MTD_DDG_2017_10
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diabeteszeitung · 2. Jahrgang · Nr. <strong>10</strong> · 25. Oktober <strong>2017</strong><br />
Das Interview<br />
21<br />
Klinik Codex<br />
Empfehlungen für das Gespräch über ökonomische Zwänge<br />
BERLIN. Während er einen Patienten medizinisch versorgt,<br />
sollte ein Arzt nicht an ökonomische Kennziffern denken<br />
müssen. Doch in der Praxis sieht das oft anders aus. Ärzte können<br />
und sollten sich jedoch wehren. Dabei kann der neue Klinik<br />
Codex helfen. Worum es dabei geht, erklärt Mitautorin Professor<br />
Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger, stellvertretende Vorsitzende<br />
der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM).<br />
»Es geht für uns<br />
um Haltung«<br />
?<br />
Was ist der Klinik Codex?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Der neue<br />
DGIM Klinik Codex stellt eine Verhaltensmaxime<br />
dar, in welcher sich<br />
Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichten,<br />
ihr ärztliches Handeln stets am<br />
Wohl des Patienten auszurichten mit<br />
absolutem Vorrang gegenüber ökonomischen<br />
Überlegungen. Gleichzeitig<br />
sollen sich Ärztinnen und<br />
Ärzte im beruflichen Alltag und<br />
insbesondere in der Argumentation<br />
gegenüber rein wirtschaftlich orientierten<br />
Handlungsvorgaben auf<br />
den neuen Klinik Codex berufen<br />
können.<br />
?<br />
Was besagt er konkret?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Er gibt<br />
konkrete auf den heutigen Klinikalltag<br />
zugeschnittene Haltungs- und<br />
erste Verhaltensempfehlungen. Patienten<br />
vertrauen uns, weil sie sicher<br />
sein können, dass ärztliche Entscheidungen<br />
für ihre Behandlung<br />
und Genesung immer zuallererst<br />
auf ärztlicher Heilkunst beruhen<br />
und nicht auf den Klinikärzten<br />
vorgegebenen betriebswirtschaftlichen<br />
Zielgrößen. Der letzte Satz<br />
des Klinik Codex bringt es auf den<br />
Punkt: „Wir werden unsere ärztliche<br />
Heilkunst ausüben, ohne uns von<br />
wirtschaftlichem Druck, finanziellen<br />
Anreizsystemen oder ökonomischen<br />
Drohungen dazu bewegen zu<br />
lassen, uns von unserer Berufsethik<br />
und den Geboten der Menschlichkeit<br />
abzuwenden.“<br />
?<br />
Wie spüren Ärzte ökonomischen<br />
Druck im Krankenhaus?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Ärztinnen<br />
und Ärzte stehen häufig im Klinikalltag<br />
unter einem permanenten und<br />
großen Zeit- und Entscheidungsdruck.<br />
Eine enge Personalsituation,<br />
damit verbunden weniger Zeit für<br />
das persönliche ärztliche Gespräch<br />
mit den einzelnen Patienten, und<br />
zusätzlich ehrgeizige wirtschaftliche<br />
Mengen-, Kosten- und Budgetvorgaben<br />
der Klinikgeschäftsleitungen<br />
führen dazu, dass die medizinische<br />
Qualität gefährdet werden kann<br />
– wenn die Ökonomisierung der<br />
Krankenversorgung voranschreitet.<br />
?<br />
Wie spürt das ein Patient?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Der Patient<br />
erlebt seine Behandlung häufig<br />
als ein Mensch in gesundheitlicher<br />
Not, der sich mit seinen Sorgen und<br />
Ängsten den behandelnden Ärzten<br />
anvertraut. Wir wollen, dass er auch<br />
zukünftig wenig davon spürt, unter<br />
welchem Druck wir ihn bestmöglich<br />
versorgen.<br />
?<br />
Hilft es den Kollegen, in der Argumentation<br />
mit einem Controller,<br />
auf den Codex zu verweisen?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Es geht für<br />
uns mit dem neuen Klinik Codex<br />
nicht um Zahlen, sondern um Haltung.<br />
Der Klinik Codex soll Ärztinnen<br />
und Ärzte ermutigen, sich mit<br />
vorgegebenen wirtschaftlichen Vorgaben<br />
kritisch auseinanderzusetzen<br />
und achtsam zu sein<br />
bei allen Versuchen<br />
der Einschränkung<br />
des Patientenwohls<br />
aufgrund nicht-medizinischer<br />
Aspekte.<br />
Es ist wichtig, einem Controller<br />
die getroffenen Versorgungsentscheidungen<br />
bei Bedarf und<br />
unter Verwendung fachlich-medizinischer,<br />
patientenorientierter<br />
und ethischer Argumente<br />
zu erklären. Medizin ist<br />
mehr als die Summe von<br />
Betriebsstatistiken und<br />
Kennzahlen.<br />
? Wie Erfolg versprechend<br />
ist das Gespräch,<br />
wenn hinter<br />
einem Controller ein<br />
Klinikkonzern steht, der<br />
Anteilseignern verpflichtet<br />
ist und die Gewinnmaximierung<br />
anstrebt?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Ärztinnen<br />
und Ärzte sind gemäß ihrer Berufsethik<br />
stets zuerst ihren Patienten<br />
verpflichtet und keine Erfüllungsgehilfen<br />
wirtschaftlicher Zielvor-<br />
gaben und Renditeerwartungen.<br />
Der Klinik Codex<br />
soll ermutigen,<br />
eine ethische und<br />
wertebezogene Diskussion<br />
zu führen. Im<br />
Mittelpunkt steht immer<br />
die adäquate Versorgung der<br />
Patienten, das ist die Grundbedingung<br />
erfolgreicher Medizin.<br />
Krankenhausträger wissen, dass<br />
gute Medizin auch wirtschaftlich<br />
erfolgreich sein kann. Aber<br />
das ist eine Nebenwirkung<br />
und nicht das Hauptziel der<br />
Zusammenarbeit zwischen<br />
Arzt/Ärztin und dem Patienten.<br />
?<br />
Es gibt aber doch auch Fehlanreize,<br />
die manchem Kollegen gelegen<br />
kommen. Zu denken ist hier<br />
an Bonusverträge.<br />
Die sprechende Medizin gerät in Schieflage<br />
Viel Geld bringen vor allem technikbasierte Leistungen am Patienten<br />
Foto: privat<br />
PROF. DR. PETRA-MARIA<br />
SCHUMM-DRAEGER<br />
Das Reden mit dem<br />
Kranken ist im DRG-System<br />
unterbewertet.<br />
Foto: iStock/35007<br />
BERLIN. Der zunehmende Blick aufs<br />
Geld in der Patientenversorgung führt<br />
dazu, dass die im Fallpauschalensystem<br />
wirtschaftlich schlecht abgebildete<br />
„sprechende Medizin“ ins Hintertreffen<br />
gerät. Das hat gravierende<br />
Folgen, wie <strong>DDG</strong>-Präsident Professor<br />
Dr. Dirk Müller-Wieland beschreibt.<br />
Er verweist darauf, dass derzeit der<br />
wirtschaftliche Ertrag pro Bett im<br />
Krankenhaus vom Krankheitsbild<br />
des Patienten abhängt. Ist ein Patient<br />
multimorbide und somit auf<br />
viel Kommunikation (sprechende<br />
Medizin) angewiesen, bringt er einer<br />
Klinik finanziell weniger ein als<br />
ein Kranker, der akut technikbasierte<br />
Versorgung benötigt. „Dies hat nachvollziehbarer<br />
Weise zur Folge, dass<br />
aus wirtschaftlichen Überlegungen<br />
heraus das ,medizinische Profil‘ einer<br />
medizinischen Einrichtung sich<br />
an technikbasierter Medizin orientiert“,<br />
so Prof. Müller-Wieland.<br />
Die Gefahr bestehe nun darin, dass<br />
sich an Universitätsklinika klinische<br />
Lehrstühle für Schwerpunkte der<br />
Inneren Medizin, die sich überwiegend<br />
mit chronischen Krankheiten<br />
beschäftigen, reduzierten. Das betreffe<br />
z.B. die Endokrinologie und<br />
die Diabetologie.<br />
<strong>DDG</strong>-Projekt soll helfen, die<br />
Diabetologie besser abzubilden<br />
nachgefragt<br />
Die <strong>DDG</strong> hat zur Stärkung der<br />
sprechenden Medizin ein Projekt<br />
zur Optimierung der Diabetesversorgung<br />
innerhalb des DRG-<br />
Systems (DRG = Diagnosis related<br />
Groups) ins Leben gerufen. Hierbei<br />
wird versucht, in Kooperation mit<br />
Referenzkrankenhäusern die Diabetologie<br />
besser abzubilden. „Wir sehen,<br />
dass das System offensichtlich<br />
aus den Gleisen gerät“, so der <strong>DDG</strong>-<br />
Präsident. Das gelte aber nicht nur<br />
für die Krankenhäuser, sondern für<br />
die gesamte klinische Medizin, das<br />
heißt für die stationäre und ambulante<br />
Versorgung. Prof. Müller-<br />
Wieland stellte zugleich klar, dass<br />
nicht grundsätzlich eine ökonomische<br />
Versorgung kritisiert wird,<br />
diese müsse allerdings vernünftig<br />
eingesetzt werden. Derzeit bestehe<br />
eine Schieflage.<br />
kol<br />
Rendite zählt – das spüren<br />
Ärzte in vielen Kliniken.<br />
Die DGIM ermutigt,<br />
sich dagegen zu wehren.<br />
Foto: iStock/Sam Edwards,<br />
fotolia/pico<br />
Prof. Schumm-Draeger: Die Deutsche<br />
Gesellschaft für Innere Medizin<br />
hat als wichtige Fachgesellschaft,<br />
gemeinsam mit vielen anderen Fachgesellschaften,<br />
in der Vergangenheit<br />
schon häufig solche Verträge deutlich<br />
kritisiert.<br />
?<br />
Krankenhäuser rechnen nach<br />
dem Fallpauschalensystem ab.<br />
Rein theoretisch sollte es keine Probleme<br />
geben.<br />
Prof. Schumm-Draeger: Das Fallpauschalensystem<br />
ist so angelegt,<br />
dass es Kosteneinsparungen wirtschaftlich<br />
belohnt, ebenso Ausweitungen<br />
der Anzahl von Behandlungen<br />
(Fallzahlen). Wenn ein System<br />
eindimensional Sparen und Mengenmaximierung<br />
wirtschaftlich<br />
belohnt, ist es rational durchaus<br />
nachvollziehbar, dass die klinische<br />
Patientenversorgung möglichst<br />
billig sein soll, und möglichst viele<br />
Patienten möglichst schnell durch<br />
die Kliniken durchgeschleust werden<br />
sollen. Ob das die richtigen<br />
Rahmenbedingungen für eine zugewandte<br />
Medizin sind, ist offensichtlich<br />
infrage zu stellen.<br />
?<br />
Was bedeutet die Benachteiligung<br />
der sprechenden Medizin?<br />
Prof. Schumm-Draeger: Nach den<br />
wirtschaftlichen Kriterien des<br />
Fallpauschalensysstems teilen sich<br />
medizinische Fachabteilungen nun<br />
immer stärker in wirtschaftliche<br />
Gewinner- und Verliererabteilungen<br />
auf. Verliererabteilungen, zum<br />
Beispiel mit einem hohen Anteil<br />
sprechender Medizin, sind dann<br />
aus wirtschaftlichen Überlegungen<br />
heraus existenzgefährdet oder<br />
werden gleich geschlossen. Die<br />
Vorhaltung vor allem lukrativer<br />
Fachabteilungen allein gefährdet<br />
das Gesamtangebot der medizinischen<br />
Versorgung für die Bevölkerung.<br />
Diese negative Entwicklung<br />
muss benannt und zukünftig stärker<br />
diskutiert werden.<br />
Interview: Cornelia Kolbeck