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Credit Suisse bulletin, 2002/01

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LEADERS<br />

Mitte Dezember 20<strong>01</strong> wurde Martin Werlen zum neuen Abt des Klosters Einsiedeln<br />

geweiht. Sein Wahlspruch «Höre, und du wirst ankommen» steht im Zentrum<br />

seines Denkens und Handelns. Interview: Jacqueline Perregaux, Redaktion Bulletin<br />

JACQUELINE PERREGAUX Abt Martin, seit ziemlich<br />

genau zwei Monaten stehen Sie dem<br />

Kloster Einsiedeln als Abt vor. Wie haben<br />

Sie diese Zeit erlebt?<br />

ABT MARTIN Es war eine sehr intensive Zeit,<br />

denn in diesen ersten beiden Monaten<br />

standen viele Entscheide in der Personalpolitik<br />

an. Ich habe meinen Stellvertreter,<br />

den Subprior und andere Verantwortliche<br />

ernannt sowie Räte neu gebildet, die mir in<br />

bestimmten Fragen zur Seite stehen.<br />

J.P. Nach der Wahl zogen Sie sich ein paar<br />

Tage in die Stille zurück, um sich auf Ihre<br />

neue Aufgabe vorzubereiten. Wozu möchten<br />

Sie Ihre zwölf Jahre als Abt nutzen?<br />

A.M. Ich habe das in meinem Wahlspruch,<br />

«Höre, und du wirst ankommen»,<br />

zum Ausdruck gebracht. Hören heisst für<br />

mich aber nicht, immer das zu tun, was<br />

andere wollen, sondern genau zuhören,<br />

sodass sich ein möglichst breites Feld von<br />

Ansichten ergibt.<br />

A.M. Ich freue mich im Moment sehr darauf,<br />

Herausforderungen anzugehen, auch<br />

solche, bei denen noch nicht absehbar ist,<br />

wie sie sich entwickeln. Was mich gerade<br />

in den letzten zwei Monaten gefreut hat, ist<br />

das riesige Interesse, das die Menschen in<br />

der ganzen Schweiz und sogar darüber<br />

hinaus an Einsiedeln zeigen.<br />

J.P. Politiker stellen nach ihrer Wahl jeweils<br />

ein Regierungsprogramm zusammen, Manager<br />

erarbeiten Businesspläne. Was macht<br />

der neue Abt von Einsiedeln?<br />

A.M. Für mich hat die Stärkung der<br />

Gemeinschaft in den nächsten Jahren<br />

Priorität. Sie soll an Ausstrahlung gewinnen<br />

können, und sie soll auf die<br />

grossen Erwartungen und das Interesse,<br />

das Einsiedeln entgegengebracht wird,<br />

eine Antwort geben können. Vielleicht<br />

müssen wir dazu traditionelle Wege, etwa<br />

bei der Pilgerseelsorge, verlassen und<br />

dafür Neues wagen.<br />

A.M. Ich glaube nicht, dass die Ereignisse<br />

des letzten Herbstes für das<br />

Interesse am Spirituellen entscheidend<br />

waren. Schon seit ungefähr zehn Jahren<br />

ist das Suchen nach Spiritualität offensichtlich.<br />

Die Esoterik-Bewegung ist ein<br />

Zeichen dafür. Allerdings sind viele von<br />

dieser Art der Spiritualität enttäuscht, weil<br />

sie merken, dass sie nicht tief genug<br />

reicht. Hier können wir einen Erfahrungsschatz<br />

weitergeben, der seit 1500 Jahren<br />

trägt und in dem vieles enthalten ist, was<br />

die Menschen heute suchen.<br />

J.P. Die Wahl zum Abt verändert Ihren Aufgabenbereich<br />

wesentlich. Zwingt Sie dies vermehrt<br />

zu einem «Managerdasein»?<br />

A.M. Für mich ist es ganz wichtig, dass ich<br />

nicht zum Manager werde. Das ist keine<br />

Abwertung der Managertätigkeit, aber als<br />

Abt ist es meine primäre Aufgabe, Seelsorger<br />

zu sein für die Gemeinschaft und für<br />

die Menschen, die uns anvertraut sind.<br />

Foto: Eva-Maria Züllig<br />

J.P. Wem wollen Sie besonders gut zuhören?<br />

A.M. Letztlich geht es um das Hören auf<br />

Gott. Das tue ich beim Gebet, beim Lesen<br />

in der Heiligen Schrift, beim Gespräch mit<br />

den Mitmenschen, denen ich begegne,<br />

gerade jetzt auch beim Lesen vieler<br />

Briefe, die ich erhalte. Ich versuche,<br />

hörend zu sein, herauszufinden, was Gott<br />

von mir will.<br />

J.P. Der zweite Teil Ihres Wahlspruches bezieht<br />

sich aufs Ankommen. Wissen Sie<br />

schon, wo Sie ankommen wollen?<br />

A.M. Dieser Wahlspruch ist ein Zitat aus<br />

der Benediktsregel, nämlich das erste und<br />

letzte Wort daraus. Für Benedikt ist ganz<br />

klar, dass dieses Ankommen ein Ankommen<br />

bei Gott ist, mit anderen Worten,<br />

die volle Gemeinschaft mit Gott. In dem<br />

Mass, in dem ein Mensch auf Gott hört, ist<br />

er schon in dieser Gemeinschaft.<br />

J.P. Worauf freuen Sie sich in Ihrer Rolle als<br />

Führungspersönlichkeit?<br />

J.P. Heisst das, Sie möchten breitere Gruppen<br />

ansprechen, gerade auch solche, denen die<br />

traditionelle Seelsorge nicht zusagt?<br />

A.M. Ich möchte das mit einem Bild<br />

erklären, das Jesus selber braucht: Wenn<br />

der Hirte ein Schaf verliert, lässt er die<br />

ganze übrige Herde stehen und sucht<br />

dieses eine Schaf. Dieser Gedankenansatz<br />

ist der Kirche in letzter Zeit leider stark<br />

verloren gegangen. Wir sind vor allem für<br />

diejenigen da, die sowieso in die Kirche<br />

kommen, auf die anderen machen wir aber<br />

kaum einen Schritt zu. Die zahlreichen<br />

Briefe, die ich nach meiner Wahl erhalten<br />

habe, zeigen aber deutlich, dass auch<br />

diese Menschen von der Kirche und von<br />

Einsiedeln im Speziellen sehr viel erwarten<br />

und sich nach Antworten sehnen. Deshalb<br />

bin ich der Ansicht, dass wir in diesem Bereich<br />

unbedingt neue Wege gehen sollten.<br />

J.P. Ist diese Sehnsucht ein zeitgenössisches<br />

Phänomen? Wenden sich die Menschen<br />

wieder vermehrt dem Spirituellen zu?<br />

J.P. Sie wehren sich gegen den Ausdruck<br />

«Blitzkarriere» im Zusammenhang mit Ihrer<br />

Wahl zum Abt. In welchem Licht sehen Sie<br />

Ihre Zeit seit dem Eintritt ins Kloster?<br />

A.M. Ich trat ins Kloster ein, um Mönch zu<br />

werden. In all den Jahren hatte ich viele<br />

verschiedene Aufgaben, vom Studenten<br />

über den Novizenmeister bis zum Internatsleiter.<br />

Alle diese Aufgaben nahm ich<br />

als Mönch wahr. Und ich sehe mich auch<br />

weiterhin als Mönch, nur erfülle ich jetzt die<br />

Aufgabe des Abts.<br />

J.P. Bleibt bei den vielen Aufgaben im Kloster<br />

neben dem «labora» auch noch genügend<br />

Ruhe fürs «ora»?<br />

A.M. Ich habe Mühe mit dem Spruch «ora<br />

et labora» (bete und arbeite), denn er fasst<br />

das benediktinische Leben sehr schlecht<br />

zusammen. Für Benedikt ist das gesamte<br />

Leben Gebet und damit ein Leben in<br />

Gemeinschaft mit Gott. Ob ich in der<br />

Kirche bin, einen Brief schreibe oder ein<br />

Mitarbeitergespräch führe, alles soll in Ge-<br />

Credit Suisse<br />

Bulletin 1|<strong>02</strong><br />

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