COLUMBA Magazin 3-2017
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<strong>COLUMBA</strong><br />
Zeit für ein intensives und ausführliches<br />
Arztgespräch scheint<br />
es nicht mehr zu geben, einmal<br />
abgesehen von der Psychiatrie, deren<br />
Hauptinstrument natürlich dasselbe<br />
darstellt. In der Palliativmedizin wird<br />
diese Vorgehensweise durchbrochen:<br />
Hier nimmt man sich Zeit für den Patienten<br />
und achtet auf die Art der Kommunikation.<br />
Die Frage lautet nun, ob<br />
es hierfür eine philosophische Begründung<br />
geben kann?<br />
Das konstituierende Merkmal der<br />
Arzt-Patienten-Beziehung ist aus philosophischer<br />
Sicht das Arztgespräch,<br />
beziehungsweise allgemein die Art der<br />
Kommunikation und gerade nicht die<br />
technischen Möglichkeiten unserer<br />
High-Tech-Medizin in der westlichen<br />
Welt. Gerade in den menschlichen<br />
Grenzsituationen der Medizin geht es<br />
nicht darum, nur Informationen, sondern<br />
deren Bedeutung einfühlsam und<br />
verantwortungsvoll zu vermitteln. Der<br />
Sinn, den ein Patient einer Information<br />
gibt, ist von wesentlicher Bedeutung für<br />
sein Wohlergehen und den Krankheitsverlauf<br />
und wird als Hermeneutik an<br />
den Medizinischen Fakultäten bisher<br />
nicht gelehrt. Ein großer und manchmal<br />
fataler Fehler.<br />
Folgendes Beispiel aus der klinischen<br />
Praxis, das der weltweit renommierte<br />
Kardiologe Bernhard Lown in seinem<br />
Buch Die verlorene Kunst des Heilens<br />
beschreibt, beleuchtet dies sehr anschaulich<br />
(in Auszügen im Folgenden<br />
wörtlich zitiert): Er schildert den Fall<br />
einer schwer herzkranken Patientin,<br />
Anfang vierzig, die aufgrund eines<br />
rheumatischen Fiebers in ihrer Kindheit<br />
eine verengte Herzklappe entwickelt<br />
hatte und schwer erkrankt erneut<br />
in der Klinik lag. Sein Chefarzt ging mit<br />
seinem Team und ihm auf Visite, war<br />
an diesem Tag überaus gestresst und<br />
führte die Visite recht oberflächlich<br />
durch. Der Chefarzt blaffte kurz angebunden<br />
am Bett der Patientin: „Dies ist<br />
ein Fall von TS“ (im Fachjargon Trikuspidalstenose<br />
genannt, entsprechend<br />
einer speziellen Form einer Herzklappenverengung).<br />
Die Patientin geriet<br />
anschließend in Panik und murmelte<br />
völlig aufgeregt, als Lown danach noch<br />
einmal zu ihr kam: „Das ist das Ende,<br />
der Chefarzt hat gesagt, dass ich TS<br />
habe.“ „Ja, natürlich haben Sie TS“, erwiderte<br />
ihr Dr. Lown. Die Patientin fing<br />
daraufhin an zu weinen, als hätte sie<br />
jegliche Hoffnung verloren. „Was bedeutet<br />
denn Ihrer Ansicht nach TS?“, fragte<br />
er deswegen. Fast hätte er mit dem<br />
Lachen herausgeplatzt, als die Patientin<br />
antwortete: Es heißt „Terminale Situation“<br />
(zum Tode führende Situation).<br />
Dr. Lown erläuterte ihr daraufhin, dass<br />
der Chefarzt den Begriff TS als Abkürzung<br />
für Trikuspidalstenose verwendet<br />
habe, aber die Patientin hörte ihm nicht<br />
mehr länger zu. Alle Beschwichtigungsversuche<br />
blieben erfolglos. Mit Bestürzung<br />
stellte er fest, dass sie eine massive<br />
Atemnot und in wenigen Minuten<br />
ein Lungenödem entwickelte, an dem<br />
sie kurz darauf verstarb. Als sie starb,<br />
schreibt Lown, war er gelähmt, hilflos<br />
und entsetzt.<br />
Wie ist es nun um die Kommunikation<br />
in der Medizin bestellt? Gibt es einen<br />
klaren philosophischen Ansatz und<br />
eine Argumentation, welche die Bedeutung<br />
des Arztgesprächs erfasst?<br />
Ja, es gibt ihn: In der Humanmedizin<br />
haben es Ärzte - und gerade das zeichnet<br />
sie gegenüber reinen Naturwissenschaftlern<br />
aus - neben dem menschlichen<br />
Körper als physischem System<br />
auch mit dem „Lebewesen“ Mensch zu<br />
tun. Im Gegensatz zu reiner Materie<br />
und Gegenständen haben Menschen als<br />
Individuen zu jedem Zeitpunkt - auch<br />
am Lebensende - ihre eigene Lebenswelt<br />
und damit eine Umwelt, die für sie<br />
selbst jeweils nie einheitlich und doch<br />
lebensnotwendig ist. „Reize“ als Grundstruktur<br />
menschlicher Handlungen können<br />
daher nicht rein mechanistisch erklärt<br />
werden, der Mensch ist eben keine<br />
Maschine: Jeder „Reiz“ hat seine Bedeutung<br />
im historischen Kontext des einzelnen<br />
Menschen und muss von ihm nicht<br />
nur verarbeitet, sondern auch interpretiert<br />
und vor dem Hintergrund der eigenen<br />
Lebensgeschichte im Zusammenhang<br />
mit den ihn umgebenen Menschen<br />
verstanden werden. Dieser vor allem<br />
von dem Philosophen Johann-Heinrich<br />
Königshausen aus Würzburg vertretene<br />
Ansatz geht über eine rein naturwissenschaftliche<br />
Betrachtungsweise des<br />
menschlichen Organismus weit hinaus,<br />
indem er die Lebensgeschichte des<br />
Einzelnen in die Betrachtung mit aufnimmt.<br />
Damit kann das physische Existieren<br />
in seinem lebensgeschichtlichen<br />
Kontext nicht mehr rein biologisch,<br />
mathematisch-mechanistisch oder naturwissenschaftlich-medizinisch<br />
erklärt<br />
werden. Diesen Sachverhalt bestätigen<br />
moderne Experimente von Michael Tomasello<br />
vom Max-Planck-Institut für<br />
evolutionäre Anthropologie in Leipzig:<br />
Sie sehen einen Säugling (ca. 9 Monate<br />
alt) auf einem Tisch, der beobachtet,<br />
wie ein Erwachsener auf einem Nachbartisch<br />
ein Blatt Papier in einen Aktenordner<br />
legt. Der Erwachsene verlässt<br />
daraufhin den Raum und ein anderer<br />
Erwachsener betritt diesen, nimmt den<br />
Aktenordner und legt ihn in einen gut<br />
sichtbaren Schrank, welchen er dann<br />
verschließt. Er verlässt das Zimmer<br />
und der erste Erwachsene betritt nun<br />
wiederum den Raum mit einem Blatt<br />
Papier in der Hand und schaut fragend<br />
auf den Tisch. In allen Fällen erregte<br />
das die Aufmerksamkeit der Säuglinge,<br />
die den Erwachsenen anblickend auf<br />
den Schrank zeigten. Offensichtlich erkannten<br />
die Säuglinge die "Absicht" des<br />
Erwachsenen (das Blatt in den nicht vorhandenen<br />
Aktenordner legen zu wollen)<br />
und wiesen den Erwachsenen mit Zeichen<br />
auf den Schrank hin. Das wirklich<br />
Faszinierende an diesen Erkenntnissen<br />
ist, dass dies alles weit vor dem Spracherwerb<br />
stattfindet. Dieses beispielhafte<br />
Experiment hat Michael Tomasello<br />
unter Anderem zu folgender Annahme<br />
geführt: Der Säugling "teilt die Absicht",<br />
bedeutet: Er macht einen Unterschied<br />
zwischen der Handlung und der Handlungsabsicht.<br />
Wenn diese Fähigkeit bereits angeboren<br />
ist, um wie viel bedeutsamer ist es dann<br />
für einen Patienten, insbesondere einen<br />
Palliativpatienten, Informationen zu einer<br />
Diagnose und Therapie im Einklang<br />
mit seiner Lebenssituation und der Zeitspanne,<br />
die ihm noch bleibt, bringen zu<br />
können?<br />
Interessant in Bezug auf das Wesen der<br />
Kommunikation ist eine kleine, nebensächlich<br />
erscheinende Erfahrung aus<br />
der eigenen ärztlichen Tätigkeit, die<br />
von vielen Ärzten jedoch ausdrücklich<br />
bestätigt wird: Alle Patienten werden<br />
bei Erstkontakt umfangreich über ihren<br />
möglicherweise bevorstehenden operativen<br />
(manchmal auch nur palliativen)<br />
Eingriff informiert und aufgeklärt und<br />
erhalten im Anschluss den Aufklärungsbogen<br />
mit nach Hause zum Durchlesen<br />
und mit der Bitte, ihn zur stationären<br />
Aufnahme am Vortrag der Operation<br />
wieder mitzubringen. Ich stelle dann<br />
fest, dass über 80% der Patienten den<br />
Bogen nicht durchgelesen haben. Auf<br />
meine Standardfrage, warum dies so sei,<br />
antworten sie regelmäßig: „Sie haben<br />
mir als medizinischem Laien alles so gut<br />
erklärt, ich vertraue Ihnen.“<br />
Wenn man dazu noch die Tatsache berücksichtigt,<br />
dass eine unzureichende<br />
Kommunikation (wie im eingangs<br />
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