ganz Europa sprechen<br />
eine Sprache für sich. „Wenn man sich erstmal<br />
in Deutschland etwas aufgebaut hat, wartet <strong>das</strong><br />
Ausland mit ausgebreiteten Armen“, sagt der<br />
gebürtige Nürtinger. „Als wir vor zwei Jahren<br />
zu einem Festival in Norwegen eingeladen waren,<br />
kannte uns dort kein Schwein, aber wir haben<br />
neue Kontakte geknüpft, und so konnten<br />
wir letztes Jahr durch Norwegen touren. 600 Kilometer<br />
und 25 Konzerte, <strong>das</strong> war schon geil.“<br />
Und wo er Recht hat, hat er Recht. Natürlich<br />
kann er nicht erwarten, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Leute überall<br />
so bege<strong>ist</strong>ert von seiner Musik sind. Im Schnitt<br />
hat Daniel Benjamin ca. 200 - 300 Zuschauer,<br />
und damit <strong>ist</strong> er zufrieden. Es macht auch keinen<br />
Unterschied, ob er und seine Mitmusiker<br />
im lokalen Umfeld spielen oder im europäischen<br />
Ausland. Doch eine Situation hat ihn selber<br />
auch etwas verblüfft: „Als wir als Support einer<br />
Band in Belgien gespielt haben und von den<br />
300 Zuschauern kein einziger Interesse zeigte.<br />
Am nächsten Tag aber haben wir dann vor zehn<br />
Leuten im <strong>Wo</strong>hnzimmer eines Freundes gespielt,<br />
und da haben wir mehr Alben verkauft als<br />
Leute da waren.“<br />
Insgesamt war Daniel Benjamin jetzt schon in<br />
15 Ländern in ganz Europa unterwegs und hat<br />
etwa 550 Konzerte gespielt. Natürlich will er an<br />
<strong>die</strong>sen Erfolg anknüpfen und in naher Zukunft<br />
auch über <strong>das</strong> europäische Ausland hinauskommen.<br />
„Mein Plattenlabel hat gute Kontakte<br />
nach Amerika und Japan. Das <strong>ist</strong> eine reizvolle<br />
Aufgabe für mich, in anderen Kontinenten etwas<br />
aufzubauen. Aber auch gleichzeitig eine<br />
sehr schöne!“<br />
Maximilian Höhnle<br />
Abhängigkeit<br />
und Langeweile<br />
Ein Tag als Rollstuhlfahrer im Altenheim<br />
– ein Selbstversuch.<br />
Zu Anfang dachte ich, <strong>das</strong>s es nicht so schwer<br />
sein kann, in einem Rollstuhl sein Leben zu<br />
verbringen. Aber als ich dann auch noch einen<br />
Beckengurt umgelegt bekam, wurde mir erst<br />
einmal gesagt, <strong>das</strong>s dafür erst eine richterliche<br />
Entscheidung da sein müsse, denn wenn man<br />
einem Heimbewohner zu seinem eigenen Schutz<br />
einen Beckengurt anlegt, gilt <strong>das</strong> als Freiheitsberaubung<br />
und muss erst durch Angehörige<br />
oder ein Gericht abgesegnet werden.<br />
Doppelte Herausforderung:<br />
Ein ganzer Tag im Rollstuhl, und dann<br />
auch noch in einem Seniorenheim.<br />
Es <strong>ist</strong> 9 Uhr morgens und wir befinden uns in<br />
einem großzügig eingerichteten Aufenthaltsraum.<br />
Es riecht nach Kaffee, der Fernseher läuft<br />
leise und in der Ecke steht ein Tischkicker. An<br />
einem Tisch sitzt eine Frau und trinkt ihren<br />
morgendlichen Kaffee. Der Raum <strong>ist</strong> schwach<br />
beleuchtet und ein Gefühl von Müdigkeit hängt<br />
in der Luft „Vor 10 Uhr <strong>ist</strong> hier unten noch nicht<br />
viel los“, meint einer der beiden Zivilarbeiter.<br />
„Die me<strong>ist</strong>en Bewohner schlafen noch.“<br />
Die Einrichtung in der Landhausstraße <strong>ist</strong> ein<br />
betreutes <strong>Wo</strong>hnheim für Menschen ohne Unterkunft,<br />
<strong>die</strong> <strong>das</strong> Hilfesystem schon mehrmals<br />
ohne Erfolg durchlaufen haben. Ihnen soll <strong>die</strong><br />
Möglichkeit gegeben werden, ihr Leben zu ordnen<br />
und es ohne Zeitdruck zu stabilisieren.<br />
Eine Verschlimmerung der Situation wird so<br />
verhindert. Außerdem wird sozialpädagogische<br />
Hilfe angeboten. Die Unterbringung der Klienten<br />
erfolgt in Einzel- und Doppelzimmern,<br />
insgesamt gibt es <strong>Wo</strong>hnplätze für dreißig Menschen.<br />
Den Bewohnern stehen vier Stockwerke<br />
zur Verfügung, und auf jeder Etage gibt es eine<br />
Küche und sanitäre Anlagen. Außerdem können<br />
sie kostenlos Waschmaschinen und Trockner<br />
benutzen. Im Erdgeschoss haben sie einen<br />
Am Anfang hatte ich auch keine Probleme damit.<br />
Die ersten Probleme kamen beim Frühstück.<br />
Nachdem ich gefrühstückt hatte, wollte<br />
ich meinen Teller und mein Besteck in <strong>die</strong> Küche<br />
bringen, musste aber feststellen, <strong>das</strong>s ich <strong>die</strong><br />
Sachen nicht mit meinen Händen transportieren<br />
konnte, da ich beide zum Fahren brauchte.<br />
Deshalb versuchte ich, alles auf meinem Schoß<br />
zu transportieren, was aber misslang, da es<br />
herunterrutschte. Die einzige Möglichkeit, <strong>die</strong><br />
mir blieb, war, meine Sachen stehen zu lassen,<br />
damit <strong>die</strong> Schwestern es wegräumen konnten,<br />
wobei ich mir ziemlich blöd vorkam, weil ich so<br />
hilflos war.<br />
Nach dem Frühstück erkundete ich <strong>das</strong> Stockwerk,<br />
um <strong>die</strong> aufkommende Langeweile zu<br />
vertreiben. Dies gelang mir aber nur für kurze<br />
Zeit, denn nach einigen Minuten war ich einmal<br />
durch <strong>das</strong> Stockwerk gefahren und hatte<br />
alles gesehen. Um mir dann <strong>die</strong> Langeweile<br />
zu vertreiben, fuhr ich wieder in den Aufenthaltsraum,<br />
in dem auch nicht viel los war, wo<br />
aber eine Zeitung darauf wartete, gelesen zu<br />
werden. Diese Zeitung hatte ich einem netten<br />
Mitbewohner zu verdanken, der mir auch einige<br />
Zeit am Vormittag Gesellschaft le<strong>ist</strong>ete, am<br />
Nachmittag aber leider nicht mehr konnte, weil<br />
er eingeladen war. So las ich eben <strong>die</strong> Zeitung<br />
aufmerksamst durch, um so viel Zeit wie nur<br />
möglich herum zu bekommen. Als ich aber nach<br />
einer halben Stunde fertig war, fing <strong>das</strong> Ganze<br />
wieder von vorne an. Zum Glück musste ich<br />
nicht lange auf meinen nächsten Höhepunkt<br />
warten – <strong>das</strong> Mittagessen.<br />
Nach dem Essen erfuhr ich wieder <strong>die</strong> Abhängigkeit<br />
einer Person im Rollstuhl. Da ich am<br />
Morgen schon gelernt hatte, <strong>das</strong>s ich mein Ge-<br />
Robert Nowak<br />
großzügige<br />
räume anstatt<br />
einem Leben auf<br />
der Straße<br />
Ein Tag im Stuttgarter Caritas-<strong>Wo</strong>hnheim<br />
in der Landhausstraße<br />
großzügig eingerichteten Aufenthaltsraum mit<br />
Fernseher, Internetzugang und Tischkicker.<br />
Doch wie entsteht überhaupt <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />
und <strong>die</strong> Armut, in so ein <strong>Wo</strong>hnheim zu ziehen?<br />
„Naja, ich war lange Zeit krank, habe dadurch<br />
meinen Arbeitsplatz verloren, und dann kam<br />
auch noch <strong>die</strong> Scheidung, was alles einfach zu<br />
viel war“, berichtet eine Frau. „Das Schlimme<br />
an Armut <strong>ist</strong> der Teufelskreis: Wer obdachlos<br />
<strong>ist</strong>, bekommt keinen Job. Wer keinen Job hat,<br />
Zeitunglesen <strong>ist</strong> eins der wenigen Dinge,<br />
<strong>die</strong> man zum Zeitvertreib tun kann.<br />
schirr nicht selbst wegräumen kann, kam ich<br />
mir jetzt richtig blöd vor, weil einige Bewohner<br />
vom Tisch aufstanden und ihr Geschirr in <strong>die</strong><br />
Küche trugen, ich aber sitzen bleiben und warten<br />
musste, bis eine Schwester mein Geschirr<br />
wegräumte.<br />
Um mir meine Langeweile zu vertreiben, las ich<br />
den Sportteil der Zeitung noch einmal ganz genau.<br />
Aber auch <strong>das</strong> half nicht lange. Weil ich<br />
nicht mehr wusste, was ich machen sollte, fuhr<br />
ich einfach mit meinem Rollstuhl durch <strong>das</strong><br />
Stockwerk – zum wiederholten Male – und las –<br />
zum x-ten Male – <strong>die</strong> Heimbekanntmachungen.<br />
Ich blieb noch bis zum Abendessen und verabschiedete<br />
mich dann und war froh, endlich<br />
wieder laufen zu können, denn den ganzen Tag<br />
sitzen strengt ziemlich an.<br />
Bei meinem Selbstversuch habe ich gelernt, wie<br />
schwer es Menschen im Rollstuhl haben, vor<br />
allem wenn sie dann auch noch ein Handicap<br />
besitzen und sich nicht alleine versorgen können.<br />
Das hat mir gezeigt, <strong>das</strong>s man Menschen<br />
im Rollstuhl auch mal unterstützen sollte, wenn<br />
sie etwas nicht alleine schaffen.<br />
wird nur sehr schwer eine <strong>Wo</strong>hnung bekommen<br />
oder kann sich erst gar keine le<strong>ist</strong>en.“<br />
Besonders schwer haben es oft auch Menschen,<br />
<strong>die</strong> aus dem Ausland nach Deutschland kommen,<br />
keine Sozialhilfe erhalten und auf der Straße<br />
leben müssen. Diesen Menschen wird geholfen,<br />
indem man sie entweder an ein <strong>Wo</strong>hnheim vermittelt,<br />
wie z.B in der Landhausstraße, oder<br />
ihnen Arbeit über <strong>das</strong> Jobcenter verschafft.<br />
Im obersten Stock des Gebäudes befindet sich<br />
<strong>das</strong> Büro von Herr Hirzel, dem Chef der Einrichtung.<br />
Es gibt auch eine große Terrasse für<br />
ihn und <strong>die</strong> Zivil<strong>die</strong>nstle<strong>ist</strong>enden. Wer meint,<br />
ein Chef einer Caritaseinrichtung hätte einen<br />
langweiligen Job, irrt sich gewaltig. „Mein Alltag<br />
vereint <strong>die</strong> Berufsfelder eines Psychologen,<br />
eines Schauspielers und oft auch eines Erziehers,<br />
wenn ich eine der vielen Streitigkeitten<br />
unter den Bewohnern schlichten muss“, erzählt<br />
Herr Hirzel stolz. Für ein anschauliches Beispiel<br />
für <strong>die</strong>se Aussage sorgen kurz darauf zwei Bewohner,<br />
<strong>die</strong> sich zerstritten haben. „Der hier<br />
hat gestern gesoffen, und dann <strong>ist</strong> er auf mich<br />
losgegangen!“, schreit einer der beiden. „Ist<br />
nicht wahr!“, lautet der Konter.<br />
Fortsetzung auf Seite 12
Seite 12 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 13<br />
Fortsetzung von Seite 11<br />
Doch Herr Hirzel will auf <strong>die</strong> Argumente gar<br />
nicht erst eingehen. Er spielt einen strengen<br />
und wütend herumschreienden Chef. Er gibt beiden<br />
<strong>die</strong> letzte Warnung, schreit sie an, <strong>das</strong>s sie<br />
sich in Zukunft gegenseitig aus dem Weg gehen<br />
sollen und brüllt zu guter Letzt: „Raus jetz hier<br />
und keine Widerrede, ihr habt Fernsehverbot!“<br />
Beide sind von der „Show“ so eingeschüchtert,<br />
<strong>das</strong>s sie nur „Jawohl“ antworten und den Raum<br />
verlassen. Sobald beide den Raum verlassen haben,<br />
ändern sich schlagartig Hirzels Gesichtszüge,<br />
und grinsend sagt er: „Genau <strong>das</strong> meine<br />
ich.“ Viel Zeit zum Erholen bleibt ihm allerdings<br />
nicht, <strong>die</strong> nächsten zwei Kandidaten klopfen<br />
an der Tür. Sie flehen den Chef an, ihnen den<br />
Fernseher zurückzugeben, nachdem er ihnen<br />
<strong>das</strong> Gerät für 14 Tage abgenommen hatte. Sie<br />
wollen ihn schon zwei Tage früher haben.<br />
Der Fernseher wurde ihnen abgenommen, weil<br />
einer der Beiden nachts gerne mit dem Fernseher<br />
sehr laute Selbstgespräche führte, während<br />
der andere versuchte, den Monolog zu beenden,<br />
indem er mit einer Eisenstange, <strong>die</strong> er aus dem<br />
Ohrenbetäubende Musik schlägt mir entgegen,<br />
als ich am 8. März langsam <strong>die</strong> schmalen<br />
treppen zum Keller Klub in Stuttgart hinabsteige<br />
und mich in einem großen und dunklen<br />
raum wiederfinde, welcher ziemlich gut<br />
besucht <strong>ist</strong>. etwa 140 Leute, <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en um<br />
<strong>die</strong> 18 Jahre alt, aber auch Ältere, bevölkern<br />
den raum, sitzen an der Bar oder stehen im<br />
raum. Doch versucht jeder, möglichst den<br />
besten Blick zur Bühne zu haben, <strong>die</strong> gegenüber<br />
dem eingang empor ragt.<br />
Die erste Band des heutigen Abends spielt ihr<br />
letztes Lied, aber wegen ihr bin ich ja auch<br />
nicht hier, sondern wegen der jungen Band NBQ,<br />
welche gerade dabei <strong>ist</strong>, sich auf ihren Auftritt<br />
vorzubereiten. Von Nervosität keine Spur, <strong>die</strong><br />
Bandmitglieder scherzen und lachen, während<br />
sie noch einmal den Sound checken und sich<br />
auf <strong>die</strong> Bühne begeben.<br />
Aus dem hinteren Teil des Clubs und von der<br />
Bar lösen sich Leute und stellen sich in <strong>die</strong> erste<br />
Reihe, bis man dicht aneinander gedrängt<br />
zu stehen kommt und erwartungsvoll auf <strong>die</strong><br />
Bühne sieht. „Jeder Song hat eine Geschichte“,<br />
fängt der Sänger und Keyboarder Dario an, zum<br />
ersten Lied hinzuleiten, während sanfte Akkorde<br />
des Gitarr<strong>ist</strong>en Dave, ein leises Streichen<br />
Julian Wissner<br />
Kleiderschrank ausgebaut hatte, auf den Tisch<br />
hämmerte. Da sich beide in der letzen Zeit gut<br />
benommen haben, gibt Herr Hirzel den Beiden<br />
den Fernseher zurück, mit den <strong>Wo</strong>rten: „Wenn<br />
sowas nochmal vorkommt gibt’s Ärger!“<br />
Auch den Zivil<strong>die</strong>nstle<strong>ist</strong>enden wird in der<br />
Landhausstraße nicht so schnell langweilig. Sie<br />
sind für <strong>die</strong> Verwaltung zuständig, machen täglich<br />
Kontrollgänge und schauen in <strong>die</strong> Zimmer.<br />
Was sie dabei sehen, <strong>ist</strong> sehr unterschiedlich:<br />
Manche Zimmer sind wegen intensiven Geruchs<br />
nahezu unbetretbar, andere wiederum sehen<br />
recht ordentlich und gesittet aus. „Der Mann<br />
hier <strong>ist</strong> über 50 Jahre alt und spielt trotzdem<br />
noch den Großteil des Tages an Konsolen oder<br />
am PC“, sagt einer der Zivis und zeigt auf eine<br />
Zimmertür.<br />
Nach Öffnen der Tür sieht man einen kleinen<br />
Raum, in dem ein Mann vor dem PC sitzt und<br />
ein veraltetes Computerspiel spielt. Zu seiner<br />
Linken stapeln sich haufenweise Computerspiele.<br />
„Wenn <strong>die</strong> Spielesucht einen einmal richtig<br />
gepackt hat, kommt man schwer wieder davon<br />
los“, sagt er dazu.<br />
unvergleichlicher Sound<br />
aus unterschiedlichen Stilen<br />
Die Stuttgarter Band No Better Question (NBQ) bege<strong>ist</strong>ert ihr Publikum<br />
über <strong>das</strong> Drumset von Basti und behäbige Töne<br />
des Bass<strong>ist</strong>en Francois <strong>die</strong> Illusion erzeugen,<br />
man befände sich auf einer Südseeinsel.<br />
Und dann geht es los. „Samba“ heißt <strong>das</strong> Lied,<br />
und es macht seinem Namen alle Ehre. Elemente<br />
aus Rock, Funk und Jazz vereinen sich zu einem<br />
unvergleichlichen Sound. Auch wird bei <strong>die</strong>sem<br />
Lied <strong>das</strong> Publikum miteinbezogen, welches bege<strong>ist</strong>ert<br />
mitsingt. Am Ende des Liedes klatscht<br />
und johlt <strong>die</strong> Menge wie verrückt, zweifelsohne<br />
gefällt es den Leuten.<br />
Das zweite Lied <strong>ist</strong> eine ruhige Ballade mit Namen<br />
„Starrider“, und auch hier wird <strong>das</strong> Publikum<br />
auf gewitzte Weise durch Verteilen von<br />
Feuerzeugen miteinbezogen. Das dritte Lied<br />
<strong>ist</strong> eine hitzige Polka, <strong>die</strong> auch so heißt und in<br />
der Dave ein fantastisches Gitarrensolo spielt,<br />
gefolgt von dem Hardrock-Lied „Get it on“, in<br />
dem Sänger Dario sich me<strong>ist</strong>erhaft in Ekstase<br />
spielt, wobei auch auffällt, <strong>das</strong>s er alle Songs<br />
in perfektem American-English singt. Noch ein<br />
Song folgt, bevor <strong>die</strong> letzte Band des heutigen<br />
Abends auf <strong>die</strong> Bühne kommt.<br />
No Better Question im Internet:<br />
www.myspace.com/nbqrocks<br />
„Sowas <strong>ist</strong> uns allerdings viel lieber als <strong>die</strong><br />
hemmungslose Trinkerei schon zur Mittagszeit“,<br />
findet der Zivi und zeigt in ein anderes<br />
Zimmer, in welchem schon zur Vormittagszeit<br />
Alkohol konsumiert wird und ein ganz anderer<br />
Wind weht.<br />
Doch wie sieht der Tagesablauf eines Be-<br />
wohners des <strong>Wo</strong>hnheimes aus? „Naja, im Grunde<br />
nicht viel anders als ein normaler Alltag, nur<br />
ohne Arbeit“, erzählt Siegfried K., ein Bewohner<br />
des Hauses. „Auch für Essen müssen wir<br />
selber sorgen, entweder selber kochen oder in<br />
<strong>die</strong> Tagesstätte der Caritas am Olgaeck gehen,<br />
dort bekommt man morgens kostenlos Frühstück<br />
und Kaffee für 30 Cent, und mittags ein<br />
preiswertes Mittagessen.“<br />
Die Zeiten zwischen den Mahlzeiten vertreibt<br />
sich jeder anders. Die Geselligen treffen<br />
sich im Gemeinschaftsraum zum Tischkickern<br />
oder zum gemeinsamen Fernsehen.<br />
In <strong>die</strong>ser Einrichtung darf allerdings nicht jeder<br />
Bedürftige wohnen. Vor dem Einziehen wird<br />
von den Zivilarbeitern überprüft, ob <strong>die</strong> Bewerber<br />
vielleicht aggresiv werden könnten.<br />
Der Auftritt der vier Jungs war sagenhaft, ohne<br />
Frage haben sie viel Talent. Kein Song klingt<br />
wie der vorherige, einmal eine Samba, dann<br />
eine schnelle Polka, und dann wiederum eine<br />
sanfte Ballade. Das, was <strong>die</strong> Musik zu bieten<br />
hat, nutzen sie voll und ganz aus, und nicht<br />
nur beherrschen sie ihre Instrumente, sondern<br />
haben auch noch reichlich Ideen und Witz. Mit<br />
glatten 123 Stimmen gewinnen sie dann auch<br />
den wohlver<strong>die</strong>nten ersten Platz und kommen<br />
so ins Finale am 21. Mai in der Röhre. Das Publikum<br />
<strong>ist</strong>, wen immer man auch fragt, bege<strong>ist</strong>ert<br />
von <strong>die</strong>ser jungen Band.<br />
Doch wofür steht NBQ, wie lange besteht <strong>die</strong><br />
Band schon und wer sind <strong>die</strong> Mitglieder? Bei<br />
einem Interview mit der Band in ihrem Proberaum<br />
bringe ich folgendes in Erfahrung:<br />
Die Band „No better Question“ entstand Ende<br />
2007 mit dem Sänger Dario, dem Gitarr<strong>ist</strong>en<br />
Dave und damals noch dem Drummer Friedrich.<br />
Sie spielen eine Mischung aus Rock, Funk und<br />
Progressive, öffnen sich aber anderen Stilrichtungen,<br />
wie abgefreaktem Jazz, Blues, Soul,<br />
und lyrikbetontem Hip-Hop.<br />
Doch schon am Anfang kam es zum Problem<br />
der Namensfindung, lange suchten sie vergeblich,<br />
bis sie sich aufgebracht fragten, warum<br />
sie eigentlich keine bessere Frage hatten, als<br />
sich immer <strong>die</strong>selbe Frage zu stellen: „Ey man,<br />
you got no better question?“ „Und so wurde <strong>die</strong><br />
Frage zur Antwort“, erzählt der Sänger Dario lächelnd.<br />
NBQ war geboren.<br />
Dann wendeten sie sich an Max Knotz, den sie<br />
noch aus den Zeiten der „Red Carpets“ kannten,<br />
ihrer ersten richtigen Band. Bei ihm hatten sie<br />
im Studio einige Demoversionen eingespielt.<br />
Also fragten sie erneut bei ihm nach und nahmen,<br />
über eine lange Zeitspanne hinweg, den<br />
Song „Jane“ auf.<br />
Durch Max kamen sie auch an ihren ersten<br />
Auftritt, zwei weitere folgten, doch dann flogen<br />
Dario und Dave als Austauschschüler für<br />
ein Jahr nach Amerika, und so musste sich <strong>die</strong><br />
Band vorübergehend auflösen. Ein Jahr später<br />
kehrten sie zurück, doch Friedrich, der Drummer,<br />
war inzwischen einer Metalband beigetreten,<br />
und so musste ein neuer her.<br />
Man suchte und man fand Sebastian, der zuvor<br />
zusammen mit Mark und Alejandro (beide nun<br />
in der Band „Sonando“) ebenfalls bei Red Carpet<br />
gespielt hatte.<br />
Im November 2008 beschlossen sie, No Better<br />
Question fortzusetzen, und mit großem Elan<br />
widmete man sich trotz der schulischen Mühsalen<br />
<strong>die</strong>sem neuen Projekt. Max Knotz kam<br />
wieder herbei und verschaffte der neuen Besetzung<br />
erneut einen Auftritt im Jugendhaus<br />
Paul Plattner<br />
Zwischen<br />
öffentlichem<br />
Ärgernis und<br />
Profikarriere<br />
In Stuttgart haben es Skater schwer – trotzdem<br />
bringt <strong>die</strong> Stadt immer wieder Profis hervor<br />
ein sonniger tag, nicht zu heiß und nicht zu<br />
kalt: Perfektes Wetter, um raus zu gehen und<br />
Skateboard zu fahren. Alex funk (33) trifft<br />
sich gegen Mittag mit seinen freunden am<br />
so genannten „ei“ – dem größten treffpunkt<br />
der Stuttgarter Skateszene. Das „ei“ befindet<br />
sich hinter dem Hauptbahnhof und bietet<br />
eine große fläche mit ebenem, glattem<br />
Boden, der sich perfekt zum Skaten eignet.<br />
Mittlerweile <strong>ist</strong> Alex Funk nicht mehr so oft<br />
unterwegs, da er inzwischen Familie und Beruf<br />
hat, jedoch erinnert er sich gut daran, wie<br />
er Ende der 80er-Jahre, als Skateboarden in<br />
Deutschland wieder populär wurde, täglich bis<br />
zu zehn Stunden auf den Straßen war, um zu<br />
skaten. „Normalerweise <strong>ist</strong> Skateboardfahren<br />
am ‚Ei’ verboten, und nahezu jeden Tag gibt es<br />
Auseinandersetzungen mit dem Sicherheits<strong>die</strong>nst<br />
der BW-Bank oder sogar der Polizei“, erzählt<br />
der 12-jährige Erik Müller. „Uns schreckt<br />
<strong>das</strong> jedoch nicht ab, am nächsten Tag wieder<br />
dort zu fahren.“<br />
Laut dem „Place-Skateboardmagazin“ gibt es in<br />
Stuttgart <strong>die</strong> größte Skateszene Deutschlands,<br />
jedoch werden Skater nach wie vor weder von<br />
der Stadtverwaltung noch von der Bevölkerung<br />
toleriert. Das bedeutet: Die Stadt versucht <strong>die</strong><br />
Extremsport-Bege<strong>ist</strong>erten dahin zu verlagern,<br />
Heslach. Im Februar schließlich hatte <strong>die</strong> Band<br />
ihren zweiten Gig, beim Dillmann Band Festival,<br />
jedoch benötigten sie für <strong>die</strong>sen Auftritt<br />
einen Bass<strong>ist</strong>en.<br />
Francois, der schon früher mit ihnen gespielt<br />
hatte, gesellte sich hinzu und lernte <strong>die</strong> Songs<br />
der Band innerhalb kürzester Zeit auswendig.<br />
Nun war NBQ um einen Kopf gewachsen. Auch<br />
hinter den Kulissen, im Privaten, sind <strong>die</strong> vier<br />
Jungs sehr sympathisch und humorvoll. So oft<br />
wie möglich üben <strong>die</strong> vier musikbege<strong>ist</strong>erten<br />
Jungs zusammen und nehmen in ihrem Proberaum<br />
neue Lieder auf.<br />
Zwischenzeitlich gewannen sie mehrere Con-<br />
tests und spielen am 28. Juni im LKA in Wangen<br />
beim Bundesfinale des „Emergenza Music<br />
Festivals“. (Zu einem Sieg hat es dort aber nicht<br />
gereicht, Anm. d. Red.)<br />
wo sie niemanden stören. Die Skateboardanlagen<br />
werden weit außerhalb in Industriegebiete<br />
oder neben Sportplätze gebaut, so<strong>das</strong>s der Lärm,<br />
der durch <strong>die</strong> Holzbretter entsteht, keine Anwohner<br />
belästigen kann. Um Stuttgart herum<br />
gibt es daher einige „Skateparks“, <strong>die</strong> oftmals<br />
nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar<br />
sind und daher wenig befahren werden.<br />
Der einzige zentral liegende Park, der ebenfalls<br />
wenig befahren wird, befindet sich im<br />
so genannten „Bohnenviertel“, der Altstadt<br />
Stuttgarts. In der Szene <strong>ist</strong> <strong>die</strong>ser Park nur als<br />
„Nuttenpark“ bekannt, da sich in <strong>die</strong>ser Gegend<br />
<strong>das</strong> Rotlichtmilieu befindet. Am Ende des Parks<br />
sind „Dixi-Toiletten“ aufgestellt, <strong>die</strong> einen beißenden<br />
Uringeruch verbreiten und ausschließlich<br />
von Obdachlosen genutzt werden. „Dort<br />
muss man aufpassen, <strong>das</strong>s man nicht durch<br />
Erbrochenes oder Scherben fährt“, erzählt Alex<br />
F. Es sei sogar nicht selten vorgekommen, <strong>das</strong>s<br />
er dort Spritzen von irgendwelchen Junkies gefunden<br />
habe. Zusätzlich befindet sich direkt<br />
daneben ein Fußballplatz, auf dem überwiegend<br />
Unruhestifter herumlungern, <strong>die</strong> nur darauf<br />
warten, <strong>das</strong>s ihnen ein Skater einen falschen<br />
Blick zuwirft.<br />
Trotzdem gibt es in Stuttgart relativ viele Fahrer,<br />
<strong>die</strong> international bekannt sind. Bestes Beispiel<br />
dafür <strong>ist</strong> der 19-jährige Lem Villemin, der<br />
von einigen der bekanntesten Skateboardfirmen<br />
der Welt gesponsert wird. Unter anderem<br />
fährt er für <strong>das</strong> „Adi<strong>das</strong>-Global-Team“, wodurch<br />
er monatlich ca. 20 Paar neue Schuhe und ein<br />
sattes Gehalt bekommt. Er konnte sich schon<br />
auf mehreren internationalen Contests beweisen<br />
und <strong>ist</strong> alle zwei bis drei Monate mit einem<br />
seiner Sponsoren auf Tournee quer durch <strong>die</strong><br />
Welt. Mit dem Adi<strong>das</strong>-Team war er letztes Jahr<br />
in Japan, Mexiko, den USA und in vielen Städten<br />
Europas, wie im kürzlich veröffentlichten<br />
Adi<strong>das</strong>-Skatevideo „Diagonal“ zu sehen <strong>ist</strong>.<br />
Ein besonders erschütternder Fall <strong>ist</strong> dem damals<br />
18-ährigen Andres Nadolski untergekommen.<br />
Er <strong>ist</strong> vor ca. drei Jahren abends gegen 21<br />
Uhr mit zwei Freunden im Schritttempo durch<br />
Seit Ende 2007 macht <strong>die</strong> Band unter dem Namen<br />
„No Better Question“ Musik, <strong>die</strong> aktuelle<br />
Besetzung gibt es aber erst seit Anfang 2009.<br />
<strong>die</strong> Fußgängerzone der Königstraße gefahren.<br />
Zwei Männer des <strong>Ordnung</strong>samtes, welche sie dabei<br />
erwischten, beschlagnahmten ihre Boards<br />
und verlangten ein Bußgeld von 80 Euro. Zudem<br />
bekam Andreas Nadolski ein paar <strong>Wo</strong>chen<br />
später einen Brief des Kraftfahrt-Bundesamtes<br />
in Flensburg, in dem ihm mitgeteilt wurde, <strong>das</strong>s<br />
er seinen zwei Monate alten Führerschein verloren<br />
habe, da ihm auf Grund <strong>die</strong>ses Deliktes zwei<br />
Punkte im Verkehrszentralreg<strong>ist</strong>er zugeschrieben<br />
worden seien. In Briefen des <strong>Ordnung</strong>samtes,<br />
so erzählt er, wurden <strong>die</strong> Skateboards<br />
als „Spielzeug“ bezeichnet, und so fragt man<br />
sich, wie <strong>die</strong>ser Fall zum Verkehrsdelikt werden<br />
kann. Rechtlich dürfte man weder auf der Straße<br />
noch auf dem Gehweg fahren.<br />
Damals berichteten mehrere Zeitungen und sogar<br />
RTL von <strong>die</strong>sem Fall, jedoch vergeblich. Andreas<br />
Nadolski erstattete Anzeige, jedoch wären<br />
<strong>die</strong> Anwaltskosten um <strong>das</strong> vierfache teurer<br />
gewesen, als <strong>die</strong> Führerscheinprüfung zu wiederholen.<br />
2004 wurden beim „Hell Battle“, einem Skatecontest,<br />
den der Skateshop „Hall Eleven“ jeden<br />
Sommer in Cannstatt in der „Boost“-Skatehalle<br />
organisiert, Unterschriften für einen neuen<br />
Skatepark gesammelt. Dieses Projekt startete<br />
der Architekt Matthias Bauer, der in den 80ern<br />
und 90ern zu den besten Skatern Europas gehörte.<br />
2005 wurde schließlich entschieden, <strong>das</strong>s<br />
auf einer ungenutzten Fläche hinter dem Pragfriedhof<br />
ein neuer Skatepark entstehen sollte.<br />
Anfang 2008 wurden <strong>die</strong> Arbeiten begonnen<br />
und <strong>die</strong> Eröffnung des Parks auf November gelegt.<br />
Das Datum konnte nicht eingehalten werden,<br />
und so wurde <strong>das</strong> Datum auf den 19. Mai<br />
2009 gelegt.<br />
Die Skater fuhren jedoch den ganzen Winter auf<br />
der halbfertigen Baustelle, da ein großer Teil<br />
schon befahrbar war. Täglich beschwerten sich<br />
Anwohner eines nahe gelegenen Hochhauses<br />
über den Krach, und beinahe täglich gab es<br />
auch hier Konflikte mit der Polizei. „Der Park<br />
<strong>ist</strong> <strong>die</strong> große Hoffnung der Stuttgarter Skater“,<br />
so Alex Funk.
Seite 14 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 15<br />
Was <strong>ist</strong> eigentlich Downhill? Downhill <strong>ist</strong> ein<br />
Sport, bei dem man sich auf gut gefederte<br />
fahrräder setzt und enge, steile Waldwege<br />
hinunter fährt, um dabei möglichst schnell<br />
zu werden.<br />
In Stuttgart bieten sich hierfür gute Gelegenheiten.<br />
Wälder gibt es genügend, außerdem<br />
eine gute „Hochfahrmöglichkeit“, nämlich <strong>die</strong><br />
Zahnradbahn, <strong>die</strong> zwischen dem Marienplatz<br />
und Degerloch, dem Anfang des (noch) illegalen<br />
Downhill-Strecken-Gebietes pendelt. Auf<br />
der so genannten „Dornhalde“ fahren nicht nur<br />
Downhiller direkt aus Stuttgart, sondern auch<br />
aus entfernteren Gebieten, wie zum Beispiel<br />
Reutlingen.<br />
Aus Reutlingen <strong>ist</strong> auch Markus S. mit seinem<br />
Kumpel gekommen, um sich auf der Strecke<br />
„den Kick zu geben“, wie sich der fast 17-Jährige<br />
ausdrückt. „Ist schon praktisch, schade<br />
nur, <strong>das</strong>s es noch nicht legal <strong>ist</strong>. Hoffentlich<br />
ändert sich da bald was.“ Auf <strong>die</strong> Frage, was<br />
denn passiere, wenn zum Beispiel <strong>die</strong> Polizei<br />
einen Downhillfahrer aufgreift, antwortete er:<br />
„In der Regel nicht viel, wenn man nicht gerade<br />
auf Streit mit denen aus <strong>ist</strong>. Von was Schlimmerem<br />
als einer Verwarnung und der Persona-<br />
lienaufnahme hab ich noch nicht gehört.“<br />
Ärger gibt es aber nicht nur mit der Polizei,<br />
auch viele der anderen Waldbenutzer sind mit<br />
den Downhillfahrern nicht einer Meinung. Für<br />
Hundebesitzer und ältere Ehepaare seien „<strong>die</strong>se<br />
verrückten Verkleideten nur eine Plage“. Die<br />
Lage der Strecke <strong>ist</strong> allerdings nicht <strong>die</strong> beste,<br />
da sie direkt über einen der me<strong>ist</strong>benutzten<br />
Waldwege, und zwar direkt nach einem steilen<br />
Stück der Strecke, führt, wo es natürlich leicht<br />
dazu kommen kann, <strong>das</strong>s Waldbesucher für <strong>die</strong><br />
Downhillfahrer im Weg stehen. Da <strong>die</strong> Strecke<br />
aber nicht legal <strong>ist</strong>, sind <strong>die</strong> Downhillfahrer<br />
Friedemann Nau<br />
ein ehrgeiziger<br />
Soldat im<br />
Dienste des<br />
nazi-regimes<br />
Ein Rundgang durch <strong>die</strong> erfolgreiche<br />
Ausstellung „Mythos Rommel“<br />
im Stuttgarter Haus der Geschichte.<br />
An den Bushaltestellen, in den Zeitungen<br />
und auch auf Litfasssäulen – überall war<br />
<strong>das</strong> blau-gelbe Plakat mit den schwarzen<br />
Lettern „Mythos rommel“ zu sehen.<br />
Mit beachtlicher Me<strong>die</strong>naufmerksamkeit<br />
wurde am 18.12.2008 <strong>die</strong> Ausstellung im<br />
Haus der geschichte über erwin rommel er-<br />
Julius Kowalik<br />
Waldbesucher<br />
stehen me<strong>ist</strong>ens<br />
nur im Weg<br />
Downhill <strong>ist</strong> in den me<strong>ist</strong>en<br />
Stuttgarter Wäldern illegal, trotzdem<br />
erfreut sich der Sport großer Beliebtheit.<br />
nicht im Recht und können somit nicht viel gegen<br />
<strong>die</strong> „Hindernisse“ unternehmen.<br />
Eine Initiative für eine Legalisierung und einen<br />
Ausbau der Strecke gab es schon mehrmals, <strong>die</strong><br />
Pläne wurden aber entweder durch mangelndes<br />
Engagement, durch zu wenige Fürsprecher oder<br />
eine Gegeninitiative der Anwohner vereitelt. Ob<br />
es andere, beziehungsweise anderswo Möglichkeiten<br />
gebe, Downhill zu fahren, ohne <strong>die</strong> anderen<br />
Waldbenutzer zu stören? „Gibt es schon,<br />
aber <strong>die</strong> sind eigentlich nur mit dem Auto oder<br />
dem Zug zu erreichen, und außerdem muss man<br />
dort bezahlen. Lohnen tut es sich schon, aber<br />
nur wenn man wirklich Zeit hat zu fahren“, erzählt<br />
ein Fahrer. Außerdem sei es immer eine<br />
„größere Aktion“, da sei <strong>das</strong> nahe gelegene<br />
Stuttgarter Waldgebiet „schon bequemer“.<br />
Wegen <strong>die</strong>ser Probleme, sowohl für Downhillfahrer<br />
als auch für andere Waldbenutzer, wurde<br />
von einigen Downhillern eine Initiative ergriffen,<br />
eine oder einige wenige der Strecken im<br />
Waldgebiet Dornhalde auszubauen und legalisieren<br />
zu lassen. Diese Idee wurde zunächst mit<br />
Freuden aufgegriffen und von vielen Seiten un-<br />
öffnet. Zeitungen, fernsehbeiträge und Bürger<br />
ereiferten sich darüber, was von der Ausstellung<br />
zu halten sei. immerhin sei rommel<br />
ein Kriegsheld der nazis gewesen, und sein<br />
tragisches ende könne ihn nicht einfach zum<br />
Widerstandskämpfer werden lassen.<br />
Auf <strong>die</strong> Frage, wieso <strong>das</strong> Haus der Geschichte<br />
gerade jetzt eine Ausstellung über Rommel<br />
bringt, antwortete <strong>die</strong> Ausstellungsleiterin<br />
Paula Lutum-Lenger in einem Interview mit<br />
der Süddeutschen Zeitung: „Manfred Rommel,<br />
der Sohn Erwin Rommels, hat uns wichtige Dokumente<br />
und persönliche Gegenstände seines<br />
Vaters zur Verfügung gestellt.“ Dies hätte <strong>die</strong><br />
Ausstellung erst ermöglicht. Zum anderen sei<br />
<strong>das</strong> Thema „einfach spannend“.<br />
Ziel <strong>die</strong>ser Ausstellung <strong>ist</strong> es, <strong>die</strong> Widersprüche<br />
von Rommels Leben herauszuarbeiten und es<br />
den Besuchern zu ermöglichen, sich ein eigenes<br />
Bild machen zu können. Die Inszenierung<br />
des Volkshelden und Vorzeigesoldaten Rommel<br />
ging so weit, <strong>das</strong>s selbst <strong>die</strong> Alliierten ihn<br />
würdigten, so wie der englische Politiker Winston<br />
Churchill, der ihn als „großen General“<br />
terstützt, da <strong>die</strong>s als eine Möglichkeit erschien,<br />
„Computerkinder“ und Jugendliche, <strong>die</strong> wenig<br />
an der frischen Luft sind, ins Freie zu locken.<br />
„Ist doch besser, wenn <strong>die</strong> draußen sind und ihren<br />
Spaß haben, als wenn <strong>die</strong> zu Hause vor ihren<br />
Computern versauern“ sagt ein Fürsprecher,<br />
der nicht genannt werden will. Dieses Argument<br />
schien jedoch nicht allen einzuleuchten,<br />
denn schon nach kurzer Zeit wurde eine Gegeninitiative<br />
ergriffen, und inzwischen soll wohl<br />
aus einer Legalisierung oder gar einem Ausbau<br />
nichts mehr werden. „Zuerst habe ich gedacht,<br />
jetzt würde endlich etwas zu Stande kommen,<br />
doch ganz langsam aber sicher <strong>ist</strong> es dann verschwunden,<br />
und jetzt scheint es tatsächlich,<br />
als ob da nichts mehr passiert“, erzählt Heiko<br />
N. aus Schönberg.<br />
Doch <strong>die</strong> Dornhalde scheint nicht <strong>das</strong> einzige<br />
Strecken-Gebiet zu sein: bei der Ruhbank nahe<br />
dem Fernsehturm erstreckt sich ein ganzes<br />
Netz von Strecken mit verschiedenen Variationsmöglichkeiten,<br />
bis direkt an den Anfang<br />
der <strong>Wo</strong>hngebiete, was natürlich ebenfalls nicht<br />
von den Anwohnern begrüßt wird. Das größere<br />
Problem im Gebiet Ruhbank-Fernsehturm sei<br />
jedoch, <strong>das</strong>s man nach dem Waldgebiet ein größeres<br />
Stück auf der Straße fahren muss, um zu<br />
den Bahnsteigen zu gelangen, was wiederum<br />
<strong>die</strong> Autofahrer verärgert. Vor allem weil „Downhillfahrer<br />
nicht unbedingt auf Verkehrsregeln<br />
achten“, so Tim B.<br />
Wie nun <strong>die</strong>ses Problem der illegalen Downhillstrecken<br />
und dem Ärger, den <strong>die</strong> Benutzer der<br />
Strecken ungewollt verursachen, zur Zufriedenheit<br />
aller gelöst werden kann, bleibt wohl vorerst<br />
noch offen. Klar <strong>ist</strong> aber, <strong>das</strong>s wohl beide<br />
Seiten, Fahrer und <strong>die</strong> Gegeninitiative, vieles<br />
dafür tun werden, <strong>das</strong> eigene Ziel zu verwirklichen.<br />
bezeichnete, da Rommel sich durch seine Gnade<br />
gegenüber den Besiegten und seine enormen<br />
strategischen Kenntnisse auszeichnete, <strong>die</strong> er<br />
in seinem Buch „Infanterie greift an“ niederschrieb.<br />
Aber auch in der Nachkriegszeit wurde<br />
Rommel noch geehrt, auch von ausländischen<br />
Me<strong>die</strong>n, wie z.B. in Henry Hathaways Film<br />
„Rommel, der Wüstenfuchs“ (USA, 1951), wo<br />
Die Ausstellung hat sich zum Ziel gesetzt,<br />
<strong>die</strong> Widersprüche im Leben Rommels<br />
herauszuarbeiten, so<strong>das</strong>s jeder Besucher<br />
sich selbst ein Bild machen kann.<br />
© Haus der Geschichte Baden-Württemberg<br />
Rommel jedoch als Widerstandskämpfer gezeigt<br />
wird. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />
wurden etliche Straßen nach ihm benannt;<br />
in Heidenheim wurde sogar ein Denkmal er-<br />
richtet.<br />
Übereinandergestapelte Bilder<br />
in Schieflage, kombiniert<br />
mit dezent beleuchteten<br />
Ausstellungsstücken im Vordergrund.<br />
So wird man empfangen,<br />
wenn man durch den<br />
breiten, dunklen Eingang den<br />
Ausstellungsraum zum „Mythos<br />
Rommel“ betritt. Vor den<br />
einander teils verdeckenden<br />
Bildern sind <strong>die</strong> beleuchteten,<br />
noch nie zuvor exponierten<br />
Ausstellungsstücke zu sehen.<br />
Diese sind Tagebucheinträge,<br />
Schlachtpläne, persönliche<br />
Wertgegenstände, sowie zahlreiche<br />
Orden und nicht zuletzt<br />
Rommels Feldmarschallstab.<br />
Alles <strong>ist</strong> in einem einzigen<br />
großen Raum, in verwinkelter Weise präsentiert.<br />
Den Raum läuft man im Uhrzeigersinn ab. Der<br />
Besucher verfolgt Rommels Leben gründlich<br />
aufgearbeitet und chronologisch geordnet – von<br />
seiner Jugend, über seine Karriere beim Militär<br />
und <strong>die</strong> Einsätze im 1. und 2. Weltkrieg, bis hin<br />
zu seinem durch Hitler erzwungenen Suizid.<br />
„Halsbrecherischer Humbug“, wie <strong>die</strong> eltern<br />
es gerne sagen – oder doch mehr als ein Hobby?<br />
Zum freestyle-Snowboarder wird man,<br />
wenn man mit einem Snowboard über „Kicker“<br />
springt, auf „rails grinded“ oder einfach<br />
irgendwo im funpark einen beliebigen<br />
trick macht, der auch gerne selbst erfunden<br />
sein kann. Die Aktionen müssen nicht mal in<br />
einem funpark stattfinden. Das ganze kann<br />
neben der P<strong>ist</strong>e, auf der P<strong>ist</strong>e und mitten im<br />
tiefschnee stattfinden. Hauptsache es wird<br />
getrickst, macht Spaß und pumpt Adrenalin<br />
durch den Körper. einfach freestyle (freier<br />
Stil) eben. Beim tricksen geht es auch nicht<br />
nur darum, den krassesten trick zu zeigen,<br />
sondern den „stylishsten“ mit dem me<strong>ist</strong>en<br />
Spaß.<br />
Für <strong>die</strong>se Art von Snowboard-fahren gibt es<br />
mittlerweile auch sehr viele Contests (Wettbewerbe),<br />
bei denen Judges (Schiedsrichter) <strong>die</strong><br />
Fahrer bei Tricks nach Style, Schwierigkeit, Sauberkeit<br />
der Tricks und vielem mehr bewerten.<br />
Seit 1998 <strong>ist</strong> <strong>die</strong>se Sportart auch bei den Olympischen<br />
Spielen im Programm, da ein großer<br />
Hype darum entstanden <strong>ist</strong>. Aus anfänglich 50<br />
Fahrern wurden Millionen, so<strong>das</strong>s quasi kaum<br />
ein Skigebiet mehr ohne einen Funpark für <strong>die</strong><br />
Snowboarder auskommt. Ein Funpark <strong>ist</strong> in der<br />
Regel ein außerhalb der P<strong>ist</strong>e künstlich angelegtes<br />
großes Gelände mit vielen „Obstacles“<br />
Selbst <strong>die</strong> Alliierten<br />
würdigten Erwin Rommel<br />
als „großen General“.<br />
© Haus der Geschichte<br />
Baden-Württemberg<br />
Der Rundgang endet mit Beiträgen zu Rommels<br />
Bedeutung für <strong>die</strong> Nachwelt.<br />
Während des Rundgangs kr<strong>ist</strong>allisiert sich<br />
<strong>die</strong> Person Rommels als <strong>die</strong> des ehrgeizigen,<br />
pflichtbewussten Soldaten<br />
heraus, der sich für Politik<br />
nicht besonders interessierte,<br />
sondern nur für seine Karriere<br />
lebte und mit seinem strategischen<br />
Verständnis und seinem<br />
politischen Desinteresse<br />
dem nationalsozial<strong>ist</strong>ischen<br />
Regime <strong>die</strong>nte. Propagandamin<strong>ist</strong>er<br />
Goebbels erkannte<br />
damals schnell, <strong>das</strong>s sich <strong>die</strong><br />
Figur Rommels gut zum Volksheld<br />
stilisieren ließ.<br />
Dazu werden durchgehend<br />
kurze Ausschnitte aus der<br />
„Deutschen <strong>Wo</strong>chenschau“<br />
gezeigt, <strong>die</strong> dem Besucher einen<br />
guten Einblick in <strong>die</strong> gesteuerte<br />
Informationspolitik<br />
des Regimes während des 2.<br />
Weltkriegs ermöglichen. Diese gut ausgewählten<br />
Filmabschnitte versetzen den Besucher, zusätzlich<br />
zu dem düsteren Raum, regelrecht in<br />
<strong>die</strong> damalige Stimmung. Gegen Ende der Ausstellung<br />
<strong>ist</strong> ein Foto von 1985 zu sehen, auf dem<br />
<strong>das</strong> Denkmal mit einem Tuch verhüllt <strong>ist</strong>, auf<br />
dem der kritische Satz steht: „Dem Nazi-Helden<br />
ein Denkmal?“<br />
Nikolaus Diez<br />
Keine normale<br />
Sportart<br />
Freestyle-Snowboarden macht<br />
zwar Spaß, doch immer fährt auch<br />
<strong>die</strong> Verletzungsgefahr mit.<br />
(Geräte zum Tricksen) und Kicker. Es gibt für<br />
alle Könnerstufen etwas. Kleine Kicker, um<br />
erstmal ein Gefühl fürs Springen zu bekommen,<br />
und riesige Kicker für <strong>die</strong> Professionellen, <strong>die</strong><br />
auch mal zehn Meter über dem Boden schweben<br />
oder abheben wollen.<br />
Wer aber nicht auf Kicker steht oder einfach mal<br />
ein bisschen auf dem Boden bleiben will, kann<br />
sich auch mit den übrigen „Obstacles“ begnügen.<br />
Da gibt es zum Beispiel so genannte Boxen,<br />
<strong>die</strong> aussehen wie eine kleine Mauer aus hartem<br />
Plastik, so<strong>das</strong>s man mit dem Snowboard auch<br />
gut drauf rutschen kann. Die kleinen Mauern<br />
gibt es auch mit einem Knick in der Mitte als<br />
Kurven („Courve-Box“), als abgerundet nach<br />
unten („Elephant- Box“) und in vielen weiteren<br />
Varianten, wobei den Erbauern hier kaum Grenzen<br />
gesetzt sind. Es gibt auch Boxen-ähnliche<br />
Wer nun denkt, Rommel selbst sei ein überzeugter<br />
Nazi gewesen, wird in <strong>die</strong>ser Ausstellung<br />
eines Besseren belehrt, da Rommel sich<br />
des Öfteren den Befehlen Hitlers widersetzte,<br />
ohne sich jedoch aktiv am Widerstand zu beteiligen.<br />
Er wusste zwar von dem geplanten Attentat<br />
auf Hitler durch Stauffenberg, lehnte <strong>die</strong>ses<br />
aber ab, da es seinen Prinzipien als treuer Soldat<br />
widersprach, einen Eid zu brechen. Rommel<br />
wurde letztendlich Opfer seines eigenen Ehrgeizes<br />
und seiner Prinzipien, aber auch Opfer<br />
der Propagandamaschinerie des Nazi-Regimes,<br />
dem er fleißig, in fast naiver Weise und ohne es<br />
wirklich zu wissen, ge<strong>die</strong>nt hat.<br />
Am Ausgang angekommen, zeigen sich <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en<br />
Besucher nachdenklich und etwas erschüttert.<br />
Herr M., der zu Zeiten Rommels noch ein<br />
Jugendlicher war, meint: „Ich kannte Rommel<br />
damals nur aus Erzählungen oder dem Radio;<br />
jetzt hab ich auf einmal ein ganz anderes Bild<br />
von ihm.“ Das Ziel der Ausstellung, <strong>das</strong>s jeder<br />
Besucher sich eine eigene Meinung bilden<br />
kann, wird erreicht. Um einen möglichst tiefen<br />
Eindruck zu gewinnen, sollte man sich Zeit<br />
nehmen und <strong>die</strong> zahlreichen Dokumente, wie<br />
Schlachtpläne und persönliche Briefe, in aller<br />
Ruhe lesen.<br />
Dies gilt besonders für <strong>die</strong> vielen, bisher ungezeigten<br />
Exponate, verbunden mit der bemerkenswerten<br />
h<strong>ist</strong>orischen Aufarbeitung durch<br />
<strong>die</strong> Aussteller. Es lohnt, sich selbst ein eigenes<br />
Bild zu machen über den „Mythos Rommel“.<br />
Gegenstände, <strong>die</strong> genau so aussehen, wie ein<br />
Picknick-Tisch (ein Tisch mit je einer Bank auf<br />
beiden Seiten).<br />
In manch einem Funpark sind dann noch<br />
„Rails“ zu finden, in mindesten genauso vielen<br />
Varianten wie Boxen. „Rails“ sehen aus wie<br />
Treppengeländer, können aber auch <strong>die</strong> Dicke<br />
eines Abflussrohrs erreichen. Auf <strong>die</strong>se Hindernisse<br />
kann man aufspringen und gerade drüber<br />
fahren, sich dabei drehen oder sonst irgendetwas<br />
machen, was einem gerade einfällt. Das<br />
hört sich jetzt vielleicht leicht an, <strong>ist</strong> es aber<br />
ganz und gar nicht. Wenn man einmal auf einer<br />
Stange <strong>ist</strong>, kommt man ohne <strong>die</strong> Schwerkraft<br />
nicht wieder runter, da man dann nicht mehr<br />
lenken kann und so drauf weiter fährt, wie man<br />
drauf gesprungen <strong>ist</strong>.<br />
Des weiteren kann man in manch einem Funpark<br />
so genannte „Bonk-Stämme“ oder „Bonk-<br />
Fässer“ finden. Das sind Stämme oder Fässer,<br />
<strong>die</strong> nach einem mittleren Kicker aufgestellt<br />
sind, <strong>die</strong> man dann mit seinem Snowboard beliebig<br />
in der Luft „antappen“ (berühren) kann.<br />
Dies empfiehlt sich jedoch nur für bessere Fahrer,<br />
da <strong>die</strong>s unter Umständen schmerzhaft enden<br />
kann.<br />
In großen Funparks findet man auch manchmal<br />
eine Halfpipe, <strong>die</strong> man vom Skaten kennt. Diese<br />
Halfpipe <strong>ist</strong> dort dann nicht aus Holz gebaut,<br />
sondern aus einer großen Menge Schnee.<br />
Fortsetzung auf Seite 16
Seite 16 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 17<br />
Fortsetzung von Seite 15<br />
Darüber hinaus gibt es noch „Quarterpipes“,<br />
„Hipp Jumps“ und alle möglichen Kreationen<br />
der Park-Erbauer.<br />
Solch ein Park <strong>ist</strong> auch auf dem Gletscher im<br />
Kaunertal zu finden. Dieser Gletscher <strong>ist</strong> cirka<br />
370 Kilometer von Stuttgart entfernt, liegt<br />
in Österreich und auf 2700 Metern Höhe. Das<br />
Skigebiet besteht aus einem Sessellift, drei<br />
Schleppliften, einer Gondel und einem schönen<br />
Funpark. Also kein großes Skigebiet, dafür<br />
kann man hier <strong>das</strong> ganze Jahr über Snowboard<br />
oder Ski fahren.<br />
Der nächste Ort <strong>ist</strong> 22 Kilometer von <strong>die</strong>sem<br />
Gletscher entfernt und heißt Feichten. Ein<br />
300-Seelen-Dorf. Hier versammelt sich immer<br />
wieder <strong>die</strong> Snowboard-Szene während der<br />
„Spring Classics“, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ses Jahr vom 18. April<br />
bis zum 1. Juni stattfanden. Das <strong>ist</strong> eine Veranstaltung<br />
mit Contests, Shredden (fahren) mit<br />
Kumpels und einfach nur Chillen. Das Besondere<br />
daran <strong>ist</strong>, <strong>das</strong>s es sehr warm <strong>ist</strong> und man<br />
Luise Wittwer<br />
ein Dorf voller<br />
Menschlichkeit<br />
In der Dorfgemeinschaft Tennental leben und<br />
arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung<br />
es <strong>ist</strong> noch sehr ruhig an <strong>die</strong>sem frühen Morgen<br />
in der Dorfgemeinschaft tennental, wo<br />
seit 1990 Behinderte nach chr<strong>ist</strong>lichen und<br />
anthroposophischen grundlagen betreut<br />
werden. Dunst hängt über den Ländereien,<br />
<strong>die</strong> man hinter den bunten Häusern entdecken<br />
kann. einzig <strong>die</strong> einmachküche und<br />
<strong>das</strong> B<strong>ist</strong>ro haben schon geöffnet. Die einen<br />
zum Putzen der weißen Plastikschuhe, <strong>die</strong><br />
zur Arbeit verwendet werden; <strong>die</strong> anderen,<br />
um den wenigen frühmorgendlichen Besuchern<br />
schon etwas anzubieten. Dass es so ruhig<br />
<strong>ist</strong>, liegt daran, <strong>das</strong>s an <strong>die</strong>sem Samstag<br />
im tennental ein gottes<strong>die</strong>nst stattfindet,<br />
an dem sowohl Betreute als auch Betreuende<br />
teilnehmen.<br />
In den bunten Häusern sind <strong>die</strong> Behinderten in<br />
so genannten „Familien“ untergebracht, <strong>die</strong> in<br />
aller Regel aus drei ausgebildeten Heil- und Sozialpädagogen<br />
und etwa neun Betreuten bestehen.<br />
Elf davon gibt es im Tennental. In <strong>die</strong>sen<br />
Familien wird den Betreuten ein Schutzraum<br />
geboten, aber dort sollen sie auch lernen, Verantwortung<br />
zu übernehmen. Und sei es nur <strong>das</strong><br />
Müslirichten am Morgen oder <strong>das</strong> Tischabwischen<br />
nach dem Essen.<br />
Außerdem besteht <strong>das</strong> Dorf noch aus den dreizehn<br />
unterschiedlichen Werkstätten. Jeder Betreute,<br />
der in der Dorfgemeinschaft lebt, gehört<br />
zu einer, <strong>die</strong> er sich zu Beginn seines Lebens-<br />
ohne Probleme im T- Shirt fahren kann, obwohl<br />
man fast 2 Meter Schnee und eine dicke Eisdecke<br />
unter sich hat. Im Tal kann man dann <strong>die</strong><br />
grünen Wiesen mit blühenden Pflanzen sehen.<br />
Dort waren meine Freunde und ich für ein <strong>Wo</strong>chenende,<br />
bei strahlender Sonne und babyblauem<br />
Himmel inklusive Sonnenbrand.<br />
Es <strong>ist</strong> eine tolle Angelegenheit, mit solch einer<br />
schönen Kulisse bei solch einer Wärme Snowboard<br />
zu fahren. Ein einziges Problem trübt den<br />
Spaß: Mittags wird durch <strong>die</strong> Wärme der Schnee<br />
sehr sulzig, und dann wird Boarden sehr anstrengend.<br />
Der Funpark im Kaunertal <strong>ist</strong> zwar nicht groß,<br />
wie <strong>das</strong> Skigebiet auch, aber er hat wirklich<br />
alles zu bieten – für Anfänger wie für Profis.<br />
Im Sommer <strong>ist</strong> <strong>die</strong>ser Ort zusammen mit Les<br />
deux Alpes <strong>die</strong> Anlaufstelle für alle Boarder aus<br />
Deutschland und Umgebung, <strong>die</strong> <strong>das</strong> Freestylen<br />
im Sommer nicht lassen wollen oder können.<br />
Snowboard-fahren <strong>ist</strong> keine normale Sportart<br />
wie Joggen oder Wandern. Beim Snowboard-<br />
abschnittes im Tennental aussucht. In <strong>die</strong>sen<br />
Betrieben ver<strong>die</strong>nen alle Geld, <strong>das</strong> gleich wieder<br />
in ihren Lebensunterhalt fließt. Im Dorfladen<br />
werden Waren verkauft, <strong>die</strong> zu großen Teilen<br />
aus den dorfeigenen Betrieben stammen, aber<br />
auch von anderen, streng biologisch geführten<br />
Betrieben. Im benachbarten B<strong>ist</strong>ro werden aus<br />
<strong>die</strong>sen Waren kleine Gerichte für <strong>die</strong> Bewohner<br />
der Dorfgemeinschaft, aber natürlich auch für<br />
Auswärtige, gekocht.<br />
Hergestellt werden <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en <strong>die</strong>ser Produkte<br />
in Gärtnerei, Landwirtschaft, Bäckerei,<br />
Einmachküche oder Käserei. Echte Männerarbeiten<br />
gibt es im Tennental aber auch.<br />
In Metallwerkstatt und Schreinerei werden<br />
hochwertige Alltagsgegenstände hergestellt.<br />
Und dann <strong>ist</strong> da noch <strong>die</strong> Astholzwerkstatt.<br />
Hier werden aus ganz normalen, knorrigen, verqueren<br />
Ästen Zwerge, Burgmauern, Bauklötze,<br />
Osterhasen und noch viel mehr gefertigt.<br />
Dieter Ha<strong>das</strong>ch <strong>ist</strong> der Chef der Werkstatt. Die<br />
Kommunikation zwischen behinderten und<br />
nicht behinderten Menschen sieht er nach wie<br />
vor als gestört an. Die Erzeugnisse seiner Werkstatt<br />
sollen helfen, <strong>die</strong>ses Problem zu schmälern:<br />
„Diese Kunstwerke werden in <strong>die</strong> Gesellschaft<br />
– also nach ‚draußen’ – gebracht, durch<br />
Kinder und Erwachsene, und verbinden so vielleicht<br />
Menschen mit dem so genannten Problem<br />
unserer Gesellschaft, vor dem man so gerne <strong>die</strong><br />
Augen verschließt.“<br />
Nämlich mit den Behinderten, vor denen man<br />
auf <strong>die</strong> andere Straßenseite flüchtet, <strong>die</strong> man<br />
nicht anschaut, wenn man nicht umhin kann,<br />
an ihnen vorbei zu gehen. Schlichtweg mit den<br />
Menschen, mit denen mancher, der nicht mit einer<br />
Behinderung lebt, nichts zu tun haben will.<br />
Sie werden uns vielleicht manchmal fremd erscheinen<br />
oder unverständlich oder unsereins<br />
schlicht überfordern. Aber nur, wenn man sich<br />
nicht auf <strong>die</strong>se besonderen Menschen einlässt<br />
und versucht, zwischen ihren Ticks sie selbst<br />
fahren geht es nicht nur um <strong>das</strong> Ausüben an<br />
sich, sondern es geht auch um <strong>die</strong> Klamotten,<br />
den Mut eines jeden und den Style einer<br />
ganzen Person. Man kann mit seinen Jungs in<br />
dem Park machen, was man will, und es sind<br />
kaum Grenzen gesetzt – <strong>die</strong> Grenze setzt man<br />
selbst. Man sollte aber stets auf seine eigenen<br />
Grenzen achten und sie nicht überstrapazieren,<br />
da sonst <strong>das</strong> passiert, was <strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en Eltern<br />
bei solch einer Extremsportart immer befürchten.<br />
Schnell hat man sich etwas gebrochen, wie<br />
Arme, Schultern, Beine. Aber auch schlimmere<br />
Verletzungen, zum Beispiel am Rücken, kommen<br />
immer wieder vor.<br />
Diese Sportart <strong>ist</strong> eher bei Jugendlichen beliebt.<br />
Leute, <strong>die</strong> älter als 40 sind, bleiben sowieso lieber<br />
außerhalb der Funparks, weil dort auch <strong>die</strong><br />
Stimmung oft sehr high <strong>ist</strong>. Der älteste mir bekannte<br />
Freestyle-Boarder <strong>ist</strong> 37 Jahre alt. Aber<br />
ab so einem Alter <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Verletzungsrisiko noch<br />
größer als sowieso schon, und daher <strong>ist</strong> es eine<br />
typische Jugendsportart.<br />
zu entdecken. Denn eigentlich sind <strong>die</strong> Menschen<br />
im Tennental gar kein „Problem“.<br />
Wir sollten uns eher alle etwas abgucken von ihnen.<br />
Wer von uns bringt schon <strong>die</strong> Geduld mit,<br />
etwas wieder und wieder zu versuchen, auch<br />
wenn es ein aussichtsloser Kampf <strong>ist</strong>? Und wer<br />
von uns vermag, sich über ein kleines Gänseblümchen<br />
so zu freuen, wie über Weihnachten?<br />
„Wir müssen uns einmal bewusst machen,<br />
schon ein kleiner Autounfall oder Fehler kann<br />
uns selbst in eine solche Lage bringen.“ Dies<br />
sagt mir einer der zwei Maschinenbauer, <strong>die</strong><br />
ab und zu mal in <strong>die</strong> Astholzwerkstatt kommen<br />
und <strong>die</strong> zahlreichen Maschinen reparieren<br />
und warten. „Und man kann unglaublich viel<br />
lernen“, sagt der andere, der einen roten BMW-<br />
Maschinenbaueranzug trägt.<br />
Dazu gibt es nicht nur <strong>das</strong> Seminar im Tennental,<br />
in dem junge Leute drei Jahre lang zu Heilpädagogen<br />
ausgebildet werden, sondern auch<br />
als Besucher kann man schon etwas lernen.<br />
Über Zwischenmenschliches. Dieses beginnt bei<br />
dem reinen Zusammensein mit den Betreuten.<br />
Und <strong>ist</strong> endlos fortzusetzen.<br />
Peer, der sich in der Astholzwerkstatt „sehr<br />
wohl fühlt, ja, sehr wohl, ja“, kann zum Beispiel<br />
gar nicht genug lernen. Er kommt zu Dieter<br />
Ha<strong>das</strong>ch und fragt: „Was kann ich noch tun?“<br />
In den Werkstätten werden unter anderem<br />
Kunstobjekte und Spielzeuge produziert<br />
und anschließend im Hofladen verkauft.<br />
Die Antwort kommt wie aus der P<strong>ist</strong>ole geschossen:<br />
„Saubermachen. Wirst schon was finden.“<br />
Dieter Ha<strong>das</strong>ch <strong>ist</strong> in seiner wortkargen, tatkräftigen<br />
Art hier stellvertretend für <strong>die</strong> Art<br />
der Betreuenden im Tennental, mit den ihnen<br />
Anvertrauten umzugehen. Denn obwohl sie niemals<br />
<strong>die</strong> Achtung vor den Bewohnern des Tennentals<br />
verlieren würden, sind sie ohne <strong>Wo</strong>rte<br />
dominierend und verlieren sich nicht etwa in<br />
Babysprache oder Ähnlichem im Umgang mit<br />
den Betreuten.<br />
Für Dieter Ha<strong>das</strong>ch <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Holz allein <strong>die</strong> Therapie<br />
für <strong>die</strong> Bewohner des Tennentals. Wenn<br />
durch <strong>die</strong> Arbeit damit ihre Sinne angeregt werden,<br />
wenn sie hören, wie <strong>die</strong> Maschinen brummen,<br />
wenn sie fühlen, wie aus knorrigen Ästen<br />
weiche, sanfte Kunstobjekte und Spielzeuge<br />
werden, dann werden eventuell Regungen wieder<br />
freigelegt, <strong>die</strong> bis dahin als fehlend oder<br />
Julius Bittermann<br />
Der trend geht<br />
in richtung<br />
Verkleinerung<br />
Im Handwerk sind <strong>die</strong> Auswirkungen<br />
der Krise auch für kleine und mittelständische<br />
Unternehmen besonders stark zu spüren.<br />
In Zeiten der Wirtschaftskrise, <strong>die</strong> alle mittelständischen<br />
Unternehmen direkt oder indirekt<br />
trifft, <strong>ist</strong> es interessant zu wissen, welche Perspektiven<br />
sich in unmittelbarer und mittelbarer<br />
Zukunft abzeichnen werden. Zu <strong>die</strong>sen<br />
Betrieben gehören selbstverständlich auch <strong>die</strong><br />
Handwerksbetriebe in unterschiedlichen Betriebsgrößen.<br />
Wenn <strong>das</strong> Handwerk früher einen<br />
goldenen Boden hatte, so geht es heute einer<br />
ungewissen, unsicheren Zukunft entgegen.<br />
Drohender Arbeitsplatzverlust und Kurzarbeit<br />
in den Industriebetrieben wirken sich negativ<br />
auf <strong>die</strong> Kaufkraft aus. Das gleiche gilt auch<br />
für <strong>die</strong> Inanspruchnahme von Le<strong>ist</strong>ungen der<br />
Handwerksbetriebe.<br />
Die Veränderungen in unserer Arbeitswelt werden<br />
immer kurzfr<strong>ist</strong>iger, verbunden mit wirtschaftlichen<br />
und strukturellen Konsequenzen<br />
im Handwerk. Innovation <strong>ist</strong> im Handwerk Vorraussetzung.<br />
Jeder neue Auftrag bedeutet individuelle<br />
Lösungen.<br />
Vorraussetzungen sind Disziplin, Flexibilität,<br />
ein enormes Fachwissen und andauernde Weiterbildung.<br />
Die modernen Handwerksme<strong>ist</strong>er<br />
müssen sehr vielseitig sein. Neben technischen<br />
müssen sie betriebswirtschaftliche, kaufmännische<br />
und rechtliche Kenntnisse in hohem<br />
Maß haben. Sie müssen sich Marketingstrategien<br />
ausdenken und sich mit Personalfragen<br />
mangelhaft ausgebildet galten. „Jeder noch so<br />
kleine Schritt in <strong>die</strong>se Richtung <strong>ist</strong> Therapie<br />
genug“, so Ha<strong>das</strong>ch.<br />
„Am schönsten <strong>ist</strong> es, wenn wir feiern im Tennental…“<br />
Das sagt einer der Bewohner des Tennentals.<br />
Auch <strong>die</strong> Feste sind Therapie. Hier <strong>ist</strong><br />
man gesellig beieinander und tauscht sich aus.<br />
Gesellschaftlicher Austausch findet auch in<br />
den vielen kulturellen Veranstaltungen im Tennental<br />
statt, wo sich wieder Menschen mit und<br />
ohne Behinderung mischen. Dazu gibt es im<br />
Tennental eine eigene Theatergruppe, <strong>die</strong> regelmäßig<br />
auftritt, zuletzt mit „Ein Engel kommt<br />
nach Babylon“ von Friedrich Dürrenmatt.<br />
Inzwischen sind <strong>die</strong> anderen Werkstätten auch<br />
erwacht. In der Astholzwerkstatt wird fleißig<br />
Holz sortiert, aus der Metallwerkstatt dringen<br />
laute Fräsgeräusche, im Dorfladen gehen Menschen<br />
aus und ein und eine Gruppe „Tennen-<br />
auseinandersetzen. Bürokratie und zuweilen<br />
fragwürdige Verordnungen des Gesetzgebers<br />
nehmen viel Zeit in Anspruch.<br />
Dass handwerkliche Tradition und technische<br />
Innovation keine Gegensätze sein müssen,<br />
sondern sich ergänzen, stellt <strong>die</strong> Firma Huber<br />
(Name geändert) immer wieder unter Beweis.<br />
Das Unternehmen wird in zweiter Generation<br />
geführt und bietet Lösungen rund um <strong>die</strong><br />
Haustechnik an. Die Befragung des Firmeninhabers<br />
ergab eine differenzierte Analyse des<br />
Ist-Zustandes, sowie eine Zukunftsprognose<br />
seines Handwerks. Über 30 Mitarbeiter stehen<br />
tagtäglich vor neuen Herausforderungen. Die<br />
Ausbildung junger Menschen <strong>ist</strong> dem Firmeninhaber<br />
sehr wichtig. „In meinem Unternehmen<br />
werden Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs-<br />
und Klimatechnik ausgebildet“, erzählt<br />
Herr Huber stolz.<br />
Trotz vieler Schulabgänger, <strong>die</strong> auf der Suche<br />
nach einem Ausbildungsplatz sind, <strong>ist</strong> es<br />
heutzutage jedoch schwer, Bewerber mit ausreichender<br />
Qualifikation für <strong>die</strong> zur Verfügung<br />
stehenden Ausbildungsplätze zu finden. Keine<br />
oder nur sehr schlechte Abschlusszeugnisse<br />
und fehlende Sozialkompetenz wirken hier erschwerend.<br />
Das Ansehen der Handwerksberufe <strong>ist</strong> nicht<br />
mehr so, wie es einmal war. Nicht zuletzt durch<br />
<strong>die</strong> hohen Kosten bei Inanspruchnahme einer<br />
Le<strong>ist</strong>ung. Nicht jeder weiß, <strong>das</strong>s Stundenverrechnungssatz<br />
nicht gleich Stundenver<strong>die</strong>nst<br />
<strong>ist</strong>. Der Gewinn an einer Arbeitsstunde <strong>ist</strong>, bei<br />
den hohen Lohnnebenkosten, oft verschwindend<br />
gering. Hohe Sozialversicherungsabgaben<br />
und Steuerlasten fressen <strong>die</strong> Betriebe auf. Kredite<br />
sind bei Banken nur noch erschwert zu bekommen,<br />
wenn doch, dann nur gegen immense<br />
Sicherheiten. Auf der anderen Seite sind <strong>die</strong> Betriebe<br />
selbst oft auch noch Bank. Die Zahlungsmoral<br />
der Kundschaft <strong>ist</strong> häufig schleppend bis<br />
ganz schlecht. Dadurch können Liquiditätsschwächen<br />
entstehen. Sie stellen jedoch nach<br />
täler“ steht auf dem Dorfplatz und unterhält<br />
sich. Daneben schaukeln Kinder, Windspiele<br />
drehen sich und <strong>die</strong> Sonne durchbricht <strong>die</strong> <strong>Wo</strong>lken.<br />
Es scheint wie im Para<strong>die</strong>s. Einzig <strong>die</strong> weißen<br />
Plastikschuhe stören.<br />
In den bunten Häusern des Dorfes<br />
leben jeweils neun Behinderte mit ihren<br />
Betreuern in so genannten „Familien“<br />
wie vor viele Ausbildungsplätze zur Verfügung.<br />
Garantierte Fertigstellungstermine, Festpreise,<br />
Qualitätsstandards und Qualitätszertifikate<br />
sind heute so normal wie eine fun<strong>die</strong>rte Beratung,<br />
Servicele<strong>ist</strong>ungen und Problemlösungen.<br />
Fast jeder Kunde verhandelt wegen Preisnachlässen<br />
oder versucht, durch Einbehalte und<br />
durch Reklamationen Preisnachlässe zu erzielen.<br />
Einen Auftrag zu erhalten und einen Kunden<br />
längerfr<strong>ist</strong>ig an einen Handwerksbetrieb<br />
zu binden, <strong>ist</strong> sehr schwer geworden. Gewisse<br />
Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft werden<br />
aber vorsichtig geäußert.<br />
Der Bedarf an Dienstle<strong>ist</strong>ungen war bis zur Finanzkrise<br />
leicht steigend. Herr Huber <strong>ist</strong> der<br />
Meinung, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> Handwerk den veränderten<br />
Erwartungen und Wünschen seiner<br />
Kundschaft vermehrt anpassen muss. Aber darin<br />
liegt auch eine Chance. Der Kunde erwartet,<br />
<strong>das</strong>s seine komplexen Aufgabenstellungen<br />
souverän und kompetent gelöst werden, dann<br />
<strong>ist</strong> er auch bereit, wieder einen Handwerker zu<br />
beauftragen und <strong>die</strong> erbrachte Le<strong>ist</strong>ung auch<br />
zu bezahlen, statt vieles im Do-it-yourself-Verfahren<br />
zu machen.<br />
Um komplexe Aufträge übernehmen zu können,<br />
müssen mehrere Gewerke unter einer Federführung<br />
zusammengefasst werden. Dies kann<br />
entweder innerbetrieblich oder durch Zusammenschluss<br />
von Handwerksbetrieben unterschiedlicher<br />
Gewerke erfolgen. Beide Alternativen<br />
bringen eine Vielzahl von Problemen mit<br />
sich, so z.B. Finanzierung, Haftung und Koordination<br />
der Gewerke. Zudem wäre eine Verabschiedung<br />
alter Strukturen notwendig. Nicht<br />
mehr der Handwerksme<strong>ist</strong>er als Einzelkämpfer<br />
wäre gefragt, sondern eine teamfähige Gemeinschaft<br />
von Handwerksbetrieben. Dies <strong>ist</strong> aber<br />
nicht von heute auf morgen zu erreichen. Ob<br />
<strong>die</strong> dazu erforderlichen Aufbauphasen mit der<br />
rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Schritt<br />
halten können, <strong>ist</strong> im voraus schwer abzusehen.<br />
Fortsetzung auf Seite 18
Seite 18 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009 Seite 19<br />
Fortsetzung von Seite 17<br />
Allerdings glaubt Huber nicht, <strong>das</strong>s Handwerksbetriebe<br />
im althergebrachten Strickmuster noch<br />
lange überlebensfähig sein werden. Bereits seit<br />
geraumer Zeit bieten Generalunternehmer, <strong>die</strong><br />
gleichzeitig auch als Bauunternehmer auftreten<br />
können, schlüsselfertige Gesamtobjekte an.<br />
Noch werden hier Le<strong>ist</strong>ungen an Einzelhandwerker<br />
untervergeben, allerdings mit heftigem<br />
Preisdruck. Es besteht durchaus <strong>die</strong> Gefahr,<br />
<strong>das</strong>s Handwerksbetriebe aufgrund vorüberge-<br />
Tim Reiter<br />
ein einziger<br />
fehler kann<br />
mehrere Plätze<br />
kosten<br />
Der 1. WM-Qualifikationswettkampf 2009 im<br />
Rhönradturnen – ein Erfahrungsbericht<br />
7:00 uhr: Aufstehen am Wettkampftag. für<br />
einen ferien-Samstag recht früh, vor allem,<br />
da sportliche Le<strong>ist</strong>ungen erbracht werden<br />
müssen. Beim Aufwachen fühlte ich sofort<br />
<strong>die</strong> vertraute Wettkampfstimmung. und den<br />
Wunsch, <strong>die</strong> nächsten fünf Stunden seien<br />
schon vorbei. Aber da muss man durch. Mit<br />
offenen Augen. um 10:45 begann der Wettkampf.<br />
Drei Disziplinen hieß es zu absolvieren:<br />
Zuerst Sprung, dann gerade, zum Schluss<br />
Spirale. Aber um welche Sportart handelt es<br />
sich hier denn?<br />
Es <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Rhönradturnen. Rhönrad – Wer macht<br />
<strong>das</strong> schon? Sicherlich hat <strong>das</strong> Rhönradturnen<br />
einen sehr geringen Bekanntheitsgrad, und es<br />
gibt vergleichsweise wenige, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Sport<br />
betreiben. Trotzdem darf man nicht denken,<br />
<strong>das</strong>s es deswegen leicht wäre, weit zu kommen.<br />
Am 28. Februar 2009 fand der erste Qualifikationswettkampf<br />
zu der Weltme<strong>ist</strong>erschaft 2009<br />
im Rhönradturnen statt. Zu <strong>die</strong>sem Wettkampf<br />
werden alle Mitglieder des Nationalkaders zugelassen,<br />
in meiner Le<strong>ist</strong>ungsklasse waren es<br />
zehn von maximal dreizehn Turnern. Insgesamt<br />
gibt es zwei solcher Wettkämpfe, je nach Platzierung<br />
sammelt man Punkte, und <strong>die</strong> ersten<br />
sechs dürfen zur WM in Baar in der Schweiz<br />
fahren. Egal welche Sportart man betreibt, zu<br />
einer Weltme<strong>ist</strong>erschaft kommen nur <strong>die</strong> Besten.<br />
Damit man während des Wettkampfes<br />
nicht auf <strong>die</strong> Nase fliegt, gibt es <strong>das</strong> Einturnen.<br />
Am Abend vor dem Wettkampf und am<br />
Samstag selbst darf jeder Turner seine Übungen<br />
probeweise turnen. Auch ich merkte einen<br />
Unterschied im Vergleich zu dem Feuerbacher<br />
Hallenboden, auf dem ich normalerweise trai-<br />
hender Liquiditätsprobleme von einem Generalunternehmen<br />
geschluckt werden. Dieser Gefahr<br />
könne man Hubers Ansicht nach nur durch<br />
Ausweichen in Marktnischen, sowie durch Zusammenschluss<br />
mehrerer Handwerksbetriebe<br />
entgegentreten, zum Beispiel von Haustechnikern<br />
mit Elektrikern, Gipsern, Malern und<br />
Glasern. Was allerdings mit solchen Zusammenschlüssen<br />
bei lang anhaltender Rezession<br />
passiert, bleibt offen. Werden sie auseinander<br />
brechen oder haben sie eine Zukunftschance?<br />
niere. Bei gleichen Bewegungen bewegte sich<br />
<strong>das</strong> Rad hier um einiges schneller. Nach einiger<br />
Zeit hatte ich den Bogen raus und konnte meine<br />
Übungen gut turnen. Alles klappte gut, aber<br />
würde es auch am nächsten Tag funktionieren?<br />
Aber <strong>das</strong> Einturnen <strong>ist</strong> auch nützlich, um zu<br />
sehen, wie <strong>die</strong> Konkurrenz turnt. Und schnell<br />
merkte ich: Das wird ein heißes Kopf-an-Kopf-<br />
Rennen. Doch auch wenn man gegeneinander<br />
turnt, <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Stimmung nicht gereizt. Einige<br />
Turner kennt man schon von anderen Wettkämpfen,<br />
und neue Freundschaften werden<br />
auch schnell geschlossen, schließlich geht es ja<br />
nicht um Geld. Aber um etwas mehr als nur um<br />
Spaß.<br />
Sechs von zehn Startern dürfen also zur WM?<br />
Das klingt einfach, <strong>ist</strong> es aber mitnichten, da<br />
<strong>das</strong> Können der Turner sehr nah beieinander<br />
liegt. So kann einen schon<br />
ein einziger Fehler einige<br />
Plätze nach hinten schieben.<br />
Natürlich <strong>ist</strong> <strong>das</strong> Training<br />
in der Vorbereitung auf<br />
<strong>die</strong> Wettkämpfe in vollem<br />
Gange, wenn jedoch <strong>die</strong> Tagesform<br />
nicht stimmt, hilft<br />
alles nichts mehr. Jede<br />
Sporthalle hat ihren eigenen<br />
Boden, und beim Rhönrad<br />
merkt man <strong>die</strong> Unterschiede<br />
gewaltig. Je nachdem, wie<br />
rutschig der Belag <strong>ist</strong> und um<br />
wie viel der Boden nachgibt,<br />
muss man anders reagieren.<br />
Somit war auch bei mir <strong>die</strong><br />
Anspannung sehr hoch, <strong>die</strong><br />
Chancen auf eine WM hat<br />
man ja nicht alle Tage.<br />
Beim „Sprung“ muss man<br />
<strong>das</strong> Rhönrad anschubsen,<br />
damit es auf eine Weichbodenmatte<br />
zurollt. Kurz bevor<br />
es <strong>die</strong>se erreicht, läuft<br />
man los, springt auf <strong>das</strong> Rad und springt vom<br />
Rad auf <strong>die</strong> Matte. Je nachdem, wie man hinunter<br />
springt (Salto, Schraube, etc.), bekommt<br />
man eine höhere Schwierigkeitswertung. Dazu<br />
kommt <strong>die</strong> Ausführungswertung, <strong>die</strong> bei korrekter<br />
Ausführung der Übung hoch, bei Fehlern<br />
(z.B. ein nicht gestrecktes Knie) niedriger <strong>ist</strong>.<br />
Das Ganze dauert nicht länger als 7 Sekunden.<br />
Ich hatte mich für einen Sprung mit niedriger<br />
Beim Rhönrad-Turnen kommt<br />
es auf <strong>die</strong> Körperspannung an,<br />
aber auch auf <strong>die</strong> Beschaffenheit<br />
des Hallenbodens.<br />
Der momentane Trend vieler Handwerksbetriebe<br />
geht derzeitig, aufgrund der rückläufigen Auftragslage,<br />
notgedrungen in Richtung Verkleinerung.<br />
Dies kann aber keine Lösung von Dauer<br />
sein.<br />
Sollte eine langfr<strong>ist</strong>ige Verknappung von Handwerksbetrieben<br />
<strong>die</strong> Folge sein, werden andere<br />
Lösungen gesucht und gefunden werden. Ob<br />
<strong>das</strong> Handwerk dann noch Einfluss auf neue Entwicklungen<br />
haben und <strong>die</strong>se mitgestalten wird,<br />
<strong>ist</strong> äußerst fraglich.<br />
Schwierigkeitswertung entschieden, einen<br />
gebückten Salto vorwärts, um eine möglichst<br />
hohe Ausführungswertung zu bekommen. Kurz<br />
vor dem Sprung noch ein kleines Aufwärmen,<br />
etwas beruhigen, damit der Adrenalinspiegel<br />
nicht zu hoch <strong>ist</strong>, dann ging es los. Es klappte,<br />
nur ein Schritt bei der Landung kostete mich<br />
ein wenig Punkte. Prima, <strong>die</strong> erste Hürde wurde<br />
überwunden! Ich konnte einen kleinen Vorsprung<br />
rausschlagen und befand mich auf dem<br />
dritten Platz.<br />
Doch <strong>die</strong> Erleichterung währte nicht lange,<br />
jetzt musste ich mich auf <strong>die</strong> „Gerade“ konzentrieren.<br />
Die „Gerade“ <strong>ist</strong> <strong>die</strong> einfachste Disziplin.<br />
Man befindet sich innerhalb des Rhönrades<br />
und bringt es mit seinem Körpergewicht<br />
in Bewegung. Insgesamt muss man acht verschiedene<br />
Elemente turnen. Auch hier gibt es<br />
wieder Schwierigkeits- und<br />
Ausführungswertung; allerdings<br />
kam es bei <strong>die</strong>sem<br />
Wettkampf fast nur auf <strong>die</strong><br />
Ausführung an, da ich und<br />
<strong>die</strong> me<strong>ist</strong>en meiner Konkurrenten<br />
maximale Schwierigkeit<br />
hatten. Die Dauer liegt<br />
bei ca. zwei bis drei Minuten.<br />
Keines meiner Elemente <strong>ist</strong><br />
normalerweise ein großes<br />
Risiko für mich. Auch jetzt<br />
klappte alles gut, hier und<br />
da ein kleiner Ausführungsfehler,<br />
aber <strong>das</strong> war nicht<br />
sonderlich schlimm. Gegen<br />
Ende hin jedoch schätzte<br />
ich den Boden falsch und<br />
nahm zu wenig Schwung:<br />
Großabzug. Doch der Rest<br />
funktionierte einwandfrei.<br />
7,75 von 10 Punkten, da<br />
kann man zufrieden sein.<br />
Gesichert <strong>ist</strong> der Platz unter<br />
den Top 6 noch nicht, <strong>die</strong>s wird <strong>die</strong> Spirale entscheiden.<br />
Bei der „Spirale“ rollt <strong>das</strong> Rad auf nur einem Reifen<br />
in Kreisbahnen. Dadurch sind in der Gerade<br />
einfache Elemente bei der Spirale um einiges<br />
schwerer. Die Spirale <strong>ist</strong> in zwei Teile aufgeteilt:<br />
Zuerst kippt man <strong>das</strong> Rhönrad und turnt <strong>die</strong><br />
große Spirale (hier zieht der Turner große Kreise,<br />
bei einem Neigungswinkel von ca. 60 Grad),<br />
dann verringert man den Neigungswinkel und<br />
muss dann in der kleinen Spirale <strong>das</strong> Rad, <strong>das</strong><br />
nun in kleinen Kreisen „kreiselt“, durch Muskelkraft<br />
zum Stehen auf beiden Reifen bringen. Es<br />
gibt auch hier verschiedene Möglichkeiten, <strong>die</strong><br />
Spirale auszuführen; je schwieriger, desto mehr<br />
Punkte gibt es in der Schwierigkeitswertung.<br />
Auch wenn es bisher gut lief, war hier noch einmal<br />
volle Konzentration gefordert.<br />
Gleich zu Beginn meiner Kür hielt ich <strong>das</strong> Rad<br />
nicht unter Kontrolle, so befand es sich kurze<br />
Zeit wieder auf beiden Reifen. Doch darüber<br />
konnte ich mir keine weiteren Gedanken ma-<br />
Der Schüler Maximilian Höhnle (17 Jahre) hat<br />
seit letzten Sommer den Führerschein der Klasse<br />
B und nutzt seither jede Möglichkeit, mit<br />
dem Auto durch <strong>die</strong> Stadt zu fahren. Der Gymnasiast<br />
<strong>ist</strong> einer von vielen Jugendlichen, <strong>die</strong><br />
bei dem Modell „Begleitetes Fahren ab 17“ mitgemacht<br />
haben.<br />
Einige Zeit <strong>ist</strong> seit der Einführung des umstrittenen<br />
Gesetzesentwurfs nun vergangen. Am<br />
1. Januar 2008 wurde der Führerschein ab siebzehn<br />
auch in Baden-Württemberg eingeführt.<br />
Das Modell, welches in Niedersachsen bereits<br />
seit fünf Jahren läuft, sieht vor, <strong>das</strong>s Jugendliche<br />
den Autoführerschein der Klasse B (Pkw)<br />
und BE (Pkw mit Anhänger) schon mit siebzehn<br />
erhalten können, unter der Bedingung, <strong>das</strong>s<br />
sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr einen erfahrenen<br />
Erwachsenen als ständigen Beifahrer<br />
mitnehmen.<br />
Die Begleitperson muss mindestens fünf Jahre<br />
Fahrerfahrung vorweisen, über dreißig sein und<br />
darf höchstens drei Punkte in Flensburg haben.<br />
Dies soll verhindern, <strong>das</strong>s der Jugendliche mit<br />
einem erwachsenen Fahranfänger unterwegs<br />
<strong>ist</strong>, welcher nicht verantwortungsbewusst mit<br />
seiner Rolle als Begleiterperson umgeht. Es <strong>ist</strong><br />
eine beliebige Anzahl an Begleitern möglich, <strong>die</strong><br />
me<strong>ist</strong>en Jugendlichen beschränken sich jedoch<br />
auf <strong>die</strong> Eltern als Helfer im Straßenverkehr.<br />
Das Gesetz hatte ursprünglich <strong>das</strong> Ziel, <strong>die</strong><br />
überdurchschnittlich hohe Zahl an Verkehrsunfällen<br />
zu verringern, welche von jungen Menschen<br />
zwischen 18 und 25 Jahren verursacht<br />
werden. Doch schon jetzt <strong>ist</strong> es ein Erfolg, der<br />
weit über <strong>das</strong> Erhoffte hinaus geht. Maximilian<br />
Höhnle hat seinen Führerschein seit dem letzten<br />
Sommer und <strong>ist</strong> seitdem so oft wie möglich<br />
mit dem Auto unterwegs. In Begleitung seiner<br />
Mutter fährt er jede <strong>Wo</strong>che zum Saxophonunterricht,<br />
und auch an den Bodensee <strong>ist</strong> er schon<br />
gefahren. Der Gymnasiast aus dem Stuttgarter<br />
Westen brauchte zwar überdurchschnittlich<br />
viele Fahrstunden, bestand aber bei beiden<br />
Prüfungen (theoretischer und praktischer Teil)<br />
schon beim ersten Mal.<br />
Er <strong>ist</strong> auch deshalb der Ansicht, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gesetz<br />
eine gute Möglichkeit sei, <strong>das</strong> in der Fahrschule<br />
gelernte Wissen noch ein Jahr zu üben, ohne<br />
gleich vollkommen auf sich allein gestellt zu<br />
sein. „Ich denke, man kommt sicherer im Stra-<br />
chen, der Rest musste klappen. Leider sammelte<br />
ich <strong>die</strong> restliche Zeit auch Punktabzüge – bis<br />
der erste (und zum Glück letzte) große Fehler<br />
kam: In der kleinen Spirale verschätzte ich<br />
mich und musste aussteigen. Ein bitteres Ende,<br />
gibt ein Sturz doch gleich 0,8 Punkte Abzug,<br />
von insgesamt maximal 10 Punkten.<br />
Ärgerlich, jedoch nicht wieder gut zu machen.<br />
Dadurch war mir ein Podestplatz unerreichbar,<br />
doch für einen vierten Platz hat es gereicht.<br />
Wenn ich es bei der zweiten Qualifikation noch<br />
einmal schaffe, unter <strong>die</strong> Top 6 zu kommen,<br />
steht der WM nichts mehr im Weg.<br />
Johannes Feszler<br />
ein erfolgs-<br />
modell für junge<br />
Autofahrer<br />
Das begleitete Fahren mit siebzehn<br />
soll Jugendliche richtig auf den<br />
Straßenverkehr vorbereiten<br />
ßenverkehr zurecht, denn <strong>die</strong> Begleitpersonen<br />
können einem in einigen Situationen helfen“,<br />
so der 17-Jährige.<br />
Trotzdem kann Maximilian Höhnle sich nur an<br />
ganz wenige junge Leute in seiner Fahrschule<br />
erinnern, <strong>die</strong> auch schon den Führerschein ab<br />
siebzehn gemacht haben. Das zeigt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />
Modell „Begleitetes Fahren ab siebzehn“ noch<br />
jung und unbekannt <strong>ist</strong>. Jedoch steigen <strong>die</strong><br />
Zahlen von 17-jährigen Autofahrern monatlich<br />
an, Dank der Werbung vieler Fahrschulen. Maximilian<br />
Höhnle fügt außerdem hinzu, <strong>das</strong>s <strong>die</strong><br />
Vorfreude auf <strong>das</strong> alleinige Autofahren nach<br />
dem Jahr mit Begleitung viel höher sei, als<br />
wenn man gleich von Beginn an alleine fahren<br />
müsse.<br />
Wegen der steigenden Bekanntheit und den<br />
überaus niedrigen Zahlen in der Unfallstat<strong>ist</strong>ik<br />
<strong>ist</strong> es fast schon sicher, <strong>das</strong>s <strong>die</strong> Laufzeit des<br />
Modells über den 31. Dezember 2010 hinausgehen<br />
wird. Denn ursprünglich wurde <strong>das</strong> vorher<br />
nicht ganz unumstrittene Projekt auf einen begrenzten<br />
Zeitraum festgesetzt, um <strong>die</strong> Brauchbarkeit<br />
und Wirkung des begleiteten Fahrens<br />
mit siebzehn zu testen.<br />
Auch <strong>die</strong> baden-württembergische Landesregierung<br />
zieht aus den bisher gesammelten Erfahrungen<br />
eine positive Bilanz. Knapp 33 000<br />
Jugendliche im Alter zwischen 17 und 18 hätten<br />
den Führerschein in Baden-Württemberg<br />
im ersten Jahr erworben, nur sieben mussten<br />
ihn wegen Verstößen gegen <strong>die</strong> Begleitauflagen<br />
wieder abgeben. Der Innenmin<strong>ist</strong>er von Baden-<br />
Württemberg <strong>ist</strong> sogar davon überzeugt, <strong>das</strong>s<br />
sich <strong>die</strong>ses Modell in den nächsten Jahren als<br />
Dauerlösung etablieren wird!<br />
Für einen Podestplatz hat es nicht gereicht, doch<br />
noch <strong>ist</strong> <strong>die</strong> WM-Teilnahme in greifbarer Nähe.<br />
Mit den <strong>Wo</strong>rten „Super Sache“ beschreibt auch<br />
Hans Scheible, seit vielen Jahren als Fahrlehrer<br />
in Zuffenhausen tätig, den Gesetzentwurf „Begleitetes<br />
Fahren ab 17 Jahren“ und freut sich,<br />
<strong>das</strong>s <strong>die</strong>ser sich endlich auch in Baden-Württemberg<br />
hat durchsetzen lassen. Er sieht nur<br />
positive Seiten an dem Modell. Der 63-Jährige<br />
sieht viele Vorteile, sowohl für den Führerscheininteressierten<br />
als auch für den Verkehrsfluss.<br />
Fehlende Fahrerfahrung, hohe Risikobereitschaft<br />
bei jungen Menschen und problematische<br />
Stimmung im Fahrzeug erzeugen eine erhöhte<br />
Unfallgefahr. Deshalb <strong>ist</strong> es aus Sicht des Fahrlehrers<br />
der richtige Ansatz, dem Fahranfänger<br />
einen erfahrenen Kraftfahrer zur Seite zu<br />
geben. So geht <strong>das</strong> in der Fahrschule erlernte<br />
Wissen nicht so schnell verloren, wenn ein interessierter<br />
Beifahrer immer wieder auf wichtige<br />
Dinge im Straßenverkehr hinwe<strong>ist</strong>. Die seit der<br />
Einführung sinkenden Unfallzahlen belegen<br />
<strong>die</strong> Argumente Hans Scheibles nachhaltig.<br />
Er habe in den Jahren vor der Einführung des<br />
begleiteten Fahrens viele junge 18-jährige<br />
Fahrschüler gehabt, denen es gut getan hätte,<br />
nach dem Abschluss des Fahrunterrichts einen<br />
Erwachsenen neben sich zu wissen. Denn<br />
wichtige Tipps des bekannten Begleiters können<br />
in schwierigen Verkehrssituationen bei<br />
der Reifung zum gestandenen Autofahrer fast<br />
genauso wichtig sein wie <strong>die</strong> Anweisungen des<br />
Fahrlehrers. „Man kann durch <strong>die</strong>ses eine Jahr<br />
in ständiger Begleitung wichtige Erfahrungen<br />
sammeln, von denen man ein Leben lang profitieren<br />
wird“, so der Fahrlehrer aus dem Stuttgarter<br />
Norden.<br />
Die rundum positiven Stimmen überraschen,<br />
angesichts der heißen Debatten, <strong>die</strong> vor der Ein-<br />
führung fast überall von Experten geführt wurden.<br />
Doch <strong>die</strong>se Diskussionen sind seit der nunmehr<br />
sechs Jahre anhaltenden Erfolgsgeschichte,<br />
<strong>die</strong> mit der Einführung in Niedersachsen<br />
begann, endgültig verstummt. Mitunter häufen<br />
sich <strong>die</strong> Stimmen für <strong>die</strong> langfr<strong>ist</strong>ige Durchsetzung<br />
des „Begleiteten Fahrens ab siebzehn“ in<br />
Baden-Württemberg wegen der langen L<strong>ist</strong>e an<br />
Vorteilen für den Straßenverkehr. Jugendliche,<br />
Fahrlehrer und Politiker sind sich einig. Also<br />
dürfte einer langen Lebensdauer des Gesetzes<br />
in Zukunft nichts mehr im Wege stehen.
Seite 20 Bulletin N– o 03 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus Stuttgart und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium Stuttgart – Schuljahr 2008/2009<br />
Es <strong>ist</strong> Dienstagnachmittag in der ersten Stuttgarter<br />
Lokalbrauerei „Calwer-Eck-Bräu“. Wenn<br />
man <strong>die</strong> Brauerei betritt, fällt einem als erstes<br />
der angenehme Geruch von frischem Bier und<br />
<strong>die</strong> entspannte Stimmung der Gäste auf. Es wird<br />
gelacht und scheinbar jeder in dem Lokal <strong>ist</strong><br />
gut gelaunt, trotzdem fällt mir kein betrunkener<br />
Gast auf. Einzig eine Glasscheibe trennt<br />
<strong>das</strong> Lokal von der Brauerei. Das soll den Gästen<br />
<strong>das</strong> Gefühl vermitteln, immer ein frisches Bier<br />
von nebenan zu bekommen.<br />
Wenn man hier jedoch abends <strong>das</strong> hauseigene<br />
naturtrübe Bier genießen möchte, muss man<br />
vier <strong>Wo</strong>chen vorher schon einen Platz reservieren.<br />
Auch jetzt sind schon viele der ca. 200<br />
Plätze im Innenraum und 30 Plätze auf der Terrasse<br />
besetzt.<br />
Ein Gast aus Cannstatt erzählt über <strong>die</strong> Lokalbrauerei:<br />
„Ich komme hier regelmäßig her.<br />
Das Essen <strong>ist</strong> gut und <strong>das</strong> Bier einfach etwas<br />
Besonderes.“ – „Außerdem braucht er manchmal<br />
einfach Entspannung, und <strong>das</strong> Lokal hier<br />
<strong>ist</strong> dafür genau richtig“, fügt seine Frau hinzu.<br />
Seit inzwischen mehr als 20 Jahren <strong>ist</strong> <strong>das</strong> „Calwer-Eck-Bräu“<br />
unverändert erfolgreich, obwohl<br />
es keinen Umbau, keine Namens- oder Konzept-<br />
änderung gegeben hat. Ein laut den Angaben<br />
des Calwer-Eck-Bräus bis heute einzigartiges<br />
Phänomen in der Gastronomieszene. Die Idee<br />
von Klaus Schöning, der <strong>die</strong> Lokalbrauerei am<br />
24. April 1987 eröffnete, ein Lokal zu schaffen,<br />
<strong>das</strong> auf keine bestimmte Zielgruppe spezialisiert<br />
war, <strong>ist</strong> sicher <strong>die</strong> Stütze für <strong>die</strong>sen Erfolg.<br />
Bereits seit acht Jahren <strong>ist</strong> Jürgen Hartl Braume<strong>ist</strong>er<br />
des Calwer-Eck-Bräus und damit für <strong>die</strong><br />
Qualität des Hausbiers verantwortlich. Er arbeitet<br />
täglich von 6 Uhr morgens an, um für <strong>die</strong><br />
Qualität und den guten Geschmack garantieren<br />
zu können. Dafür kontrolliert er jeden Tag den<br />
Schaum, <strong>die</strong> Farbe und den Geschmack des Biers.<br />
Das Mischen und Umrühren des Biers geschieht<br />
hier noch nach alter Handwerkstradition – alles<br />
<strong>ist</strong> 100%-ige Handarbeit. Pro Jahr werden von<br />
Jürgen Hartl und einem weiteren Brauer ungefähr<br />
130 Sud hergestellt, <strong>das</strong> sind ungefähr<br />
5200 Hektoliter. Ein Hektoliter entspricht 100<br />
Litern. Im Vergleich dazu: Eine große Brauerei<br />
wie Stuttgarter Hofbräu produziert 700.000<br />
Hektoliter im Jahr.<br />
Allgemein zu der Qualität eines Biers sagt er<br />
Folgendes: „Die Lagerzeit hat etwas mit der<br />
Qualität des Biers zu tun. In großen Brauereien<br />
wird <strong>das</strong> Bier ungefähr eine <strong>Wo</strong>che gelagert, bei<br />
uns zwei bis drei <strong>Wo</strong>chen, je nach Bedarf.“ Bei<br />
der Lagerung sind noch restliche Hefe und Zu-<br />
Philipp Tabasaran<br />
Alles in hundertprozentiger<br />
Handarbeit<br />
Im Stuttgarter „Calwer-Eck-Bräu“ wird ein ganz besonderes Bier hergestellt und ausgeschenkt.<br />
cker übrig, bei niedrigen Temperaturen zersetzt<br />
<strong>die</strong> Hefe den restlichen Zucker zu kurzkettigen<br />
Alkoholen. „Von Bier, <strong>das</strong> ausreichend gelagert<br />
wird, bekommt man keine Kopfschmerzen, wegen<br />
den nicht vorhandenen höheren Alkoholen.“<br />
Auch <strong>die</strong> Rohstoffe, <strong>die</strong> von einer Malzerei<br />
angeliefert werden, spielen bei der Qualität<br />
eine Rolle.<br />
Zu dem Rezept für <strong>das</strong> naturtrübe Pils kann<br />
Jürgen Hartl verraten, <strong>das</strong>s sich in einem Sud<br />
1 kg Hopfen sowie zwei verschiedene Arten von<br />
Bitterhopfen, Malz und Aromahopfen befinden.<br />
Hopfenöle und der Aromahopfen, der von größeren<br />
Brauereien aufbereitet wird, machen den<br />
guten Geschmack des Biers aus. Die Hefe kommt<br />
ebenfalls von größeren Brauereien. Für einen<br />
Hektoliter Bier werden zwölf bis fünfzehn Hektoliter<br />
Wasser benötigt. Als Brauwasser wird <strong>das</strong><br />
normale Leitungswasser aus Stuttgart benutzt:<br />
„Das Stuttgarter Leitungswasser <strong>ist</strong> ein sehr<br />
gutes Wasser und bestens für <strong>die</strong> Produktion<br />
von Bier geeignet“, so Jürgen Hartl.<br />
Sechs bis sieben Stunden werden für einen Sud<br />
benötigt, und bis zur endgültigen Fertigstellung<br />
des Biers vergehen vier <strong>Wo</strong>chen, wegen<br />
der anschließenden Lagerzeiten. Das Bier wird<br />
weder filtriert noch pasteurisiert, da es schon<br />
bald nach der Fertigstellung konsumiert wird<br />
und deswegen nicht lange haltbar sein muss.<br />
Die Reste des Brauvorgangs, der so genannte<br />
„Biertreber“, werden in <strong>die</strong> Wilhelma geliefert,<br />
als Futter für <strong>die</strong> Tiere.<br />
Besonders an dem Calwer-Eck-Bräu <strong>ist</strong>, <strong>das</strong>s es<br />
mit einer anderen Technik als <strong>das</strong> herkömmliche<br />
deutsche Bier hergestellt wird. Normalerweise<br />
wird beim Brauen mit niedrigen Temperaturen<br />
angefangen, beim Calwer-Eck-Bräu mit verhältnismäßig<br />
hohen. Jürgen Hartl selbst findet an<br />
seinem Bier besonders, <strong>das</strong>s kein Sud gleich<br />
schmeckt. Das liegt zum Einen daran, <strong>das</strong>s bei<br />
der Handarbeit alles gewissen Schwankungen<br />
unterliegt, und zum Anderen daran, <strong>das</strong>s <strong>die</strong><br />
Lagerzeit des Biers manchmal unterschiedlich<br />
lange <strong>ist</strong>. Den Gästen kommt es laut ihm nicht<br />
darauf an, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bier immer seinen identischen<br />
Geschmack hat, sondern darauf, <strong>das</strong>s<br />
<strong>das</strong> Bier frisch <strong>ist</strong> und gut schmeckt.<br />
Doch wie kann eine so kleine Brauerei mit so<br />
großen Brauereien, wie z.B. Stuttgarter Hofbräu,<br />
überhaupt mithalten – und lohnt es sich<br />
überhaupt, sein eigenes Hausbier zu produzieren?<br />
Aufgrund der niedrigeren Einkaufsmengen<br />
der Rohstoffe <strong>ist</strong> der Einkaufspreis höher<br />
als der für große Brauereien, <strong>die</strong> in großen<br />
Stückzahlen einkaufen und ihren Aromahop-<br />
fen selbst aufbereiten. Diese Fragen kann der<br />
Braume<strong>ist</strong>er einfach beantworten: „Über einen<br />
höheren Preis teilweise. Es gäbe sicher einen<br />
größeren Gewinn am Bier, wenn wir es von anderen<br />
Brauereien kaufen würden. Die Frage <strong>ist</strong><br />
aber, ob dann auch genauso viele Gäste kommen<br />
würden.“ Auch der Brauvorgang <strong>ist</strong> bei den<br />
geringen Mengen deutlich teurer.<br />
Neben dem naturtrüben Pils und dem naturtrüben<br />
Weizen hat <strong>die</strong> erste Stuttgarter Lokalbrauerei<br />
auch noch <strong>das</strong> Braume<strong>ist</strong>erbier im Angebot,<br />
„ein kräftiges dunkles Märzen“. Außerdem gibt<br />
es „Saisonbiere“, wie z.B. <strong>das</strong> Weihnachtsbier,<br />
<strong>das</strong> Sommerbier oder <strong>das</strong> Volksfestbier. „Unsere<br />
Kunden sollen sich immer auf <strong>die</strong> Biere der<br />
jeweiligen Saison freuen können“, meint der<br />
Braume<strong>ist</strong>er. Jedes Bier passt zu einem Event<br />
oder einer Jahreszeit. „Winterbiere sind dunkle,<br />
gehaltvolle Biere, im Sommer wollen <strong>die</strong> Leute<br />
leichte Biere.“<br />
Das Braume<strong>ist</strong>erbier war früher auch ein Saisonbier,<br />
<strong>das</strong> jedoch wegen des großen Erfolgs<br />
<strong>die</strong> ganze Saison verkauft wird. Hartl nennt<br />
seine Saisonbiere lächelnd „Schmankerl“. Man<br />
merkt in <strong>die</strong>sem Moment deutlich, <strong>das</strong>s er Spaß<br />
an seinem Beruf hat. Alkoholfreies Bier gibt es<br />
in seinem Sortiment nicht, da <strong>die</strong> Produktion<br />
für eine kleine Brauerei zu aufwendig wäre.<br />
Über den Beruf „Braume<strong>ist</strong>er“ sagt Jürgen<br />
Hartl, <strong>das</strong>s man theoretisch nur einen Hauptschulabschluss<br />
und eine 3-jährige Lehre benötige.<br />
Zudem sei man praktisch konkurrenzlos,<br />
und der Beruf sei sehr gefragt. Die hohe Anzahl<br />
von Kunden gibt ihm dabei auf jeden Fall<br />
Recht, so wie es aussieht, wird <strong>das</strong> Calwer-Eck<br />
Bräu wohl auch in Zukunft weiterhin gut besucht<br />
sein.<br />
Kleinere Mengen, längere Reifezeiten<br />
– Im Calwer-Eck-Bräu <strong>ist</strong> <strong>die</strong> Qualität<br />
wichtiger als <strong>die</strong> Quantität.